jüdisches leben in bayern - Landesverband der Israelitischen ...
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Die ganze Wahrheit<br />
Von Miriam Magall<br />
„Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer<br />
über Juden wissen wollten“. Das war <strong>der</strong><br />
Name e<strong>in</strong>er Ausstellung, die bis zum 1. September<br />
im Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> gezeigt<br />
wurde. Dafür hatten sich die Kuratoren etwas<br />
Beson<strong>der</strong>es e<strong>in</strong>fallen lassen. Jeden Tag<br />
saß von 14 bis 16 Uhr e<strong>in</strong>e Jüd<strong>in</strong> o<strong>der</strong> e<strong>in</strong><br />
Jude <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vitr<strong>in</strong>e und beantwortete Fragen<br />
zum Judentum, über Juden o<strong>der</strong> über<br />
alles, was mit Jüdischem zusammenhängt.<br />
Sowohl <strong>der</strong> Titel <strong>der</strong> Ausstellung, mehr aber<br />
noch diese Idee, e<strong>in</strong>en <strong>leben</strong>digen jüdischen<br />
Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Vitr<strong>in</strong>e zu setzen, wurde<br />
<strong>in</strong> <strong>der</strong> Öffentlichkeit zum Teil recht kontrovers<br />
diskutiert. Darf man? Soll man? Und<br />
wie kommt das an?<br />
Ich saß <strong>in</strong>sgesamt fünfmal <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e.<br />
Damit s<strong>in</strong>d wir auch schon mittendr<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />
den vielen Fragen, die e<strong>in</strong>em sozusagen als<br />
„<strong>leben</strong>des Exponat“ im Museum gestellt<br />
werden. E<strong>in</strong>ige <strong>der</strong> Fragen, die mir persönlich<br />
oft als Erstes gestellt wurden, lauteten:<br />
„Warum sitzen Sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e?“ „Wie<br />
kommen Sie dazu, hier <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e zu<br />
sitzen?“ Und: „Wie fühlen Sie sich <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Vitr<strong>in</strong>e?“ Die Fragesteller waren häufig junge<br />
Menschen, die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe an <strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e<br />
vorbeikamen. Sie kamen aus Deutschland,<br />
aus den Nie<strong>der</strong>landen, aus Mexiko, aus<br />
Korea, aus den USA und aus an<strong>der</strong>en Län<strong>der</strong>n.<br />
Ihre Reaktionen waren zum Teil sehr<br />
positiv, zeitweise waren sie erfreut, dass sie<br />
fragen durften, was sie wollten.<br />
E<strong>in</strong>e Ausnahme zu diesem allgeme<strong>in</strong> positiven<br />
Tenor ist mir ganz beson<strong>der</strong>s im Gedächtnis<br />
geblieben. E<strong>in</strong>e Frau mittleren<br />
Alters aus Wien berichtete, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wiener<br />
Museum habe man Vertreter unterschiedlicher<br />
Ethnien an e<strong>in</strong>en Tisch gesetzt und<br />
die Besucher konnten sie befragen. Hier im<br />
Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> graue es ihr angesichts<br />
e<strong>in</strong>es <strong>leben</strong>den Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />
Vitr<strong>in</strong>e, denn er komme ihr vor wie e<strong>in</strong> ausgestopftes<br />
Tier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Glaskasten!<br />
An<strong>der</strong>e, meistens Besucher mittleren Alters,<br />
erzählten, sie seien sehr an Jüdischem <strong>in</strong>teressiert,<br />
aus ganz verschiedenen Gründen:<br />
Bei <strong>der</strong> e<strong>in</strong>en hatte die Tochter <strong>in</strong> Jerusalem<br />
studiert; e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Dame aus Budapest<br />
erzählte, sie habe e<strong>in</strong>e 102 Jahre alte jüdische<br />
Freund<strong>in</strong>, die sie regelmäßig besuche<br />
und <strong>der</strong> sie vorlese, weil die alte Dame bl<strong>in</strong>d<br />
sei. E<strong>in</strong>e ältere jüdische Frau, die jetzt <strong>in</strong><br />
Wien lebt, erzählte mir von ihrer Vergangenheit<br />
und wie sie gerettet wurde.<br />
E<strong>in</strong>ige Besucher erkundigten sich, was genau<br />
„koscheres Essen“ sei. Dazwischen stellten<br />
meistens deutsche Männer im höheren<br />
Alter die Frage, ob sie sich schuldig fühlen<br />
müssten wegen Hitlers Verbrechen. Sowohl<br />
junge Menschen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe als auch<br />
oft Frauen mittleren Alters wollten viel über<br />
mich persönlich wissen: Was mit me<strong>in</strong>er Familie<br />
ist. Wie ich von Israel nach Deutschland<br />
gekommen b<strong>in</strong>. Ob mir me<strong>in</strong> Leben als<br />
Jüd<strong>in</strong> <strong>in</strong> Deutschland gefällt.<br />
E<strong>in</strong> koreanisches Ehepaar wollte wissen,<br />
was ich über Jesus weiß. Am e<strong>in</strong>em Sonntag<br />
kamen Mexikaner <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>eren Gruppen an<br />
<strong>der</strong> Vitr<strong>in</strong>e vorbei und fragten, unabhängig<br />
vone<strong>in</strong>an<strong>der</strong>, warum Juden nicht an Jesus<br />
glauben und auch, ob Juden mit Christen<br />
konkurrieren. Alle wollten mehr über Juden<br />
Leeor Englän<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ausstellung „Die ganze Wahrheit ... was Sie schon immer über Juden wissen<br />
wollten“.<br />
Foto: L<strong>in</strong>us L<strong>in</strong>tner, Jüdisches Museum Berl<strong>in</strong><br />
und Judentum erfahren. E<strong>in</strong> jüngeres Paar<br />
aus Dänemark wollte wissen, wo <strong>der</strong> Ursprung<br />
für die Gebote <strong>in</strong> <strong>der</strong> Bibel zu f<strong>in</strong>den<br />
ist. Dass sie <strong>in</strong> <strong>der</strong> hebräischen Bibel stehen,<br />
wusste sie.<br />
E<strong>in</strong> Mann mittleren Alters aus Holland erkundigte<br />
sich nach dem Ursprung <strong>der</strong> Wörter<br />
Aschkenas und Sefarad und hörte erstaunt,<br />
dass es auch noch Juden gibt, die<br />
man Must’arabim, d.h. orientalische Juden,<br />
nennt. E<strong>in</strong>e junge Besucher<strong>in</strong> aus Polen, die<br />
jetzt <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> lebt, wollte von mir wissen,<br />
was ich über Polen und das Leben dort wisse.<br />
Drei US-Amerikaner <strong>in</strong>teressierten sich<br />
für den Antisemitismus im heutigen<br />
Deutschland und unter Migranten.<br />
Auch Israel kam zur Sprache. Zwei junge<br />
Frauen aus Deutschland wollten von mir etwas<br />
über die aktuelle israelische Politik angesichts<br />
<strong>der</strong> Lage <strong>in</strong> Syrien hören. Zwei junge<br />
Australier wollten erfahren, wie es mit<br />
<strong>der</strong> Sicherheit dort steht und wie frei man <strong>in</strong><br />
Israel umherreisen kann.<br />
Und dann kamen auch ganz an<strong>der</strong>e Fragen.<br />
E<strong>in</strong> junger Mann aus e<strong>in</strong>er Schulklasse wollte<br />
von mir wissen, warum Juden geldgierig<br />
s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>e junge Frau aus Kroatien wollte<br />
wissen, warum Hitler die Juden hasste und<br />
warum Menschen oft Juden hassen. E<strong>in</strong>e<br />
an<strong>der</strong>e junge Frau aus Nie<strong>der</strong>sachsen erklärte,<br />
sie habe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schule schon so viel<br />
über Juden und die Schoa gehört und auch<br />
immer wie<strong>der</strong> KZs besichtigen müssen, dass<br />
Am Jüdischen Museum Berl<strong>in</strong> wird zur Zeit<br />
e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Befragung durchgeführt,<br />
die sich erstmalig an junge russischsprachige<br />
Jüd<strong>in</strong>nen und Juden wendet und wissen<br />
möchte, wie sie hier <strong>leben</strong> und was ihnen<br />
wichtig ist. Die Studie „Lebenswirklichkeiten.<br />
Jüdische Gegenwart <strong>in</strong> Deutschland“ entsteht im<br />
Rahmen des Fellowship-Programms am JMB<br />
und erforscht den Wandel jüdischen Lebens <strong>in</strong><br />
Deutschland seit den 1990er-Jahren. Die Teilnahme<br />
an <strong>der</strong> Befragung dauert ca. 15 M<strong>in</strong>uten.<br />
Alle Angaben werden selbst verständ lich streng<br />
sie davon genug habe und nichts mehr hören<br />
wolle. Durch die KZs seien schließlich alle<br />
nur noch „gelatscht“, ohne sich für etwas zu<br />
<strong>in</strong>teressieren.<br />
Nachdem ich auf die Frage, welchen Stellenwert<br />
Jesus für die Juden habe, geantwortet<br />
hatte, er sei für Juden we<strong>der</strong> e<strong>in</strong> Sohn Gottes<br />
noch e<strong>in</strong> Prophet, empörte sich e<strong>in</strong>e<br />
deutsche Frau, ich hätte die Christen nicht<br />
gebührend gewürdigt. E<strong>in</strong> junger Deutscher,<br />
<strong>der</strong> jetzt <strong>in</strong> Österreich lebt, empörte sich<br />
über den grassierenden Antisemitismus <strong>der</strong><br />
letzten Zeit; beson<strong>der</strong>s die Rapper hätten<br />
da ganz böse Texte. Abschließend erwähnte<br />
er noch se<strong>in</strong>e Oma, die so alt ist wie ich,<br />
1942 geboren, und dass sie, weil sie auf dem<br />
Land gelebt habe, nichts von <strong>der</strong> Judenverfolgung<br />
mitbekommen habe.<br />
Aufgrund me<strong>in</strong>er Erfahrungen aus me<strong>in</strong>er<br />
Tätigkeit im Bereich <strong>der</strong> Erwachsenenbildung<br />
waren die Fragen nicht neu für mich.<br />
Neu für mich war lediglich die Erfahrung,<br />
dass ich warten musste, bis man mich fragt.<br />
Auch die negativen Reaktionen waren nicht<br />
neu für mich. Abschließend konnte ich feststellen:<br />
Es herrscht <strong>in</strong>sgesamt großes Interesse<br />
an jüdischen und israelischen Themen.<br />
Aber viele Menschen wissen zu wenig darüber,<br />
möchten aber gerne mehr erfahren.<br />
Von Miriam Magall gibt es das Buch: „Warum<br />
Adam ke<strong>in</strong>en Apfel bekam. Grundfragen des<br />
Judentums.“ Calwer Verlag, Stuttgart 2008.<br />
vertraulich, entsprechend <strong>der</strong> gelten den Datenschutz<br />
gesetze behandelt. Die Daten werden nur<br />
anonymisiert erhoben und ausge wer tet und auf<br />
ke<strong>in</strong>en Fall an Dritte weiter gegeben.<br />
Zur Befragung geht es über diesen L<strong>in</strong>k:<br />
ww2.unipark.de/uc/juedisches-museum<br />
Weitere Informationen zum Projekt f<strong>in</strong>den<br />
Sie auf unserer Internetseite:<br />
www.jmberl<strong>in</strong>.de/ma<strong>in</strong>/DE/03-Sammlungund-Forschung/Fellowship/Fellowship.php<br />
Jüdisches Leben <strong>in</strong> Bayern · Nr. 123/2013 15