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L i t e r a t u r - E s s a y<br />

Abschwimmen mit<br />

Geschichten<br />

Verschwinden <strong>als</strong> auffälliger Stoff der neuen Literatur.<br />

Thomas Schaefer<br />

Natürlich ist auch dieses Thema nicht neu. So endet z. B. Max Frischs Roman<br />

„Mein Name sei Gantenbein“ (1964) mit einer Episode, in der eine Leiche<br />

das Zürcher Stadtflüsschen Limmat hinabtreibt, an Brückenpfeilern hängenbleibt,<br />

sich wieder losreißt, um schließlich von der Polizei geborgen zu<br />

werden – zum Missfallen des Erzählers, denn der Tote hat sein Ziel nicht erreicht:<br />

„abzuschwimmen ohne Geschichte“. Während es Frischs Figuren nicht<br />

gelingen will, zu verschwinden (etwa Stiller, der im gleichnamigen Roman bemüht<br />

ist, in eine andere Identität zu flüchten), gibt es Beispiele von Autoren,<br />

die sogar ganz real verschwunden sind – das berühmteste ist jenes des amerikanischen<br />

Zynikers Ambrose Bierce, der im Dezember 1914 untertauchte,<br />

nicht ohne zuvor Spuren zu legen, die ins Nichts führten. Bis heute weiß niemand,<br />

wie und wo er endete – im mexikanischen Chihuahua? Im Grand Canyon?<br />

Glücklich, wer so frei über sein Nachleben gebieten und so souverän<br />

abtauchen kann. Das dürfte sogar der alternden Pop-Diva Madonna gefallen,<br />

trotz oder gerade wegen ihres beruflichen Rampensau-Exhibitionismus,<br />

die laut der „Zeit“ verfügt, „dass, wenn sie eine Hotelsuite verlässt, ein Team<br />

von Spezialisten in ihrem Auftrag sich über die Räume hermacht und sie von<br />

Madonnas DNA reinigt; Madonna will keinesfalls Spuren der eigenen körperlichen<br />

Existenz hinterlassen“.<br />

Grassierende Sehnsucht<br />

Bereits vor zehn Jahren verortete Jochen Schimmang in einem Essay im<br />

„Merkur“ das Verschwinden, „gerade auch in seinen negativsten Gestalten<br />

<strong>als</strong> Flucht oder <strong>als</strong> erloschenes, vernichtetes Sein“, <strong>als</strong> „eine der signifikantesten<br />

Bewegungsformen des 20. Jahrhunderts“: „doch auch in seinen erfreulichen<br />

oder gar verheißungsvollen Erscheinungsbildern, <strong>als</strong> Davonkommen<br />

oder <strong>als</strong> Beginn eines neuen Lebens, ist es ein großer und immer wiederkehrender<br />

Stoff der neuen Literatur“. Zufall oder nicht, dass das Verschwinden,<br />

zu dessen „aktiven Formen“ Schimmang Flucht, Desertion, Identitätswechsel,<br />

das Aufsuchen eines Verstecks, schließlich den Suizid zählt, eine Sehnsucht<br />

zu sein scheint, die derzeit grassiert.<br />

Zumindest sind in diesem entschwindenden Jahr 2013 viele Bücher erschienen,<br />

die mehr oder weniger dezidiert vom Verschwinden handeln. Offensichtliches<br />

Thema ist es in Annika Scheffels Roman „Bevor alles verschwindet“,<br />

der von einem Dorf handelt, das einem Staudammprojekt<br />

weichen muss – wie es im Braunkohletagebau etwa der Lausitz ja geschieht,<br />

wo seit 1924 136 Orten vom Erdboden verschwunden sind. Ein Verschwinden<br />

mithin, das unfreiwillig erfolgt, ja, eine Verurteilung ist, und an das ein<br />

„Archiv verschwundener Orte“ erinnert.<br />

Ein solches Archiv ist natürlich auch die Literatur im Speziellen und das<br />

Aufschreiben im Allgemeinen. Letzteres kann zwar nicht retten, aber zumindest<br />

das Verschwindende bewahren, wie es Thema in einem kleinen, aber<br />

spektakulären Buch ist. Dramatischer ist die Art und Weise des Verschwindens<br />

nicht denkbar, wie sie dem Matrosenschüler Tjark Evers in Astrid Dehes<br />

und Achim Engstlers Buch „Auflaufend Wasser“ widerfährt: Im Winter<br />

1866 lässt Evers sich vermeintlich am Strand der Insel Baltrum absetzen,<br />

um dann feststellen zu müssen, dass er einem Irrtum aufsaß: Er ist auf einer<br />

Sandbank gelandet, und während er verzweifelt grübelt, wie er seinem<br />

Untergang entrinnen kann, steigt die Flut. Kaum zu glauben, aber wahr, die<br />

Geschichte, die Evers aufschrieb und einer Kiste anvertraute, bevor ihn das<br />

Meer verschluckte.<br />

Tatsachen entspricht auch das „Das Verschwinden des Philip S.“ in Ulrike<br />

Edschmids Buch, in dem sie von ihrem früheren Lebensgefährten erzählt,<br />

dem Schweizer Philip Sauber, mit dem sie in den wilden Jahren des 68er Berlins<br />

zusammenlebte – bis beide festgenommen wurden. Die ungerechtfertigte<br />

Untersuchungshaft treibt das Paar auseinander: Edschmid will nie wieder<br />

in den Knast und entscheidet sich für ein Leben auf der sicheren Seite, S.<br />

geht in den Untergrund und taucht erst 1975 auf einem Kölner Parkplatz auf,<br />

wo er bei einer Schießerei mit der Polizei getötet wird.<br />

Akute Befindlichkeiten<br />

In Terézia Moras so vorhersehbar wie unverdient mit dem Deutschen<br />

Buchpreis prämierten Roman „Das Ungeheuer“ gibt es eine Episode, in der<br />

ein in einer psychiatrischen Klinik arbeitender Arzt ein Auto „mit einem Geheimfach“<br />

sucht, „in dem ein erwachsener Mann Platz hat“. Darin will er sich<br />

verstecken und sterben, in der Hoffnung, dass das verlassen wirkende Fahrzeug<br />

abtransportiert und samt Arztleiche verschrottet wird: „wieso tut er so<br />

etwas? Wieso will er sich nicht einfach umbringen, sondern gleich verschrotten<br />

lassen wie ein Stück Müll?“ Das ist die Frage. Anders <strong>als</strong> bei Dehe/Engstler<br />

oder Edschmid ist hier das Verschwinden ein poetisch stilisiertes: Moras<br />

Held Tobias Kopp verschwindet ja auch, allerdings nur für ein Jahr, indem er<br />

sich nach dem Selbstmord seiner Frau in seiner Wohnung verschanzt, wo er<br />

keinen Kontakt zur Außenwelt unterhält, allenfalls Pizza bestellt. Exakt das<br />

macht (sogar zwei Jahre) der Held in Thomas Glavinics pompösem Roman<br />

„Das größere Wunder“, der sich einem noch radikaleren Verschwinden aussetzt,<br />

indem er den Mount Everest besteigt. Die Perspektive, dort in einer<br />

Gletscherspalte auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden, hat eher Verlockendes<br />

denn Abschreckendes.<br />

Mora und Glavinic reagieren auf manierierte Weise auf akute Befindlichkeiten,<br />

die durchaus die Sehnsucht zu verschwinden hervorrufen können:<br />

Wäre die nicht ein zwingender Reflex auf die immer engmaschigere Videoüberwachung,<br />

die Rundumüberwachung, der wir uns mittels Facebook etc.<br />

aussetzen? Bietet nicht grade das Internet, das wir nutzen, uns rund um die<br />

Uhr zu präsentieren, Möglichkeiten, sich zu entziehen? Oder ist ein Bedürfnis<br />

zu verschwinden allenfalls das Anliegen älterer Herren wie Michael Krüger,<br />

in dessen 2013 erschienenem Lyrikband „Umstellung der Zeit“ das Gedicht<br />

„Klassentreffen“ steht, in dem es heißt: „Einer ist Tischler geworden, / einer<br />

Anwalt, eine arbeitete / in der Pressestelle der ARD. / (…) Eine hat‘s geschafft.<br />

/ Sie wollte Waldbeeren / sammeln in Finnland / und wurde nie mehr<br />

gesehn“? Wir bleiben dran.<br />

Astrid Dehe/Achim Engstler: „Auflaufend<br />

Wasser“ (Steidl, 2013, 113<br />

Seiten, 16,- Euro)<br />

Ulrike Edschmid: „Das Verschwinden<br />

des Philip S.“ (Suhrkamp, 2013, 157<br />

Seiten, 15,95 Euro)<br />

Thomas Glavinic: „Das größere<br />

Wunder“ (Hanser, 2013, 528 Seiten,<br />

22,90 Euro)<br />

Michael Krüger: „Umstellung der<br />

Zeit“ (Suhrkamp, 2013, 117 Seiten,<br />

18,95 Euro)<br />

Terézia Mora: „Das Ungeheuer“<br />

(Luchterhand, 2013, 688 Seiten,<br />

22,99 Euro)<br />

Annika Scheffel: „Bevor alles verschwindet“<br />

(Suhrkamp, 2013, 411<br />

Seiten, 19,95 Euro)<br />

BYE BYE<br />

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