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Die Platte<br />
am Anfang<br />
Juana Molina<br />
Wed 21 Crammed Discs/Indigo<br />
Ulrich Kriest<br />
Fast schon wieder vergessen, wie<br />
gut uns dam<strong>als</strong>, 2006, <strong>als</strong> New<br />
Weird America noch der heiße<br />
Scheiß war, „Son“ der Argentinierin<br />
Juana Molina reinlief. Klasse,<br />
dieser ambitionierte One-Woman-<br />
Folktronica-Entwurf zwischen Björk, Suzanne Vega<br />
(remember „99, F Degrees“?) und Animal Collective,<br />
der immer irgendwie ein Geheimtipp blieb, obwohl<br />
die Kritik sich schon dam<strong>als</strong> überschlug. Im Jahr<br />
2008 folgte noch der rhythmisch ambitionierte Wurf<br />
„Una Dia“, dann war Pause.<br />
Nun meldet sich die Sängerin und Produzentin mit<br />
ihrem offenbar im Alleingang eingespielten sechsten<br />
Album „Wed 21“ zurück. Der Mix von traditionellen<br />
Instrumenten und elektronischen Devices ist jetzt<br />
etwas ausgewogener, die sanfte Stimme Molinas,<br />
die sich tänzelnd – mal schneller, mal gravitätischer –<br />
durch die kunstvoll gedrechselten und geschichteten<br />
Klangskulpturen bewegt, ist noch immer suggestiv<br />
und fesselnd. Eine ordentliche Prise „Tropicalia“ ist<br />
nicht zu überhören, aber auch die TV-Vergangenheit<br />
Molinas <strong>als</strong> Comedian klingt durchaus an. Soy buena<br />
actriz, nicht wahr?<br />
Der Auftakt mit „Eras“ hat beinahe schon hypnotische<br />
Qualitäten: ein flotter Gitarren-Groove<br />
schiebt sich über Bass-Loops, während der Hintergrund<br />
von einer ganzen Palette elektronischer Geräusche<br />
wie ein Bienenkorb summt. Dazu singt Molina<br />
mit ihrer unverwechselbaren Stimme: „Eras todo,<br />
nada ma hará feliz / Verás, nuncas sabrás, soy buena<br />
actriz.“ Mit dem Spanischen ist es so ähnlich wie mit<br />
dem animistischen Cover-Surrealismus, dem Molina<br />
im Cover-Artwork frönt: Dieses Album nimmt gefangen<br />
und bleibt gleichzeitig unfassbar. Ich glaube<br />
fast, es möchte „geliked“ werden, aber nicht zu viele<br />
Freunde auf Facebook haben. Wir sollten der Künstlerin<br />
einen Strich durch die Rechnung machen. Also,<br />
Companeros: „Wed 21“ – großes Album! Bitte nicht<br />
schon wieder verpassen!<br />
John Talabot<br />
DJ-Kicks k7!/Alive<br />
Christoph Braun<br />
Bisher war er der Typ für die Sandgefühle.<br />
John Talabot hat schon mit<br />
frühen Produktionen wie „Sunshine“<br />
durch smarte Wendungen für eigensinnige<br />
tribalistische House Music<br />
gesorgt. Es klackerte, bongte und<br />
schlürfte in diesen Tracks. Nur ein Debütalbum später –<br />
„Fin“ lautet der Titel Anfang 2012 –, und schon wird der<br />
Typ aus Barcelona geadelt. Mit einem Auftrag für den<br />
Bentley unter den DJ-Compilations: für die DJ-Kicks-Reihe<br />
des Berliner Labels !k7, traditionsreich, gespickt mit<br />
berühmten Momenten wie den Mixen von Carl Craig,<br />
Kruder & Dorfmeister oder Maya Jane Coles.<br />
Talabot eröffnet mit einer Überraschung: „Journey<br />
to the Center of the Sun“. Der Track des Detroiter Produzenten<br />
Isaac Delongchamp alias North Lake entfaltet<br />
eine majestätische Schwere. Diese beinahe geologische<br />
Qualität wird die DJ-Kicks von John Talabot bis zum<br />
Ende nicht mehr verlassen. Der Andy-Stott-Remix des<br />
Maps-Songs „I Heard Them Say“ mäandert durch Karstgestein,<br />
und immer wieder erzeugen Echo-Effekte das<br />
Gefühl, ganz allein durch ein kahles Gebirge zu laufen.<br />
Das Pathos, das derlei Aktionen innewohnt, ist auch Stücken<br />
wie „Anagrama“ von Temple Rytmik oder „Shower<br />
Scene“ von Axel Burat nicht fremd. Talabot gibt es in<br />
den Mix und treibt so ein kühnes Spiel mit Stimmungsschwankungen<br />
und Richtungsänderungen. Die Atmosphäre<br />
geht niem<strong>als</strong> verloren. Und sie verschwindet,<br />
wenn die Musik verstummt ist, nur ganz allmählich, wie<br />
am Meeresufer ein Gesicht im Sand.<br />
Devon Sproule & Mike O‘Neill<br />
Colours Tin Angel Records/Indigo<br />
Die Höchste Eisenbahn<br />
Schau in den Lauf Hase Tapete Records/Indigo<br />
Markus von Schwerin<br />
Erlebt das Duo eine Renaissance?<br />
Es scheint so: Adam Greens Karriere<br />
kommt dank Binki Shapiro wieder<br />
in Gang und M. Ward erhielt <strong>als</strong> Hälfte<br />
von She & Him die lang erhoffte Aufmerksamkeit.<br />
Die wäre auch den Kanadiern<br />
Devon Sproule und Mike O‘Neill zu wünschen, zumal<br />
ihr erstes Gemeinschaftswerk ganz ohne Nancy &<br />
Lee-Getue auskommt. Stattdessen werfen die beiden<br />
einfach das in die Waagschale, wofür sie bei Liebhabern<br />
narrativen Folkpops mit unorthodoxer Instrumentierung<br />
(Holzbläser, Arp-Soli) schon seit längerem geschätzt<br />
werden: diesen entspannten Gesangsvortrag, der naïve<br />
Everly-Brothers-Harmonie ebenso evoziert wie die<br />
gebrochene Glückseligkeit eines Alex Chilton. Die Zusammenarbeit<br />
via Webcam begann während Sproules<br />
fünfmonatigem Berlin-Aufenthalt, der für die heute in<br />
Austin, Texas Lebende zwar ernüchternd, ihrer Kreativität<br />
aber offenkundig zuträglich war.<br />
Als Sänger von Tele sang Francesco Wilking schon<br />
vor sieben Jahren „Bye Bye Berlin“. Die Härten der hippen<br />
Hauptstadt vermochten den Ex-Freiburger jedoch<br />
nicht zu vertreiben. Vielmehr konnte er sich in offeneren<br />
Konzertformen (wie der „TV-Noir“-Reihe) <strong>als</strong> Entertainer<br />
und geschätzter Teamplayer erweisen. So entstand<br />
mit dem Songwriter-Kollegen Moritz Krämer Die<br />
Höchste Eisenbahn, wo bald auch eine Rhythm Section<br />
mit ins Abteil steigen sollte. Die 2011er Debüt-EP „Unzufrieden“<br />
hatte was von einer Berliner Antwort auf die<br />
„Monsters of Folk“. Doch wer in Krämer & Wilking schon<br />
die deutschen Crosby & Nash sah, dürfte nun vom Longplayer<br />
überrascht sein. Statt perlender Westerngitarren<br />
erklingen funky Synthiesalven, statt gedämpftem Drumset<br />
in der Scheune gibt‘s hallende Bassdrums à la Prefab<br />
Sprout: 80er-Jahre-Sounds, für die Tele immer zu haben<br />
war und die mit Krämers Niels-Frevert-Timbre nicht<br />
weniger Wucht entwickeln. „Allen gefallen“, um hier den<br />
potentiellen Radiohit zu zitieren, wird das wohl nicht.<br />
Aber wem sich der Facettenreichtum der dreizehn Stücke<br />
erst erschlossen hat, wird lange davon zehren.<br />
Raz Ohara<br />
Moksha Morr Music/Indigo<br />
Ulrich Kriest<br />
Hui, hat damit noch jemand außerhalb<br />
Berlins gerechnet? Der gebürtige Däne<br />
Raz Ohara, bürgerlich Patrick Rasmussen,<br />
gehört ja <strong>als</strong> Urgestein der Berliner<br />
Szene seit Anfang der 90er Jahre<br />
irgendwie immer ins Bild, wenngleich<br />
in der dritten Reihe, halb verdeckt.<br />
Dam<strong>als</strong> bei Kitty-Yo sollte der Mann mit dem Soul in<br />
der Stimme erst <strong>als</strong> Prince-, dann <strong>als</strong> Beck-Hybrid verkleidet<br />
werden. Nebenher war er, an der Seite von Alexander<br />
Kow<strong>als</strong>ki und Apparat, die Stimme des Techno.<br />
Später entdeckte er die Möglichkeiten der jazzinformierten<br />
Electronica und morphte sich in Begleitung des Theatermusikers<br />
Oliver Doerell (Swod) zum Odd Orchestra<br />
und wurde von der Kritik (und von mir) gehätschelt und<br />
verehrt. Seit 2009 war dann allerdings, zumindest was<br />
das Albumformat angeht, Sendepause.<br />
Jetzt, auf „Moksha“, hat er alles Verspielte und Fluffige<br />
eliminiert – und benötigt <strong>als</strong> Sänger nur noch die Essenz<br />
fragiler elektronischer Atmosphären, um sich durch<br />
sie hindurch zu lavieren. Klingt manchmal nach Antony<br />
Hegarthy und bei „Two Young Mates“ lustigerweise<br />
nach Hawkwind in der „Quark, Strangeness & Charm“-<br />
Phase. Womit auch „Moksha“ sehr schön charakterisiert<br />
wäre. Wir verfolgen die Häutungen mit großer Sympathie,<br />
wenngleich aus der Ferne.<br />
BYE BYE<br />
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