Sicherheit für Senioren - Polizei Bayern
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IV.5<br />
IV.5<br />
Ursula Pöhler<br />
Expertenstatements<br />
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IV.5 Ursula Pöhler<br />
Gewaltprävention im sozialen Nahraum<br />
Schwerpunktthema „Alte Menschen“<br />
Gewalt gegenüber Personen, die aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Konstitution<br />
auf Hilfe anderer angewiesen sind, ist die schlimmste Form an möglicher Gewalt. Sie ist<br />
gerade deswegen so schrecklich, weil es sich bei den Betroffenen um Schutzbefohlene<br />
handelt, für die es nicht möglich ist, sich gegen die Gewalttätigkeiten zu wehren. Sie<br />
haben keine Chance, aus der unerträglichen Situation zu entkommen.<br />
Tagtäglich findet in Deutschland derartige Gewalt statt. Seien es Kinder, die von ihren<br />
Eltern geschlagen und misshandelt werden oder pflegebedürftige alte Menschen, die<br />
unter den Missständen in Pflegeeinrichtungen leiden. Ich richte mein Augenmerk auf<br />
die vielen pflegebedürftigen älteren Menschen, denen der notwendige Schutz und die<br />
Versorgung nicht gewährt wird. Dabei möchte ich betonen, dass viele Einrichtungen<br />
und Träger sich in den letzten Jahren stark um die Verbesserung der Pflegequalität in<br />
ihren Häusern bemüht haben. Vieles wurde erreicht und besteht sogar auf einem höheren<br />
Niveau der Qualität. Dennoch kann man keine grundlegende Änderung feststellen.<br />
Immer wieder erhält der Sozialverband Deutschland Berichte von betroffenen Menschen<br />
und ihren Angehörigen, in denen Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung in der<br />
stationären Pflege geschildert werden. Die rechtswidrige Gabe von Medikamenten, um<br />
pflegebedürftige Menschen ruhig zu stellen, kommt in diesen Berichten immer wieder<br />
vor. Auch viele Pflegekräfte bestätigen dies. Sedierungen durch Fixierung/Fesselung oder<br />
durch Medikamentengabe sind in vielen Pflegeeinrichtungen aus arbeitsökonomischen<br />
Gründen an der Tagesordnung. Dieses bestätigen uns immer wieder Pflegekräfte sowie<br />
Angehörige.<br />
Leider gibt es nur vereinzelt wissenschaftliche Untersuchungen hierzu. Ich verweise auf<br />
die Studie von Dr. Thomas Görgen, der im Auftrag des Kriminologischen Instituts der<br />
Universität Gießen Gewaltvorkommnisse in Pflegeeinrichtungen untersuchte und dabei<br />
nicht wenige Vorkommnisse von medikamentösem Freiheitsentzug feststellte. Nach<br />
Ansicht von Experten (so zum Beispiel Prof. Dr. Dr. Hirsch vom Gerontopsychiatrischen<br />
Zentrum in Bonn) können 70 Prozent der Psychopharmaka, die in Altenheimen eingesetzt<br />
werden, weggelassen werden.<br />
Die unhaltbaren Zustände bestätigt auch das Ergebnis des Berichts des Medizinischen<br />
Dienstes der Spitzenverbände der Krankenversicherung (MDS) vom November letzten<br />
Jahres. Die Zahlen, die darin veröffentlicht werden, sprechen für sich:<br />
Aber auch im häuslichen Bereich gibt es Fälle von Gewalt in der Pflege. Nach dem Bericht<br />
des MDS wurde bei 9 % der untersuchten Pflegebedürftigen ein „unzureichender<br />
Pflegezustand“ festgestellt.<br />
Wir dürfen uns mit den bekannt gewordenen menschenunwürdigen Zuständen in der<br />
Pflege nicht abfinden. Wir brauchen rasche und wirksame Maßnahmen zur Qualitätssicherung<br />
sowohl in der häuslichen Pflege als auch in der stationären Pflege. Die alarmierenden<br />
Zahlen zeigen, dass die derzeitigen Strukturen nicht geeignet sind, Menschen,<br />
die auf Pflege und Betreuung angewiesen sind, adäquat zu versorgen. Daher<br />
muss die Pflegelandschaft in Deutschland neu organisiert werden:<br />
■ Neue Versorgungs- und Betreuungsformen müssen schnellstmöglich entwickelt werden.<br />
Es gibt derzeit schon vielfältige Projekte hierzu. Beispielhaft verweise ich auf die vom<br />
Bundesministerium für Familie, <strong>Senioren</strong>, Frauen und Jugend (BMFSFJ) geförderten<br />
Projekte unter dem Titel „Altenhilfestrukturen der Zukunft“. Die darin erprobten<br />
neuen Strukturen zielten allesamt auf die Erleichterung der häuslichen Pflege. Im<br />
Rahmen von „Betreutem Wohnen” sowie von Wohn- und Hausgemeinschaften wird<br />
Pflege und Betreuung den Bedürfnissen der einzelnen Menschen nach einem eigenen<br />
Zuhause entsprochen. In derartigen kleingliedrigen Einheiten sind die Verantwortlichkeiten<br />
viel klarer als in großen anonymen Pflegeheimen. Aus diesem Grund besteht<br />
sehr wenig Raum für Vernachlässigungen und Misshandlungen der Schutzbefohlenen.<br />
Der Sozialverband Deutschland hat im Rahmen seiner Veröffentlichung „12 Forderungen<br />
für eine menschenwürdige Pflege“ (siehe Anhang, S. 88) verschiedenste Möglichkeiten<br />
vorgestellt, mit denen den Missständen in der Pflege begegnet werden kann. Dazu<br />
gehört zum Beispiel die Implementierung eines verantwortlichen Heimarztes, eine verbesserte<br />
Aus- und Weiterbildung des Personals einschließlich der Heimleitung, die fachliche<br />
und personelle Stärkung der Heimaufsichten, die Veröffentlichung der Prüfberichte<br />
des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung von einzelnen Pflegeheimen und<br />
vieles mehr. Um in der Pflege durch Angehörige den Fällen von Gewalt und Vernachlässigung<br />
präventiv zu begegnen, sollten pflegende Angehörige über ein großes Angebot<br />
von Entlastungsmöglichkeiten verfügen können. Hierzu gehören zum Beispiel tagesstrukturierende<br />
und unterstützende Einrichtungen, die Einrichtung von Notruftelefonen<br />
und Beratungsangeboten.<br />
Die Versorgung und der Schutz von hilfsbedürftigen Menschen ist eine Aufgabe, die der<br />
gesamten Gesellschaft zukommt. Aber auch jeder Einzelne ist gefordert, vor Missständen<br />
und Gewalt nicht die Augen zu verschließen und bei Verdachtsfällen die zuständigen<br />
Behörden und Aufsichtsinstanzen zu informieren.<br />
Ursula Pöhler<br />
Expertenstatements<br />
73<br />
■ In der stationären Pflege wurde bei 17 % der untersuchten Pflegebedürftigen ein<br />
„unzureichender Pflegezustand“ festgestellt. Das bedeutet, dass in den untersuchten<br />
Heimen jeder fünfte Pflegebedürftige „unzureichend“ gepflegt wird.<br />
Bei ca. 600.000 Pflegebedürftigen, die in stationären Einrichtungen leben, sind mehr<br />
als 100.000 Menschen derzeit von „unzureichender Pflege“ betroffen. Das ist nicht<br />
hinnehmbar. Jeder dieser Fälle ist ein Fall zuviel.