Im Zwielicht der Zeit - Buch ist mehr - Verlag 3.0
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Ellinor Wohlfeil<br />
<strong>Im</strong> <strong>Zwielicht</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
Familiensaga - Roman<br />
ISBN 978-3-944343-10-5 Edition BUCH + eBook<br />
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© 2013 by <strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong> Zsolt Majsai,<br />
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Coverbild: Ellinor Wohlfeil | http://ellinor-wohlfeil.de<br />
Covergestaltung: <strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong> | http://buch-<strong>ist</strong>-<strong>mehr</strong>.de<br />
Satz: <strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong> | http://buch-<strong>ist</strong>-<strong>mehr</strong>.de<br />
Redaktionelle Betreuung:<br />
Hubert Quirbach | http://sprache-und-auge.de<br />
Printed in EU
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese<br />
Publkation in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte<br />
bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de<br />
abrufbar.<br />
Ellinor Wohlfeil<br />
<strong>Im</strong> <strong>Zwielicht</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
Roman - Familiensaga Teil 1<br />
1912 - 1945<br />
<strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong>
Dem Andenken meiner Mutter
Die handelnden Personen sind frei erfunden, die<br />
Handlung des Romans orientiert sich jedoch an<br />
tatsächlichen Ereignissen.
Erster Teil<br />
G<br />
ertrud war siebzehn, als ihre Mutter starb.<br />
Die Todesursache war Diabetes.<br />
Zehn Jahre später sollte es Insulin geben, das so vielen<br />
Menschen, die an dieser Krankheit litten, ein halbwegs<br />
normales Leben ermöglichte. Aber damals – man<br />
schrieb das Jahr 1912 – waren sie Todeskandidaten.<br />
Gertrud stand wie in Trance am Bett ihrer Mutter und<br />
blickte starr auf <strong>der</strong>en bleiches, wächsernes Gesicht. Sie<br />
war schön, von einer unschuldigen, fast kindlichen<br />
Schönheit. Das braune Haar, das sie sonst <strong>der</strong> Mode<br />
entsprechend hochgesteckt trug, lag in losen Strähnen<br />
auf dem Kissen und umrahmte ihr stilles Antlitz.<br />
Plötzlich meinte Gertrud, sie leise atmen zu hören, zu<br />
sehen, wie sich ihre Brust ganz sacht hob und senkte.<br />
»Sie <strong>ist</strong> nicht tot, sie lebt!!! Die Ärzte haben sich<br />
geirrt!«, wollte sie aufschreien. Ihr war, als<br />
verschwände <strong>der</strong> Boden unter ihren Füßen und die<br />
Wände des Zimmers zögen sich zurück, als schwebe sie<br />
im leeren Raum, nur sie allein mit ihrer Mutter auf dem<br />
Totenbett, allein in einer öden, tiefschwarzen Finsternis.<br />
Sie drohte in einen Abgrund zu stürzen, aber ehe dies<br />
geschah, empfand sie einen ungeheuren Hunger nach<br />
Leben. Er durchzog ihre A<strong>der</strong>n, zerrte an je<strong>der</strong> Faser<br />
ihres Körpers mit übermächtigem Sehnen. Gleichzeitig<br />
spürte sie einen verzehrenden Schmerz, <strong>der</strong> sie<br />
6
auszulöschen schien. »Ich will leben, leben! Ich will<br />
leben!«, schluchzte sie auf und sank am Bett ihrer<br />
Mutter nie<strong>der</strong>. Sie weinte bis zur Erschöpfung. All die<br />
aufgestauten Gefühle des Tages – die verzweifelte<br />
Hoffnung, an die sie sich zunächst geklammert hatte,<br />
das langsame Begreifen <strong>der</strong> Endgültigkeit des<br />
Abschieds, <strong>der</strong> Lebenshunger und <strong>der</strong> unendliche<br />
brennende Schmerz – wurden mit <strong>der</strong> Tränenflut<br />
hinweggeschwemmt.<br />
Später setzte sie sich in den Sessel neben dem Bett<br />
<strong>der</strong> Toten und sank in einen unruhigen Schlaf, <strong>der</strong> von<br />
wirren Träumen begleitet war. Sie sah ihre Mutter, wie<br />
sie sie als Kind oft gesehen hatte, im Sessel sitzend, mit<br />
einer Handarbeit beschäftigt, still, freundlich zu<br />
je<strong>der</strong>mann, liebevoll zu ihren Kin<strong>der</strong>n. Aber ihre<br />
Liebkosungen waren nur flüchtig, sie strich ihren<br />
Kin<strong>der</strong>n leicht über das Haar, tätschelte zart ihre<br />
Wangen o<strong>der</strong> hauchte einen kaum spürbaren Kuss<br />
darauf, so als wolle sie sie nicht zu stark an sich binden,<br />
als ahne sie, dass sie früh von ihnen gehen würde. Sie<br />
vertiefte sich in ihre Stickerei. Unter ihren Händen<br />
entstanden kunstvolle Tischdecken, die man überall im<br />
Haus auf Tischen, Truhen und Kommoden bewun<strong>der</strong>n<br />
konnte. Und noch viele Jahre später, als längst<br />
Kunststoffe und maschinell bedruckte Tücher benutzt<br />
wurden, sollte sich ihre Enkelin Anna daran freuen,<br />
wenn sie diese Kunstwerke bei festlichen Gelegenheiten<br />
aus dem Schrank holte. Sie war immer ein wenig müde,<br />
still und geduldig, je<strong>der</strong> hatte sie gern. Die Krankheit,<br />
die ihr ständiger Begleiter war, ließ sie dem Leben mit<br />
einer gewissen Teilnahmslosigkeit begegnen. Sie liebte<br />
ihre Kin<strong>der</strong>, sie liebte ihren Mann, aber es war ihr<br />
7
stärker als an<strong>der</strong>en Menschen bewusst, dass sie ihr nur<br />
für eine kurze <strong>Zeit</strong>spanne ihres Lebens gegeben waren.<br />
In ihrem Traum war Gertrud wie<strong>der</strong> das kleine<br />
Mädchen, das zu den Füßen <strong>der</strong> Mutter saß und sich<br />
in ihren Rock kuschelte. Doch plötzlich entfernte<br />
sich ihre Mutter auf rätselhafte Weise, sie wurde<br />
durchsichtig, immer kleiner und schien ganz zu<br />
verschwinden. »Mama!«, schrie Gertrud auf, das<br />
Wort ihrer Kin<strong>der</strong>tage benutzend, und erwachte vom<br />
Klang ihrer eigenen Stimme. Sie rieb sich die<br />
Augen. Es dämmerte. Sie fühlte sich verlassen und<br />
allein. So sollte es ihr Leben lang bleiben. In<br />
Stunden tiefer Verzweiflung und<br />
Nie<strong>der</strong>geschlagenheit war sie immer allein.<br />
Gertrud hatte einen Sinn für das Praktische, und sie<br />
hatte die Fähigkeit zu Beherrschung und Disziplin, was<br />
ihr Wesen und ihre Gefühle betraf. Damit konnte sie<br />
später manche Krise in ihrem Leben bewältigen. In <strong>der</strong><br />
gegenwärtigen Situation halfen ihr diese Eigenschaften,<br />
die Trauer und die Ängste <strong>der</strong> Nacht in ihrem Herzen<br />
einzuschließen und sich den Dingen zuzuwenden, die<br />
nun erledigt werden mussten. Sie ging in die Küche, wo<br />
sie Fine, die Hausangestellte, schon am Herd hantieren<br />
hörte.<br />
»Ach, Fräulein Gertrud, mein Beileid«, sagte die Frau<br />
mit unsicherer Stimme und wischte sich mit dem<br />
Schürzenzipfel die Augen. Sie war schon lange in <strong>der</strong><br />
Familie. Gertruds Mutter hatte sie mitgebracht, als sie<br />
vom Rhein nach Braunschweig heiratete. Fine hatte die<br />
Kin<strong>der</strong> aufwachsen sehen. Aus Treue zu ihrer kranken<br />
Herrin hatte sie nie geheiratet. Inzwischen war sie ein<br />
ältliches Mädchen geworden, mit scharfen Zügen und<br />
8
abgearbeiteten Händen, aber ihre Augen waren voller<br />
Güte und Verstehen. Ohne die Hoffnung auf einen<br />
Mann und eigene Kin<strong>der</strong> hatte sie ihre Herrschaft zu<br />
ihrer Familie gemacht.<br />
»Der Herr Geheimrat hat die ganze Nacht Licht in<br />
seinem Zimmer gehabt. Er hat sicher gar nicht<br />
geschlafen«, redete Fine weiter, als sie Gertrud eine<br />
Tasse Kaffee hinstellte. »Der wird Ihnen gut tun,<br />
Fräulein Gertrud. Ach, wie schrecklich, dass die<br />
gnädige Frau so früh sterben musste, mit<br />
neununddreißig Jahren.«<br />
»Ja, Fine, es <strong>ist</strong> für uns alle ein großes Unglück«,<br />
antwortete Gertrud mit einer fast steifen Förmlichkeit.<br />
Man ließ sich vor den Dienstboten nicht gehen, auch<br />
wenn sie schon so lange im Haus waren wie Fine. Das<br />
gehörte sich nicht. »Deck den Frühstückstisch, ich<br />
werde nach meinem Vater und meinem Bru<strong>der</strong> sehen.«<br />
Der Geheime Hofrat Professor Dr. Friedrich Oertel<br />
hatte sich in seine Studierstube zurückgezogen. Wie<br />
betäubt saß er an seinem Schreibtisch. Es gelang ihm<br />
nicht, seine Gedanken zu ordnen. »Ich werde eine<br />
Haushälterin einstellen müssen ... Gertrud <strong>ist</strong> noch zu<br />
jung ... <strong>der</strong> Haushalt ... ich in meiner Stellung habe<br />
Verpflichtungen ... ich muss repräsentieren ...« Dann<br />
überwältigte ihn <strong>der</strong> Schmerz. Wie ein reißen<strong>der</strong> Fluss,<br />
<strong>der</strong> über die Ufer tritt und alle Dämme zerstört,<br />
überflutete er sein Inneres und löschte jede an<strong>der</strong>e<br />
Empfindung aus. Schwach und hilflos fühlte Oertel sich<br />
dem ausgeliefert, was geschehen war. Obwohl er über<br />
die Krankheit immer genau Bescheid gewusst hatte,<br />
konnte er in diesem Augenblick nicht begreifen, dass er<br />
9
seine Frau nun endgültig verloren haben sollte. Nie<br />
<strong>mehr</strong> würde sie ihn anlächeln, nie <strong>mehr</strong> ihre Hand leicht<br />
auf seine Schulter legen, niemals wie<strong>der</strong> mit ihrer<br />
sanften Stimme zu ihm sprechen. Es konnte nicht sein,<br />
es durfte nicht sein! Etwas in ihm wehrte sich mit aller<br />
Macht gegen diese grausame Wahrheit. Sein Kopf sank<br />
vornüber auf die Schreibtischplatte. Tränenloses,<br />
krampfhaftes Schluchzen erschütterte seinen Körper.<br />
So verharrte er lange <strong>Zeit</strong>, ohne etwas denken zu<br />
können, ganz dem Ansturm seiner Gefühle<br />
preisgegeben. Schließlich stand er auf, ging langsam<br />
zum Fenster und öffnete es. Die Nacht war schwül, die<br />
Luft schwer, er meinte, er müsse ersticken. Der Himmel<br />
war wolkenverhangen, kein Stern sandte einen<br />
Lichtschimmer in die Finsternis. In <strong>der</strong> Ferne donnerte<br />
es leise. Ab und zu erhellte Wetterleuchten am Horizont<br />
die Nacht. Vor dem geöffneten Fenster ging ein leichter<br />
Sommerregen nie<strong>der</strong>. Manchmal sprühte er Tropfen in<br />
Oertels Gesicht, aber er konnte dessen heiße Stirn nicht<br />
kühlen.<br />
Dieses Haus am Waldrand – er hatte es für sie gebaut.<br />
Es trug ihren Namen, »Lorenhöhe«. Sie sollte sich hier<br />
ausruhen, erholen, neue Kraft schöpfen. Nun war sie<br />
hier gestorben. Ihm war, als habe er, ohne es zu wissen,<br />
ein Mausoleum für sie erbaut. Lange stand er am Fenster<br />
und starrte in die Dunkelheit. Schließlich setzte er sich<br />
benommen, leer und ausgebrannt wie<strong>der</strong> an seinen<br />
Schreibtisch. Er stützte den Kopf in beide Hände. Er<br />
wusste nicht, wie spät es war, es interessierte ihn nicht.<br />
Er spürte nichts, gar nichts <strong>mehr</strong>, auch nicht den<br />
wütenden Schmerz, <strong>der</strong> sein Innerstes aufgewühlt hatte.<br />
Es war, als sei alles Leben aus ihm gewichen, als sei er<br />
10
mit ihr gestorben. Eine lange <strong>Zeit</strong> saß er so da, bis ihn<br />
plötzlich ein Geräusch aufschreckte.<br />
Mit Erstaunen nahm er wahr, dass Tageslicht ins<br />
Zimmer fiel. Die Tür war leise geöffnet worden. Gertrud<br />
stand im Türrahmen, gefasst, aber mit bleichem,<br />
übernächtigtem Gesicht. Sie ging auf den Vater zu. Eine<br />
Welle von Liebe und Mitgefühl stieg in ihr auf.<br />
Sie wusste, wie sehr er seine Frau geliebt, wie viel er mit<br />
ihr verloren hatte. Ihr eigener Schmerz um die tote<br />
Mutter ließ sie das Leid des Vaters mitfühlen. Sie<br />
schlang zärtlich die Arme um ihn, eine Geste, die es<br />
schon lange nicht <strong>mehr</strong> zwischen ihnen gegeben hatte.<br />
Er ließ es wie selbstverständlich geschehen. Gertrud<br />
konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater sie in den Arm<br />
genommen hatte, seit sie dem Kleinkindalter<br />
entwachsen war. Eine Respekt gebietende Autorität war<br />
immer von ihm ausgegangen, eine d<strong>ist</strong>anzierte Strenge.<br />
Die Kin<strong>der</strong> wussten sich von ihm geliebt, er gab ihnen<br />
Sicherheit und Geborgenheit. Aber gleichzeitig war die<br />
Übermacht seiner starken Persönlichkeit stets<br />
allgegenwärtig. Sein Wort war Gesetz. Je<strong>der</strong> hatte sich<br />
nach ihm zu richten. Wi<strong>der</strong>spruch o<strong>der</strong> kleine<br />
Ungehorsamkeiten wurden nicht geduldet. Er regierte<br />
sein Hauswesen und seine Familie wie ein guter<br />
Patriarch: mit Liebe, aber auch mit Strenge; mit<br />
Verantwortungsbewusstsein, aber Gehorsam for<strong>der</strong>nd;<br />
gerecht, aber unduldsam gegenüber Meinungen, die er<br />
nicht teilte; mit einer Autorität, die je<strong>der</strong> in seiner<br />
Umgebung spürte und die in seinem Charakter<br />
begründet war. Es schnitt Gertrud ins Herz, ihren<br />
starken Vater so zu sehen, gramgebeugt, ein schwacher<br />
Mensch.<br />
11
Friedrich Oertel entstammte einem alten<br />
nie<strong>der</strong>sächsischen Bauerngeschlecht. Er war zwar nicht<br />
<strong>mehr</strong> auf einem Hof aufgewachsen, doch sein großer,<br />
kräftiger Körperbau, seine robuste Gesundheit, seine<br />
Liebe und Verbundenheit zur Natur waren das Erbteil<br />
seiner bäuerlichen Vorfahren. Auch die Kraft seiner<br />
Persönlichkeit, die Willenstärke und Disziplin hatten<br />
ihren Ursprung in seiner Bindung an die bäuerliche<br />
Heimat. Sein Vater war zwar Beamter gewesen, denn<br />
<strong>der</strong> Hof wurde immer an den ältesten Sohn vererbt, und<br />
er war <strong>der</strong> Zweitgeborene, aber <strong>der</strong> Kontakt <strong>der</strong> Familie<br />
zu ihren bäuerlichen Verwandten und damit zu ihrem<br />
Ursprung blieb stets bestehen.<br />
Schon früh zeigten sich Oertels<br />
überdurchschnittliche Intelligenz und seine Begabung<br />
für die mathematischen und naturwissenschaftlichen<br />
Fächer. Er erhielt ein Stipendium und studierte nach<br />
dem Besuch des Gymnasiums an verschiedenen<br />
Universitäten Mathematik, Physik, Philosophie und<br />
Pädagogik. Sein Vater sah darin die Erfüllung eigener<br />
Träume und Wünsche. Er hoffte, es noch zu erleben,<br />
dass <strong>der</strong> Sohn eines Tages ein bedeuten<strong>der</strong><br />
Mathematiker würde, was ihm, dem Bauernsohn, trotz<br />
eigener Neigung und Begabung nicht möglich gewesen<br />
war. Er blieb zeitlebens ein kleiner Katasterbeamter, <strong>der</strong><br />
im Auftrag seiner Behörde Landvermessungen<br />
durchzuführen hatte.<br />
Friedrich Oertel war ehrgeizig und hatte eine hohe<br />
Meinung von sich selbst. Aber er stellte auch ebenso<br />
hohe Ansprüche an sich und seine<br />
Le<strong>ist</strong>ungsbereitschaft. Als ihm im Staatsexamen nur die<br />
Durchschnittsnote zwei plus zuerkannt wurde und er in<br />
12
den mündlichen Kommentaren zu seinen<br />
Prüfungsle<strong>ist</strong>ungen einige Kritik und Einschränkungen<br />
seitens <strong>der</strong> Prüfungskommission hinnehmen musste,<br />
beschwerte er sich bitter darüber in einem Brief an seine<br />
Eltern. Aber gleichzeitig führte er aus, dass er nun<br />
an<strong>der</strong>e Ziele habe. Er wolle sein Doktorexamen mit dem<br />
Grad »ad modum laudabilis« machen, ein einfaches<br />
»cum laude» wolle er an<strong>der</strong>en Leuten überlassen.<br />
Sein Staatsexamen berechtigte ihn, die Fächer, die<br />
er studiert hatte, am Gymnasium zu unterrichten. Er<br />
wurde jedoch, kurz nachdem er in den Schuldienst<br />
übernommen worden war, freigestellt, um einige Jahre<br />
lang <strong>der</strong> Erzieher des Prinzen Joachim Albrecht von<br />
Preußen zu sein. Danach habilitierte er sich als<br />
Privatdozent für Mathematik und folgte einem Ruf<br />
seines alten Lehrers an die Universität Göttingen. Zwei<br />
Jahre später wurde er Ordinarius an <strong>der</strong> Technischen<br />
Hochschule in Braunschweig, <strong>der</strong> er bis zu seinem<br />
Lebensende die Treue hielt. Zweimal wurde er im Laufe<br />
dieser <strong>Zeit</strong> zum Rektor berufen. Er schrieb einige<br />
mathematische Bücher, die viel Beachtung fanden.<br />
<strong>Im</strong> Alter von dreiunddreißig Jahren heiratete er<br />
Leonore, ein zwanzigjähriges Mädchen,<br />
Fabrikantentochter aus dem Rheinland. Sie war fröhlich<br />
und aufgeschlossen, den schönen Seiten des Lebens<br />
zugewandt. Sie brachte Farbe und Wärme in sein Leben,<br />
das Leben eines Wissenschaftlers und Gelehrten, das<br />
sich im Wesentlichen in seiner Studierstube über<br />
Büchern abspielte. Sie war <strong>der</strong> lebendige Mittelpunkt<br />
<strong>der</strong> Familie und des Hauswesens, bis die Schatten <strong>der</strong><br />
beginnenden Krankheit sie stiller und matter werden<br />
ließen. Sie schien <strong>mehr</strong> und <strong>mehr</strong> in eine unbestimmte<br />
13
Ferne entrückt zu sein, und eines Tages verlosch ihr<br />
Leben wie eine nie<strong>der</strong>gebrannte Kerze. Gertrud hatte<br />
von ihrer Mutter die Freude am Leben geerbt. Aber es<br />
war auch etwas von <strong>der</strong> Strenge und Verschlossenheit<br />
des Vaters in ihr, das sich in späteren Lebensjahren, in<br />
den Konflikten ihres eigenen Schicksals, <strong>mehr</strong> und <strong>mehr</strong><br />
zeigen sollte.<br />
Am 28. August<br />
1912,<br />
spätabends<br />
G<br />
estern haben wir Mutter begraben. Ich bin<br />
noch immer wie betäubt! Bis jetzt war ich<br />
nicht in <strong>der</strong> Lage, ein Wort zu schreiben.<br />
Meine Hände zitterten so sehr, ich konnte die<br />
Schreibfe<strong>der</strong> nicht halten. Dass sie so früh von uns<br />
gehen musste – das kann ich nicht begreifen! Sie war<br />
krank, ja, wir wussten es schon lange, aber zuletzt<br />
ging alles so schnell! Die ganze Nacht habe ich an<br />
ihrem Bett gesessen, als <strong>der</strong> Arzt gegangen war und<br />
Vater den Totenschein gegeben hatte. ›Totenschein‹ –<br />
was für ein grässliches Wort! Sie sah aus, als ob sie<br />
schliefe. Ich hatte das Gefühl, als müsse sie jeden<br />
Augenblick aufwachen, ihre Augen aufschlagen und<br />
ihre Arme nach mir ausstrecken. Aber sie lag nur still<br />
da. Und nun liegt sie in <strong>der</strong> dunklen Erde und kommt<br />
nicht <strong>mehr</strong> zurück.<br />
Es war eine große Beerdigung, aber ich habe alles<br />
nur wie im Traum erlebt. Ich hatte so ein Gefühl, als<br />
säße ich unter einer Glasglocke und das, was da<br />
14
geschah, käme nicht wirklich an mich heran. Den Sarg,<br />
<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Fülle von Blumen und Kränzen kaum noch<br />
zu sehen war, den Gesang des Hochschulchores, den<br />
Klang <strong>der</strong> Orgel, die Worte des Pfarrers – das alles<br />
habe ich nur wie von ferne wahrgenommen. Ich weiß<br />
auch nicht <strong>mehr</strong>, wer mir später am offenen Grab die<br />
Hand gedrückt und was man zu mir gesagt hat. Es<br />
waren, glaube ich, immer dieselben Worte. Viele<br />
Menschen waren gekommen, denn Mutter war überall<br />
beliebt, und Vater <strong>ist</strong> ja eine bekannte Persönlichkeit.<br />
Wie er die ganze Zeremonie überstanden hat, so gefasst<br />
und würdevoll, das kann ich nur bewun<strong>der</strong>n, denn ich<br />
weiß doch, wie er leidet. Paul hat viel geweint. Er <strong>ist</strong> ja<br />
auch erst fünfzehn und sehr sensibel. Ich glaube, dass<br />
die Mutter ihm ganz beson<strong>der</strong>s fehlen wird, denn Vater<br />
<strong>ist</strong> oft sehr streng mit ihm.<br />
Wie wird es jetzt weitergehen? Das Haus <strong>ist</strong> so leer<br />
ohne sie. Wenn ich ins Wohnzimmer komme, dann meine<br />
ich, sie müsse in ihrem Sessel sitzen und sticken, so wie<br />
sie es immer getan hat. Doch sie wird nie <strong>mehr</strong> in diesem<br />
Sessel sitzen. Ich werde mich mit <strong>der</strong> bitteren Wahrheit<br />
abfinden müssen. Wir haben alle nicht daran gedacht,<br />
dass wir sie verlieren könnten, jedenfalls jetzt noch<br />
nicht. Ich bin unendlich traurig!<br />
Die Familie kehrte nach den Trauerfeierlichkeiten<br />
nicht nach Harzburg zurück. Man blieb in dem<br />
Stadthaus in Braunschweig. Friedrich Oertel hätte es<br />
nicht ertragen, sich in den Räumen aufzuhalten, wo ihn<br />
alles an den Abschied von seiner Frau erinnerte, an ihre<br />
letzten Stunden, an ihre immer schwächer werdenden<br />
Atemzüge, die das Leben mit sich fortnahmen und<br />
gleichzeitig auch alle seine Hoffnungen. Manchmal fuhr<br />
15
er zwar an den Wochenenden nach Harzburg, ohne<br />
jedoch einen Fuß in sein Haus zu setzen. Er machte<br />
stundenlang einsame Wan<strong>der</strong>ungen durch die Wäl<strong>der</strong><br />
und über die Harzberge, aber abends kam er stets wie<strong>der</strong><br />
mit dem letzten Zug in Braunschweig an. Er brauchte<br />
die Einsamkeit in <strong>der</strong> Natur, um sich wie<strong>der</strong>zufinden<br />
und um seinen Schmerz zu verarbeiten. Über Gefühle<br />
zu reden, im Gespräch mit an<strong>der</strong>en Trost zu suchen war<br />
seinem Charakter fremd. Zeigte er sich in seiner<br />
beruflichen und gesellschaftlichen Stellung auch<br />
aufgeschlossen und wortgewandt, seine innersten<br />
Empfindungen verschloss er vor an<strong>der</strong>en Menschen tief<br />
in seinem Herzen. Das Bild, das er von sich selbst hatte,<br />
war das einer starken Persönlichkeit. Die verletzliche<br />
Seite seines Wesens gestand er sich nicht ein. Er lehnte<br />
es ab, vor an<strong>der</strong>en Schwäche zu zeigen. Nur Leonore<br />
hatte wissen dürfen, dass auch er verwundbar war.<br />
In dem großen Haus herrschte eine düstere<br />
Stimmung. Es war nicht allein die gewittrige Schwüle<br />
<strong>der</strong> Augusthitze, die alles lähmte. Gertrud hatte das<br />
Gefühl, dass in allen Ecken die Trauer saß, wie eine<br />
lebensfeindliche, unerbittliche Göttin, und sie anstarrte.<br />
Sie vermisste ihre Mutter unendlich. Wenn Leonore<br />
Oertel auch in den letzten Jahren immer stiller geworden<br />
war, so hatte sie doch mit ihrem freundlichen, etwas<br />
müden Lächeln und mit ihrer leisen Stimme, die voller<br />
Anteilnahme war, Wärme und Zärtlichkeit verbreitet.<br />
Gertrud empfand deutlich mit jener hellsichtigen<br />
Klarheit, die durch starke Erschütterungen<br />
hervorgerufen werden kann, dass sie mit ihrer Mutter<br />
einen wesentlichen Teil ihres Lebens unwi<strong>der</strong>ruflich<br />
16
verloren hatte. Sie bewun<strong>der</strong>te ihren Vater, sie hatte die<br />
größte Hochachtung vor ihm, aber liebte sie ihn? Wollte<br />
er überhaupt Liebe? Wollte er nicht vielleicht nur<br />
respektiert werden, geachtet werden, bewun<strong>der</strong>t<br />
werden? Die Mutter hatte ihn geliebt. Und seine<br />
verzweifelte Trauer zeugte von <strong>der</strong> tiefen Liebe zu<br />
seiner Frau. Vielleicht hat er all seine Liebesfähigkeit in<br />
<strong>der</strong> Beziehung zu ihr erschöpft? Dieser Gedanke kam<br />
Gertrud plötzlich in den Sinn. Mit einer ruckartigen<br />
Bewegung strich sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht,<br />
als wollte sie ihn verscheuchen, und wandte sich <strong>der</strong><br />
Post zu, die vor ihr auf dem Tisch lag.<br />
Ein Sonnenstrahl fiel durch das Erkerfenster des<br />
großen Wohnzimmers und ließ kleine Staubkörnchen<br />
aufblitzen. Gertrud hatte es übernommen, die<br />
Kondolenzbriefe zu beantworten, um dem Vater diese<br />
traurige Arbeit abzunehmen. An dem kleinen<br />
Schreibtisch im Erker ging sie die Briefe durch. Dabei<br />
wun<strong>der</strong>te sie sich, dass viele Bekannte offenbar gar<br />
nicht gewusst hatten, dass ihre Mutter krank gewesen<br />
war. Sie las immer wie<strong>der</strong>, dass man erstaunt sei über<br />
ihren frühen Tod. Oft wurde Gertrud auch damit<br />
getröstet, dass sie ja nun die schöne Aufgabe habe, für<br />
ihren Vater und ihren Bru<strong>der</strong> zu sorgen und die<br />
Hausfrau zu ersetzen. Sie würde sicher Erfüllung und<br />
Befriedigung darin finden, und das würde ihr über ihren<br />
eigenen Schmerz hinweghelfen. Die<br />
Selbstverständlichkeit dieser Erwartungen überraschte<br />
sie. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. <strong>Im</strong><br />
Augenblick versorgte sie mit Fine und einer Zugehfrau<br />
den kleinen Haushalt, aber so würde es wohl nicht<br />
bleiben. Vater wollte ja eine Haushälterin engagieren.<br />
17
Doch wie konnte Hausarbeit einen Menschen ersetzen?<br />
Mit dem Gefühl, dass man hier über sie verfügen wollte,<br />
dass man ihr Pflichten diktierte, die sie nur selbst aus<br />
freien Stücken übernehmen könnte, legte sie die Briefe<br />
beiseite.<br />
Die Mahlzeiten wurden gemeinsam im Esszimmer<br />
eingenommen, das hinter dem Wohnzimmer lag. Es war<br />
ein großer Raum, halb hoch mit Eichenholz getäfelt,<br />
was ihm eine behagliche, aber etwas düstere<br />
Atmosphäre verlieh. Den Abschluss <strong>der</strong> Täfelung<br />
bildete ein Bord, auf dem Krüge und Teller aus Zinn<br />
o<strong>der</strong> Keramik standen. An <strong>der</strong> einen Seite befanden sich<br />
ein Büfett zur Unterbringung des Geschirrs und des<br />
Tafelsilbers und eine Anrichte, darauf stand ein<br />
schwerer silberner Kerzenleuchter. In <strong>der</strong> Mitte<br />
dominierte ein großer ausziehbarer Tisch mit vier<br />
Stühlen. Ein wuchtiger Kronleuchter hing darüber. Das<br />
Esszimmer war vom Wohnzimmer durch eine Flügeltür<br />
getrennt. Wenn sie geöffnet wurde, konnte man aus den<br />
beiden Zimmern einen großen repräsentativen Raum<br />
machen, in dem die Diners stattfanden, die Friedrich<br />
und Leonore Oertel ihrer gesellschaftlichen Stellung<br />
gemäß hatten geben müssen.<br />
Das Wohnzimmer wurde auch <strong>der</strong> »Salon« genannt.<br />
Ein kostbarer Teppich bedeckte den Fußboden. Die<br />
Seidentapete an den Wänden, das zierliche Sofa und die<br />
dazu gehörenden Sesselchen sowie <strong>der</strong> kleine<br />
Schreibtisch im Erker waren mit viel Geschmack<br />
ausgesucht worden. Diese Einrichtung trug Leonores<br />
Handschrift.<br />
18
<strong>Im</strong> Erdgeschoss gab es dann noch das Musikzimmer,<br />
in dem <strong>der</strong> große Flügel stand. Hier fanden regelmäßig<br />
Hauskonzerte statt, denn Friedrich Oertel spielte sehr<br />
gut Cello, und Gertrud hatte sich zu einer tüchtigen<br />
Pian<strong>ist</strong>in entwickelt. Auch Paul machte auf <strong>der</strong> Geige<br />
gute Fortschritte. Einige Kollegen des Hausherrn waren<br />
gleichfalls bege<strong>ist</strong>erte Musiker, und so hatte man sich<br />
immer gern im Oertelschen Hause zum Musizieren<br />
getroffen.<br />
<strong>Im</strong> Souterrain lag die Küche. Sie war ziemlich dunkel<br />
und ging auf einen kleinen gepflasterten Hof hinaus. In<br />
den oberen Stockwerken befanden sich das<br />
Studierzimmer des Professors sowie das Schlafzimmer<br />
und die Zimmer <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />
Oertel saß mit seinen Kin<strong>der</strong>n bei Tisch. Wohlgefällig<br />
betrachtete er seine Tochter. Fine hatte soeben die<br />
Suppe gebracht, und Gertrud füllte zunächst den Teller<br />
des Vaters, dann den des Bru<strong>der</strong>s und zuletzt ihren<br />
eigenen. Sie bewegte sich anmutig und mit einer<br />
natürlichen Grazie. Plötzlich kam ihm zum<br />
Bewusstsein, dass seine Tochter kein Kind <strong>mehr</strong> war.<br />
Sie hatte sich zu einer hübschen jungen Frau entwickelt.<br />
Das leicht gewellte dunkle Haar umrahmte ihr ovales<br />
Gesicht und gab ihm einen weichen Ausdruck. Das<br />
Schönste in diesem Antlitz aber waren die großen<br />
braunen Augen mit ihrem träumerischen Glanz. Ich<br />
werde einen Mann für sie finden müssen, dachte Oertel.<br />
Es wird nicht schwer sein. Ich werde dafür sorgen, dass<br />
sie eine gute Partie macht, dass sie sich standesgemäß<br />
verheiratet. Ein warmes Gefühl <strong>der</strong> Zuneigung<br />
durchströmte ihn.<br />
19
Dann wan<strong>der</strong>te sein Blick zu Paul, seinem Sohn. Er<br />
setzte große Hoffnungen in ihn. Er wünschte, dass Paul<br />
einmal ein tüchtiger Naturwissenschaftler werden<br />
würde, vielleicht Mathematiker, wie er selbst, vielleicht<br />
sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl, den er jetzt<br />
innehatte. Seine Neigungen zur Theologie ... sie würden<br />
vergehen. Er war ja noch Gymnasiast. Seine<br />
Entwicklung war noch nicht abgeschlossen. Seine<br />
Zeugnisnoten waren durchweg gut, aber sie ließen keine<br />
herausragende Begabung erkennen. Man würde sehen,<br />
er war ja noch jung, sein Charakter noch im Werden.<br />
Fine kam wie<strong>der</strong> herein. Sie stellte eine Platte mit<br />
Braten auf den Tisch und holte dann Schüsseln mit<br />
Blumenkohlgemüse, Kartoffeln und Sauce. Nachdem<br />
Oertel sich genommen hatte, reichte er die Speisen<br />
weiter an seine Kin<strong>der</strong>. Es wurde wenig gesprochen<br />
während des Essens. Die Geschw<strong>ist</strong>er waren von klein<br />
auf so erzogen worden, bei den Mahlzeiten nur dann<br />
etwas zu sagen, wenn sie gefragt wurden. Der Vater<br />
hatte sich früher bei Tisch mit <strong>der</strong> Mutter unterhalten,<br />
aber jetzt war er schweigsam geworden. Der leere Stuhl<br />
war für alle drei eine ständige schmerzliche Erinnerung<br />
daran, was sie unwie<strong>der</strong>bringlich verloren hatten.<br />
»Hast du heute schon geübt?«, unterbrach Oertel die<br />
Stille und wandte sich an seinen Sohn.<br />
»Ja, zwei Stunden. Es sind ja noch Ferien.«<br />
»Brav«, lobte <strong>der</strong> Vater ihn. »So kann aus dir etwas<br />
werden.«<br />
Gertrud nutzte die Gelegenheit und ergriff das Wort:<br />
»Vater, sollten wir nicht unsere Hauskonzerte wie<strong>der</strong><br />
aufnehmen? Du hast doch immer so viel Freude daran<br />
gehabt. Das kann dich vielleicht auf an<strong>der</strong>e Gedanken<br />
20
ingen. Du wirst noch ganz krank vor lauter<br />
Traurigkeit.« Sie sah ihn an, voller Mitgefühl und<br />
Zärtlichkeit.<br />
Er erwi<strong>der</strong>te ihren Blick. »Vielleicht hast du recht.<br />
Ich werde es mir überlegen.«<br />
Fine brachte die Nachspeise. Es wurde kein weiteres<br />
Wort <strong>mehr</strong> gesprochen. Schließlich stand <strong>der</strong> Professor<br />
auf und begab sich in sein Studierzimmer. Das war das<br />
Zeichen für die Kin<strong>der</strong>, sich auch zurückzuziehen. Paul<br />
ging in sein Zimmer und las. Gertrud half Fine beim<br />
Aufräumen <strong>der</strong> Küche und beim Spülen des Geschirrs.<br />
Als die Arbeit erledigt war, ging auch sie auf ihr<br />
Zimmer.<br />
15.<br />
Oktober, nach dem<br />
Mittagessen<br />
E<br />
s <strong>ist</strong> alles so trostlos, es herrscht so eine<br />
beklemmende<br />
Stimmung im Haus. Manchmal<br />
denke ich, ich kann es nicht <strong>mehr</strong> aushalten, und dann<br />
möchte ich am liebsten davonlaufen. Vater spricht nur<br />
das Nötigste. Mit Paul rede ich manchmal über Mutter,<br />
und dann weinen wir beide. Aber das Leben geht doch<br />
auch weiter. Wenn wir uns in unserem Kummer<br />
vergraben, das macht Mutter auch nicht wie<strong>der</strong><br />
lebendig. Ich bin oft so verzweifelt, weil sie nicht <strong>mehr</strong><br />
bei uns <strong>ist</strong>, aber dann denke ich auch wie<strong>der</strong>, ich bin<br />
doch noch jung. Soll mein Leben so weitergehen?<br />
An<strong>der</strong>erseits, was soll ich denn machen? Ich kann Vater<br />
21
und Paul jetzt nicht allein lassen. Sie brauchen mich,<br />
und ich habe sie doch auch lieb. Wir trauern alle um<br />
Mutter, und wir müssen uns gegenseitig be<strong>ist</strong>ehen, so<br />
gut es geht. Wie kann ich Vater nur helfen, wie kann ich<br />
ihn aus seiner Verschlossenheit herausholen? Er wird<br />
noch krank werden! Wenn wir die Hauskonzerte wie<strong>der</strong><br />
aufnehmen könnten! Er hat früher so viel Freude daran<br />
gehabt. Ich werde ihm ein bisschen zureden. Vielleicht<br />
hilft ihm die Musik.<br />
Aber es gibt da noch etwas an<strong>der</strong>es, was mir immer<br />
wie<strong>der</strong> durch den Kopf geht, wenn ich daran denke<br />
wegzulaufen. Wo soll ich denn hin, ein Mädchen, das<br />
nur die Höhere Töchterschule besucht hat und sonst<br />
nichts kann? Vater will ja nicht, dass ich einen Beruf<br />
erlerne. Er sagt, ich solle heiraten und bis dahin im<br />
Elternhaus bleiben. Ich hätte es nicht nötig, zu arbeiten<br />
und Geld zu verdienen. Doch heutzutage haben schon<br />
so viele junge Frauen eine Ausbildung und sind<br />
berufstätig, zum Beispiel als Sekretärinnen, als<br />
Lehrerinnen o<strong>der</strong> Krankenschwestern. Manche haben<br />
sogar studiert und sind Ärztinnen o<strong>der</strong><br />
Rechtsanwältinnen. Was <strong>ist</strong> dagegen einzuwenden? Ich<br />
verstehe Vater nicht. Jetzt <strong>ist</strong> mein Platz hier, das weiß<br />
ich, bis wir alle ein wenig über Mutters Tod<br />
hinweggekommen sind, wenn man überhaupt je darüber<br />
hinwegkommen kann. Aber später, in zwei o<strong>der</strong> drei<br />
Jahren vielleicht, werde ich versuchen, von Vater die<br />
Erlaubnis für eine Berufsausbildung zu bekommen.<br />
Warum soll eine Frau nicht auch ein bisschen<br />
Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Leben haben?<br />
Ein Jahr nach Leonore Oertels Tod kam Emmy ins<br />
Haus. Sie sollte ein Glücksfall für die Familie werden.<br />
Emmy stammte aus einer westfälischen<br />
22
Industriellenfamilie. Sie war Mitte dreißig, als sie in das<br />
Oertelsche Haus kam, eine praktische, tüchtige Frau, die<br />
überall da mit anpackte, wo es notwendig war, und die<br />
keine Arbeit scheute. Gertrud ging ihr gern zur Hand.<br />
Heute waren die beiden Frauen in <strong>der</strong> Küche<br />
beschäftigt. Oertel erwartete am nächsten Tag Gäste,<br />
und Emmy bereitete einen Kalbskopf in Aspik vor, <strong>der</strong><br />
bei allen so beliebt war. »Sie dürfen die Stücke nicht zu<br />
groß schneiden, aber auch nicht zu klein, Fräulein<br />
Gertrud, etwa so.« Sie zeigte Gertrud, die dabei war, das<br />
Fleisch und das Gemüse zu zerteilen, wie sie es meinte.<br />
»Eines Tages werden Sie auch eine Hausfrau sein, dann<br />
müssen Sie kochen können.« Sie nickte ihr aufmunternd<br />
zu.<br />
»Wo haben Sie das alles gelernt?«, wollte Gertrud<br />
wissen.<br />
»In <strong>der</strong> Haushaltsschule von Hedwig Heyl in Berlin.<br />
Sie hat auch das große Kochbuch geschrieben, das dort<br />
steht.« Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, deutete sie<br />
mit einer Kopfbewegung in Richtung Regal. »Eine<br />
Hausfrau muss doch die feine Küche kennen, aber auch<br />
einfache Gerichte schmackhaft zubereiten können. Sie<br />
muss wissen, wie man die Wäsche richtig pflegt und das<br />
Silber. Und wie man Hühner und Gänse schlachtet, das<br />
stand auch auf unserem Programm.«<br />
Gertrud starrte Emmy entge<strong>ist</strong>ert an. Ein Schauer lief<br />
ihr über den Rücken. Sie sah Emmy vor sich, ein Beil in<br />
<strong>der</strong> einen Hand und mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en das Tier festhaltend,<br />
dem sie gleich den Kopf abschlagen würde. Sie<br />
schüttelte sich bei dem Gedanken.<br />
»Das muss man können, wenn man in einem<br />
Landhaushalt arbeitet«, sagte Emmy mit Überzeugung.<br />
23
Sie scheint gar nichts dabei zu finden, dachte<br />
Gertrud, noch immer schockiert. So eine<br />
Haushaltsschule, das wäre nichts für mich. Sie war mit<br />
ihrer Arbeit fertig, stand auf und wusch sich die Hände.<br />
Emmy goss die Gelatinelösung über die Fleisch- und<br />
Gemüsestücke und stellte die Schüssel kalt. »Helfen Sie<br />
mir noch, die Wäsche wegzuräumen, Fräulein<br />
Gertrud?«<br />
Sie gingen nach oben zu dem großen Wäscheschrank,<br />
vor dem bereits <strong>der</strong> Korb mit <strong>der</strong> gebügelten Wäsche<br />
stand. Gertrud beobachtete, wie Emmy die Laken und<br />
Bezüge ganz genau aufeinan<strong>der</strong> legte und die<br />
Wäschestapel mit rosa Bändchen zusammenband. Alle<br />
Schleifen sahen genau gleich aus, exakt wie Soldaten,<br />
dachte Gertrud.<br />
»Ordnung muss sein, und es soll doch auch hübsch<br />
aussehen.« Emmy hatte Gertruds erstaunten Blick<br />
bemerkt. Über ihr Gesicht glitt ein Lächeln.<br />
Gertrud fand die Bän<strong>der</strong> mit den Schleifen<br />
überflüssig. Das werde ich später bestimmt nicht so<br />
machen, dachte sie, als sie Emmy die Wäschestapel<br />
anreichte. Warum hat sie eigentlich nicht geheiratet, wo<br />
sie doch so eine perfekte Hausfrau <strong>ist</strong>? Sie betrachtete<br />
Emmy verstohlen von <strong>der</strong> Seite. Ihre große, etwas<br />
grobknochige Figur, ihr scharf geschnittenes Gesicht,<br />
ihre selbstbewusste Art ... das <strong>ist</strong> sicher nichts für<br />
Männer. Die wollen ein anschmiegsames Weibchen.<br />
Aber als anschmiegsames Weibchen konnte Gertrud<br />
sich Emmy nicht vorstellen. Vielleicht wollte sie gar<br />
nicht heiraten und lieber unabhängig sein, das würde zu<br />
ihr passen.<br />
24
Am Abend schickte Oertel Gertrud zu Emmy, um ihr<br />
etwas auszurichten. Gertrud fand sie in ihrem Zimmer<br />
im Sessel neben <strong>der</strong> Stehlampe sitzend, ein <strong>Buch</strong> in <strong>der</strong><br />
Hand.<br />
»Setzen Sie sich, Fräulein Gertrud.« Emmy zeigte<br />
auf einen Stuhl und legte das <strong>Buch</strong> in den Schoß. Johann<br />
Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, las Gertrud.<br />
Ihr Blick ging durch den Raum, umfasste das akkurat<br />
zugedeckte Bett, den Tisch mit <strong>der</strong> gestärkten<br />
Spitzendecke, die Waschkommode mit <strong>der</strong> geblümtem<br />
Waschschüssel und <strong>der</strong> dazu passenden Wasserkanne.<br />
An <strong>der</strong> Wand entdeckte sie ein Bücherregal, in dem<br />
weitere Bände von Goethe standen neben Schiller und<br />
Shakespeare und Büchern von Heine, Tolstoi und<br />
Fontane. Gertrud staunte. Das war eine ganz an<strong>der</strong>e<br />
Emmy, so kannte sie sie gar nicht.<br />
»Warum sind sie gekommen, Fräulein Gertrud?«,<br />
riss Emmys Stimme sie aus ihren Gedanken. »Sollen<br />
Sie mir etwas vom Herrn Geheimrat ausrichten, o<strong>der</strong><br />
wollen Sie mich besuchen?« Sie bemerkte Gertruds<br />
Verlegenheit und lächelte ihr freundlich zu.<br />
Gertrud besann sich. »Vater lässt Ihnen sagen, dass er<br />
morgen früh das Frühstück eine halbe Stunde früher als<br />
sonst haben möchte. Er hat vor <strong>der</strong> Vorlesung noch<br />
etwas zu erledigen.«<br />
Emmy nickte. »Das geht in Ordnung.«<br />
Was für eine eigenartige Frau, dachte Gertrud beim<br />
Hinausgehen. Morgens arbeitet sie in <strong>der</strong> Küche,<br />
erzählt, dass sie Hühner und Gänse schlachten kann, und<br />
abends liest sie Klassiker.<br />
25
Novembernebel hing zwischen den kahlen Zweigen<br />
<strong>der</strong> Bäume. Die Luft schien gesättigt zu sein mit<br />
Tausenden kleiner Wassertropfen. Sie verwischten die<br />
Konturen <strong>der</strong> Straßenlaternen und zerstreuten ihr Licht<br />
in einem milchigen Schimmer. Die Häuser, die<br />
Sträucher und Zäune <strong>der</strong> Vorgärten, die wenigen<br />
Menschen, die in diesem ungemütlichen Wetter<br />
unterwegs waren – alles wurde von ihnen in undeutliche<br />
Schemen verwandelt, die plötzlich auftauchten und<br />
wie<strong>der</strong> verschwanden. Auch das Licht <strong>der</strong> hohen,<br />
schmalen Erkerfenster des Hauses Kaiser-Wilhelm-<br />
Straße 17 wurde von <strong>der</strong> feuchten Dunkelheit<br />
verschluckt. Wer zufällig vorbeiging, hörte Musik,<br />
Klavier und Geigenklang, wie von ferne durch die<br />
geschlossenen Fenster dringen.<br />
Es gab wie<strong>der</strong> Hausmusik bei <strong>der</strong> Familie Oertel.<br />
Gertrud hatte ihrem Vater von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> vorsichtig<br />
zugeredet, um ihn aus seiner Trauer herauszureißen.<br />
Schließlich hatte er nachgegeben. <strong>Im</strong> ganzen Haus war<br />
seit dem Morgen eine erwartungsvolle, freudige<br />
Spannung zu spüren. Paul, <strong>der</strong> zum ersten Mal im<br />
Quartett die zweite Geige spielen durfte, übte in seinem<br />
Zimmer eifrig seine Stimme. Auch Gertrud spielte noch<br />
einmal den Klavierpart des Haydn-Trios durch, das<br />
heute Abend unter an<strong>der</strong>em auf dem Programm stand.<br />
Die drei Stücke aus den Kin<strong>der</strong>szenen von Schumann<br />
und die beiden Préludes von Chopin, die sie außerdem<br />
spielen wollte, konnte sie gut. Sie beschloss, dass es<br />
nicht nötig sei, sie noch einmal anzusehen. Emmy war<br />
schon vom frühen Morgen an beschäftigt. Martha, ein<br />
junges Mädchen, das sie als Haushaltshilfe eingestellt<br />
hatte, weil Fine gegangen war, ging ihr dabei zur Hand.<br />
26
Sie fühle sich inzwischen zu alt, hatte Fine gesagt. Aber<br />
es war wohl eher so, dass sie sich an die Verän<strong>der</strong>ungen<br />
im Hause Oertel nicht <strong>mehr</strong> gewöhnen konnte. Das<br />
Musikzimmer, in dem <strong>der</strong> große Flügel stand, musste<br />
hergerichtet werden. Die drei Klubsessel und <strong>der</strong> kleine<br />
Tisch wurden beiseitegerückt, damit das Streichquartett<br />
in <strong>der</strong> Mitte Platz hatte. Aus dem Esszimmer holten die<br />
beiden Frauen vier Stühle herein und stellten sie in<br />
einem Halbkreis vor dem Flügel auf. Zwei große<br />
Kerzenleuchter wurden so angeordnet, dass sie die<br />
Notenpulte zusätzlich beleuchten konnten, wenn das<br />
Licht des Kronleuchters an <strong>der</strong> Decke nicht ausreichen<br />
sollte.<br />
Nach dem Mittagessen ging die Arbeit in <strong>der</strong> großen<br />
Küche im Souterrain weiter. Emmy hatte geplant, in <strong>der</strong><br />
Pause als Erfrischung »dänische Brötchen« und Punsch<br />
zu servieren.<br />
»Schade, dass wir in dieser Jahreszeit keine frische<br />
Petersilie und keine Radieschen haben«, sagte<br />
Emmy zu Martha, »es würde noch hübscher<br />
aussehen.«<br />
Die Platte mit den Brötchen wurde kühl gestellt. Der<br />
Teepunsch konnte erst im letzten Moment zubereitet<br />
werden, da er ja warm getrunken wurde. Aber Emmy<br />
stellte schon einmal den Rotwein, den Rum, Zucker und<br />
Tee bereit, damit nachher alles schnell ging. Zufrieden<br />
betrachteten die beiden Frauen ihr Werk.<br />
Oertel merkte nichts von all <strong>der</strong> Geschäftigkeit. Er<br />
saß in seinem Studierzimmer über seinen Büchern.<br />
Seinen Part brauchte er nicht zu üben, denn er war ein<br />
versierter Cell<strong>ist</strong>, und sowohl das Streichquartett von<br />
Boccherini als auch das Haydn-Trio stellten an ihn keine<br />
27
großen Anfor<strong>der</strong>ungen. Das Boccherini-Quartett hatte<br />
ihm sein Freund und Kollege, Professor Reisinger,<br />
gegeben, <strong>der</strong> heute Abend, wie an so vielen<br />
Hausmusikabenden im Hause Oertel, die Bratsche<br />
spielen sollte. Er hatte die Stimmen gleich<br />
weitergegeben, damit die übrigen Mitspieler sich<br />
vorbereiten konnten: die für die zweite Geige seinem<br />
Sohn Paul, und die für die erste Geige Wilhelm Zeidler,<br />
<strong>der</strong> auch die Geigenstimme für das Haydn-Trio<br />
bekommen hatte.<br />
Wilhelm Zeidler war einer von Oertels Studenten. Er<br />
war dem Professor neulich bei einem Hochschulkonzert<br />
als vielversprechen<strong>der</strong> junger Geiger aufgefallen. Weil<br />
sein an<strong>der</strong>er Kollege, <strong>der</strong> sonst im Quartett <strong>der</strong> »Erste«<br />
war, heute nicht kommen konnte, hatte er Wilhelm<br />
gebeten, ihn zu vertreten. Der junge Mann empfand es<br />
als eine beson<strong>der</strong>e Ehre, von seinem Professor zum<br />
privaten Musizieren eingeladen zu werden, und sagte<br />
natürlich hocherfreut zu.<br />
Pünktlich um achtzehn Uhr, zur verabredeten <strong>Zeit</strong>,<br />
klingelte Wilhelm Zeidler an <strong>der</strong> Tür des Hauses<br />
Kaiser-Wilhelm-Straße 17.<br />
»Herzlich willkommen in meinem Heim, lieber<br />
Wilhelm«, begrüßte Oertel seinen Studenten. Auf<br />
Professor Reisinger musste man noch warten. Wie<br />
immer kam er fünfzehn Minuten zu spät. Er war eben an<br />
das akademische Viertel gewöhnt. »Scheußliches<br />
Wetter«, murmelte er ein bisschen atemlos, als er seine<br />
Gummiüberschuhe auszog und an <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe<br />
abstellte. Professor Reisinger war ein eher kleiner, etwas<br />
korpulenter Herr mit einem runden, freundlichen<br />
28
Gesicht. Die Fältchen an seinen Augenwinkeln<br />
vermittelten den Eindruck, dass er gern lachte.<br />
»Kommen Sie herein, lieber Kollege.« Der Hausherr<br />
führte ihn in den Salon. »Gertrud wird uns zunächst<br />
etwas auf dem Klavier spielen. Da haben Sie <strong>Zeit</strong> zu<br />
verschnaufen, und Ihr Instrument kann sich an die<br />
Zimmertemperatur gewöhnen.« Oertel, Reisinger und<br />
Emmy nahmen in den Sesseln Platz, Paul und Wilhelm<br />
Zeidler setzten sich auf die Stühle, die für die<br />
Quartettspieler bestimmt waren.<br />
Gertrud, die schon bei Hochschulkonzerten<br />
öffentlich gespielt hatte, ging ohne Scheu und völlig<br />
unbefangen zum Flügel und setzte sich auf den Hocker.<br />
Noten brauchte sie nicht, sie konnte die Stücke<br />
auswendig. Sie konzentrierte sich kurz und begann mit<br />
<strong>der</strong> »Träumerei« aus den Kin<strong>der</strong>szenen von Schumann.<br />
Mit weichem Anschlag, sanft und voller Innigkeit ließ<br />
sie die ersten Takte erklingen. Etwas Schwebendes, ja,<br />
fast etwas Märchenhaftes lag über ihrem Spiel. Die<br />
Zuhörer fühlten sich wie verzaubert und in eine an<strong>der</strong>e<br />
Welt entrückt. Mit tiefem Empfinden und musikalischer<br />
Sensibilität gestaltete sie die Melodiebögen, indem sie<br />
vor einer aufwärts strebenden Linie immer ein bisschen<br />
verzögerte, so als ob die Kräfte erst gesammelt werden<br />
müssten, die sich zum Höhepunkt aufschwingen. Leicht<br />
und ohne jede Anstrengung schienen ihre Finger die<br />
Tasten zu bewegen. Sie selbst war ganz versunken in ihr<br />
Spiel, und ihre Versunkenheit teilte sich auch den<br />
Zuhörern mit.<br />
Die nächsten beiden Stücke kamen munter und<br />
lebhaft daher. Mit kraftvollen Akkorden <strong>der</strong> »Ritter vom<br />
Steckenpferd«, mit übermütigen, leichtfüßigen<br />
29
Passagen <strong>der</strong> »Haschemann«. Und so schwerelos<br />
Gertruds Finger eben noch auf den Tasten lagen, so<br />
kräftig konnten sie nun zupacken, so virtuos und<br />
geschickt bewältigten sie die schnellen Läufe.<br />
Wilhelm Zeidler hatte während <strong>der</strong> ganzen <strong>Zeit</strong> den<br />
Blick nicht von Gertrud gewandt. Er war überrascht,<br />
hingerissen, sowohl von ihrem Spiel als auch von ihrer<br />
Erscheinung. Wie sie da am Flügel saß, mit anmutigen,<br />
leichten Bewegungen <strong>der</strong> Hände und Finger, im gelben<br />
Seidenkleid mit dem Spitzenkragen, das einen schönen<br />
Kontrast zu ihrem dunklen, zu Schnecken aufgesteckten<br />
Haar bildete.<br />
Die Stimmung <strong>der</strong> »Träumerei« wie<strong>der</strong> aufnehmend,<br />
begann sie nun mit dem »Regentropfen-Prélude« von<br />
Chopin. Voller Bewun<strong>der</strong>ung hörte er ihr zu. Wie sie die<br />
stereotypen Tonwie<strong>der</strong>holungen des<br />
Regentropfenmotivs spielte, ganz leicht hingetupft ...<br />
wie sie darüber die friedvolle Melodie erklingen ließ,<br />
verhalten, doch mit beseeltem Ausdruck, das berührte<br />
ihn zutiefst. Um so <strong>mehr</strong> überraschte ihn die sich nun<br />
ständig steigernde Intensität ihres Spiels, mit <strong>der</strong> sie das<br />
Donnergrollen in den Bässen vorbereitete, das sich<br />
schließlich in einem Fortissimo-Ausbruch entlud. Wie<br />
viel Kraft und zugleich auch wie viel Innigkeit lebten in<br />
dieser jungen Frau! Er betrachtete ihr feines Profil, das<br />
vom Kerzenschein weich beleuchtet war, und meinte,<br />
ein Märchenwesen vor sich zu haben, eine Fee o<strong>der</strong> eine<br />
Elfe. Den Abschluss ihres Vortrags bildete das B-Dur<br />
Prélude. Das lebhafte, unbeschwerte Stück vermittelte<br />
eine heitere Stimmung, und als <strong>der</strong> letzte Akkord<br />
verklungen war, wurde spontan Beifall geklatscht. Auch<br />
Oertel nickte seiner Tochter anerkennend zu. Gertrud<br />
30
errötete, aber gleichzeitig war sie sehr stolz auf das Lob,<br />
das sie in den Augen ihres Vaters lesen konnte. Der<br />
Beifall und die Stimmen <strong>der</strong> übrigen Anwesenden rissen<br />
Wilhelm Zeidler aus seiner Verzauberung. Spontan<br />
applaudierte auch er. Wie gern wäre er aufgestanden, zu<br />
ihr hingegangen, um ihr zu sagen, wie sehr er sie<br />
bewun<strong>der</strong>te, aber das wagte er nicht. Er hätte ihr die<br />
Hand küssen mögen, um ihr seine Gefühle zu zeigen,<br />
aber das war ganz unmöglich. Nun formierte sich das<br />
Quartett. Oertel begann souverän, mit vollem, warmem<br />
Ton. Gertrud horchte auf, und ihr Herz schlug höher.<br />
Wie gut, dachte sie, dass ich Vater überreden konnte,<br />
wie<strong>der</strong> Musik zu machen. Sie wird ihm helfen, seine<br />
Trauer zu überwinden. Professor Reisinger mit seiner<br />
Bratsche, das Zusammenspiel mit seinem Kollegen<br />
gewöhnt, folgte dem Cello mühelos. Paul war ängstlich<br />
und nervös und verpasste den ersten Einsatz, woraufhin<br />
<strong>der</strong> Vater abwinkte und ärgerlich »noch mal von vorn«<br />
brummte. Der Junge bekam feuchte Hände und einen<br />
roten Kopf, aber er nahm sich zusammen und war dieses<br />
Mal rechtzeitig da. Als dann etwas später die erste Geige<br />
einsetzte, war es, als ob die Sonne aufging. Wilhelm<br />
eroberte sich mit seinem strahlenden Geigenklang,<br />
seinem ausdrucksvollen Spiel, das bei allem Gefühl,<br />
welches er hineinlegte, immer klar und durchsichtig und<br />
sauber intoniert blieb, sofort die Herzen <strong>der</strong> Zuhörer und<br />
<strong>der</strong> Mitspieler. Und jetzt ging es Gertrud so, wie es ihm<br />
vorhin gegangen war: Sie konnte den Blick nicht<br />
abwenden von dem schlanken, gut aussehenden jungen<br />
Mann, <strong>der</strong> wie verwachsen schien mit seiner Geige.<br />
Eine blonde Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, aber er<br />
merkte es nicht. Gertrud meinte zu spüren, dass die<br />
Musik vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte.<br />
31
Paul konnte seine Nervosität nicht ganz ablegen.<br />
Wahrscheinlich war es auch die Gegenwart des Vaters,<br />
die ihn unsicher machte. Er hatte fleißig geübt und<br />
konnte seinen Part, aber unter den strengen Blicken des<br />
Professors fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut und<br />
machte Fehler. <strong>Im</strong> Mittelteil, wo die erste und die zweite<br />
Geige in Terzparallelen geführt werden, intonierte er<br />
unsauber und hielt das Tempo nicht durch, aber Oertel<br />
ließ nicht unterbrechen. Er warf seinem Sohn nur einen<br />
strafenden Blick zu. Später würde er ihm sagen, was er<br />
zu sagen hatte. So ging <strong>der</strong> erste Satz ohne eine größere<br />
Störung zu Ende.<br />
Vor dem zweiten Satz gab Friedrich Oertel kurze<br />
Anweisungen:<br />
»Die erste Zählzeit im Menuett sollte etwas betont<br />
werden, aber nicht übertrieben. <strong>Im</strong> dritten Satz kann die<br />
erste Geige Virtuosität zeigen. Aber ich denke, wir<br />
nehmen ihn zunächst allegro mo<strong>der</strong>ato und nicht allegro<br />
con brio. Wir spielen schließlich das erste Mal<br />
zusammen. Die Hauptsache <strong>ist</strong> jetzt, dass wir uns<br />
gegenseitig hören und aufeinan<strong>der</strong> eingehen. Nach dem<br />
Boccherini und vor dem Haydn werden wir dann eine<br />
Pause machen.«<br />
Die Pause war eine willkommene Entspannung für<br />
die Musiker. Sie ließen sich gern in das geräumige<br />
Esszimmer führen und setzten sich an den großen Tisch<br />
in <strong>der</strong> Mitte, auf dem die Kanne mit dem dampfenden<br />
Punsch und die appetitlich anzusehende Platte mit den<br />
Brötchen standen. Ein Strauß aus Tannengrün und<br />
Stechpalmen mit roten Beeren zierte den Tisch und<br />
erinnerte daran, dass die Adventszeit nahe war.<br />
32
Kerzenschein tauchte den Raum in ein warmes,<br />
gemütliches Licht. Martha goss den Punsch ein, und<br />
Emmy nahm gern die Lobreden entgegen, mit denen<br />
ihre Brötchen bedacht wurden. Dann ergriff Friedrich<br />
Oertel das Wort:<br />
»Ich freue mich, Wilhelm, dass wir Sie gewinnen<br />
konnten, in unserem Quartett mitzuspielen«, wandte er<br />
sich an seinen Studenten. »Sie haben einen schönen,<br />
ausdrucksvollen, klaren Ton, und das Zusammenspielen<br />
macht Ihnen ja keine Schwierigkeiten, wie ich gemerkt<br />
habe. Haben Sie schon in einem Ensemble mitgewirkt?«<br />
»Ich spiele manchmal mit ein paar Freunden<br />
zusammen«, antwortete <strong>der</strong> junge Mann bescheiden.<br />
»Nun, ich würde mich freuen, wenn wir Sie öfter in<br />
unserer Mitte haben könnten. Es sollte nicht bei dem<br />
heutigen Abend bleiben. Sie spielen ein sehr gutes<br />
Legato«, fügte Oertel dann hinzu, »aber vielleicht<br />
könnten Sie die Phrasierungen noch etwas deutlicher<br />
herausarbeiten.« Dann wandte er sich an die an<strong>der</strong>en:<br />
»<strong>Im</strong> Mittelteil des ersten Satzes bei Boccherini müssen<br />
wir <strong>der</strong> ersten Geige unbedingt die Führung überlassen.<br />
Die tieferen Stimmen sollten sich deshalb etwas<br />
zurückhalten. Auch bei Motivwie<strong>der</strong>holungen bitte auf<br />
die Dynamik achten, also mezzoforte o<strong>der</strong> piano<br />
spielen, je nachdem, was vorausgegangen <strong>ist</strong>.«<br />
Missbilligend sah <strong>der</strong> Professor seinen Sohn an. Der<br />
Junge kannte diesen Ausdruck in den Augen des Vaters<br />
und wusste, dass er gleich einen Tadel bekommen<br />
würde. »Paul, achte darauf, dass du immer mitzählst«,<br />
sagte er, und <strong>der</strong> vorwurfsvolle Ton in seiner Stimme<br />
war nicht zu überhören. »Du b<strong>ist</strong> bei deinen Einsätzen<br />
ein paar Mal zu spät gewesen, und gewackelt hat es fast<br />
33
jedes Mal. Bemühe dich, das Tempo mitzuhalten. Auch<br />
deine Intonation <strong>ist</strong> nicht immer ganz sauber. Nimm dir<br />
ein Beispiel an Herrn Zeidler, <strong>der</strong> selbst seine<br />
Oktavsprünge lupenrein spielt und seinen Ton schön<br />
ausschwingen lässt. Du solltest überhaupt noch <strong>mehr</strong><br />
üben, insbeson<strong>der</strong>e die Triller.«<br />
»Na, na, Oertel«, mischte sich Professor Reisinger<br />
begütigend ein, »seien Sie nicht so streng mit dem<br />
jungen Mann. Für das erste Mal hat er sich doch tapfer<br />
geschlagen. Und geübt hat er, das konnte man merken.«<br />
Er klopfte Paul, <strong>der</strong> neben ihm saß, aufmunternd auf die<br />
Schulter: »Wenn man zum ersten Mal mit geübten<br />
Musikern zusammenspielt, dann <strong>ist</strong> man nervös und<br />
aufgeregt. Ist mir in deinem Alter genau so gegangen.<br />
Nur Mut, du wirst noch ein guter Geiger werden.«<br />
Paul wurde über und über rot und wusste vor<br />
Verlegenheit nicht, wohin er gucken sollte. Er starrte<br />
krampfhaft auf das Brötchen auf seinem Teller, aber er<br />
hatte einen Kloß in <strong>der</strong> Kehle und konnte nichts<br />
herunterkriegen. Warum muss Vater nur immer an mir<br />
herummeckern? Nichts kann ich ihm recht machen.<br />
<strong>Im</strong>mer hat er etwas auszusetzen. Er fühlte ich enttäuscht<br />
und entmutigt, denn er hatte sich so viel Mühe gegeben<br />
und fleißig geübt.<br />
Es hatte sich so ergeben, dass Gertrud und Wilhelm<br />
einan<strong>der</strong> gegenüber saßen. Dadurch begegneten sich<br />
ihre Blicke während des Essens immer wie<strong>der</strong>. Und<br />
obwohl sie die Augen schnell nie<strong>der</strong>schlug, so fing sie<br />
doch seinen Blick auf, einen Blick, in dem sich<br />
Bewun<strong>der</strong>ung und Zärtlichkeit mischten und <strong>der</strong> ihr<br />
Herzklopfen verursachte.<br />
34
Nach <strong>der</strong> Pause gingen sie wie<strong>der</strong> in den Salon.<br />
Professor Reisinger und Paul waren jetzt die Zuhörer.<br />
Gertrud setzte sich ans Klavier, und Oertel und Wilhelm<br />
stimmten noch einmal ihre Instrumente. Schon gleich<br />
im ersten Satz, in dem Geige und Klavier miteinan<strong>der</strong><br />
gehen, dann sich loslassen und in einem Frage- und<br />
Antwortspiel wie<strong>der</strong>finden, empfand Gertrud eine<br />
geheimnisvolle Übereinstimmung mit Wilhelm. Sie<br />
fühlte sich von <strong>der</strong> Geigenmelodie auf eine bisher nicht<br />
erlebte Art und Weise inspiriert, getragen, an die Hand<br />
genommen und in Bereiche geführt, die sie nicht kannte.<br />
Und als dann <strong>der</strong> Teil kam, in dem das Klavier die<br />
Führung übernimmt, war sie voller Bege<strong>ist</strong>erung. Mit<br />
einem überströmenden Glücksgefühl variierte sie<br />
virtuos die Melodie <strong>der</strong> Geige. Der ruhige zweite Satz<br />
mit seinen Kantilenen voller Poesie glich einem<br />
Ausatmen, einer inneren Entspannung und Beruhigung.<br />
Er war gewissermaßen eine Zäsur, bevor <strong>der</strong> letzte Satz<br />
– ein Zigeunertanz – mit übersprudeln<strong>der</strong> Lebendigkeit<br />
Spieler und Zuhörer in seinen Bann schlug. Wilhelm<br />
und Gertrud beflügelten sich gegenseitig mit ihrer<br />
Spielfreude. Ihr war, als hätten sie schon immer<br />
zusammen musiziert, als sei dies nicht das erste Mal.<br />
Keine Fremdheit war zwischen ihnen. Es war ein<br />
selbstverständliches Miteinan<strong>der</strong>, ein gemeinsames<br />
Schwingen im Ge<strong>ist</strong>e <strong>der</strong> Musik. Als <strong>der</strong> letzte Ton<br />
verklungen war und die Zuhörer Beifall klatschten,<br />
sahen sie sich glücklich und mit vor Bege<strong>ist</strong>erung<br />
heißen Gesichtern an. Sie hätten noch lange so<br />
weiterspielen mögen, um diese gegenseitige<br />
Verzauberung nicht aufhören zu lassen.<br />
35
Professor Reisinger verabschiedete sich bald.<br />
Wilhelm wusste, dass es sich für ihn gehörte, nun auch<br />
zu gehen, obwohl er so gerne noch geblieben wäre. Er<br />
bedankte sich höflich bei Professor Oertel für den<br />
schönen Abend und wurde eingeladen, doch bald<br />
wie<strong>der</strong>zukommen.<br />
»Wir planen ein Hauskonzert mit dem heutigen<br />
Programm. Es würde mich freuen, wenn Sie dabei<br />
wären, Wilhelm. Ich werde meinen Kollegen, <strong>der</strong> heute<br />
verhin<strong>der</strong>t war, fragen, ob er Ihnen für eine Weile seinen<br />
Platz überlässt. Die Art und Weise, wie Sie an die<br />
Stücke herangehen, hat mir sehr gut gefallen. Herr<br />
Scholz <strong>ist</strong> ein vielbeschäftigter Mann und hat sicher<br />
nichts dagegen. Ein paar Mal sollten wir noch vorher<br />
üben. Der heutige Abend war ja eigentlich <strong>mehr</strong> ein<br />
Kennenlernen. Ich dachte, dass wir zunächst einmal<br />
ausprobieren müssten, ob wir in dieser Besetzung<br />
zueinan<strong>der</strong> passen. Außerdem sollten wir uns bekannt<br />
machen mit dem Gesamtklang <strong>der</strong> Stücke. Manche<br />
Einsätze müssten noch präziser herausgearbeitet<br />
werden, und auch über Tempi und Ritardandi müssten<br />
wir uns verständigen. Gertrud und ich werden außerdem<br />
eine Cellosonate spielen.«<br />
Gertrud reichte Wilhelm ihre Hand zum Abschied,<br />
und er drückte einen zarten Kuss darauf, <strong>der</strong> auch als<br />
Höflichkeit verstanden werden konnte. Aber sie<br />
empfand bei <strong>der</strong> Berührung seiner Lippen eine seltsame,<br />
unbekannte Erregung. Noch in den nächsten Tagen<br />
spürte sie seinen Kuss auf ihrem Handrücken, und<br />
manchmal warf sie einen verstohlenen Blick auf die<br />
Stelle, als wolle sie prüfen, ob dort etwas zu sehen sei.<br />
36
20 . November<br />
1913,<br />
vormittag<br />
s<br />
I<br />
ch bin noch ganz durcheinan<strong>der</strong>! Endlich gab es<br />
wie<strong>der</strong> Hausmusik bei uns! Vater hatte einen seiner<br />
Studenten eingeladen, die erste Geige zu spielen,<br />
weil Professor Scholz nicht konnte. Er spielte<br />
hinreißend! Ich muss immerzu an ihn denken. Wie er<br />
den Bogen führte ... leicht und doch kraftvoll ... sein<br />
seelenvoller Ton ... mir <strong>ist</strong>, als habe er sich mit seiner<br />
Geige tief in mein Herz hineingespielt. Den Kuss auf<br />
meine Hand ... ich spüre ihn noch immer ... <strong>der</strong> Blick,<br />
mit dem er mich ansah ... er ging mir durch und durch<br />
... ich muss ihn wie<strong>der</strong>sehen!<br />
Der Morgen versprach einen strahlenden Tag. Noch<br />
war die Sonne nicht zu sehen, denn sie wurde von <strong>der</strong><br />
gegenüberliegenden Häuserfront verdeckt. Doch ihr<br />
Schein tauchte die Dächer und das darüberliegende<br />
Stück Himmel in pures Gold. Ein paar weiße Wölkchen<br />
schwammen im zarten Blau des Firmaments.<br />
Gertrud erwachte früher als sonst. Sie freute sich auf<br />
diesen Tag. Zeidlers hatten sie zu einem Picknick<br />
eingeladen. Einen ganzen Tag mit Wilhelm<br />
zusammensein zu können ... dieser Gedanke machte sie<br />
schwindlig vor Glück. Sie hatte das Gefühl, als würde<br />
ihr Blut schneller durch ihre A<strong>der</strong>n fließen. Alle ihre<br />
Nerven schienen zu vibrieren. Seit jenem<br />
37
Hausmusikabend waren sie sich immer wie<strong>der</strong><br />
begegnet, und sie empfand eine wachsende Zuneigung,<br />
ja eine Vertrautheit mit dem jungen Mann, über die sie<br />
sich zunächst selbst wun<strong>der</strong>te. Aber dann ließ sie es<br />
geschehen, dass er immer <strong>mehr</strong> von ihrem Denken und<br />
Fühlen Besitz ergriff. Sie sehnte sich nach seiner Nähe.<br />
Sie konnte stundenlang am Flügel sitzen und die Stücke<br />
spielen, die er so gern hörte. Vor ihrem inneren Auge<br />
erstand dann sein Bild, und sie spielte nur für ihn.<br />
Emmy, die einmal ins Zimmer kam, meinte: »Sie<br />
spielen wun<strong>der</strong>schön, Fräulein Gertrud, mit viel <strong>mehr</strong><br />
Empfindung als früher, viel ausdrucksvoller.«<br />
Sie blieb noch einen Augenblick liegen und gab sich<br />
einer süßen, träumerischen Stimmung hin, in <strong>der</strong><br />
Vorfreude und Erwartung sich mischten, dann holte sie<br />
die Helligkeit des Sommermorgens, die durch die<br />
weißen Vorhänge ins Zimmer drang, aus dem Bett. Sie<br />
hatte zwar noch viel <strong>Zeit</strong>, um zehn Uhr wollten Zeidlers<br />
sie mit <strong>der</strong> Kutsche abholen, und jetzt war es erst sieben.<br />
Aber sie war kribbelig vor Ungeduld und Erwartung.<br />
Außerdem musste sie ja noch ein passendes Kleid<br />
auswählen, und auch die Frisur sollte heute beson<strong>der</strong>s<br />
sorgfältig aufgesteckt werden. Ein Blick aus dem<br />
Fenster sagte ihr, dass es sicher warm werden würde.<br />
Also kam nur ein Sommerkleid in Frage. Sie probierte<br />
zuerst ein hellblaues Kleid an, von dem sie dachte, dass<br />
es ihr beson<strong>der</strong>s gut stand, entschied sich dann aber<br />
an<strong>der</strong>s, weil es ihr mit seinem empfindlichen<br />
Seidenstoff und den Rüschen und Schleifen für ein<br />
Picknick im Freien nicht geeignet erschien. Das<br />
schlichte rosa Baumwollkleid kam eher in Frage, aber<br />
sie fand es mit seinem weiten Glockenrock zu<br />
38
altmodisch. So etwas trägt man heute nicht <strong>mehr</strong>, sagte<br />
sie zu sich selbst, die modischen Röcke sind enger. Sie<br />
haben höchstens Falten o<strong>der</strong> Plissee. Schließlich<br />
entschied sie sich für ein weißes Musselinkleid in<br />
Prinzessform. Es hatte einen kleinen viereckigen<br />
Ausschnitt, <strong>der</strong> mit Spitze unterlegt war, und<br />
dreiviertellange Ärmel. Gertrud drehte sich vor dem<br />
Spiegel hin und her und war zufrieden mit ihrem<br />
Äußeren. Ob ich Wilhelm gefallen werde? Sie errötete<br />
ein bisschen bei diesem Gedanken. In das Gefühl einer<br />
leichten Unsicherheit mischte sich freudige Erwartung.<br />
Dann war es <strong>Zeit</strong> zum Frühstück, und sie ging hinunter.<br />
Pünktlich um zehn Uhr klingelte Wilhelm, und<br />
Gertrud, die es nicht <strong>mehr</strong> erwarten konnte, lief selbst<br />
zur Tür, um zu öffnen. Er machte eine spontane<br />
Bewegung, als wolle er sie in die Arme schließen, aber<br />
als er Emmy im Hintergrund auftauchen sah, hielt er<br />
inne und gab ihr nur die Hand, wie es sich gehörte.<br />
»Guten Morgen! Ich freue mich so, dass Sie mit uns<br />
kommen«, sagte er leise. Seine Stimme hatte einen<br />
zärtlichen Unterton. Er führte Gertrud zur Kutsche und<br />
half ihr beim Einsteigen. Herr und Frau Zeidler<br />
streckten Gertrud ihre Hände entgegen und begrüßten<br />
sie freundlich, und auch die beiden Jungen, die mit in<br />
<strong>der</strong> Kutsche saßen, bemühten sich, eine artige<br />
Verbeugung anzudeuten. Dabei stießen sie sich an und<br />
kicherten. Emmy reichte einen Korb hinauf: »Ich habe<br />
einen Rodonkuchen gebacken, Fräulein Gertrud, wie ich<br />
es Ihnen versprochen habe. Lassen Sie ihn sich<br />
schmecken«, setzte sie, zu den übrigen Insassen <strong>der</strong><br />
Kutsche gewandt, lächelnd hinzu. Dann verabschiedete<br />
sie sich und winkte noch einmal zurück, während sich<br />
39
die beiden Braunen mit gemächlichem Tempo in<br />
Bewegung setzten.<br />
»Wir freuen uns, dass Sie uns begleiten«, sagte<br />
Wilhelms Onkel zu Gertrud gewandt.<br />
»Hoffentlich wird es nicht zu heiß. Ich kann die Hitze<br />
so schlecht vertragen«, seufzte die Tante.<br />
»Wir suchen ein schattiges Plätzchen aus«, beruhigte<br />
sie ihr Mann.<br />
»Kommst du mit uns auch Schmetterlinge fangen?«,<br />
fragte einer <strong>der</strong> beiden Jungen.<br />
»O<strong>der</strong> Steine sammeln?«, mischte sich <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />
ein. Stolz zeigten sie Gertrud ihre Schmetterlingsnetze<br />
und ihre Botanisiertrommel.<br />
Wilhelm wohnte für die <strong>Zeit</strong> seines Studiums bei dem<br />
jüngeren Bru<strong>der</strong> seines Vaters, und die beiden Jungen<br />
waren seine Vettern, zehn und zwölf Jahre alt. Die<br />
Sommerferien hatten gerade angefangen, und deshalb<br />
brauchten sie heute nicht zur Schule zu gehen. Sie waren<br />
zappelig und ausgelassen. Der Onkel musste sie<br />
<strong>mehr</strong>mals ermahnen, doch während <strong>der</strong> Kutschfahrt<br />
stillzusitzen.<br />
»<strong>Im</strong> ›Grünen Jäger‹ kehren wir erst einmal ein und<br />
trinken etwas«, verkündete Herr Zeidler, was von seinen<br />
beiden Söhnen mit Bege<strong>ist</strong>erung aufgenommen wurde.<br />
Inzwischen hatten sie in gemütlicher Fahrt den<br />
Stadtrand erreicht. Gelegentlich knallte <strong>der</strong> Kutscher<br />
mit <strong>der</strong> Peitsche, um die Pferde zu einer etwas flotteren<br />
Gangart anzutreiben, aber das gelang ihm nur für kurze<br />
<strong>Zeit</strong>, dann fielen sie wie<strong>der</strong> in ihren langsamen Trott.<br />
Oben auf dem Kutschbock saß Käte, das Hausmädchen<br />
von Zeidlers, mit dem großen Picknickkorb. Sein<br />
40
geheimnisvoller Inhalt schien vielversprechend zu sein,<br />
und einer <strong>der</strong> beiden Jungen meinte, dass er jetzt schon<br />
Hunger habe. »Warte es ab«, brummte <strong>der</strong> Vater.<br />
Gertrud hatte sich in ihrer Ecke bequem<br />
zurückgelehnt. Gewiegt von den leichten, schaukelnden<br />
Bewegungen <strong>der</strong> Kutsche und mit Wilhelm an ihrer<br />
Seite fühlte sie sich wohl und geborgen. Verträumt<br />
betrachtete sie die Landschaft. Zu beiden Seiten <strong>der</strong><br />
Straße dehnten sich Wiesen, die jetzt im Sommer von<br />
vielen blühenden Blumen bunt gesprenkelt waren. Ihr<br />
Grün mischte sich mit dem Weiß <strong>der</strong> Margeriten. Gelbe,<br />
blaue, violette und rote Farbtupfer machten das Bild<br />
vollkommen. Auf den Fel<strong>der</strong>n stand das Getreide schon<br />
hoch und begann, sich gelb zu färben. Roter Mohn und<br />
blaue Kornblumen bildeten dazwischen farbige Inseln.<br />
Die Luft war vom Gesang <strong>der</strong> Lerchen erfüllt. Gertrud<br />
beobachtete, wie sie in steilem Flug vom Boden in die<br />
Luft aufstiegen und geradewegs in den Himmel hinauf<br />
zu fliegen schienen. Hie und da waren kleine<br />
Baumgruppen zu sehen, und in <strong>der</strong> Ferne konnte man<br />
einige weidende Kühe und Schafe erkennen. Es <strong>ist</strong> so<br />
still, so friedlich, dachte Gertrud. Am liebsten hätte sie<br />
diesen Augenblick festhalten und immer so<br />
weiterfahren mögen. Wenn nur diese harmonische<br />
Stimmung nie enden würde.<br />
Wilhelm betrachtete sie von <strong>der</strong> Seite. Er hatte ihre<br />
Hand in die seine genommen. Ihr feines Profil, ihr<br />
dunkel schimmerndes Haar, das unter dem breiten,<br />
weißen Hut hervorsah, ihre weiche Haut, <strong>der</strong> Duft, <strong>der</strong><br />
von ihr ausging, ihre ganze Persönlichkeit berührte ihn<br />
immer wie<strong>der</strong> aufs Neue tief und ließ den Wunsch in<br />
ihm wach werden, sie in die Arme zu schließen, ganz<br />
41
fest, und ihr Gesicht, ihren Mund mit Küssen zu<br />
bedecken. Seit einigen Tagen quälte er sich mit <strong>der</strong><br />
Frage, wie sie wohl reagieren würde, wenn er sie bäte,<br />
seine Frau zu werden. Seit jener ersten Begegnung im<br />
November beim gemeinsamen Musizieren, <strong>der</strong> so viele<br />
Stunden glücklichen Zusammenseins gefolgt waren,<br />
hatte sie ihn immer wie<strong>der</strong> mit ihrer Erscheinung und<br />
ihrem Wesen bezaubert, und er meinte zu spüren, dass<br />
auch sie ihn mochte. Der Gedanke, sie zu heiraten, ging<br />
ihm immer öfter durch den Kopf, doch dann zweifelte<br />
er wie<strong>der</strong>, ob er sich schon so früh binden sollte. Sie<br />
waren beide noch so jung, er studierte noch, und<br />
außerdem, vielleicht wollte sie ihn ja doch nicht zum<br />
Mann. Aber während er neben ihr saß und sie ansah, ihre<br />
Gegenwart hautnah spürte, war er sich vollkommen<br />
sicher, dass er sie und nur sie zu seiner Frau machen<br />
wollte. Er nahm sich vor, ihr heute die entscheidende<br />
Frage zu stellen, und sein Herz klopfte schneller bei<br />
diesem Gedanken. Gertrud schien es zu spüren. Sie<br />
wandte kurz den Kopf und lächelte ihm zu.<br />
Mit einem »Brrr« hielt <strong>der</strong> Kutscher die Pferde an,<br />
und <strong>der</strong> Wagen stand still. Sie waren vor dem »Grünen<br />
Jäger« angekommen. Die beiden jungen Leute schraken<br />
aus ihren Gedanken hoch. Sie hatten gar nicht bemerkt,<br />
dass die Fahrt zu Ende war.<br />
»So, aussteigen«, rief <strong>der</strong> Onkel aufgeräumt, »wir<br />
sind da.« Alle kletterten aus <strong>der</strong> Kutsche, Käte hievte<br />
den großen Picknickkorb vom Kutschbock herunter,<br />
und Herr Zeidler zahlte den Kutscher aus. »Heute<br />
Nachmittag um fünf Uhr holen Sie uns bitte hier wie<strong>der</strong><br />
ab«, sagte er noch, dann gingen alle in den großen<br />
Garten des Restaurants.<br />
42
»Da hinten, unter dem Baum <strong>ist</strong> am me<strong>ist</strong>en<br />
Schatten«, sagte die Tante echauffiert und steuerte auf<br />
eine entlegene Ecke im Hintergrund zu. Sie war ein<br />
bisschen füllig und schwitzte leicht. Während <strong>der</strong> Fahrt<br />
hatte sie sich schon des Öfteren mit ihrem<br />
Spitzentaschentuch Kühlung zugefächelt, und die Sonne<br />
stand jetzt hoch am Himmel. Es war spürbar wärmer<br />
geworden.<br />
Der Ober kam schnell, um die Bestellung<br />
aufzunehmen, denn um diese <strong>Zeit</strong> gab es noch nicht<br />
viele Gäste. Bald darauf wurden die Getränke auch<br />
schon gebracht, für die Herren je ein großes Bier, für die<br />
Jungen Zitronenlimonade und Himbeerlimonade für die<br />
Damen.<br />
Gertrud hatte ihren Hut abgesetzt und ihn neben sich<br />
auf einen leeren Stuhl gelegt. Ein sanfter Wind kühlte<br />
ihre Stirn und löste eine Haarsträhne aus <strong>der</strong> Frisur, was<br />
ihrem Gesicht einen beson<strong>der</strong>en Reiz verlieh. Wilhelm,<br />
<strong>der</strong> ihr gegenüber saß, unterdrückte nur mit Mühe das<br />
Verlangen aufzuspringen, die Haarsträhne aus ihrem<br />
Gesicht zu streichen und sie zu küssen.<br />
Als sie sich erfrischt hatten, gingen sie zu Fuß weiter.<br />
Wilhelm und Gertrud hatten sich bei <strong>der</strong> Hand gefasst.<br />
Der Weg führte vorbei an einem idyllisch gelegenen Gut<br />
mit einem romantischen Teich, <strong>der</strong> von dichtem Schilf<br />
umrandet war und über dem zahllose Libellen<br />
schwebten.<br />
»Sieh mal, wie schön!« Sie blieben stehen. Gertrud<br />
lehnte sich leicht an Wilhelms Schulter und betrachtete<br />
mit einem entrückten Ausdruck im Gesicht die liebliche<br />
Szenerie. Wilhelm hatte jedoch nur Augen für Gertrud.<br />
Für ihn konnte es im Augenblick nichts Schöneres<br />
43
geben. Plötzlich bemerkte sie, dass die übrige<br />
Gesellschaft sich schon ein ganzes Stück von ihnen<br />
entfernt hatte. »Komm«, rief sie erschrocken und zog<br />
Wilhelm mit sich fort, »wir müssen uns beeilen.«<br />
Lachend liefen sie hinter den an<strong>der</strong>en her. Ein<br />
Picknickplatz war bald gefunden: eine Wiese an einem<br />
kleinen Gehölz, die sowohl Schatten als auch sonnige<br />
Stellen bot. Die beiden Jungen liefen sofort los, um mit<br />
ihren Schmetterlingsnetzen und <strong>der</strong> Botanisiertrommel<br />
auf »Schatzsuche« zu gehen. Frau Zeidler und Käte<br />
bereiteten das Picknick vor, wobei Gertrud ihnen zur<br />
Hand ging. Als sie ihren Rodonkuchen auspackte, war<br />
die Freude groß. »Den essen wir später zum Kaffee«,<br />
schlug die Tante vor. Alle langten kräftig zu. »<strong>Im</strong> Freien<br />
schmeckt es doch am besten, nicht wahr, Fräulein<br />
Gertrud?« meinte die Tante, zu ihrem Gast gewandt.<br />
Gertrud nickte und sagte, dass sie sich ganz beson<strong>der</strong>s<br />
auf den heutigen Tag gefreut habe. Herr und Frau<br />
Zeidler tauschten einen vielsagenden Blick, den Gertrud<br />
eigentlich nicht sehen sollte, aber sie bemerkte ihn und<br />
errötete.<br />
Nach dem Essen zündete sich <strong>der</strong> Onkel eine Zigarre<br />
an, Käte räumte das Geschirr zusammen und verstaute<br />
es in dem großen Korb. »Ich lege mich ein bisschen hin<br />
und mache ein Nickerchen«, sagte die Tante.<br />
Wilhelm sah Gertrud an. »Sollen wir einen kleinen<br />
Spaziergang machen?«, fragte er. Sie nickte, und Hand<br />
in Hand gingen sie einen schmalen Weg entlang, <strong>der</strong><br />
tiefer in das Gehölz hineinführte. Rundum Stille, auch<br />
die Vögel schwiegen in <strong>der</strong> Mittagshitze, nur das<br />
Summen von Insekten war zu hören und aus <strong>der</strong> Ferne<br />
das Rufen <strong>der</strong> spielenden Kin<strong>der</strong>. In dieser Lautlosigkeit<br />
44
kam es ihnen so vor, als könnten sie gegenseitig den<br />
Herzschlag des an<strong>der</strong>en wahrnehmen, spüren, wie das<br />
Blut seinen Körper durchfließt, seine geheimsten<br />
Gedanken und Gefühle erraten. So nah beieinan<strong>der</strong> zu<br />
sein, das war für beide ein fast bedrängendes Erlebnis.<br />
»Ein herrlicher Tag«, sagte Wilhelm und wun<strong>der</strong>te sich<br />
selbst darüber, wie fremd seine Stimme auf einmal<br />
klang. Verlegen dachte er, dass dies eine überflüssige<br />
und alberne Bemerkung war. Er wollte auch eigentlich<br />
etwas an<strong>der</strong>es sagen, aber er hatte keine Worte für die<br />
übermächtigen Gefühle, die sein Inneres erfüllten. Es<br />
war, als ob seine Gedanken und Empfindungen in einem<br />
Kerker eingeschlossen waren, aus dem sie keinen<br />
Ausweg fanden, so verzweifelt sie sich auch bemühten.<br />
»Und so still«, antwortete Gertrud, »noch nicht<br />
einmal die Vögel singen.« Sie warf Wilhelm einen<br />
scheuen Blick zu, in den sich eine unbewusste<br />
Zärtlichkeit mischte. Wilhelm legte den Arm um<br />
Gertrud und zog sie näher an sich. Seine Berührung<br />
erregte sie, ging durch ihren Körper wie ein<br />
elektrisieren<strong>der</strong> Strom. Verwirrt bemerkte sie, dass sie<br />
sich wünschte, seine Lippen auf den ihren zu spüren.<br />
Aber Wilhelm wagte nicht, sie auf den Mund zu küssen.<br />
Er hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Wange, <strong>mehr</strong><br />
getraute er sich nicht.<br />
»Sollen wir uns hier ein bisschen hinsetzen?«, fragte<br />
Gertrud, und deutete auf eine kleine Waldwiese. Dann<br />
lagen sie nebeneinan<strong>der</strong> im lichten Baumschatten auf<br />
trockenem Gras. Die Zweige dämpften das Sonnenlicht,<br />
sodass es wärmte, aber nicht verbrannte. Wie ein Filter<br />
ließen sie einzelne Strahlen hindurch, es sah wie ein<br />
Fächer aus. Die Atmosphäre hat etwas Traumhaftes,<br />
45
Unwirkliches, dachte Gertrud. Sie ließ ihre Gedanken<br />
schweifen, Bil<strong>der</strong> erfüllten ihre Seele. Die erste<br />
Begegnung mit Wilhelm, damals, an dem<br />
Hausmusikabend im November, wurde wie<strong>der</strong><br />
lebendig. Wie tief war sie berührt von seinem<br />
ausdrucksvollen Geigenspiel, sie konnte es nicht<br />
vergessen. Damals fing alles an, ging es ihr durch den<br />
Kopf. Dann kamen die nächsten Musikabende, und<br />
dann das Konzert: Wie schön war es, mit ihm<br />
gemeinsam zu musizieren, wie fühlte sie sich von ihm<br />
inspiriert, getragen, mitten hineingenommen in die<br />
Musik, so als ob sie eins wären. Das zufällige Treffen<br />
auf <strong>der</strong> Eisbahn ... Es war einer jener klaren Tage im<br />
Januar gewesen. Die frostige Luft ließ alles erstarren,<br />
und ein kalter Ostwind brannte im Gesicht und drang<br />
durch die Kleidung bis auf die Haut. Aber die Sonne<br />
wärmte schon ein bisschen. Sie war mit ihrer Freundin<br />
Olga zum Schlittschuhlaufen gegangen. Eine Weile<br />
zogen sie bereits ihre Kreise, da war plötzlich jemand<br />
neben ihr und lief mit ihr auf gleicher Höhe. Sie drehte<br />
den Kopf, und ein freudiges Erschrecken durchzuckte<br />
sie: Wilhelm. Er nahm sie bei <strong>der</strong> Hand und führte sie<br />
mit sich fort. Wie leicht fühlte sie sich an seinem Arm,<br />
wie sicher, ohne Angst, dass sie fallen könnte. Es war,<br />
als schwebten sie über die glatte Fläche. Sie hatte das<br />
Gefühl, immer so weiterlaufen zu können bis ans Ende<br />
<strong>der</strong> Welt.<br />
Aus diesem zufälligen Treffen wurde eine Reihe von<br />
Verabredungen. <strong>Im</strong>mer war Olga mit von <strong>der</strong> Partie. So<br />
konnte sie zu Hause sagen, dass sie mit einer Freundin<br />
Schlittschuhlaufen ging. Ein Treffen allein mit Wilhelm<br />
– auch wenn <strong>der</strong> Vater ihn noch so gern mochte, dem<br />
46
hätte er nicht zugestimmt. Und Olga, verständnisvoll,<br />
wie sie war, trennte sich von ihr, sowie sie auf <strong>der</strong><br />
Eisbahn angekommen waren. Sie verabredeten sich für<br />
den Nachhauseweg, und dann war sie mit Wilhelm<br />
allein. Einmal wäre sie beinahe gestürzt, aber er fing sie<br />
auf und hielt sie fest. Man müsste immer jemanden<br />
haben, <strong>der</strong> einen auffängt und festhält, wünschte sie.<br />
Ein paar Mal waren sie zusammen im Theater,<br />
begleitet vom Vater. Und wenn seine Gegenwart sie<br />
beide auch etwas befangen machte, es war trotzdem<br />
schön. Jedes Zusammensein mit Wilhelm hat mich<br />
glücklich gemacht, auch wenn wir nicht allein waren!<br />
Einmal hatte <strong>der</strong> Vater sogar erlaubt, dass sie mit ihm in<br />
eines <strong>der</strong> neumodischen Kinos ging und einen<br />
Stummfilm ansah. Es war erst ein paar Wochen her. Er<br />
hatte ihre Hand in die seine genommen, und in <strong>der</strong><br />
Dunkelheit des Raumes spürte sie seine Nähe wie eine<br />
schützende Hülle. Sie konnte kaum auffassen, was sich<br />
auf <strong>der</strong> Leinwand vor ihr abspielte. Und als sie zu Hause<br />
nach dem Film gefragt wurde, kam sie ins Stottern. Seit<br />
Mutters Tod habe ich mich nicht <strong>mehr</strong> so unbeschwert,<br />
so glücklich gefühlt wie in seiner Gegenwart, dachte sie<br />
schwärmerisch.<br />
Auch Wilhelm hing seinen Gedanken nach, aber sie<br />
waren nicht in die Vergangenheit gerichtet. Sie<br />
beschäftigten sich mit <strong>der</strong> Gegenwart und kre<strong>ist</strong>en nur<br />
um die eine Frage: Soll ich Gertrud einen Heiratsantrag<br />
machen, soll ich sie fragen, ob sie meine Frau werden<br />
will? Sie so nah bei sich zu haben wie gerade jetzt im<br />
Augenblick weckte in ihm ein leidenschaftliches<br />
Verlangen. Er wollte sie festhalten, fürs Leben<br />
festhalten! Ein ganzes Leben mit ihr, was konnte es<br />
47
Schöneres geben! Sein Studium hatte er fast beendet,<br />
das Examen würde er bestehen, daran zweifelte er nicht.<br />
Er würde auch eine Stelle finden und für eine Familie<br />
sorgen können, da war er ganz sicher. Aber <strong>der</strong><br />
Professor, Gertruds Vater, verunsicherte ihn. Er war<br />
sein Lehrer und außerdem so eine respektgebietende<br />
Persönlichkeit. Würde er ihn als Schwiegersohn<br />
akzeptieren? Als Studenten schätzte er ihn, dessen war<br />
Wilhelm sich bewusst, aber als Ehemann für seine<br />
Tochter? Das war etwas an<strong>der</strong>es.<br />
Er quälte sich mit seinen Gedanken, seiner<br />
Unschlüssigkeit. Dann sah er Gertrud neben sich an, wie<br />
sie dalag und verträumt in die Baumkronen hinaufsah,<br />
die Augen halb geschlossen. Das weiße Kleid, in dem<br />
die Sonnenstrahlen sich verfingen, umgab sie wie eine<br />
Hülle aus Licht. Auf ihrem Haar und Gesicht spielten<br />
die Schatten <strong>der</strong> vom Wind leicht bewegten Zweige.<br />
Von ihrem Liebreiz überwältigt, setzte er sich auf und<br />
ergriff sanft ihre Hand. Er wollte sie nicht erschrecken,<br />
nicht abrupt aus ihrer Verträumtheit herausreißen. Seine<br />
Stimme bebte, als er leise begann: »Fräulein Gertrud ...<br />
Gertrud ... ich möchte Ihnen sagen ... viel<strong>mehr</strong>, ich<br />
möchte Sie fragen ...«<br />
Aber er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.<br />
Unversehens kam einer <strong>der</strong> beiden Jungen auf ihn<br />
zugelaufen und schlug zum Spaß mit seinem<br />
Schmetterlingsnetz nach ihm. »Jetzt fange ich einen<br />
großen, dicken Schmetterling«, schrie er. Der Zauber<br />
<strong>der</strong> Stunde war jäh zerrissen. Gertrud war erschrocken,<br />
und Wilhelm sah seinen kleinen Vetter zunächst völlig<br />
verblüfft, dann aber verärgert an. »Könnt ihr einen denn<br />
48
nie in Ruhe lassen?«, schimpfte er. Der Junge,<br />
enttäuscht über den misslungenen Scherz, trollte sich.<br />
Aus <strong>der</strong> Ferne rief Frau Zeidler zum Kaffeetrinken,<br />
und so wurde es auch für die beiden jungen Leute <strong>Zeit</strong>,<br />
zu <strong>der</strong> Familie zurückzukehren. Gertrud hatte sich die<br />
Stimmung dieser Mittagsstunde in ihrem Innern<br />
bewahrt. Sie wusste ja nichts von Wilhelms<br />
Seelenqualen. Er jedoch war verstimmt.<br />
Nie<strong>der</strong>geschlagen trat er den Rückweg an.<br />
Als die beiden wie<strong>der</strong> am Picknickplatz eintrafen,<br />
war <strong>der</strong> Kuchen schon aufgeschnitten worden, und Frau<br />
Zeidler schenkte gerade den Kaffee ein. »Da seid ihr ja«,<br />
rief sie ihnen entgegen, »kommt, wir wollen noch<br />
gemütlich Kaffee trinken, und dann wird es <strong>Zeit</strong> für uns.<br />
Wir wollen die Kutsche nicht warten lassen.« In den<br />
nächsten Tagen hatte Gertrud das Gefühl, als lebte sie in<br />
einer beson<strong>der</strong>en, nur ihr zugänglichen Welt; als sei sie<br />
eingehüllt in eine lichte Wolke o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Außenwelt<br />
getrennt durch einen zarten Schleier. Ihre Gedanken<br />
kre<strong>ist</strong>en um das Zusammensein mit Wilhelm. <strong>Im</strong>mer<br />
wie<strong>der</strong> sah sie sich mit ihm unter den Bäumen liegen,<br />
fühlte seine Nähe, spürte seine Berührung. Er wollte mir<br />
etwas sagen, dachte sie. Was kann das gewesen sein?<br />
Wollte er mich fragen ...? Am Abend, vor dem<br />
Einschlafen, wusste sie es auf einmal ganz genau: Wenn<br />
Wilhelm mich fragen würde, ob ich seine Frau werden<br />
will, ich würde ja sagen.<br />
Friedrich Oertel hatte seine Tochter schon eine <strong>Zeit</strong><br />
lang beobachtet. Sie hat sich verän<strong>der</strong>t, dachte er. Aus<br />
dem jungen Mädchen, das fast noch ein Kind war, <strong>ist</strong> in<br />
kurzer <strong>Zeit</strong> eine junge Frau geworden. Sie bewegt sich<br />
49
an<strong>der</strong>s, geht mit <strong>mehr</strong> Ruhe und Sicherheit durchs Haus,<br />
ein Leuchten, das aus dem tiefsten Inneren zu kommen<br />
scheint, gibt ihren fast noch kindhaften Zügen einen<br />
warmen, fraulichen Ausdruck. Wenn sie spricht, wählt<br />
sie die Worte sorgfältiger, mit <strong>mehr</strong> Besonnenheit und<br />
Überlegung. Außerdem scheint sie immer ein wenig<br />
abwesend zu sein, wie in Gedanken.<br />
Manchmal hört sie nicht, wenn sie angesprochen wird.<br />
Sie hat sich verliebt, ging es ihm durch den Kopf, sie hat<br />
sich in Wilhelm verliebt. Diese Erkenntnis freute ihn. Es<br />
wäre schön, wenn die beiden heiraten würden. Gertrud<br />
hätte ihren Platz im Leben gefunden, und Wilhelm<br />
würde sicher einmal eine glänzende berufliche Karriere<br />
machen. Die Fähigkeiten hatte er. Seit dem Tod seiner<br />
Frau fühlte er als Vater eine Art Verpflichtung, einen<br />
Mann für seine Tochter zu finden und damit ihre<br />
Zukunft zu sichern. So würde sich das Problem auf die<br />
beste Art und Weise von selbst lösen. Er lächelte vor<br />
sich hin. Ein paar Tage nach dem Picknick beschloss er,<br />
mit Gertrud zu sprechen, und rief sie zu sich in sein<br />
Studierzimmer.<br />
Mit klopfendem Herzen saß Gertrud ihrem Vater<br />
gegenüber. Ihr war beklommen zumute. Es muss etwas<br />
Beson<strong>der</strong>es sein, was er mir zu sagen hat, dachte sie.<br />
Über belanglose o<strong>der</strong> alltägliche Dinge spricht er<br />
me<strong>ist</strong>ens beim Essen o<strong>der</strong> zwischendurch. Aber warum<br />
schweigt er jetzt? Warum sagt er nichts? Es <strong>ist</strong>, als ob er<br />
mich gar nicht bemerken würde. Unbehaglich rutschte<br />
sie auf ihrem Stuhl hin und her.<br />
Oertel saß hinter seinem Schreibtisch. Er machte ein<br />
paar Notizen, ordnete dann die Papierbogen, die vor ihm<br />
50
lagen, nahm seine Brille ab und legte sie umständlich<br />
beiseite. Dann sah er Gertrud an. Seine Augen hatten<br />
dieses schalkhafte Blitzen, was sie manchmal haben<br />
können, wenn er sich freute o<strong>der</strong> wenn ihn etwas<br />
belustigte. Gertrud wurde unter seinen Blicken ganz<br />
warm ums Herz. Es war wohl nichts Unangenehmes,<br />
was er ihr sagen wollte. Er blickt gar nicht so streng<br />
drein wie sonst manchmal, dachte sie. Erleichtert atmete<br />
sie auf. Oertel schien nach Worten zu suchen.<br />
Schließlich räusperte er sich, strich mit <strong>der</strong> Hand über<br />
seinen Bart und zwinkerte Gertrud zu.<br />
»Du magst ihn wohl gern, den Wilhelm Zeidler?«<br />
Heiße Röte stieg ihr ins Gesicht. Auf diese Frage war<br />
sie nicht gefasst gewesen. Sie senkte verschämt den<br />
Kopf und schwieg.<br />
»Er <strong>ist</strong> ja auch ein netter Junge«, fuhr Oertel fort, »ein<br />
fleißiger und tüchtiger Student. Seine Vorexamina hat<br />
er mit »Gut« bestanden, und außerdem hat er einige<br />
hervorragende Arbeiten geschrieben. Er bringt alle<br />
Voraussetzungen dafür mit, einmal eine Frau und eine<br />
Familie standesgemäß unterhalten zu können.<br />
Außerdem stammt er aus guten Kreisen. Hat er sich dir<br />
schon erklärt?« Er sah Gertrud forschend an.<br />
»Nein«, hauchte sie. Es machte sie unsicher, dass ihr<br />
Vater sie so direkt ansprach auf ihre Hoffnungen und<br />
Wünsche, die sie in den Tiefen ihres Innern verborgen<br />
glaubte.<br />
»Na, es <strong>ist</strong> ja auch noch ein bisschen zu früh«, sagte<br />
Oertel in sachlichem Ton. Er schien Gertruds<br />
Verlegenheit nicht zu bemerken. »Erst muss er mal sein<br />
Abschlussexamen machen und eine Stellung finden, ehe<br />
er an Verlobung o<strong>der</strong> gar Hochzeit denken kann. Als<br />
51
gebildeter und verantwortungsbewusster junger Mann,<br />
<strong>der</strong> er <strong>ist</strong>, wird er sich das sicher selbst sagen.« Plötzlich<br />
wurde er sehr ernst. Die Heiterkeit, die er anfangs hatte,<br />
war ganz aus seinem Gesicht verschwunden. »Die<br />
politische Lage macht mir Sorgen. Es könnte Krieg<br />
geben.« Er hielt seine Augen starr auf die<br />
Schreibtischplatte geheftet und schien seinen Gedanken<br />
nachzuhängen. Seine Finger spielten nervös mit einem<br />
Ble<strong>ist</strong>ift. Es entstand eine längere Pause.<br />
Gertrud konnte nicht verstehen, was den Vater an<br />
dem Wort »Krieg« so beunruhigte. Sie dachte an die<br />
Siegesfeiern im August am Sedantag, an das<br />
Glockengeläute, das dann von allen Türmen her die<br />
Straßen erfüllte, an die wehenden Fahnen vor den<br />
Häusern, an die vielen Tausend Menschen, die sich auf<br />
dem Altstadtmarkt versammelten und die Kaiserhymne<br />
sangen und den Choral »Nun danket alle Gott«. Wie oft<br />
hatte sie selbst mitgesungen. Und die Soldaten in ihren<br />
schmucken Uniformen, die Kavaller<strong>ist</strong>en hoch zu Ross<br />
mit ihren in <strong>der</strong> Sonne blitzenden Säbeln, die Orden und<br />
Ehrenzeichen, die viele trugen ... das war so feierlich, so<br />
erhebend.<br />
Die besorgte Stimme des Vaters schreckte sie aus<br />
ihren Gedanken auf. »<strong>Im</strong> Falle eines Krieges <strong>ist</strong> damit<br />
zu rechnen, dass Wilhelm zu den Truppen einrücken<br />
muss.« Oertel strich sich mit <strong>der</strong> Hand über die Stirn, als<br />
wolle er diese Möglichkeit wegwischen. Dann straffte<br />
er sich. »Aber es wird wohl nicht so weit kommen, und<br />
wenn, dann wird es sicher nicht lange dauern.« Er stand<br />
auf, nahm Gertrud in den Arm und strich ihr zärtlich<br />
über das Haar. »Wenn es einmal so weit <strong>ist</strong>, meinen<br />
Segen habt ihr.«<br />
52
25 . Juni<br />
1914,<br />
nachmittags<br />
I<br />
ch fühle mich – ich weiß nicht wie. Glücklich?<br />
O<strong>der</strong> auch ein bisschen bange? Aber da <strong>ist</strong><br />
eine tiefe innere Freude, und dieses Gefühl<br />
durchdringt alles. Die Strahlen <strong>der</strong> Nachmittagssonne<br />
fallen durchs Fenster. Die bunten Glasscheiben lassen<br />
farbige Muster auf den Seiten meines Tagebuchs<br />
entstehen. Wie hübsch das aussieht, wie hell und<br />
freundlich, ein Spiegelbild meiner Stimmung. Vater war<br />
so verständnisvoll, so zärtlich zu mir. Es kommt nicht<br />
oft vor, dass er mich in den Arm nimmt, aber es macht<br />
mich immer sehr froh, wenn er es tut. Oh, wie wünsche<br />
ich mir, Wilhelms Frau zu werden! Aber will er mich<br />
auch? Wenn er da <strong>ist</strong>, dann bin ich ganz sicher, dass er<br />
genauso fühlt wie ich. Wie er mich ansieht, wie er meine<br />
Hand hält o<strong>der</strong> seinen Arm um mich legt ... das alles<br />
scheint mir zu sagen, dass er mich liebt, so wie ich ihn<br />
liebe. Doch wenn er nicht da <strong>ist</strong>, bin ich voller Bangen<br />
und Zweifel, zwischen Hoffen und Mutlosigkeit hinund<br />
hergerissen.<br />
In den letzten Julitagen des Jahres 1914 sprach man<br />
nur noch vom bevorstehenden Krieg. Selbst an Gertrud,<br />
die sich eingesponnen hatte in ihre Traumwelt <strong>der</strong> Liebe<br />
zu Wilhelm, gingen diese Gerüchte nicht vorüber. Die<br />
Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand und seiner<br />
Frau in Sarajevo, die die Menschen erregte, nahm sie<br />
53
kaum zur Kenntnis. Das war so weit weg. Es geschah in<br />
einem Land, in einer Stadt, die sie nicht kannte; und es<br />
war auch so fern von ihren Gedanken und Gefühlen. Das<br />
berührte sie nicht. Aber nun bemerkte sie, dass das<br />
Gesicht des Vaters noch ernster war als sonst und dass<br />
Emmy mit einer besorgten Miene durchs Haus ging.<br />
Paul verkündete, dass er das Notabitur machen und<br />
sich freiwillig melden wolle, falls es Krieg geben würde,<br />
und dem Vater schien es recht zu sein. Oertel erhoffte<br />
sich vom Militärdienst einen positiven erzieherischen<br />
Einfluss auf seinen Sohn, sowohl in physischer als auch<br />
in psychischer Hinsicht. Dieser Junge, dessen<br />
körperliche und seelische Konstitution immer ein<br />
bisschen empfindlich war, <strong>der</strong> noch wie ein halbes Kind<br />
wirkte, könnte sich als Soldat zum Manne entwickeln,<br />
meinte er. Er würde ja erst eine Ausbildung machen und<br />
wahrscheinlich gar nicht <strong>mehr</strong> an Kampfhandlungen<br />
teilnehmen. Der Krieg würde sicher in ein paar Wochen<br />
beendet sein. Mit diesen Gedanken beruhigte Oertel<br />
seine aufkeimenden Sorgen.<br />
Wenn die Menschen vom Krieg redeten, dann schien<br />
es Gertrud, als ob sie sich freuten, ja, als ob sie es gar<br />
nicht erwarten könnten, dass es nun endlich losging. Ihr<br />
war, als sei die Atmosphäre von einer Hochspannung<br />
erfüllt, die durch die schwüle Julihitze noch verstärkt<br />
wurde. Und dann, in den ersten Augusttagen, erklärte<br />
Deutschland zuerst Russland und zwei Tage danach<br />
Frankreich den Krieg. Die Mobilmachung wurde<br />
befohlen. War das eine Aufregung in den Straßen! Auch<br />
Gertrud hielt es nicht im Haus. Sie lief auf die Straße,<br />
hin zu dem <strong>Zeit</strong>ungsboten mit den Extrablättern. Sie<br />
drängte sich mit den Menschen vor den Depeschentafeln<br />
54
<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>ungen und vor dem Anschlag mit dem Aufruf<br />
des Herzogs. Überall wurde heftig und leidenschaftlich<br />
diskutiert. Wortfetzen drangen an ihr Ohr: »Na, endlich<br />
geht's los! ... Denen werden wir's zeigen ... Stellt euch<br />
das nicht so einfach vor ... nur ein paar Wochen? Das<br />
wird länger dauern ... Wir schreiben ein neues<br />
Ruhmesblatt in <strong>der</strong> deutschen Geschichte!« Sie sah die<br />
ersten Soldaten in Feldgrau die Straße<br />
entlangmarschieren, sah die Mädchen ihnen Blumen<br />
zuwerfen. Die Soldaten steckten die Blumen in ihre<br />
Gewehrläufe und warfen den Mädchen Kusshände zu.<br />
Mit <strong>der</strong> Menge sang Gertrud »Die Wacht am Rhein«<br />
und »Deutschland, Deutschland, über alles«. Das <strong>ist</strong> ja<br />
wie ein Volksfest, dachte sie, mitgerissen von dem Jubel<br />
und <strong>der</strong> Bege<strong>ist</strong>erung um sie herum.<br />
Emmy war skeptisch. »Dieser übertriebene<br />
Enthusiasmus gefällt mir nicht«, sagte sie am<br />
Mittagstisch. »Es kann doch jetzt noch keiner wissen,<br />
wie dieses Abenteuer ausgeht. Vielleicht kommt alles<br />
ganz an<strong>der</strong>s. Man soll sich nie zu früh freuen.«<br />
»Der Kaiser hat befohlen, und die deutschen Truppen<br />
marschieren. Dass sie es mit Freude tun und dass sie mit<br />
Beifallskundgebungen verabschiedet werden, zeugt<br />
doch nur von Vaterlandsliebe«, entgegnete Oertel. Er<br />
war zwar kein National<strong>ist</strong>, aber er hatte eine<br />
vaterländische Gesinnung. Durch seine human<strong>ist</strong>ische<br />
Bildung und seine wissenschaftliche Arbeit waren ihm<br />
die engstirnigen und einseitigen politischen Ansichten<br />
vieler seiner <strong>Zeit</strong>genossen fremd, er konnte über<br />
gesellschaftliche und nationale Grenzen hinausblicken.<br />
Mit einigen seiner wissenschaftlichen Kollegen in<br />
an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>n pflegte er einen<br />
55
egelmäßigen Gedankenaustausch, las ihre Artikel in<br />
Fachzeitschriften, und auch seine Veröffentlichungen<br />
wurden außerhalb Deutschlands gelesen. Dadurch<br />
beschränkte sich sein Denken nicht nur auf nationale<br />
Themen. Er hatte auch einen offenen Blick für die<br />
Lebensweise an<strong>der</strong>er Völker. Aber er war dem Ge<strong>ist</strong> <strong>der</strong><br />
<strong>Zeit</strong> entsprechend dazu erzogen worden, ein getreuer<br />
Untertan seines Kaisers zu sein.<br />
Nachmittags klingelte es an <strong>der</strong> Haustür, und<br />
Wilhelm Zeidler machte überraschend einen Besuch. Er<br />
war schon in Uniform. Morgens hatte er seinen<br />
Einberufungsbefehl erhalten, am nächsten Tag würde er<br />
ausrücken. Gertrud empfing ihn im Salon. Wie gut er<br />
aussieht, war ihr erster Gedanke, als sie ihn sah. Wie<br />
ihm die Uniform steht! Ein heißes Aufwallen ging durch<br />
ihren Körper und ließ ihre Glie<strong>der</strong> schwer werden. Ihr<br />
Blick war voll Zärtlichkeit. Dann mischte sich Stolz in<br />
dieses Gefühl. Der Stolz auf ihren Liebsten, <strong>der</strong> mit bei<br />
den Ersten sein durfte, die das Vaterland verteidigen<br />
sollten. Sie empfand es als eine Ehre für ihn und auch<br />
für sich selbst. So standen sich die beiden eine kurze<br />
<strong>Zeit</strong> schweigend gegenüber. Ihre Blicke waren voller<br />
Liebe.<br />
Emmy kam leise herein. Gertrud schreckte<br />
zusammen. »Bitte, bringen Sie uns Tee und Gebäck,<br />
Emmy«, sagte sie, schnell wie<strong>der</strong> gefasst, »und sagen<br />
Sie meinem Vater Bescheid.« Wie<strong>der</strong> allein, setzten sie<br />
sich in die mit geblümtem Stoff bezogenen Sessel, die<br />
um den kleinen Tisch herum angeordnet waren.<br />
Wilhelm kämpfte mit seiner Verlegenheit, aber er wollte<br />
die <strong>Zeit</strong> nutzen, um mit Gertrud ohne die Gegenwart<br />
ihres Vaters zu sprechen. Aus einem plötzlichen <strong>Im</strong>puls<br />
56
heraus ergriff er ihre Hand. »Fräulein Gertrud ... Gertrud<br />
...«, kam es zunächst etwas stockend von seinen Lippen,<br />
aber dann überstürzten sich die Worte. Alles, was sein<br />
Innerstes erfüllte, was sein Herz so lange bewahrt hatte,<br />
drängte nun auf einmal aus ihm hinaus. Mit klopfendem<br />
Herzen und angehaltenem Atem hörte Gertrud ihn<br />
sagen: »Morgen muss ich zur Armee einrücken. Ich<br />
komme gleich an die Front, aber in ein paar Wochen<br />
wird ja alles vorbei sein. Darf ich hoffen, wenn ich<br />
wie<strong>der</strong> zu Hause bin ... Gertrud ... Darf ich darauf hoffen<br />
... liebste Gertrud ... möchten Sie meine Frau werden?«<br />
Nie hatte sie eine solche Seligkeit empfunden. Wie<br />
gern hätte sie in seinen Armen gelegen, den Kopf an<br />
seine Schulter gelehnt. Leise hörte sie ihn noch sagen:<br />
»Ich liebe dich, Gertrud ... Ich liebe dich über alles.<br />
Werde meine Frau!«<br />
Wie gern möchte ich das, wie gern! hätte sie schreien<br />
mögen. Auch ich liebe dich wie mein Leben. Aber ihre<br />
Antwort kam nur wie ein Hauch: »Ja, das möchte ich.«<br />
Fast unhörbar fügte sie hinzu: »Ich liebe dich.«<br />
Wilhelm hatte das starke Verlangen, sie an sich zu<br />
ziehen, sie an seine Brust zu drücken und sie auf den<br />
Mund zu küssen. Doch da ging die Tür auf, und Oertel<br />
kam ins Zimmer.<br />
»Ah, Wilhelm, schon in Uniform?« Er reichte ihm<br />
die Hand und setzte sich dann auf das Sofa mit den<br />
geschweiften Armlehnen.<br />
»Ja, morgen geht es an die Front.«<br />
»Der Dienst für das Vaterland <strong>ist</strong> für jeden Mann eine<br />
Ehre«, sagte Oertel und klopfte ihm anerkennend auf die<br />
Schulter.<br />
57
Emmy brachte den Tee, und Gertrud übernahm das<br />
Einschenken. Der Vater sprach von dem Mord in<br />
Sarajevo und von dem Ultimatum Österreichs an<br />
Serbien. Sie hörte nicht zu. Ihre Gedanken waren<br />
Gefangene <strong>der</strong> zärtlichen Gefühle, <strong>der</strong> beglückenden<br />
Hoffnungen, die Wilhelms Antrag in ihr ausgelöst hatte.<br />
Mit Herzklopfen wartete sie darauf, dass er den Vater<br />
um ihre Hand bitten würde, während sie scheinbar ruhig<br />
am Teetisch saß und ein Plätzchen aus <strong>der</strong> Silberschale<br />
nahm, die mitten auf dem Tisch stand.<br />
»Es <strong>ist</strong> gut, dass es endlich losgeht«, meinte Wilhelm,<br />
»diese Ungewissheit war ja nicht <strong>mehr</strong> zu ertragen.«<br />
Aus seinem Blick sprach jugendliche Bege<strong>ist</strong>erung.<br />
»Zu welcher Waffengattung rücken Sie ein?«, fragte<br />
Oertel interessiert und betrachtete den jungen Mann<br />
voller Sympathie.<br />
»Zur Infanterie.«<br />
Als es schon fast <strong>Zeit</strong> für ihn war zu gehen, gab er<br />
sich einen Ruck. Er nahm all seinen Mut zusammen,<br />
stand auf, zog seinen Uniformrock glatt – eine<br />
Verlegenheitsgeste, denn es war nichts glatt zu ziehen –<br />
, stellte sich vor Oertel hin und verbeugte sich förmlich.<br />
Gertrud ahnte, was jetzt kommen würde. Ihre Hände<br />
zitterten so sehr, dass sie fast ihren Tee verschüttet hätte.<br />
»Herr Professor, ich weiß, es <strong>ist</strong> sehr überstürzt ...«<br />
Nun kam er doch ins Stottern, und die vorher so gut<br />
zurechtgelegten Worte wollten ihm einfach nicht über<br />
die Lippen kommen. Er verhaspelte sich und setzte dann<br />
neu an: »... es <strong>ist</strong> ... weil ich doch morgen in den Krieg<br />
ziehen muss ... Herr Professor, ich bitte Sie um die Hand<br />
ihrer Tochter.«<br />
58
Obwohl <strong>der</strong> Antrag für Oertel nicht überraschend<br />
kam, schwieg er einen Augenblick. »Haben Sie Gertrud<br />
schon gefragt?«, war dann das Erste, was er sagte.<br />
Als Wilhelm bejahte, wandte er sich seiner Tochter<br />
zu: »Und du, was sagst du dazu?«<br />
»Ach, Vater!« Sie strahlte ihn an, und dieses Strahlen<br />
war Antwort genug.<br />
»<strong>Im</strong> Grunde bin ich einverstanden«, fuhr er fort,<br />
»doch lassen wir erst einmal den Krieg vorüber sein.<br />
Und dann müssen Sie ja noch Ihr Examen machen. Aber<br />
wenn ihr beiden euch wirklich gern habt, dann wird eine<br />
gewisse Wartezeit <strong>der</strong> Liebe keinen Schaden zufügen.«<br />
Gertrud sah bei dieser Bemerkung wie<strong>der</strong> das<br />
schalkhafte Lächeln in den Augen ihres Vaters<br />
aufblitzen, und dankbar empfand sie sein<br />
Einverständnis.<br />
Wilhelm Zeidler verabschiedete sich. Gertrud fühlte<br />
sich schon wie eine glückliche Braut. Sie sah ihn die<br />
Straße hinuntergehen, mit leichtem, fe<strong>der</strong>ndem Schritt,<br />
die große, schlanke Gestalt durch die gut geschnittene<br />
Uniform noch betont. Sie stand lange so da, blickte in<br />
die Richtung, in <strong>der</strong> er verschwunden war, als wolle sie<br />
ihn mit ihren Augen begleiten, wo immer er hingehen<br />
würde.<br />
4 . August<br />
1914,<br />
abends<br />
59
B<br />
ald werde ich Frau Zeidler sein! Wenn <strong>der</strong><br />
Krieg vorbei <strong>ist</strong>, werden Wilhelm und ich<br />
heiraten. Er<br />
hat eben um meine Hand angehalten, und Vater war<br />
einverstanden. Ich bin so glücklich wie noch nie in<br />
meinem Leben! Ich möchte tanzen, singen ... ach, ich<br />
weiß nicht, was ich alles anstellen möchte vor lauter<br />
Seligkeit!<br />
Der Krieg soll ja nicht lange dauern, das sagen alle,<br />
ein paar Wochen, höchstens drei o<strong>der</strong> vier Monate. Das<br />
halte ich noch aus. Die Hochzeit wird wun<strong>der</strong>voll<br />
werden. Ich wünsche mir ein Brautkleid aus weißer<br />
Spitze und einen ganz langen Schleier. Wilhelms Neffen<br />
werden Blumen streuen, und Vater wird mich zum Altar<br />
führen. Alle Leute werden uns nachsehen, wenn ich an<br />
seinem Arm durch die Kirche gehe. Und dann werden<br />
wir auch bald eine eigene Wohnung haben. Hell soll sie<br />
sein, licht und freundlich, mit Fenstern nach Süden,<br />
durch die die Sonne hereinscheint. Ich werde die<br />
schönsten Möbel aussuchen, die ich finden kann. Und<br />
an ein Kin<strong>der</strong>zimmer müssen wir denken. Ich möchte<br />
Kin<strong>der</strong> haben, nicht nur eines. Zwei o<strong>der</strong> drei Kin<strong>der</strong>,<br />
vielleicht zwei Jungen und ein Mädchen; aber das <strong>ist</strong><br />
auch egal, es <strong>ist</strong> auf jeden Fall schön, Kin<strong>der</strong> zu haben,<br />
ob es nun Jungen o<strong>der</strong> Mädchen sind. Wilhelm wird ein<br />
sehr guter Vater sein, davon bin ich fest überzeugt. Wir<br />
werden eine glückliche Familie sein!<br />
Oertel hatte seiner Tochter erlaubt, Wilhelm zum<br />
Bahnhof zu bringen, wo er sich zu melden hatte. Stolz<br />
schritt sie an seinem Arm durch die Straßen. Von überall<br />
60
her kamen Männer in Feldgrau, die jungen begleitet von<br />
ihrer Liebsten o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Mutter, die älteren von<br />
ihren Frauen und Kin<strong>der</strong>n. Am Bahnhof herrschte ein<br />
fürchterliches Gedränge. Gertrud blickte staunend auf<br />
die vielen Menschen. Mütter drückten ihre Söhne noch<br />
einmal ans Herz, Frauen umarmten ihre Männer und<br />
küssten sie. Kin<strong>der</strong> drängten sich an ihre Väter.<br />
»Du b<strong>ist</strong> so still.« Wilhelm legte Gertrud den Arm<br />
um die Taille, und sie schmiegte sich eng an ihn. »Die<br />
vielen Leute ... ich weiß nicht ... mir <strong>ist</strong> ein bisschen<br />
bange zumute.« Dann sah sie ihn an mit einem Blick,<br />
aus dem ihre ganze Liebe sprach. »Wenn du nur erst<br />
wie<strong>der</strong> bei mir b<strong>ist</strong>«, sagte sie leise.<br />
Patriotische Lie<strong>der</strong> wurden gesungen, und die Menge<br />
ließ die ausrückenden Truppen hochleben. Der Zug<br />
stand schon abfahrtbereit. An einigen Waggons waren<br />
Aufschriften angebracht: »Je<strong>der</strong> Schuss ein Russ!« o<strong>der</strong><br />
»Je<strong>der</strong> Stoß ein Franzos!« Als Gertrud sie las, hatte sie<br />
einen Augenblick lang das Gefühl, als ob eine kalte<br />
Hand nach ihrem Herzen griff. Sie schau<strong>der</strong>te. Aber sie<br />
schob diese Empfindung entschlossen beiseite und<br />
dachte nicht weiter darüber nach. Sie war glücklich, seit<br />
dem gestrigen Tage <strong>mehr</strong> denn je, und sie wollte<br />
glücklich sein.<br />
»Warte einen Augenblick hier auf mich, ich muss<br />
mich melden«, sagte Wilhelm und führte Gertrud aus<br />
dem Gedränge heraus an einen Platz, wo es etwas<br />
ruhiger war. Als er zurückkam, nahm er sie in seine<br />
Arme, drückte sie fest an seine Brust und küsste sie<br />
leidenschaftlich auf den Mund. Dieser Kuss brannte sich<br />
in Gertruds Erinnerung ein. Außer ein paar<br />
61
Feldpostbriefen sollte es das Einzige sein, was ihr von<br />
ihrem Verlobten blieb.<br />
In den ersten Kriegswochen schienen sich alle<br />
optim<strong>ist</strong>ischen Erwartungen zu bestätigen. Die deutsche<br />
Armee stieß schnell von Belgien aus nach Frankreich<br />
vor. <strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> läuteten die Kirchenglocken von<br />
allen Türmen <strong>der</strong> Stadt und verkündeten einen Sieg <strong>der</strong><br />
deutschen Truppen. Gertrud sah täglich mit innerer<br />
Spannung dem Briefträger entgegen. Wilhelm schrieb<br />
ihr, so oft er konnte. »Es geht schneller vorwärts, als wir<br />
gedacht haben, bald wird <strong>der</strong> Krieg zu Ende sein. Wir<br />
werden siegen, glaube mir! Es kann gar nicht an<strong>der</strong>s<br />
sein. Oh, wie freue ich mich darauf, Dich wie<strong>der</strong> in<br />
meinen Armen zu halten.« Gertrud las die Zeilen mit<br />
bewegtem Herzen und feuchten Augen. Sie sah<br />
Wilhelm vor sich, wie sie ihn das letzte Mal gesehen<br />
hatte, in seiner schmucken Uniform, stellte sich vor, wie<br />
er mit seinen Kameraden vorwärtsstürmte. Ein an<strong>der</strong>es<br />
Mal schrieb Wilhelm: »Wie ich Dich liebe, mein<br />
allerschönstes Mädchen! Oh, wüsstest Du, wie oft ich<br />
an Dich denke! <strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> sehe ich Dein Bild vor<br />
mir, Dein seidiges dunkles Haar, Deine träumerischen<br />
braunen Augen.« Gertrud stieg das Blut in die Wangen.<br />
Sie verschloss diese Sätze tief in ihrem Herzen.<br />
Aber als <strong>der</strong> deutsche Vormarsch ins Stocken geriet<br />
und die Glocken immer seltener zu hören waren, kamen<br />
auch nicht <strong>mehr</strong> so viele Briefe an. <strong>Im</strong>mer öfter sah<br />
Gertrud den Briefträger gehen, ohne dass er ihr ein<br />
Lebenszeichen von ihrem Verlobten gebracht hätte.<br />
Einmal kam ein langer Brief. »Liebe Gertrud«, schrieb<br />
62
Wilhelm, »wir liegen nun schon seit Wochen in einem<br />
Schützengraben, ohne Schutz dem Regen ausgesetzt.<br />
Wir sind völlig durchnässt und waten im Schlamm. Es<br />
geht überhaupt nicht <strong>mehr</strong> vorwärts, und die Stimmung<br />
<strong>ist</strong> sehr gedrückt. Von <strong>der</strong> Bege<strong>ist</strong>erung zu Anfang des<br />
Krieges <strong>ist</strong> bei uns allen nicht <strong>mehr</strong> viel übrig. Das<br />
Trommelfeuer <strong>der</strong> feindlichen Artillerie zermürbt uns!<br />
Es dröhnt uns Tag und Nacht in den Ohren. Neulich war<br />
<strong>der</strong> Herzog da und hat uns besucht. Das hat uns wie<strong>der</strong><br />
ein wenig Mut gemacht. Aber die Älteren unter uns, die<br />
<strong>mehr</strong> Erfahrung haben, glauben nicht <strong>mehr</strong> an einen<br />
leichten und schnellen Sieg. Ja, einige zweifeln sogar<br />
daran, dass es überhaupt einen Sieg geben wird.<br />
Tagelang können wir nicht aus dem Schützengraben<br />
heraus, und ich weiß gar nicht, ob Du diesen Brief<br />
überhaupt bekommen wirst.«<br />
Aus seinen Zeilen spricht Resignation und<br />
Müdigkeit, dachte Gertrud. Mit Beklemmung empfand<br />
sie diesen Wandel, als sie seine ersten Briefe noch<br />
einmal las. Voller Sorgen legte sie sie zurück in das<br />
hübsche messingbeschlagene Holzkästchen, in dem sie<br />
die Nachrichten von Wilhelm aufbewahrte.<br />
Dann wartete sie lange vergebens auf Post. Eines<br />
Tages, als die Bäume schon ihre Blätter verloren hatten<br />
und ein kalter Wind durch die Straßen pfiff, kam Oertel<br />
mit ernstem Gesicht aus <strong>der</strong> Hochschule nach Hause. Er<br />
hielt den Kopf gesenkt, und seine aufrechte, hohe<br />
Gestalt schien gebeugt. Als Gertrud ihren Vater so sah,<br />
wurde sie von bösen Vorahnungen erfasst. Ihr Herz<br />
krampfte sich zusammen. Angst erfüllte sie, Angst vor<br />
etwas Drohendem, das sie nicht kannte, nicht benennen<br />
63
konnte, von dem sie aber fürchtete, dass es ihr Leben<br />
zerstören und sie verschlingen würde. Sie war blass und<br />
zitterte, als Oertel sie eine halbe Stunde später zu sich<br />
ins Studierzimmer rief. Der Vater saß in genau <strong>der</strong>selben<br />
gebeugten Haltung hinter seinem Schreibtisch, die<br />
Gertrud an ihm aufgefallen war, als er nach Hause kam.<br />
Er starrte auf die Tischplatte, ohne etwas zu sehen, und<br />
bemerkte seine Tochter nicht, die leise zur Tür<br />
hereingekommen war. Sie setzte sich still auf den Stuhl<br />
ihm gegenüber und wartete in einer angstvollen<br />
Spannung, die sie fast zu zerreißen drohte, darauf, dass<br />
<strong>der</strong> Vater endlich sprach. Sie wollte wissen, was ihn so<br />
bedrückte. Sie wollte es wissen, was es auch sei.<br />
Nach einigen Minuten qualvollen Schweigens<br />
begann Oertel mit belegter Stimme: »Wir haben heute<br />
eine L<strong>ist</strong>e bekommen mit den Namen <strong>der</strong> Studenten, die<br />
bis jetzt gefallen sind.« Kaum hörbar fuhr er fort:<br />
»Wilhelms Name <strong>ist</strong> dabei.«<br />
Gertrud erstarrte. Ihr Gesicht wurde zu einer Maske.<br />
Sie weinte nicht, sie schrie ihren Schmerz nicht heraus.<br />
Ihr war zu Mute, als würde sie von einem Ungeheuer<br />
gepackt, das sie fest in seinen Klauen hielt und ihr die<br />
Kehle zudrückte. Sie konnte keinen Laut hervorbringen.<br />
Gedankenfetzen und Bil<strong>der</strong> stiegen wahllos und<br />
ungeordnet in ihrem Innern auf. Sie sah Wilhelm, wie er<br />
von einer Granate zerfetzt wurde ... Gott, wie kannst du<br />
so etwas zulassen, schrie es in ihr ... Dann sah sie ihn,<br />
wie ein Franzose ihm eine Kugel in den Kopf schoß ...<br />
sah ihn hilflos auf dem Schlachtfeld liegen ... Es darf<br />
nicht sein ... Es darf nicht sein ... Es kann nicht sein!<br />
Dann verschwanden die Bil<strong>der</strong>, um eine trostlose Leere<br />
zurückzulassen.<br />
64
Oertel ging langsam auf sie zu, zog sie vom Stuhl<br />
hoch und nahm sie in seine Arme. Er legte ihren Kopf<br />
an seine Schulter und strich ihr tröstend über das Haar.<br />
Sie ließ es geschehen, ohne dass es ihr bewusst wurde.<br />
Völlig benommen ging sie in ihr Zimmer und warf sich<br />
auf das Bett. Dort lag sie lange und starrte vor sich hin.<br />
Sie konnte nichts denken, nichts fühlen. Es war etwas<br />
zerbrochen in ihr, etwas, das nie wie<strong>der</strong> heil werden<br />
konnte.<br />
Wie in Trance ging sie in den nächsten Tagen im<br />
Haus umher. Sie sah niemanden und hörte nicht, wenn<br />
sie angesprochen wurde. Ihre alltäglichen Pflichten<br />
erledigte sie mechanisch, wie ein Automat. Dann sah sie<br />
die Todesanzeige mit dem Eisernen Kreuz und<br />
Wilhelms Namen darunter. Während sie das Blatt<br />
anstarrte, quoll auf einmal eine Flut von Tränen aus ihr<br />
heraus. Es war, als sei <strong>der</strong> Damm gebrochen, <strong>der</strong> bisher<br />
alle Gefühle zurückgehalten hatte. Mit diesen Tränen<br />
kamen die Bil<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>. Sie sah Wilhelm im Schlamm<br />
des Schlachtfeldes liegen mit einer blutenden Wunde in<br />
seiner Brust, und sie sah ihre Mutter auf dem Totenbett.<br />
Wie<strong>der</strong> ein Tod in meinem Leben, dachte sie. Wie viele<br />
Tode werden es noch sein, die ich erdulden muss? Mit<br />
dem Tränenstrom aber wurde sie fähig zu trauern. Die<br />
Starre <strong>der</strong> letzten Tage löste sich langsam, und an ihre<br />
Stelle trat ein Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung,<br />
das in eine grenzenlose Traurigkeit mündete. Die<br />
Todesanzeige klebte sie in ihr Tagebuch ein. Lange <strong>Zeit</strong><br />
war sie unfähig, Worte für ihren Schmerz zu finden.<br />
20 . Februar<br />
1915,<br />
abends<br />
65
N<br />
un <strong>ist</strong> Wilhelm schon fast fünf Monate tot.<br />
Ich kann es noch immer nicht fassen. Wie<br />
glücklich war ich damals, als er mich fragte,<br />
ob ich seine Frau werden wolle. Wie verzweifelt bin<br />
ich heute! Ich habe das Gefühl, dass ich aus einem<br />
schrecklichen Traum aufgewacht bin, nein, aus<br />
einem wun<strong>der</strong>vollen Traum, <strong>der</strong> sich jäh in einen<br />
Albtraum verwandelt hat. Die Bege<strong>ist</strong>erung <strong>der</strong><br />
ersten Kriegstage – heute kann ich sie nicht <strong>mehr</strong><br />
verstehen. Aber keiner wusste ja, was kommen<br />
würde. Je<strong>der</strong> dachte, in ein paar Wochen <strong>ist</strong> alles<br />
vorbei. Nun dauert <strong>der</strong> Krieg schon ein halbes Jahr,<br />
und es <strong>ist</strong> kein Ende abzusehen. Was für ein<br />
ahnungsloses Kind bin ich gewesen! Den Krieg<br />
stellte ich mir als einen Spaziergang vor, auf dem<br />
mal eben <strong>der</strong> Feind besiegt würde. Doch was <strong>ist</strong><br />
inzwischen nicht alles passiert! Wilhelm wird nicht<br />
<strong>mehr</strong> wie<strong>der</strong>kommen. Und Paul ... auch er <strong>ist</strong> nun<br />
schon seit Wochen an <strong>der</strong> Front. Bis auf eine Karte,<br />
gleich nachdem er sich bei seinem Regiment in<br />
Frankreich gemeldet hatte, haben wir keine<br />
Nachricht <strong>mehr</strong> von ihm bekommen. Wie wird er das<br />
alles aushalten, immer draußen zu sein, im Schlamm<br />
bei Regen und Kälte? Und dann das Artilleriefeuer<br />
... Ob er vielleicht verwundet <strong>ist</strong>? Hoffentlich bleibt<br />
er am Leben! Olgas älterer Bru<strong>der</strong> <strong>ist</strong> gefallen, auch<br />
<strong>der</strong> Vater von Martha. In so vielen Familien<br />
herrschen Trauer und Leid, wie soll das alles noch<br />
enden?<br />
66
Vater hat jetzt immer öfter Magenschmerzen. Er kann<br />
das Kartoffelbrot nicht vertragen. Emmy backt ihm<br />
deshalb Brot ohne Kartoffelzusatz. Sie <strong>ist</strong> überhaupt <strong>der</strong><br />
gute Ge<strong>ist</strong> in unserem Haus. Was würden wir ohne sie<br />
anfangen! Ich glaube nicht, dass ich mit dem Wenigen,<br />
das wir haben, einen Haushalt führen könnte; noch dazu,<br />
wo alles so teuer geworden <strong>ist</strong>.<br />
Wie schön habe ich mir noch vor kurzer <strong>Zeit</strong> mein<br />
Leben vorgestellt: Glücklich verheiratet als Frau<br />
Zeidler, mit einem lieben Mann und niedlichen Kin<strong>der</strong>n<br />
– und wie an<strong>der</strong>s <strong>ist</strong> alles gekommen, wie furchtbar<br />
an<strong>der</strong>s! An manchen Tagen bin ich so deprimiert, dass<br />
ich mich am liebsten in eine dunkle Ecke verkriechen<br />
möchte, wo ich nichts <strong>mehr</strong> höre und sehe. Aber die<br />
traurigen Gedanken lassen sich nicht vertreiben.<br />
Oertels saßen beim Mittagessen. Schweigend<br />
löffelten sie ihre Suppe, die nur aus Kartoffeln und<br />
Wasser bestand. Butter war knapp und teuer und oft nur<br />
durch langes Schlangestehen zu bekommen, genauso<br />
wie Eier und Milch. Und Fleisch wurde zu so hohen<br />
Preisen verkauft, dass Emmys Haushaltsgeld dafür nicht<br />
immer ausreichte. Sie hatte sich zwar bemüht, <strong>der</strong><br />
dünnen Suppe mit getrockneten Kräutern aus dem<br />
Harzburger Garten etwas <strong>mehr</strong> Farbe und Geschmack<br />
zu geben, aber nahrhafter wurde sie dadurch nicht.<br />
Draußen wehte ein kalter Nordostwind und trieb mit<br />
seinen Böen immer wie<strong>der</strong> Schneeregen- und<br />
Graupelschauer gegen die Fensterscheiben. Nun <strong>ist</strong> es<br />
bereits März, aber vom Frühling keine Spur, dachte<br />
Gertrud missmutig.<br />
67
»Ich lasse Martha gleich nach dem Mittagessen den<br />
Ofen in Ihrem Studierzimmer anheizen, Herr<br />
Professor.« Emmy blickte besorgt durch das Fenster in<br />
das ungemütliche Wetter hinaus.<br />
»Lassen Sie nur, Emmy«, winkte Oertel müde ab.<br />
»Ich habe sowieso heute Nachmittag noch eine<br />
Vorlesung. Es genügt, wenn <strong>der</strong> Ofen später geheizt<br />
wird. Wir sollten mit Holz und Kohlen sparsam<br />
umgehen. Wer weiß, wie lange wir noch damit<br />
auskommen müssen. Die englische Blockade ...« Der<br />
Rest ging in einem Hustenanfall unter. Gertrud und<br />
Emmy tauschten besorgte Blicke.<br />
»Sie sollten zu Hause bleiben, Herr Professor«, sagte<br />
die Haushälterin in ihrer fürsorglich-resoluten Art und<br />
sah Oertel ernst an.<br />
»Ja, Vater, Emmy hat Recht. Deine Erkältung kann<br />
nicht besser werden, wenn du dich nicht mal ein paar<br />
Tage ins Bett legst.« Lebhafter, als es sonst ihre Art war,<br />
mischte Gertrud sich in das Gespräch und warf ihrem<br />
Vater einen eindringlichen Blick zu.<br />
Oertel machte eine unwirsche Bewegung mit <strong>der</strong><br />
Hand. »Ach was, das bisschen Husten«, knurrte er, »das<br />
bringt mich nicht um.« Dabei unterdrückte er einen<br />
erneuten Hustenanfall.<br />
»Wenn du dich stundenlang in den kalten Räumen<br />
aufhältst, wirst du nur noch kränker. Auch in <strong>der</strong><br />
Hochschule wird sicher sparsam geheizt.«<br />
Oertel schlug unwillig mit <strong>der</strong> flachen Hand auf den<br />
Tisch, ein Zeichen, dass er das Thema beenden wollte,<br />
und die beiden Frauen wagten nichts <strong>mehr</strong> zu sagen.<br />
68
Emmy klingelte nach dem Mädchen. Martha brachte<br />
aus <strong>der</strong> Küche die Schüssel mit dem Hauptgericht und<br />
räumte die Suppenteller ab. Schon wie<strong>der</strong> Eintopf,<br />
dachte Gertrud und verdrehte die Augen, aber sie sagte<br />
nichts.<br />
Emmy entschuldigte sich: »Es tut mir leid, dass ich<br />
zum dritten Mal in dieser Woche ein Eintopfgericht auf<br />
den Tisch bringe, aber so lässt sich mit dem teuren<br />
Fleisch besser wirtschaften. Diese Preise kann ja kein<br />
Mensch <strong>mehr</strong> bezahlen!«, empörte sie sich.<br />
Energischer, als es nötig gewesen wäre, nahm sie den<br />
Deckel von <strong>der</strong> Schüssel, um die Teller zu füllen.<br />
»Schon gut, Emmy«, beruhigte sie Oertel, »wir<br />
müssen es eben nehmen, wie es kommt.«<br />
Sie fischte aus dem Gemisch von Kohl und<br />
Kartoffeln das größte Stück Fleisch heraus und legte es<br />
auf den Teller des Professors. Eine <strong>Zeit</strong> lang herrschte<br />
Schweigen, nur das leise Klappern des Geschirrs war zu<br />
hören.<br />
Nach einer Weile unterbrach Gertrud die Stille:<br />
»Noch immer keine Nachricht von Paul in <strong>der</strong> Post,<br />
Vater?«, fragte sie beklommen, denn sie wusste, die<br />
Antwort würde ›nein‹ lauten, sonst hätte <strong>der</strong> Vater<br />
sicher schon etwas gesagt.<br />
»Nein, immer noch nicht«, brummte Oertel und aß<br />
schweigend weiter.<br />
»Wie mag es ihm gehen?« Gertrud sprach leise und<br />
blickte bedrückt zum Fenster. Ihre Worte fielen wie<br />
Tropfen in den Raum. »Ich denke oft an ihn. Dieses<br />
Wetter ... Wir haben wenigstens ein Dach über dem<br />
Kopf ... aber die Soldaten in den Schützengräben bei<br />
69
Kälte und Nässe ... und dann das ständige Trommelfeuer<br />
... Hoffentlich <strong>ist</strong> ihm nichts passiert. Ich habe solche<br />
Angst.« Die Erinnerung an Wilhelms Tod, die stets<br />
lebendig in ihr war, wurde übermächtig, und sie<br />
unterdrückte mühsam ihre Tränen.<br />
Das Gespräch stockte wie<strong>der</strong>, und je<strong>der</strong> hing seinen<br />
Gedanken nach.<br />
»Ich hätte nicht erlauben sollen, dass er das Notabitur<br />
macht«, sagte Oertel schließlich in das Schweigen<br />
hinein und sah ge<strong>ist</strong>esabwesend auf seinen Teller.<br />
»Aber damals sah alles ganz an<strong>der</strong>s aus. Ich habe nicht<br />
damit gerechnet, dass er an Kampfhandlungen würde<br />
teilnehmen müssen. Der Krieg würde vorbei sein, ehe er<br />
seine Ausbildung beendet hätte, dachte ich. Heute<br />
mache ich mir Vorwürfe.« Es entstand eine<br />
beklemmende Pause. Oertel strich mit <strong>der</strong> Hand über<br />
seinen Bart, eine Geste, die er immer unbewusst machte,<br />
wenn tiefere Gefühle ihn berührten. Endlich sagte er<br />
leise, <strong>mehr</strong> zu sich selbst: »Er <strong>ist</strong> seelisch und körperlich<br />
viel zu zart für das, was er jetzt erleben muss.«<br />
Das Mittagessen ging zu Ende, ohne dass noch ein<br />
weiteres Wort gesprochen wurde. Oertel setzte sich mit<br />
<strong>der</strong> Tageszeitung in den Sessel, den Emmy fürsorglich<br />
neben den Ofen gerückt hatte. Auch hier im Esszimmer<br />
brannte bloß ein kleines Feuer, das den Raum nur mäßig<br />
erwärmte. Gertrud betrachtete ihren Vater. Er <strong>ist</strong><br />
abgemagert, dachte sie. Das sorgenvolle Gesicht ... Es<br />
scheint, als sei er in den letzten Monaten gealtert. Und<br />
jetzt noch dieser Husten! Alle Pillen, die Dr. Winkler<br />
verschreibt, und <strong>der</strong> Tee, den Emmy ihm kocht,<br />
scheinen nicht zu helfen. Wenn er nur nicht noch<br />
schlimmer krank wird! Sorge und Zärtlichkeit<br />
70
vermischten sich in ihr zu einem innigen Gefühl <strong>der</strong><br />
Zuneigung. Am liebsten würde ich ihn in den Arm<br />
nehmen, seine Wangen streicheln und mich an ihn<br />
schmiegen. Warum kann ich das nicht? Ich konnte es<br />
nie. <strong>Im</strong>mer <strong>ist</strong> da diese unsichtbare Mauer um ihn<br />
herum, wie eine Grenze, die niemand überschreiten<br />
darf. Es <strong>ist</strong>, als würde er all zu große Nähe fürchten. Ich<br />
habe ihn doch lieb, aber ich kann es ihm nicht so zeigen,<br />
wie ich möchte. Das bedrückt mich manchmal. Sie warf<br />
ihm einen zärtlichen Blick zu und ging aus dem<br />
Zimmer.<br />
Oertel las in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>ung Berichte von <strong>der</strong> Westfront,<br />
<strong>der</strong>en Inhalt nun schon seit Wochen stets <strong>der</strong> gleiche<br />
war. Noch immer lagen sich die verfeindeten Truppen<br />
in den Schützengräben gegenüber. Es gelang keinem <strong>der</strong><br />
Gegner, Boden zu gewinnen. Die Kämpfe schienen<br />
erstarrt zu sein, in Frankreichs Erde eingegraben.<br />
Deprimiert ließ er die <strong>Zeit</strong>ung sinken und starrte vor sich<br />
hin. Der Krieg wird wahrscheinlich viel länger dauern,<br />
als wir alle anfangs gedacht haben. Welch<br />
verhängnisvoller Irrtum!<br />
Ein erneuter krampfhafter Hustenanfall schüttelte<br />
seinen Körper. Als es vorbei war, lehnte er sich eine <strong>Zeit</strong><br />
lang erschöpft in seinem Sessel zurück und schloss die<br />
Augen. Schließlich nahm er seine Lektüre wie<strong>der</strong> auf.<br />
Zuerst die vielen Siegesmeldungen, wie haben wir uns<br />
täuschen lassen, dachte er. Deutlich wurde ihm die<br />
Ungewissheit <strong>der</strong> Zukunft bewusst. Sie lastete auf ihm<br />
wie eine Drohung. Paul, würde er lebend<br />
zurückkommen? Und Gertrud, was sollte aus ihr<br />
werden? Wie würde diese ganze schreckliche<br />
71
Geschichte überhaupt ausgehen? Mit einem Seufzer<br />
stützte er den Kopf in beide Hände.<br />
15 . April 1915<br />
N<br />
un <strong>ist</strong> es passiert: Vater hat eine<br />
Lungenentzündung! Warum hat er auch<br />
nicht hören wollen, <strong>ist</strong> immer in seinen<br />
Dienst gegangen. Dadurch hat er die Erkältung<br />
verschleppt. Jetzt bleibt ihm gar nichts an<strong>der</strong>es übrig,<br />
als im Bett zu liegen. Er hat hohes Fieber, ich mache<br />
mir solche Sorgen! Eine Lungenentzündung, das <strong>ist</strong><br />
eine schwere Krankheit. Manche Menschen sterben<br />
daran. Oh Gott, wenn ich mir vorstelle, dass ich auch<br />
noch Vater verlieren könnte. Welch schrecklicher<br />
Gedanke! Dann würde ich mutterseelenallein<br />
dastehen! Und ich hab ihn doch lieb, obwohl er<br />
manchmal so streng <strong>ist</strong>. Was <strong>ist</strong> das nur für eine<br />
schlimme <strong>Zeit</strong>! Vater schwer krank, von Paul noch<br />
immer keine Nachricht – soll ich alle Menschen<br />
verlieren, die ich liebe? Manchmal bin ich so<br />
nie<strong>der</strong>geschlagen, so ganz ohne Hoffnung. Wie wird<br />
mein Leben weitergehen, was wird die Zukunft<br />
bringen? Ich mag gar nicht darüber nachdenken. –<br />
Doch nein, ich will den Mut nicht sinken lassen.<br />
Vater wird wie<strong>der</strong> gesund werden, und auch Paul<br />
wird wie<strong>der</strong>kommen. Ich will fest daran glauben!<br />
Wenn nur dieser schreckliche Krieg erst einmal zu<br />
Ende wäre!<br />
Drei Wochen musste Oertel das Bett hüten. Der Arzt<br />
kam jeden Tag, um nach ihm zu sehen. Schließlich<br />
72
durfte er aufstehen, zunächst nur eine Stunde täglich.<br />
Dann setzte er sich warm eingepackt in den Sessel und<br />
las die <strong>Zeit</strong>ung o<strong>der</strong> auch ein <strong>Buch</strong>. Oft saß Gertrud<br />
neben ihm auf einem Stuhl und hielt seine Hand. Sie<br />
sprachen kaum miteinan<strong>der</strong>, aber es war ein tiefes<br />
Verstehen zwischen ihnen, das keiner Worte bedurfte.<br />
Und dann kam endlich eine Karte von Paul! Gertrud<br />
hatte an diesem Morgen die Post in Empfang genommen<br />
und die Feldpostkarte gleich entdeckt. Aufgeregt fischte<br />
sie sie aus den übrigen Briefen und Drucksachen heraus<br />
und lief damit zum Vater. Wie wird er sich freuen!<br />
Strahlend betrat sie das Zimmer. »Post von Paul!«, rief<br />
sie ihm entgegen und schwenkte die Karte durch die<br />
Luft. Dann setzte sie sich neben ihn und las ihm die<br />
Nachricht vor:<br />
»Das Trommelfeuer <strong>ist</strong> entsetzlich«, schrieb Paul,<br />
»und <strong>der</strong> Schlamm und die Nässe machen uns viel zu<br />
schaffen. Manchmal werden wir abgelöst und bleiben<br />
ein paar Tage hinter <strong>der</strong> Front, um uns zu erholen.<br />
Jedesmal, wenn wir wie<strong>der</strong> nach vorn müssen, denke<br />
ich, nun hat sich etwas verän<strong>der</strong>t, und wir sind<br />
vorgerückt. Aber immer wie<strong>der</strong> kommen wir in die alten<br />
Stellungen zurück. Wie lange soll das noch so<br />
weitergehen?«<br />
Oertel schwieg. Sein Gesicht war ernst. Gertrud sah<br />
ihn an. Die Freude, die sie eben noch erfüllt hatte, wurde<br />
schal.<br />
»Vater, er lebt doch«, versuchte sie, seine trüben<br />
Gedanken zu zerstreuen und drückte seine Hand. Oertel<br />
starrte lange wortlos vor sich hin. Schließlich sah er<br />
seine Tochter an. Gertrud blickte in von Schwermut<br />
umschattete Augen.<br />
73
»Wer weiß, wie lange noch«, sagte er kaum hörbar.<br />
In einer heftigen Aufwallung von Mitgefühl umarmte<br />
Gertrud plötzlich ihren Vater, und er ließ es geschehen.<br />
Es war einer jener seltenen Augenblicke, in dem die<br />
Reserviertheit, mit <strong>der</strong> er sich umgab, aufgehoben<br />
schien. Er empfand eine tiefe Verbundenheit mit seiner<br />
Tochter und fühlte sich ihr nahe in <strong>der</strong> gemeinsamen<br />
Angst um einen geliebten Menschen, und er war<br />
dankbar für diese Nähe.<br />
Schließlich wurden die Tage wärmer. Gertrud hatte<br />
sich mit einem <strong>Buch</strong> auf die Bank vor dem Haus gesetzt,<br />
aber nach ein paar Minuten legte sie es beiseite. Sie<br />
mochte nicht lesen.<br />
Wohlig räkelte und streckte sie sich in <strong>der</strong> Sonne und<br />
hielt ihr Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. Sie<br />
blinzelte in die grünen Kronen <strong>der</strong> Bäume, die die<br />
Straße säumten, und nahm beglückt die Farben <strong>der</strong><br />
Blumen wahr, die den kleinen Vorgarten schmückten.<br />
Alles war so hell und freundlich! Ihr war, als ob das<br />
Leben ein bisschen leichter würde, als ob all das<br />
Schwere, das sie nie<strong>der</strong>gedrückt hatte, langsam von ihr<br />
abfiel und sich in <strong>der</strong> Heiterkeit dieser sonnigen Tage<br />
auflöste. »Ist es heute nicht schön?«, rief sie fröhlich<br />
Emmy entgegen, die gerade mit einem vollen<br />
Einkaufskorb den Kiesweg entlang auf die Haustür<br />
zuging.<br />
»Jetzt kommt bald <strong>der</strong> Sommer, Gott sei Dank!«<br />
Emmy nickte ihr zu und verschwand in <strong>der</strong> Haustür.<br />
Gertrud folgte ihr. »Ich werde ein paar Rosen<br />
abschneiden für die Vase auf dem kleinen Tisch im<br />
Wohnzimmer.« Sie nahm die Schere aus <strong>der</strong> Schublade<br />
74
und ging wie<strong>der</strong> hinaus in den Vorgarten. Als sie die<br />
Blumen in die Vase ordnete, meinte sie zu Emmy: »Ich<br />
sollte wie<strong>der</strong> anfangen, Klavier zu spielen. So lange<br />
habe ich keine Taste <strong>mehr</strong> angerührt. Ob ich es<br />
überhaupt noch kann?«<br />
Emmy, die gerade dabei war, ihre Einkäufe<br />
wegzuräumen, blickte auf. »Aber selbstverständlich,<br />
Fräulein Gertrud! Wer so gut Klavier spielt wie Sie, <strong>der</strong><br />
verlernt es nicht.« Sie sah Gertrud mit einem warmen<br />
Ausdruck in den Augen an. »Ich würde mich freuen,<br />
wenn Sie wie<strong>der</strong> spielen, ich habe Ihnen so gern<br />
zugehört. Und es hat Ihnen doch auch immer viel Freude<br />
gemacht. Vielleicht müssen Sie anfangs ein bisschen<br />
<strong>mehr</strong> üben, doch Sie werden schnell wie<strong>der</strong> die<br />
gewohnte Fingerfertigkeit haben.«<br />
Gertrud sah Emmy dankbar an. Sie fühlte sich<br />
ermutigt und nahm sich vor, am Nachmittag ein paar<br />
Noten herauszusuchen und einmal zu probieren, was sie<br />
noch konnte.<br />
Später beim Abendbrot sagte Oertel: »Ich denke,<br />
dass wir nächste Woche wie<strong>der</strong> nach Harzburg fahren<br />
können.« Es klang beiläufig, trotzdem beobachtete er<br />
Gertrud und Emmy gespannt, wie sie wohl reagieren<br />
würden.<br />
»Vater!«, rief Gertrud aus. Vor Freude wäre sie fast<br />
vom Tisch aufgesprungen, aber sie beherrschte sich und<br />
sagte in ruhigerem Ton: »Das <strong>ist</strong> ja wun<strong>der</strong>voll, aber<br />
geht es dir auch gut genug?«<br />
»Ich war heute bei Dr. Winkler«, sagte Oertel,<br />
während er Butter auf seine Brotscheibe strich. »Er hat<br />
nichts dagegen. Ich soll nur keine zu anstrengenden<br />
75
Wan<strong>der</strong>ungen unternehmen, aber Luftverän<strong>der</strong>ung<br />
würde mir gut tun.«<br />
»Wie schön, wir fahren wie<strong>der</strong> nach Harzburg!«<br />
Gertrud strahlte. Sie liebte das Haus am Waldrand. Als<br />
sie an diesem Abend im Bett lag, hörte sie, schon halb<br />
im Traum, das Rauschen des Windes in den<br />
Baumkronen, das dort ihren Schlaf begleitete, und das<br />
Zwitschern <strong>der</strong> Vögel, die sie morgens weckten. Von<br />
Vorfreude erfüllt, war sie bald eingeschlafen.<br />
In den nächsten Tagen half sie Emmy beim Packen.<br />
Beschwingt lief sie treppauf und treppab. Dann war es<br />
endlich so weit: Die Kutsche stand vor <strong>der</strong> Haustür, das<br />
Gepäck wurde aufgeladen, und sie stieg ein mit Vater<br />
und Emmy. Die Fahrt konnte beginnen, zunächst zum<br />
Bahnhof und dann weiter mit dem Zug nach Harzburg.<br />
Ein leises Klopfen an <strong>der</strong> Tür und Emmys Stimme<br />
»Aufstehen, Fräulein Gertrud, es <strong>ist</strong> sechs Uhr« drangen<br />
in Gertruds Träume. Verschlafen reckte sie sich, rieb<br />
sich die Augen und blinzelte in den Sonnenstrahl, <strong>der</strong><br />
durch die geschnitzte Öffnung in den Fensterläden ins<br />
Zimmer drang und Staubkörnchen aufblitzen und tanzen<br />
ließ. Was <strong>ist</strong> los, wollte sie fragen, doch dann fiel es ihr<br />
ein. Sie hatte sich ja vorgenommen, mit Emmy in den<br />
Wald zu gehen und Heidelbeeren zu pflücken. Schnell<br />
stand sie auf und goss Wasser aus <strong>der</strong> Steingutkanne in<br />
die Waschschüssel, die auf <strong>der</strong> Waschkommode mit <strong>der</strong><br />
Marmorplatte stand. Sie fuhr sich rasch mit dem<br />
Schwamm über Gesicht, Arme und Oberkörper. Heute<br />
Abend, wenn sie verschwitzt und schmutzig von <strong>der</strong><br />
Arbeit nach Hause kam, würde sie ein Bad nehmen, aber<br />
jetzt musste es schnell gehen. Dann ging sie zum<br />
Klei<strong>der</strong>schrank, öffnete die Tür und überlegte, was sie<br />
76
anziehen sollte. Ihr Blick fiel auf das graue<br />
Musselinkleid. Das kann ruhig ein paar Flecke<br />
abbekommen, dachte sie. Es <strong>ist</strong> alt und abgetragen. Ich<br />
hätte es längst ausrangiert, aber man kann ja nichts<br />
Neues kaufen. Sie streifte es über und begann ihr Haar<br />
aufzustecken.<br />
Erinnerungen stiegen in ihr auf. Mit Paul bin ich<br />
früher oft ins Heidelbeerkraut entwischt, wenn wir mit<br />
den Eltern spazieren gingen, dachte sie. Einen blauen<br />
Mund und blaue Finger haben wir uns geholt, und oft<br />
hatten wir Flecken in unseren Klei<strong>der</strong>n. Dann war<br />
Mutter verärgert, aber so richtig schimpfen konnte sie<br />
eigentlich nie. Ein wehmütiges Lächeln spielte um<br />
Gertruds Lippen. Damals war das Heidelbeerpflücken<br />
noch Spiel und Spaß gewesen, wir naschten von den<br />
Sträuchern, bis wir satt waren o<strong>der</strong> keine Lust <strong>mehr</strong><br />
hatten. Heute wird es richtige Arbeit werden. Emmy<br />
will Saft, Marmelade und Kompott einkochen, wie sie<br />
das schon mit all den Früchten aus dem Garten getan<br />
hat. So viele Gläser stehen schon im Keller! Die<br />
nimmermüde Emmy! Ich finde, ich muss ihr wirklich<br />
einmal helfen.<br />
Als Gertrud in die Küche kam, stand ihr Frühstück<br />
schon bereit: eine Tasse Malzkaffee und zwei Scheiben<br />
Brot mit Pflaumenmus ohne Butter, denn die war knapp<br />
und teuer.<br />
Während sie ihr Frühstück aß, betrachtete sie<br />
neugierig die Dinge, die Emmy zurechtgelegt hatte:<br />
zwei Kämme, zwei kleine Schüsseln und zwei große<br />
Eimer.<br />
»Mit den Kämmen streifen wir die Beeren vom<br />
Heidelbeerkraut ab in die kleinen Schüsseln«, erklärte<br />
77
Emmy, die Gertruds fragenden Blick gesehen hatte.<br />
»Wenn die Schüsselchen voll sind, werden sie in den<br />
Eimer ausgeleert.« Verständnislos blickte Gertrud sie<br />
an. Emmy lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich zeige es<br />
Ihnen nachher.«<br />
Heidelbeeren pflücken, das hieß für die beiden<br />
Frauen zunächst einmal zwei Stunden bergauf gehen,<br />
ehe sie die Stelle erreichten, wo die besten Beeren<br />
wuchsen. Sie mussten sich also beizeiten auf den Weg<br />
machen. Mit festem Schritt gingen die beiden Frauen die<br />
nur mäßige Steigung durch den Wald hinauf. Gertrud<br />
atmete tief die frische Morgenluft ein, und die letzte<br />
Müdigkeit verflog rasch. Wie schön <strong>der</strong> Wald <strong>ist</strong> zu<br />
dieser frühen Stunde, dachte sie, und ließ sich<br />
verzaubern vom Gold <strong>der</strong> Sonnenstrahlen, die durch die<br />
Wipfel <strong>der</strong> hohen <strong>Buch</strong>en drangen und ein Muster aus<br />
Licht und Schatten auf den Waldboden malten. Alles<br />
kommt mir so unwirklich vor. Ich würde mich gar nicht<br />
wun<strong>der</strong>n, wenn plötzlich ein Zwerg am Wegesrand säße<br />
o<strong>der</strong> eine Fee zwischen den Bäumen erschiene. In einer<br />
solchen Stimmung müssen Märchen entstanden sein.<br />
Ein Eichhörnchen lief vor ihnen einen Stamm hinauf.<br />
»Ich habe ja schon so oft gesehen, wie graziös diese<br />
niedlichen Tiere klettern und springen«, sagte sie leise<br />
zu Emmy, »aber ich kann mich immer wie<strong>der</strong> daran<br />
freuen.«<br />
»Sehen Sie da zwischen den Bäumen das Reh?«<br />
Emmy blieb stehen und zeigte in die Richtung, aber das<br />
Tier war verschwunden, ehe Gertrud es entdeckt hatte.<br />
»Schade, dass sie so scheu sind«.<br />
Sie warteten noch einen Augenblick, aber das Reh<br />
zeigte sich nicht wie<strong>der</strong>. In <strong>der</strong> Morgenkühle war <strong>der</strong><br />
78
Weg nicht anstrengend, und die beiden Frauen kamen<br />
schnell voran. Gertrud war Spaziergänge in den<br />
Harzbergen gewohnt, denn sie begleitete ihren Vater oft.<br />
Auf <strong>der</strong> Höhe angekommen, sahen sie, dass an<strong>der</strong>e<br />
schon emsig bei <strong>der</strong> Arbeit waren. Erschrocken blickte<br />
Gertrud auf die vielen Menschen, die im<br />
Heidelbeerkraut knieten und mit ihren Kämmen die<br />
Beeren von den Sträuchern abstreiften.<br />
»Wir hätten noch früher aufstehen müssen.« Ihr<br />
enttäuschter Blick streifte Emmy. »Ich dachte, wir<br />
würden die Ersten sein! Hoffentlich finden wir<br />
überhaupt noch genug.«<br />
»Wir finden noch genug, Fräulein Gertrud, glauben<br />
Sie mir.« Emmy legte ihr beschwichtigend eine Hand<br />
auf die Schulter.<br />
»Guten Morgen, Fräulein Lehmann, auch schon so<br />
früh auf den Beinen?«<br />
Eine dickliche Frau, <strong>der</strong> ein paar fettige Haarsträhnen<br />
aus ihrem Knoten gerutscht waren, hatte sich<br />
aufgerichtet und winkte herüber. Durch die laute,<br />
ordinär klingende Stimme aufmerksam geworden, sah<br />
Gertrud zu ihr hin. Welch eine aufdringliche,<br />
unsympathische Person!<br />
»Guten Morgen, Frau Krämer«, antwortete Emmy<br />
kurz angebunden, und ein säuerliches Lächeln spielte<br />
um ihre Lippen. »Frau Raffke <strong>ist</strong> natürlich auch schon<br />
wie<strong>der</strong> unterwegs«, murmelte sie vor sich hin.<br />
Gertrud sah sie fragend an.<br />
»Ich nenne sie Frau Raffke«, erklärte Emmy, »weil<br />
sie immer alles wie besessen zusammenrafft. Ob es<br />
Beeren sind o<strong>der</strong> Pilze o<strong>der</strong> irgendwelche Angebote in<br />
79
den Läden – Frau Raffke <strong>ist</strong> stets als Erste zur Stelle und<br />
schnappt den an<strong>der</strong>en die besten Sachen weg.«<br />
Gertrud blickte auf die vielen Menschen. Wie große<br />
überdimensionale Käfer sahen sie aus, wie sie da so<br />
durchs Heidelbeerkraut krochen. Gleich werde ich auch<br />
so ein Käfer sein.<br />
»Kommen Sie, Fräulein Gertrud.« Emmy fasste sie<br />
am Arm und führte sie zu einer Stelle, wo noch niemand<br />
war. Sie knieten sich auf den Boden und begannen, mit<br />
ihren Kämmen die Beeren von den Sträuchern in die<br />
kleine Schale abzustreifen. Wenn das Schälchen voll<br />
war, wurde es in den Eimer entleert. Es war eine<br />
mühselige Arbeit. »So möchte ich nicht mein täglich<br />
Brot verdienen müssen«, sagte Gertrud halblaut zu sich<br />
selbst und dachte dabei an die Frauen, die für einen<br />
Tagelohn diese Arbeit verrichteten. Tapfer nahm sie die<br />
kleinen Sträucher zwischen die Finger und zog sie durch<br />
ihren Kamm. Er hatte zwar breite Zinken, aber immer<br />
wie<strong>der</strong> erwischte sie mit den Beeren auch Blätter. Diese<br />
fielen mit den Früchten zusammen in die kleine Schale,<br />
die sie vor sich auf den Boden gestellt hatte. »Ich habe<br />
ja mindestens so viele Blätter wie Beeren in meinem<br />
Topf!« Halb lachend, halb verärgert über ihre<br />
Ungeschicklichkeit sah sie zu Emmy hinüber. Mit<br />
spitzen Fingern versuchte sie, das Laub aus den<br />
Heidelbeeren herauszusortieren, aber Emmy rief ihr zu:<br />
»Halten Sie sich damit nicht auf, die Beeren müssen<br />
ja doch noch verlesen werden. Sie bekommen nur<br />
unnötig blaue Finger.«<br />
Zwei Stunden arbeiteten sie ohne Pause. Gertrud<br />
musste sich zwischendurch immer wie<strong>der</strong> aufrichten.<br />
Durch die ungewohnte Haltung, das Knien und Bücken,<br />
80
schmerzten ihre Glie<strong>der</strong>. Dann reckte und streckte sie<br />
sich, und für kurze <strong>Zeit</strong> ging es besser. Heute Abend<br />
werde ich ganz lahm sein, und einen tüchtigen<br />
Muskelkater werde ich auch bekommen, dachte sie<br />
leicht verstimmt, aber ich wollte es ja so. Emmy holte<br />
eine Flasche mit kaltem Tee und zwei Schmalzbrote aus<br />
ihrem Beutel.<br />
»Jetzt stärken wir uns erst einmal, Fräulein Gertrud.<br />
Ich finde, das haben wir uns verdient«, sagte sie gut<br />
gelaunt.<br />
»Das <strong>ist</strong> die beste Idee!« Gertrud war froh über die<br />
Pause und strich sich die vorwitzige Haarsträhne aus<br />
dem Gesicht, die ihr bei <strong>der</strong> Arbeit bis fast über die<br />
Augen gefallen war und an <strong>der</strong> feuchten Stirn klebte.<br />
»Ich habe richtig Hunger und Durst bekommen.« Sie<br />
biss herzhaft in ihr Brot, dann blickte sie erstaunt zu<br />
Emmy hinüber. »Woher haben Sie denn das Schmalz?«<br />
»Ich habe es für ein Silberschälchen von einem<br />
Bauern in Westerode bekommen.« Ein l<strong>ist</strong>iges Lächeln<br />
blitzte in ihren blauen Augen auf.<br />
Als sie ihre Pause beendeten, sah Gertrud bekümmert<br />
in ihren Eimer. »Es geht so langsam. Mein Eimer <strong>ist</strong><br />
kaum zu einem Viertel voll.«<br />
»Der Tag <strong>ist</strong> ja noch nicht herum.« Emmy lachte und<br />
band die Schleife ihrer Schürze neu, die sich gelöst<br />
hatte. »Außerdem, wenn Ihr Eimer nicht ganz voll wird,<br />
so schadet das doch auch nichts.«<br />
Sie machten sich wie<strong>der</strong> an die Arbeit. Mit <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />
stieg die Sonne höher. Die Augusthitze durchdrang jetzt<br />
auch den Wald und ließ die Arbeit mühsamer werden.<br />
Gertrud hätte am liebsten Schluss gemacht. Alle<br />
81
Heiterkeit, die sie am Morgen noch empfunden hatte,<br />
alle Leichtigkeit und Beschwingtheit, die sie auf dem<br />
Weg nach oben begleitet hatte, war von ihr abgefallen.<br />
Die ungewohnte Anstrengung drückte auf ihr Gemüt.<br />
Alles machte auf einmal keinen Spaß <strong>mehr</strong>. Missmutig<br />
betrachtete sie die Heidelbeeren in ihrem Eimer. Was <strong>ist</strong><br />
das nur für eine langweilige, monotone Tätigkeit, dachte<br />
sie seufzend, und das jetzt noch stundenlang! Aber ich<br />
will Emmy nicht enttäuschen. Verbissen pflückte sie<br />
weiter. Der Wald erschien ihr auf einmal finster und<br />
drohend, die Sonne grell und feindselig. Die<br />
kräftezehrende Arbeit in <strong>der</strong> Hitze hatte die Fröhlichkeit<br />
des Morgens in eine düstere Stimmung verwandelt. Sie<br />
ließ traurige Erinnerungen lebendig werden und erfüllte<br />
Gertrud mit schwermütigen Gedanken. Wie glücklich<br />
war ich doch noch vor einem Jahr, als Wilhelm mich<br />
fragte, ob ich seine Frau werden wollte. Und nicht<br />
einmal drei Monate später war er tot! Ihre Augen füllten<br />
sich mit Tränen. Als sie die Wangen hinabrollten,<br />
vermischten sie sich mit den Schweißtropfen auf ihrem<br />
Gesicht. Sie nahm ihre Umgebung nur wie durch einen<br />
Schleier wahr und achtete nicht darauf, was sie tat.<br />
Mechanisch arbeiteten ihre Finger weiter, als gehörten<br />
sie nicht zu ihr, als hätten sie sich selbstständig gemacht<br />
und nähmen nicht teil an den Gefühlen, die sie<br />
bewegten. Unermüdlich streiften sie die Beeren vom<br />
Heidelbeerkraut, während Gertrud in ihre Gedanken<br />
versponnen war wie die Puppe einer Seidenraupe in<br />
ihren Kokon. Wenn dieser Krieg nicht gekommen wäre,<br />
dann wäre ich jetzt vielleicht schon verheiratet, hätte<br />
einen eigenen Haushalt und sicher bald auch ein Kind.<br />
Wie schön wäre es, für eine eigene Familie sorgen zu<br />
können! Wahrscheinlich würde ich dann viel lieber<br />
82
Heidelbeeren pflücken, wenn ich es für meinen Mann<br />
und meine Kin<strong>der</strong> täte. Ein Lächeln huschte über ihr<br />
Gesicht. Aber was soll nun aus mir werden? Wie lange<br />
soll ich noch bei Vater leben? Ich liebe ihn, ja, und ich<br />
habe es auch gut bei ihm, das weiß ich. Aber eines Tages<br />
möchte ich doch mein eigenes Leben führen, nicht<br />
immer nur zu Hause herumsitzen, etwas Sinnvolles tun!<br />
Ist das ego<strong>ist</strong>isch? Undankbar? Ich denke, Vater wird<br />
das verstehen. Man bleibt doch nicht ewig Kind. Und<br />
als alte Jungfer, abhängig von <strong>der</strong> Gnade <strong>der</strong><br />
Verwandten, wie Tante Eugenie, möchte ich meine<br />
Tage auch nicht beschließen. Wie wird meine Zukunft<br />
aussehen? Wird mein Leben weiter in alltäglicher<br />
Belanglosigkeit versinken? Ich bin doch noch jung!<br />
Wenn nur dieser schlimme Krieg erst einmal zu Ende<br />
wäre, dann wird vielleicht manches an<strong>der</strong>s.<br />
Der liebliche Gesang eines Rotkehlchens über ihr in<br />
<strong>der</strong> <strong>Buch</strong>e drang durch den Schleier ihrer Traurigkeit.<br />
Die silbrigen Klänge fielen wie schimmernde Perlen in<br />
die Dunkelheit ihrer Seele. Sie richtete sich auf und rieb<br />
sich die Augen. Warum quäle ich mich mit trübsinnigen<br />
Gedanken? Es gibt doch auch noch etwas Schönes in <strong>der</strong><br />
Welt. Mit einem Lächeln sah sie zu dem kleinen Vogel<br />
hinauf.<br />
Gegen Mittag setzte sie sich erschöpft auf den<br />
weichen Waldboden und lehnte sich an einen<br />
Baumstamm. Sie war völlig verschwitzt und schmutzig,<br />
ihr Haar im Nacken war ganz feucht. Selbst im Schatten<br />
<strong>der</strong> <strong>Buch</strong>en war es jetzt heiß. Der leichte Wind, <strong>der</strong> sie<br />
am Morgen noch erfrischt hatte, war eingeschlafen, die<br />
Luft war drückend. Was gäbe ich für ein kühles Bad,<br />
dachte sie und betrachtete ihre Finger, die ganz blau und<br />
83
klebrig waren vom Heidelbeersaft. Hätte ich gewusst,<br />
dass diese Arbeit so anstrengend <strong>ist</strong>, wäre ich vielleicht<br />
doch zu Hause geblieben. Emmy kam auf sie zu und<br />
reichte ihr einen Becher Tee.<br />
»Da, trinken Sie einen Schluck, Sie müssen durstig<br />
sein. Wir machen eine kleine Pause.«<br />
Gierig trank Gertrud den Tee, aber essen wollte sie<br />
nichts, sie hatte keinen Hunger.<br />
Als die Schatten länger wurden und die Sonne tiefer<br />
stand, machten sie sich auf den Heimweg.<br />
»Gott sei Dank, dass es jetzt bergab geht«, seufzte<br />
Gertrud erleichtert. Ihr Eimer war doch noch fast voll<br />
geworden, sodass sie schwer zu tragen hatte. Emmy war<br />
glücklich über die reiche Ernte.<br />
»Gleich morgen fange ich an, Saft und Kompott zu<br />
machen.« Sie strahlte.<br />
Gertrud betrachtete unglücklich ihre blauen Hände.<br />
Wie sollte sie die wie<strong>der</strong> sauber kriegen, und noch dazu<br />
ohne Zitrone?<br />
An diesem Abend ging sie früher zu Bett als sonst.<br />
Müde ließ sie sich in die Kissen sinken. Aber das<br />
Bewusstsein, durchgehalten und etwas gele<strong>ist</strong>et zu<br />
haben, erfüllte sie mit Genugtuung. Sie kuschelte sich<br />
unter ihre Bettdecke und war bald fest eingeschlafen.<br />
84
30 . August 1915,<br />
spätnachmittags<br />
W<br />
ie schön war es wie<strong>der</strong> in Harzburg! Den<br />
ganzen Sommer über waren wir dort, wie<br />
jedes Jahr. Gestern sind wir nach Hause<br />
gekommen. Ich liebe Harzburg, das Haus, den Garten,<br />
den Wald! Drei Jahre nach Mutters Tod <strong>ist</strong> die<br />
Erinnerung an sie auch nicht <strong>mehr</strong> so schmerzlich wie<br />
am Anfang. Ich denke jetzt doch <strong>mehr</strong> an die vielen<br />
schönen Stunden, die wir hier zusammen mit ihr<br />
verbracht haben, und ich glaube, Vater geht es<br />
genauso. Er hat sich sehr gut erholt und <strong>ist</strong> wie<strong>der</strong><br />
ganz <strong>der</strong> Alte. Was hatten wir für Sorgen! Aber er<br />
scheint die Krankheit ohne Nachwirkungen<br />
überstanden zu haben. Auch seine Herzbeschwerden<br />
sind verschwunden, sagt er. Zunächst wollte er sich ja<br />
gar nicht in dem Haus aufhalten, in dem sie gestorben<br />
<strong>ist</strong>. Aber jetzt scheint er sich zu freuen, wie<strong>der</strong> dort zu<br />
sein. Er <strong>ist</strong> viel fröhlicher und aufgeschlossener.<br />
Emmy war ja wie<strong>der</strong> unermüdlich! Sie hat auch dafür<br />
gesorgt, dass ich keine Langeweile bekam. Die Kratzer,<br />
die ich mir in den letzten Tagen beim Brombeerpflücken<br />
an Armen und Beinen geholt hatte, sind jetzt noch zu<br />
sehen. Aber sie <strong>ist</strong> wirklich ein Schatz. Sie sorgt so gut<br />
für uns. <strong>Im</strong> Herbst will sie wie<strong>der</strong> nach Harzburg fahren<br />
und <strong>Buch</strong>eckern sammeln. Sie sagt, sie bekommt Öl<br />
dafür. Wenn wir sie nicht hätten!<br />
85
Der Sommer ging zu Ende, und je<strong>der</strong> fürchtete, dass<br />
es einen zweiten Kriegswinter geben würde. Gertrud<br />
erinnerte sich nur zu gut an den letzten Winter.<br />
Wie kalt und ungemütlich war es manchmal im Haus<br />
gewesen, weil es nicht genug zum Heizen gab. Und alle<br />
Nahrungsmittel waren knapp und teuer. Ob es dieses<br />
Jahr noch schlimmer wird, fragte sie sich oft. Sie dachte<br />
mit Bangen an die kalte Jahreszeit und sehnte sich nach<br />
den schönen Sommertagen in Harzburg, nach dem<br />
Garten und dem Wald. Selbst das anstrengende<br />
Heidelbeerpflücken kam ihr jetzt wie ein Vergnügen<br />
vor.<br />
An einem sonnigen, aber schon recht kühlen Tag im<br />
Oktober hatten sich im Hause Oertel fünf junge Frauen<br />
um den großen Tisch im Esszimmer versammelt. Jede<br />
war mit einem Strickzeug beschäftigt und hatte eine<br />
Tasse dampfenden Tee vor sich stehen. Aus den letzten<br />
Mehlvorräten hatte Emmy einfache Kekse gebacken.<br />
Gertrud wollte das alte Kränzchen aus ihrer Schulzeit<br />
wie<strong>der</strong> aufleben lassen und hatte deshalb ihre<br />
Schulfreundinnen eingeladen. Sie beschlossen, sich wie<br />
früher einmal in <strong>der</strong> Woche reihum zu treffen und<br />
warme Sachen für die Frontsoldaten zu stricken. Das<br />
Rote Kreuz hatte zu Spenden aufgerufen und sammelte<br />
vor allen Dingen warme Kleidung. Weil sich die jungen<br />
Frauen längere <strong>Zeit</strong> nicht gesehen hatten, gab es viel zu<br />
erzählen. Das monotone Geräusch <strong>der</strong> klappernden<br />
Stricknadeln begleitete ihr Plau<strong>der</strong>n und Kichern wie<br />
ein Ostinato.<br />
»Wisst ihr übrigens, dass ich mich zum Roten Kreuz<br />
gemeldet habe?«, sagte Olga, ließ den Pulswärmer, an<br />
86
dem sie gerade strickte, in den Schoß sinken und sah die<br />
an<strong>der</strong>en fragend an. Sie hatte rötliches, lockiges Haar<br />
und eine helle Haut. Zu ihrem Kummer hatte sie um die<br />
Nase herum etliche Sommersprossen, doch ihre<br />
hellblauen Augen blickten fröhlich und<br />
unternehmungslustig in die Welt.<br />
»So richtig als Krankenschwester?«, fragte Anni.<br />
»O<strong>der</strong> nur für den Dienst am Bahnhof, Tee ausschenken<br />
und Brote verteilen?«<br />
»Ja, als Krankenschwester.« Olga nahm ihr<br />
Strickzeug wie<strong>der</strong> auf. »Zunächst mache ich eine kurze<br />
Ausbildung, dann werde ich wohl als Hilfsschwester<br />
arbeiten können.«<br />
»An <strong>der</strong> Front?«, fragte Gretchen mit großen Augen.<br />
Sie war etwas naiv und sah ihre Freundin ängstlich an.<br />
Olga lachte. »Ich denke, dass ich in Braunschweig<br />
bleiben werde. Schließlich haben wir hier ja<br />
fünfundzwanzig Lazarette.«<br />
»Haben deine Eltern nichts dagegen? Ich meine, es<br />
sind ja immerhin Männer, die du dann betreust.« Gertrud<br />
dachte an ihren Vater und seine Ansichten darüber, was<br />
sich für eine junge Frau schickt.<br />
»In Notzeiten, wie wir sie jetzt erleben, muss je<strong>der</strong><br />
tun, was er kann«, sagte Olga voller Überzeugung.<br />
»Meine Eltern denken genauso. Wie viele Frauen haben<br />
sogar Männerarbeit übernommen, wenn ihr mal an die<br />
Briefträgerinnen, Straßenbahnschaffnerinnen und die<br />
Frauen in den Fabriken denkt. Und was <strong>ist</strong> schließlich<br />
schon dabei, wenn ich Männer im Bett liegen sehe.« Sie<br />
lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung.<br />
»Sie sind doch verwundet.«<br />
87
Eine <strong>Zeit</strong> lang war nur das Klappern <strong>der</strong> Stricknadeln<br />
zu hören. Die Mädchen hingen ihren Gedanken nach.<br />
Dann nahm Helene das Gespräch wie<strong>der</strong> auf. »Willst du<br />
später Krankenschwester bleiben und noch eine richtige<br />
Ausbildung mit Abschlussexamen machen?«, fragte sie.<br />
Olga zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch<br />
nicht, das wird sich finden«.<br />
Anni, ein groß gewachsenes, schlankes Mädchen mit<br />
blondem Haar, sagte: »Ich werde nach dem Krieg<br />
bestimmt eine Berufsausbildung machen. Am liebsten<br />
würde ich ein Lehrerinnenseminar besuchen.«<br />
»Lehrerin, das passt zu dir!«, rief Gretchen spontan<br />
dazwischen.<br />
Über Annis Gesicht huschte ein kurzes, spöttisches<br />
Lächeln. Sie war intelligent und sehr selbstbewusst.<br />
Schon in <strong>der</strong> Schule war sie aufgefallen, einmal durch<br />
gute Le<strong>ist</strong>ungen, dann aber auch dadurch, dass sie<br />
gelegentlich wagte, an<strong>der</strong>er Meinung zu sein als die<br />
Lehrer und das auch noch offen zum Ausdruck zu<br />
bringen.<br />
»Ich glaube, ich möchte am liebsten heiraten und<br />
Kin<strong>der</strong> haben.« Gretchen blickte mit treuherzigem<br />
Augenaufschlag in die Runde.<br />
»Das passt auch am besten zu dir«, gab Anni <strong>der</strong><br />
Freundin die Bemerkung von vorhin zurück. Ein leicht<br />
ironischer Unterton war dabei nicht zu überhören.<br />
Gertrud war schweigsam geworden. Sie hatte<br />
aufgehört zu stricken, die Nadeln lagen in ihrem Schoß.<br />
Dunkle Gedanken breiteten sich in ihr aus. Hatte sie<br />
eigentlich noch ein Ziel im Leben? Seit Wilhelms Tod<br />
schien ihr die Zukunft leer, ohne irgendeine Perspektive.<br />
88
Sie beneidete Olga und Anni, die so genau wussten, was<br />
sie wollten, und es auch durchsetzen konnten. Aber da<br />
war ihr Vater mit seinen strengen Ansichten.<br />
Er würde es ihr niemals erlauben, einen Beruf zu<br />
erlernen, und sie würde nicht wagen, sich ihm zu<br />
wi<strong>der</strong>setzen.<br />
»Du b<strong>ist</strong> so still geworden, Gertrud.« Helene sah die<br />
Freundin über ihr Strickzeug hinweg forschend an.<br />
Gertrud schrak auf und nahm rasch die Nadeln wie<strong>der</strong><br />
zur Hand. »Ach, weißt du, ich würde auch gern so etwas<br />
machen wie Olga o<strong>der</strong> Anni.«<br />
»Was spricht denn dagegen?«, rief Anni lebhaft<br />
dazwischen.<br />
»Mein Vater. Er würde es mir nie erlauben. Er<br />
möchte, dass ich heirate und bis dahin im Elternhaus<br />
bleibe. Ich hätte es nicht nötig, zu arbeiten und Geld zu<br />
verdienen.«<br />
»Das sind doch veraltete Ansichten«, erregte sich<br />
Anni. »Denk mal daran, wie viele Frauen heutzutage<br />
studieren. Emanzipation und Gleichberechtigung , das<br />
<strong>ist</strong> die Zukunft.«<br />
»Vater <strong>ist</strong> nun mal so.« Gertrud seufzte und ließ das<br />
Strickgarn hastig durch ihre Finger gleiten.<br />
»Du musst dich eben durchsetzen«, sagte Anni<br />
energisch. »Schließlich <strong>ist</strong> es dein Leben.«<br />
Wie<strong>der</strong> war es Dezember geworden, und die zweite<br />
Kriegsweihnacht stand bevor. Doch Vorfreude auf das<br />
nahende Fest wollte in Gertrud nicht aufkommen. Lag<br />
es am trüben, dunklen Wetter, das schon seit Wochen<br />
Regen und kühlen Wind brachte? Oft stand Gertrud am<br />
89
Fenster und schaute hinaus. Sie fühlte sich leer und<br />
irgendwie alt. Selbst das Klavierspielen machte ihr<br />
keine Freude <strong>mehr</strong>. Abends, wenn sie im Bett lag und<br />
<strong>der</strong> Schlaf nicht kommen wollte, überfielen sie quälende<br />
Gedanken an Paul. Wo mochte er jetzt wohl sein? Sie<br />
hatte schon so lange nichts <strong>mehr</strong> von ihm gehört. War<br />
er vielleicht schon ... Gertrud mochte den Gedanken<br />
nicht zu Ende denken. Seufzend stand sie auf. Ich sollte<br />
in die Küche gehen und ein Glas Wasser trinken, dachte<br />
sie.<br />
Als sie aus ihrem Zimmer ging, bemerkte sie, dass im<br />
Erdgeschoß noch Licht brannte. Der Lichtschein fiel<br />
durch die halb geöffnete Küchentür auf den Flur. Wer<br />
war denn jetzt noch auf? Vater arbeitete oft bis spät in<br />
die Nacht, aber dann saß er in seinem Arbeitszimmer.<br />
Leise ging sie die Treppe hinunter und blieb wie<br />
angewurzelt an <strong>der</strong> Tür stehen. Was machte Emmy da?<br />
Was sollten all diese Dinge auf dem Küchentisch, die<br />
eigentlich nicht dahingehörten: <strong>der</strong> Rucksack und die<br />
große Tasche, außerdem eine Garnitur Bettwäsche, ein<br />
silberner Kerzenleuchter und ein dazu passendes<br />
Tablett, eine Zuckerdose aus Meißener Porzellan und –<br />
Gertrud sah es mit einem Gefühl schmerzlicher<br />
Betroffenheit – eine von den Tischdecken, die ihre<br />
Mutter einst so kunstvoll bestickt hatte. Und nun packte<br />
Emmy auch noch den dreiarmigen Leuchter in den<br />
Rucksack! Verwun<strong>der</strong>t sah Gertrud dem seltsamen<br />
Treiben zu. Sollte Emmy etwa ...? Aber nein, sie <strong>ist</strong> ja<br />
schon ein paar Jahre bei uns und war stets ehrlich. Doch<br />
was soll das bedeuten? Was tut sie da? Was hat sie vor?<br />
Schließlich ging Gertrud neugierig ein paar Schritte<br />
näher, da blickte Emmy auf.<br />
90
»Ach, Fräulein Gertrud.« Sie lächelte verlegen,<br />
räusperte sich und strich mit <strong>der</strong> Hand leicht über den<br />
Kissenbezug, <strong>der</strong> vor ihr lag.<br />
»Was machen Sie da, Emmy?« fragte Gertrud. Ihr<br />
Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte.<br />
Emmy räusperte sich wie<strong>der</strong>. »Ich denke, ich bin<br />
Ihnen eine Erklärung schuldig.« Sie schluckte. »Ich will<br />
morgen auf die Dörfer fahren, wie es so viele tun, um zu<br />
hamstern.« Das letzte Wort betonte sie leicht, und ein<br />
Lächeln huschte dabei über ihr Gesicht. »Ich weiß nicht,<br />
was ich Weihnachten auf den Tisch bringen kann. Es<br />
sollte doch ein bisschen festlich sein, aber alles <strong>ist</strong> knapp<br />
und teuer. Vielleicht habe ich ja Glück und bekomme<br />
bei den Bauern etwas dafür.« Sie deutete auf die<br />
Wäschestücke und die Silbersachen, die auf dem<br />
Küchentisch lagen.<br />
Gertrud machte große Augen. »Weiß Vater davon?«<br />
»Ich musste ihn ja um einen Tag Urlaub bitten. Er<br />
gab mir diese schöne Decke hier.« Sie hielt Gertrud die<br />
fein gestickte Tischdecke entgegen.<br />
»Ich weiß noch, wie Mutter daran gearbeitet hat.«<br />
Gertrud blickte versonnen auf die schöne Stickerei.<br />
Dann warf sie mit einem Ruck den Kopf zurück, als<br />
wolle sie trübe Gedanken verscheuchen, und strich sich<br />
die wi<strong>der</strong>spenstige Haarsträhne aus <strong>der</strong> Stirn. »Darf ich<br />
mitkommen, Emmy?« Ihre Augen blitzten<br />
unternehmungslustig.<br />
»Ach, Fräulein Gertrud, das <strong>ist</strong> doch nichts für Sie,<br />
so von Hof zu Hof zu gehen als Bittstellerin.«<br />
91
»Nehmen Sie mich doch mit, bitte!« Es klang fast wie<br />
das Betteln eines kleinen Kindes. »Ich kann Ihnen doch<br />
tragen helfen.«<br />
Emmy lächelte. »Wenn wir überhaupt etwas<br />
bekommen.« Dann sah sie Gertrud aufmerksam an. Ihre<br />
leuchtenden Augen, <strong>der</strong> schmollende Zug um den<br />
Mund, ihr ganzes Wesen schienen einen sehnlichen<br />
Wunsch auszudrücken.<br />
»Fragen Sie Ihren Vater um Erlaubnis. Wenn er<br />
einverstanden <strong>ist</strong>, können Sie gern mitkommen.« Mit<br />
diesen Worten wandte sie sich erneut <strong>der</strong> Tasche und<br />
dem Rucksack zu. Gertrud verließ die Küche mit dem<br />
Gefühl, dass sie ein Abenteuer erleben würde.<br />
»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Oertel<br />
blickte unwillig von seinen Papieren auf, als Gertrud die<br />
Bitte, Emmy auf ihrer Fahrt begleiten zu dürfen,<br />
ausgesprochen hatte. Sein Ton war so energisch und<br />
bestimmt, dass Gertrud das Gefühl hatte, alles<br />
Bemühen, ihn zu überreden, würde zwecklos sein.<br />
Unentschlossen blieb sie vor dem Schreibtisch stehen.<br />
»Ist noch was?«, sagte Oertel abweisend und wollte<br />
sich wie<strong>der</strong> seiner Arbeit zuwenden.<br />
»Bitte, Vater, lass mich mit Emmy gehen.« Sie rieb<br />
verlegen ihre Hände.<br />
»Meine Tochter als Bettlerin auf fremde Höfe gehen!<br />
Von Tür zu Tür, wie eine Hausiererin! Was hast du dir<br />
denn dabei gedacht?« Er stand auf und schlug mit <strong>der</strong><br />
Faust auf den Tisch.<br />
»Das erlaube ich nicht!«<br />
92
Gertrud biss sich auf die Lippen. Sie hatte sich den<br />
Wünschen des Vaters stets gebeugt. Sein Zorn weckte<br />
in ihr ein unbestimmtes Schuldgefühl. Aber da war auch<br />
noch etwas an<strong>der</strong>es, Neues in ihr; etwas wie Trotz, wie<br />
die Lust, mit dem Vater ihre Kräfte zu messen. Das hatte<br />
sie noch nie empfunden, und sie wurde sich dieser<br />
Regung auch kaum bewusst, doch sie sagte standhaft:<br />
»So viele Leute tun das. Selbst Annis Mutter <strong>ist</strong> sich<br />
nicht zu schade dafür. Vater, ich bin doch kein Kind<br />
<strong>mehr</strong>, und schließlich <strong>ist</strong> Emmy ja bei mir. Wir müssen<br />
doch was zum Essen haben.«<br />
Oertel sah seine Tochter an, ohne ein Wort zu sagen.<br />
Allmählich legte sich sein Zorn, und er spürte auf<br />
einmal, dass irgendetwas sich geän<strong>der</strong>t hatte. Gertrud<br />
wirkte erwachsener, selbstbewusster. War sie schon<br />
länger so? Hatte er gar nicht bemerkt, dass aus seiner<br />
Tochter eine junge Frau geworden war? Gedankenvoll<br />
fuhr er mit <strong>der</strong> Hand über seinen Bart. Schweigen füllte<br />
den Raum. Schließlich brummte er :<br />
»Also meinetwegen, mach, was du willst.« Ohne<br />
Gertrud noch weiter zu beachten, wandte er seine<br />
Aufmerksamkeit wie<strong>der</strong> seiner Arbeit zu.<br />
Leise verließ sie das Zimmer. Eigentlich sollte ich<br />
mich freuen, dass ich meinen Willen durchgesetzt habe,<br />
dachte sie. Aber die rechte Freude wollte sich nicht<br />
einstellen. Sie fühlte, dass sie ihren Vater nicht hatte<br />
überzeugen können, dass er nur wi<strong>der</strong>willig<br />
nachgegeben hatte. Vielleicht wollte er nicht länger<br />
gestört werden? Ein zwiespältiges Gefühl blieb in ihr<br />
zurück.<br />
93
Am nächsten Morgen machten sich die beiden<br />
Frauen schon früh auf den Weg zum Bahnhof. Als<br />
Gertrud Emmy erblickte, die zum Ausgehen fertig<br />
angezogen war, musste sie unwillkürlich lachen. Sie sah<br />
aber auch zu komisch aus in ihrem alten Pelzmantel mit<br />
dem Rucksack auf dem Rücken.<br />
»In diesen <strong>Zeit</strong>en kann man nicht eitel sein. Kommen<br />
Sie, sonst verpassen wir den Zug«, sagte Emmy<br />
energisch.<br />
Gertrud schlüpfte in ihren knöchellangen Mantel aus<br />
hellgrauem Tuch und band einen rosafarbenen<br />
Wollschal um den Hals. Auf dem Kopf trug sie eine<br />
graue Pelzmütze, unter <strong>der</strong> ihre dunkelbraunen Locken<br />
keck hervorguckten.<br />
Es war ein nasskalter, trüber Tag. Die Lokomotive<br />
stand schon unter Dampf, als sie auf den Bahnsteig<br />
kamen. So viele Leute, wun<strong>der</strong>te sich Gertrud. Wo<br />
kommen die nur alle her, so früh am Morgen? Von allen<br />
Seiten strömten Frauen, alte Männer und Jungen, die<br />
nicht älter sein mochten als fünfzehn o<strong>der</strong> sechzehn<br />
Jahre, herbei. Die an<strong>der</strong>en Männer sind alle im Krieg.<br />
Mit einem schneidenden Schmerz musste sie an<br />
Wilhelm denken. Die Menschen hatten die gleiche<br />
Absicht wie sie; man sah es an den Taschen,<br />
Rucksäcken und Milchkannen, die sie mit sich führten.<br />
Sie drängten in die Abteile. Gertrud wurde von hinten<br />
gestoßen und geschoben und fand schließlich mit Mühe<br />
einen Platz neben einer dicken Frau, die einen großen<br />
Korb auf ihrem Schoß hielt. Sie fühlte sich eingeengt<br />
und unbehaglich, aber ihre Nachbarin machte sich<br />
ungeniert breit. Gertrud warf Emmy, die ihr<br />
94
gegenübersaß, einen unglücklichen Blick zu, aber die<br />
zuckte nur mit den Schultern.<br />
Emmy betrachtete die Mitreisenden, die<br />
zusammengedrängt auf den Holzbänken saßen. Wir sind<br />
ein Volk von Bettlern geworden, dachte sie. Aber dann<br />
fielen ihr die Dinge ein, die in <strong>der</strong> großen Tasche waren:<br />
<strong>der</strong> silberne Kerzenleuchter und die mit Hohlsaum<br />
verzierte Garnitur Bettwäsche aus ihrer Aussteuer, die<br />
Zuckerdose aus Meißener Porzellan und die große<br />
Tischdecke, die Leonore Oertel einst gestickt hatte. Der<br />
Professor hatte sie ihr gegeben, nachdem er sie eine<br />
Weile angeschaut und zärtlich mit <strong>der</strong> Hand gestreichelt<br />
hatte. »Nehmen Sie sie, Emmy, davon, dass wir sie<br />
behalten, wird meine Frau auch nicht wie<strong>der</strong> lebendig.<br />
Und so hilft sie uns ein bisschen über die schweren<br />
<strong>Zeit</strong>en hinweg.« Er hatte sich dann schnell umgedreht,<br />
und Emmy meinte, Tränen in seinen Augen gesehen zu<br />
haben. Aber wir haben ja auch etwas zu bieten, dachte<br />
sie, und legte stolz eine Hand auf die Tasche.<br />
Ein Pfiff ertönte, die Lokomotive schnaufte, und <strong>der</strong><br />
Zug setzte sich mit einem Ruck langsam in Bewegung.<br />
Die Wagen waren nicht geheizt, und <strong>der</strong> Atem <strong>der</strong><br />
vielen Passagiere sowie die Ausdünstungen <strong>der</strong><br />
feuchten Kleidung ließen die Fenster bald beschlagen.<br />
Die Luft roch muffig. Gertrud hatte das Gefühl, kaum<br />
noch atmen zu können. Außerdem fror sie. Zitternd zog<br />
sie den Mantel fester um ihren Körper. Sie betrachtete<br />
die Mitreisenden. Alle schienen erschöpft zu sein vor<br />
Hunger und Müdigkeit. Mit blassen Gesichtern starrten<br />
sie vor sich hin. Der alte Mann in <strong>der</strong> Ecke beim Fenster<br />
war eingenickt. Sein leises Schnarchen vermischte sich<br />
mit dem monotonen Geräusch <strong>der</strong> Rä<strong>der</strong>. Bei jedem<br />
95
Halt stiegen einige Passagiere aus, und als <strong>der</strong> Zug<br />
schließlich in Schladen ankam, einem kleinen Dorf auf<br />
halbem Weg nach Harzburg, war er fast leer. Gertrud<br />
und Emmy waren absichtlich so weit gefahren. Emmy<br />
hoffte, dadurch <strong>mehr</strong> Chancen auf den Bauernhöfen zu<br />
haben. Beherzt machten sie sich auf den Weg.<br />
Der erste Hof war ein stattliches Anwesen. Das<br />
Wohnhaus, solide gebaut aus massiven Bruchsteinen,<br />
machte einen wohlhabenden Eindruck. <strong>Im</strong> rechten<br />
Winkel dazu stand links eine große Scheune, <strong>der</strong>en<br />
Dachfirst zwei Pferdeköpfe zierten, und rechts ein<br />
geräumiger Stall, aus dem das sanfte Muhen von Kühen<br />
und das leise Klirren von Ketten drang. Diese drei<br />
Gebäude rahmten einen weitläufigen Platz ein, in dessen<br />
Mitte sich ein dampfen<strong>der</strong> M<strong>ist</strong>haufen befand.<br />
»Puh, wie das stinkt«, sagte Gertrud und hielt sich die<br />
Nase zu. Aber sie war beeindruckt von dem<br />
ansehnlichen Besitz. »Das müssen reiche Bauern sein.<br />
Wie viele Kühe sie wohl haben? Zwanzig? O<strong>der</strong> <strong>mehr</strong>?«<br />
Sie sah sich voller Bewun<strong>der</strong>ung um. Als die beiden<br />
durch das offene Tor über den Hof hinweg auf das Haus<br />
zugehen wollten, schlug ein Hund kläffend an und zerrte<br />
wütend an seiner Kette. Erschrocken wich Gertrud<br />
zurück und fasste nach Emmys Arm. »Der tut uns<br />
nichts.« Sie gingen weiter und sahen die Bäuerin aus <strong>der</strong><br />
Haustür treten. Gertrud betrachtete neugierig die<br />
rundliche, stämmige Gestalt, das rote Gesicht, die straff<br />
nach hinten gekämmten, schon angegrauten Haare, die<br />
blaue Schürze aus grobem Stoff und das Wollkleid von<br />
undefinierbarer Farbe, das die Frau trug. Sie <strong>ist</strong> nicht<br />
groß, dachte sie, aber trotzdem hat sie etwas<br />
96
Gebieterisches, ja, es geht fast etwas Drohendes,<br />
Abweisendes von ihr aus.<br />
»Wir geben nichts. Wir haben selber nicht genug.<br />
Verschwinden Sie!«, rief die Frau jetzt mit keifen<strong>der</strong><br />
Stimme und stemmte die Hände in die Hüften. Ohne ein<br />
weiteres Wort warf sie die Tür zu.<br />
Gertrud sah Emmy an. Ihr Gesicht spiegelte zunächst<br />
Verwun<strong>der</strong>ung, aber bald bekam es einen Ausdruck von<br />
Zorn. Einen Augenblick lang dachte sie daran, die<br />
Bäuerin für ihre beleidigende Art und Weise zur Rede<br />
zu stellen. Das musste sie sich nicht gefallen lassen!<br />
Aber Emmy drehte sich gleichmütig um und ging ruhig<br />
und gelassen dem Ausgang zu.<br />
»Eine Unverschämtheit!«, ereiferte sich Gertrud, als<br />
sie wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße standen. »Wie kann sie uns nur<br />
so behandeln! Was nimmt diese Frau sich heraus?« Sie<br />
fühlte sich gedemütigt, in den Schmutz gezogen. Noch<br />
nie hatte jemand so zu ihr gesprochen. Als Tochter des<br />
Geheimen Hofrats Professor Dr. Oertel war man ihr<br />
stets mit Höflichkeit, ja sogar mit einer gewissen<br />
Hochachtung begegnet. Und nun wagte es eine einfache<br />
Bäuerin, sie wie Pack vom Hof zu jagen! Tränen traten<br />
ihr in die Augen. Sie fühlte sich wehrlos, ausgeliefert<br />
<strong>der</strong> Gnade o<strong>der</strong> Ungnade frem<strong>der</strong> Menschen. Emmy<br />
streifte Gertrud mit einem Seitenblick und sah ihre<br />
Tränen.<br />
»Kommen Sie, machen Sie sich nichts daraus.<br />
Manche Leute sind so.« Tröstend legte sie einen Arm<br />
um Gertruds Schultern. »Wir lassen uns nicht<br />
entmutigen. Beim nächsten Mal haben wir sicher <strong>mehr</strong><br />
Glück.«<br />
97
Emmy sollte Recht behalten. Als sie weitergingen,<br />
fiel Gertruds Blick auf ein kleines, mit Holz verkleidetes<br />
Bauernhaus. Es sah schmuck und einladend aus mit<br />
seinen grün gestrichenen Fensterläden, die einen<br />
hübschen Kontrast zu den weißen Fensterrahmen<br />
bildeten. Zwei große Obstbäume standen davor und<br />
reckten ihre kahlen Zweige in den Himmel. Hühner<br />
liefen umher, und in einem kleinen Stall hörte Gertrud<br />
ein Schwein grunzen. Neben dem Stall war ein alter<br />
Mann damit beschäftigt, Holz zu hacken. »Hier werden<br />
wir unser Glück noch einmal versuchen, kommen Sie.«<br />
Emmy nahm Gertrud am Arm, ging mit ihr auf die<br />
Haustür zu und klingelte. Eine junge Frau mit einem<br />
Baby auf dem Arm öffnete.<br />
»Ach, Sie kommen sicher aus <strong>der</strong> Stadt«, sagte sie<br />
freundlich, noch ehe Emmy ihre Bitte vorbringen<br />
konnte. »Ich weiß, in den Städten <strong>ist</strong> die Not groß. Uns<br />
geht es noch ein bisschen besser, obwohl es auch hier<br />
nicht <strong>mehr</strong> so <strong>ist</strong> wie früher. Mein Mann und mein<br />
Bru<strong>der</strong> sind an <strong>der</strong> Front. Wenn die Eltern mir nicht<br />
helfen würden, dann wüsste ich gar nicht, wie ich mit<br />
<strong>der</strong> Arbeit fertig werden sollte.« Sie streichelte das<br />
Baby, das anfing, unruhig zu werden. Eine alte Frau<br />
erschien in <strong>der</strong> Tür. »Halte ihn mal einen Augenblick,<br />
Mutter«, sagte die Bäuerin und legte das Kind <strong>der</strong> Frau<br />
in den Arm. »Ich hole für die Damen ein paar Eier und<br />
etwas Speck.« Sie ging ins Haus und kam mit einer Tüte<br />
und einem kleinen Paket wie<strong>der</strong>.<br />
Emmy fing an, ihre Schätze auszupacken.<br />
»Lassen Sie Ihre Sachen in <strong>der</strong> Tasche«, wehrte die<br />
junge Frau ab, »dafür will ich nichts haben.«<br />
98
»Wir danken Ihnen sehr«, sagte Gertrud. Ihre Stimme<br />
schwankte ein bisschen. Sie war gerührt. Nach dem, was<br />
sie gerade erlebt hatte, empfand sie die Freundlichkeit<br />
<strong>der</strong> jungen Bäuerin wie eine Wohltat.<br />
Das nächste Mal klopften sie wie<strong>der</strong> vergeblich an,<br />
aber dann konnten sie Emmys Bettwäsche gegen ein<br />
Pfund Butter eintauschen. Danach hatten sie nicht <strong>mehr</strong><br />
viel Glück. Mutlos stapften sie durch die von Regen und<br />
Schnee aufgeweichten Straßen und versuchten mühsam,<br />
den schlimmsten Schlammlöchern auszuweichen.<br />
Inzwischen war das Wetter noch schlechter geworden.<br />
Ein kalter Ostwind trieb ihnen Schneeregenschauer ins<br />
Gesicht. Emmy gab Gertrud die große Tasche und<br />
spannte ihren Schirm auf. Sie<br />
99
krochen beide darunter, aber das half auch nicht viel.<br />
Der Wind blies unter den Schirm und drohte ihn<br />
umzukippen, sodass Emmy ihn nach einer Weile wie<strong>der</strong><br />
zumachen musste. »So ein Sauwetter«, schimpfte sie.<br />
Plötzlich rutschte Gertrud aus und wäre fast gefallen,<br />
wenn Emmy sie nicht noch im letzten Moment<br />
festgehalten hätte.<br />
»Passen Sie auf!«<br />
»Man geht ja hier wie auf Schmierseife!« Gertrud<br />
lachte, aber es klang ein bisschen gezwungen.<br />
Sehnsüchtig dachte sie an ihr warmes Zimmer. Ach,<br />
wäre ich doch zu Hause! Aber sie nahm sich zusammen<br />
und gab sich einen Ruck. Schließlich hatte sie ja<br />
mitkommen wollen.<br />
»Wie sollen wir die nur wie<strong>der</strong> sauber kriegen«,<br />
meinte sie ratlos und sah unglücklich auf ihre eleganten<br />
schwarzen Stiefel, die nun von einer dicken<br />
Lehmschicht überkrustet waren. Auch <strong>der</strong> Mantel hatte<br />
einige Spritzer abbekommen.<br />
»Das lassen Sie getrost Marthas Sorge sein.« Emmy<br />
legte beruhigend eine Hand auf Gertruds Arm. »Die<br />
kriegt sie bestimmt wie<strong>der</strong> hin.«<br />
Als sie schon fast aufgeben wollten, sah Emmy am<br />
Ende <strong>der</strong> Straße einen Gutshof.<br />
»Vielleicht sollten wir es da noch einmal versuchen,<br />
Fräulein Gertrud, was meinen Sie? Haben Sie noch<br />
Mut?«<br />
»Natürlich«, antwortete Gertrud tapfer, obwohl sie<br />
eigentlich gar keine Lust <strong>mehr</strong> hatte und sich nichts<br />
sehnlicher wünschte, als im Warmen zu sein und endlich<br />
die nassen Sachen ausziehen zu können. Aber sie wollte<br />
100
sich keine Blöße geben. Jetzt hieß es durchhalten und<br />
die Zähne zusammenbeißen. »Wenn das auch ein<br />
Misserfolg wird, dann machen wir Schluss«, tröstete<br />
Emmy sie. Sie spürte, wie dem Mädchen zumute war.<br />
»Nicht, dass Sie sich noch erkälten. Sie sehen richtig<br />
blass und verfroren aus. Der Herr Professor wird mir<br />
Vorwürfe machen, wenn Sie krank werden.« Besorgt<br />
sah sie Gertrud an.<br />
»So empfindlich bin ich nicht.« Es klang fast trotzig.<br />
Dann gingen sie durch eine Lindenallee, die zu einem<br />
vornehm wirkenden weißen Herrenhaus führte. Welche<br />
Gegensätze haben wir erlebt, dachte Gertrud. Sie sah die<br />
Höfe, die sie besucht hatten, als innere Bil<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> vor<br />
sich. Der wohlhabende Bauernhof mit <strong>der</strong> keifenden<br />
Frau, das ärmliche Anwesen mit <strong>der</strong> gutmütigen jungen<br />
Frau ... Hier scheint alles so feudal zu sein, geradezu<br />
hochherrschaftlich, dachte sie. Wie hübsch <strong>der</strong> Portikus<br />
mit seinen zwei Säulen vor <strong>der</strong> Eingangstür. Links vom<br />
Haus <strong>ist</strong> wohl ein großer Park, ich sehe schöne alte<br />
Bäume; und rechts scheinen weiträumige<br />
Wirtschaftsgebäude zu sein. In welch unterschiedlichen<br />
Verhältnissen die Menschen doch leben, und wie<br />
verschieden sie sind!<br />
Emmy klingelte, und eine gut aussehende Frau<br />
öffnete die Tür. Sie war groß und schlank und trug ein<br />
schlichtes graues Hauskleid. Die Gutsherrin mochte<br />
ungefähr in Emmys Alter sein. Sie begrüßte die<br />
Besucherinnen freundlich und betrachtete dann Emmy<br />
mit nachdenklichem Blick. »Kenne ich Sie nicht von<br />
irgendwoher?« Plötzlich erinnerte sie sich und schlug<br />
sich mit <strong>der</strong> Hand vor die Stirn. »Natürlich, wir waren<br />
101
doch damals zusammen auf <strong>der</strong> Haushaltsschule! Wie<br />
schön, Sie wie<strong>der</strong>zusehen.«<br />
»Auch ich hatte gleich das Gefühl, dass ich Sie<br />
kennen müsste«, sagte Emmy lebhaft. »Ich freue mich!<br />
Es <strong>ist</strong> so lange her.«<br />
»Wir haben uns sicher viel zu erzählen.« Die<br />
Gutsherrin führte ihre Gäste in die Wohnstube, und bei<br />
einer Tasse Kaffee tauschten die beiden Frauen<br />
Erinnerungen aus und berichteten von ihrem Leben nach<br />
<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>, in <strong>der</strong> sie sich gekannt hatten. Gertrud genoss<br />
es, in <strong>der</strong> gemütlichen Stube zu sitzen. Zum ersten Mal<br />
an diesem Tag fühlte sie sich richtig wohl. Der heiße<br />
Kaffee wärmte ihre durchgefrorenen Glie<strong>der</strong>, und die<br />
liebenswürdige Gastfreundschaft, mit <strong>der</strong> sie hier<br />
empfangen wurden, ließ sie die unfreundliche<br />
Behandlung und das schlechte Wetter vergessen.<br />
Entspannt lehnte sie sich zurück und sah sich mit<br />
verträumten Augen um. Die schönen alten<br />
Eichenmöbel, die handgewebten Kissen, die überall<br />
liegen, die goldgerahmten Bil<strong>der</strong> an den Wänden ... Hier<br />
herrscht so eine Atmosphäre von Gediegenheit, ja<br />
Vornehmheit ... Das müssen kultivierte Leute sein. Mit<br />
<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> machte die Wärme sie jedoch müde, und sie<br />
musste dagegen ankämpfen, dass ihr die Augen<br />
zufielen. Von dem Gespräch <strong>der</strong> beiden Frauen bekam<br />
sie nur Bruchstücke mit. Nach einer Weile meinte die<br />
Gutsherrin:<br />
»Aber Sie haben sicher einen Grund für Ihren<br />
Besuch.« Sie sah die beiden ernst an. »Ich weiß, dass es<br />
in den Städten nicht genug zu essen gibt. Wir auf dem<br />
Land haben es da doch besser. Wie kann ich Ihnen<br />
helfen?«<br />
102
Sie hat eine angenehme Stimme, dachte Gertrud –<br />
aufmerksam geworden – , dunkel und warm, ein<br />
bisschen wie <strong>der</strong> Klang einer Glocke.<br />
»Alles <strong>ist</strong> willkommen«, antwortete Emmy. »Ich<br />
weiß ja nicht, was ich zu Weihnachten auf den Tisch<br />
bringen soll.« Sie machte ein unglückliches Gesicht und<br />
hob resigniert und ratlos beide Hände. Dann packte sie<br />
die Schätze aus, die noch übrig geblieben waren.<br />
»Diese schöne Tischdecke hat Ihre Mutter selbst<br />
gestickt?«, wandte sich die Gutsherrin an Gertrud und<br />
betrachtete voller Bewun<strong>der</strong>ung die kunstvolle<br />
Lochstickerei und die zarte Spitze, die den Rand <strong>der</strong><br />
Decke zierte. Vorsichtig betastete sie mit den Fingern<br />
das feine Gewebe und sagte: »Das <strong>ist</strong> wirklich ein<br />
kostbares Stück, von so was trennt man sich nicht<br />
leicht.« Sie warf dem Mädchen einen mitleidigen Blick<br />
zu. Auch <strong>der</strong> silberne Kerzenleuchter und die<br />
Zuckerdose gefielen ihr. »Das wird gut auf <strong>der</strong> schönen<br />
Decke aussehen.« Dann meinte sie: »Wir haben ein paar<br />
Gänse geschlachtet, eine davon kann ich Ihnen geben.<br />
Ich suche eine schöne große aus. Und Äpfel für die<br />
Füllung und Kartoffeln sollen Sie auch noch haben.« Sie<br />
ging in ihre Vorratsräume, packte die Gans in Papier<br />
und legte sie in Emmys Tasche. Dann füllte sie den<br />
Rucksack mit Kartoffeln und Äpfeln.<br />
Überglücklich machten Emmy und Gertrud sich auf<br />
den Heimweg. Ein Gänsebraten zu Weihnachten! Damit<br />
hatten sie in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet.<br />
»Aber wir verraten nichts, hören Sie, Fräulein<br />
Gertrud?« Emmy sah das Mädchen mit einem Blick an,<br />
<strong>der</strong> etwas Verschwörerisches hatte. Mit einer<br />
kumpelhaften Bewegung hakte Gertrud sich bei ihr ein<br />
103
und nickte. »Bestimmt nicht. Die Gans bleibt unser<br />
Geheimnis.«<br />
24 . Juni 1916<br />
W<br />
ie die <strong>Zeit</strong> vergeht! Ich kann es kaum glauben,<br />
dass schon wie<strong>der</strong> Juni <strong>ist</strong>. Und immer noch<br />
<strong>ist</strong> Krieg, kein Ende <strong>der</strong> Kämpfe abzusehen!<br />
Von Paul haben wir ein paar Karten bekommen, die<br />
letzte vor vierzehn Tagen. Gott sei Dank <strong>ist</strong> er noch am<br />
Leben! O<strong>der</strong> sollte ich sagen: War er noch am Leben,<br />
als er die Karte schrieb? Diese Ungewissheit <strong>ist</strong><br />
schrecklich! Sie lastet wie ein Druck auf uns allen.<br />
Und dazu kommt, dass wir immer weniger zu essen<br />
haben. Oft stehe ich jetzt hungrig vom Tisch auf,<br />
obwohl Emmy sich so viel Mühe gibt.<br />
Aber trotz allem: Gestern habe ich mich riesig<br />
gefreut! Ich bin einundzwanzig geworden. Vater hat<br />
mich zum Essen ins Parkhotel eingeladen und dann ins<br />
Theater. Einundzwanzig Jahre! Man macht so viel<br />
Wesen um diesen Tag, man gibt ihm eine so große<br />
Bedeutung. Warum eigentlich? Nun gut, ich bin jetzt<br />
›erwachsen‹, ›mündig‹, wie Vater sagt. Aber ich bin<br />
doch dieselbe wie in all den Wochen und Monaten<br />
vorher. Ich fühle mich genauso, denke genauso, ich kann<br />
nicht finden, dass sich viel verän<strong>der</strong>t hat. Jetzt könne ich<br />
tun und lassen, was ich wolle, sagte Vater. Aber er<br />
lächelte dabei, und seine Augen blitzten ein bisschen<br />
spöttisch – ich wusste genau, er meint es nicht ernst.<br />
Wenn ich ihm morgen erklären würde, ich wolle jetzt<br />
Krankenschwester werden wie Olga o<strong>der</strong> Lehrerin wie<br />
Anni – das würde ein schönes Donnerwetter geben.<br />
104
Trotzdem: Gestern war er ein richtiger Kavalier! Wie<br />
habe ich mich an seinem Arm gefühlt! Wie eine große<br />
Dame. Und dann das Menü! Zwar ohne Fleisch, weil<br />
gerade fleischloser Tag war, aber trotzdem köstlich:<br />
Bohnensuppe, Austernragout, Stangenspargel mit<br />
geräuchertem Lachs, eingemachtes Obst, Pudding und<br />
Käse. So kann man also in guten Restaurants noch essen,<br />
und das mitten im Krieg! Eine Flasche Moselwein hat<br />
Vater auch spendiert. »Wir müssen ja schließlich auf<br />
deine Volljährigkeit anstoßen«, meinte er.<br />
Wie habe ich den Abend genossen, auch die<br />
Aufführung von Shakespeares »Sommernachtstraum«.<br />
Hoffentlich wird das Theater nicht geschlossen, wenn<br />
<strong>der</strong> Krieg noch länger dauert.<br />
Nun bin ich also ›mündig‹ und kann tun und lassen,<br />
was ich will. Aber was will ich? Was kann ich überhaupt<br />
wollen? Dieser schreckliche Krieg, den niemand<br />
gewollt hat, <strong>der</strong> so viel Not und Leid über uns alle<br />
gebracht hat ... Wilhelm, dessen Leben zu Ende ging,<br />
ehe es richtig begonnen hatte ... die Pläne, die wir hatten,<br />
und die nun mit ihm gestorben sind ... Sind wir<br />
Menschen wirklich frei, nach unserem eigenen Willen<br />
zu entscheiden o<strong>der</strong> nach unseren Vorstellungen zu<br />
leben?<br />
Gertrud und Emmy saßen im Wohnzimmer und<br />
waren mit Näharbeiten beschäftigt. Zwischen ihnen<br />
stand ein großer Korb mit Wäsche, die noch geflickt<br />
werden musste. Die Nachmittagssonne sandte ihre<br />
Strahlen durch das halb geöffnete Fenster. Ein leichter<br />
Wind bauschte die Gardine und spielte mit ihren<br />
Schatten. Es war still in dem Raum, nur von draußen<br />
105
drangen ab und zu Geräusche herein: Rufe,<br />
Hundegebell, Kin<strong>der</strong>stimmen, das Rumpeln <strong>der</strong><br />
Straßenbahn, die vorüberfuhr. Die beiden Frauen<br />
schwiegen, jede hing ihren Gedanken nach.<br />
Da wurde plötzlich die Tür geöffnet. Gertrud schrak<br />
zusammen und blickte auf. Ihr Vater stand im<br />
Türrahmen. Seine große Gestalt schien die ganze<br />
Öffnung auszufüllen. Er hielt einen Brief in <strong>der</strong> Hand.<br />
»Paul hat geschrieben«, sagte er mit ruhiger Stimme.<br />
»Oh, Vater, wie schön!« Gertrud ließ den Strumpf<br />
fallen, den sie gerade stopfte, und wollte vor Freude<br />
aufspringen, doch ein Blick in das ernste Gesicht des<br />
Vaters hielt sie zurück. »Was <strong>ist</strong>?« Ängstlich sah sie ihn<br />
an.<br />
»Paul <strong>ist</strong> schwer verwundet, aber es geht ihm schon<br />
besser«, sagte Oertel mit belegter Stimme. Dann las er<br />
vor: »Lieber Vater, liebe Gertrud! Ihr habt lange nichts<br />
von mir gehört. Aber ich konnte nicht schreiben, denn<br />
ich bin schwer verwundet. Ich habe einen<br />
Lungendurchschuss. Doch inzwischen geht es mir<br />
besser, und ich hoffe, dass ich in ungefähr zwei Wochen<br />
aus dem Lazarett entlassen werde. Wie freue ich mich<br />
auf zu Hause!«<br />
Oertel ließ den Brief sinken. Sein Gesicht hatte jetzt<br />
einen ungewohnt weichen Ausdruck. Gertrud schien es,<br />
als sei alle Strenge daraus verschwunden. Sie selbst<br />
hatte Tränen in den Augen, Tränen <strong>der</strong> Freude, des<br />
Mitleids und <strong>der</strong> Sorge. »Paul kommt nach Hause, dem<br />
Himmel sei Dank!« rief sie aus. »Er wird wie<strong>der</strong> gesund<br />
werden, Vater. Die Hauptsache <strong>ist</strong> doch, dass er lebt.«<br />
106
Sie stand auf und ging zu ihm hin. Oertel nahm ihre<br />
Hand und drückte sie fest, dann drehte er sich um und<br />
ging wortlos aus dem Zimmer.<br />
Zwei Wochen später stand Gertrud voller Erwartung<br />
mit ihrem Vater auf dem Bahnsteig, um ihren Bru<strong>der</strong><br />
vom Zug abzuholen. Überall drängten sich Menschen.<br />
»Wo kommen all diese Leute her?« Sie blickte sich<br />
überrascht um. »Es kann doch nicht sein, dass alle ihre<br />
verwundeten Angehörigen abholen wollen.«<br />
»Wahrscheinlich kommen auch Frontsoldaten, die<br />
Heimaturlaub haben, mit diesem Zug«, meinte Oertel.<br />
Als die Lokomotive schnaufend in den Bahnhof<br />
einfuhr und schließlich hielt, kam Bewegung in die<br />
Menge. Gertrud wurde von einer dicken Frau beiseite<br />
geschubst, die rufend und winkend versuchte, einem<br />
Soldaten entgegenzulaufen, <strong>der</strong> gerade auf Krücken aus<br />
einem Waggon herauskam. Einige junge Männer in<br />
Uniform winkten lachend, sprangen rasch auf den<br />
Bahnsteig, bahnten sich einen Weg durch das Gedränge<br />
zu einer Gruppe warten<strong>der</strong> Frauen und begrüßten sie<br />
stürmisch.<br />
Ein großer, schlanker, leicht gebeugt gehen<strong>der</strong> junger<br />
Mann kam mit schleppenden Schritten auf Oertel und<br />
Gertrud zu. Das <strong>ist</strong> doch nicht Paul, ging es ihr durch<br />
den Kopf, das kann er nicht sein. Als er dann vor ihnen<br />
stand, war er Gertrud so fremd, dass sie fast Scheu vor<br />
ihm empfand. War er größer geworden? O<strong>der</strong> kam es,<br />
weil er so abgemagert war? Der Uniformmantel schien<br />
ihm gar nicht zu passen. Und wie blass und schmal er<br />
geworden war! Das war nicht <strong>mehr</strong> das vertraute<br />
Gesicht, das sie von früher her kannte. Seine<br />
107
Gesichtszüge waren viel schärfer geworden, die Nase<br />
und die Wangenknochen traten hervor, und von <strong>der</strong><br />
Nasenwurzel abwärts bis zu den Mundwinkeln zogen<br />
sich Linien, die vorher nicht dagewesen waren. Alles<br />
Weiche, alles Kindliche <strong>der</strong> Vergangenheit war aus<br />
diesem Gesicht verschwunden. Es zeigte einen bitteren<br />
Ausdruck, <strong>der</strong> zu seiner Jugend nicht recht passen<br />
wollte. Zögernd, fast ein wenig schüchtern, reichte<br />
Gertrud Paul die Hand. Es gelang ihr nicht, ihn spontan<br />
zu umarmen, wie sie es eigentlich gewollt hatte, wie sie<br />
es auch früher bei manchen Gelegenheiten getan hatte.<br />
Da war etwas Trennendes, wie eine Mauer, das sie<br />
hin<strong>der</strong>te, ihm nahe zu kommen. »Willkommen zu<br />
Hause, Paul«, sagte sie leise. Ihre Stimme bebte. In ihren<br />
Augen lag ein Ausdruck von Betroffenheit, aber auch<br />
von Wärme.<br />
Oertel legte seinem Sohn einen Arm um die Schultern<br />
und drückte ihn leicht an sich. »Gut, dass wir dich jetzt<br />
ein Weilchen zu Hause haben. Du musst dich nun erst<br />
einmal erholen.«<br />
Auf dem Heimweg sprachen die drei kaum. Gertrud<br />
versuchte ein paar Mal, eine Unterhaltung mit Paul<br />
anzufangen. »Schön, dass du wie<strong>der</strong> da b<strong>ist</strong>«, sagte sie,<br />
und »Wie geht es dir?« Aber Paul schien sie nicht zu<br />
hören. Verlegen sah sie zu Boden. Auf einmal kamen<br />
ihr ihre Worte unaufrichtig und belanglos vor. Paul<br />
war in den nächsten Tagen sehr still und in sich gekehrt.<br />
Es war so, als sei er noch nicht richtig nach Hause<br />
gekommen. Von <strong>der</strong> Front erzählte er gar nichts. Als <strong>der</strong><br />
Vater ihn nach seiner Verwundung fragte, gab er nur<br />
eine knappe Auskunft.<br />
108
Emmy schienen die Verän<strong>der</strong>ungen in Pauls Wesen<br />
am wenigsten aufzufallen. O<strong>der</strong> sie ließ sich nichts<br />
anmerken. »Schmal sind Sie geworden, Herr Paul«,<br />
stellte sie in ihrer mütterlich-resoluten Art lächelnd fest.<br />
Dann sah sie ihn aufmunternd an und legte wie<br />
bekräftigend ihre Hand auf seinen Arm: »Das kriegen<br />
wir schon wie<strong>der</strong> hin. Wir werden Sie richtig<br />
aufpäppeln.« Ein dankbares Lächeln glitt über Pauls<br />
Gesicht.<br />
Was war das für ein Schrei? Gertrud fuhr aus<br />
tiefstem Schlaf hoch. Da hat doch jemand geschrien,<br />
o<strong>der</strong> habe ich geträumt? Verstört rieb sie sich die Augen<br />
und horchte angespannt. Da, da <strong>ist</strong> es wie<strong>der</strong>! Ein<br />
Schrei, als sei jemand in Todesnot! Und dann dieses<br />
Stöhnen, so qualvoll ... dieses Wimmern ... Ein Schauer<br />
lief ihr über den Rücken. Es klingt, als sei alles Leid <strong>der</strong><br />
Welt in diesen schmerzerfüllten Lauten eingefangen<br />
und suche verzweifelt nach einem Ausweg. Das kommt<br />
ja aus Pauls Zimmer! Einen Herzschlag lang war sie<br />
starr vor Schreck. Dann fasste sie sich und zog<br />
entschlossen den Morgenrock über. Was war los? Sie<br />
musste zu ihm.<br />
Paul warf sich unruhig im Bett hin und her. Er war<br />
schweißüberströmt, die Haare hingen ihm wirr ins<br />
Gesicht, seine Augen waren halb geöffnet. Gertrud<br />
wusste nicht, ob er wach war o<strong>der</strong> schlief. Voller Angst<br />
betrachtete sie ihn. Er muss etwas Furchtbares träumen.<br />
<strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> dieses klägliche Wimmern und Stöhnen<br />
... Jetzt sagt er etwas ... aber ich kann ihn kaum<br />
verstehen ... Seine Stimme <strong>ist</strong> so verän<strong>der</strong>t. Sie<br />
versuchte, genau hinzuhören, und konnte schließlich<br />
109
einige Wortfetzen aufschnappen. »Dieser ewige Regen<br />
... Mir <strong>ist</strong> so kalt ... alles nass ... und <strong>der</strong> Schlamm ... Ich<br />
kann mich nicht bewegen ...« Es war wie ein Klagen,<br />
das immer erregter wurde. »Läuse ... überall ... am<br />
ganzen Körper ... jetzt auch noch Ratten ... weg ... weg<br />
...« Er schlug wie wild mit den Händen um sich.<br />
Gertrud wollte zu ihm gehen, seine Hände festhalten,<br />
ihn in den Arm nehmen, aber sie stand da wie gelähmt.<br />
Sie konnte sich nicht von <strong>der</strong> Stelle rühren. Dann schien<br />
ihr, als würde Paul sich beruhigen. Aber plötzlich wurde<br />
seine Stimme wie<strong>der</strong> lauter, die Erregung nahm zu.<br />
»Meine Augen ... tun so weh ... blenden so ... diese<br />
Leuchtkugeln ...« Er schlug die Hände vor das Gesicht.<br />
»Dieses Heulen ... dieses grauenhafte Pfeifen ... da, eine<br />
Explosion ... nicht hier ... bitte, nicht hier ... Ich will<br />
nicht sterben ...« Seine Worte gingen unter in einem<br />
markerschütternden Schrei. Dieser Schrei riss Gertrud<br />
aus ihrer Erstarrung. Sie spürte, wie ihre Kräfte<br />
zurückkehrten, ging zum Bett ihres Bru<strong>der</strong>s und rüttelte<br />
ihn, so fest sie konnte.<br />
»Wach auf, Paul, wach auf! Du hast einen<br />
Albtraum!«, rief sie verzweifelt. Mit einem Ruck fuhr<br />
Paul in die Höhe, saß kerzengerade, seine weit<br />
aufgerissenen Augen starrten mit leerem Blick ins<br />
Zimmer. Er sah Gertrud nicht, schien noch nicht wach<br />
zu sein. »Blut ... überall Blut ...« Er sprach mit<br />
ersterben<strong>der</strong> Stimme. »... und die vielen Toten ... überall<br />
Tote ... diese Schmerzen ...« Dann war es nur noch ein<br />
hilfloses Schluchzen, das Gertrud Tränen in die Augen<br />
trieb. Sie rüttelte ihren Bru<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> mit verzweifelter<br />
Heftigkeit. »Wach auf, wach doch endlich auf, Paul!<br />
Quäl dich doch nicht so!«<br />
110
Paul schien nun endlich wach zu sein. Er blickte seine<br />
Schwester an, und sie sah in seinen Augen, in seinem<br />
ganzen Gesicht das Entsetzen gespiegelt, das furchtbare<br />
Grauen, das er erlebt haben musste. Still nahm sie seine<br />
Hand und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. So saßen<br />
die Geschw<strong>ist</strong>er eine Weile beieinan<strong>der</strong>, keines sagte ein<br />
Wort. Paul lehnte sich erschöpft an Gertrud, und sie<br />
strich von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> über sein wirres Haar, so wie man<br />
ein Kind beruhigt, das schlecht geträumt hat. Es war eine<br />
fast scheue Berührung, eine liebevolle, aber hilflose<br />
Geste. Schließlich schob Paul seine Schwester sanft von<br />
sich.<br />
»Geh wie<strong>der</strong> schlafen, Gertrud. Es tut mir leid, dass<br />
ich dich geweckt habe.«<br />
Das <strong>ist</strong> seine normale Stimme, dachte sie erleichtert.<br />
In all ihrer Betroffenheit hatte dieser Gedanke etwas<br />
Tröstliches.<br />
»Paul ...«, sagte sie leise, fasste seinen Arm und sah<br />
ihm forschend ins Gesicht. Aber er schüttelte den Kopf,<br />
legte sich zurück in seine Kissen und drehte sich auf die<br />
Seite, ihr den Rücken zuwendend. Sie verstand. Er<br />
wollte nicht darüber reden, er konnte nicht darüber<br />
reden. Die Schrecken, die er erlebt hatte, saßen zu tief.<br />
Wie böse Ge<strong>ist</strong>er hatten sie sich in seiner Seele<br />
festgekrallt. Mit eisernem Griff hielten sie ihn<br />
umklammert, und er kämpfte mit aller Kraft, dass sie ihn<br />
nicht ganz zerstörten. Wenn es an <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>ist</strong>, wird er<br />
darüber reden, dachte Gertrud. Er muss darüber reden,<br />
sonst zerbricht er daran. Aber jetzt <strong>ist</strong> es noch zu früh.<br />
Leise ging sie aus dem Zimmer.<br />
In dieser Nacht fand Gertrud keinen Schlaf <strong>mehr</strong>. Zu<br />
tief war sie erschüttert von dem, was sie gerade erlebt<br />
111
hatte. Sie konnte das Bild ihres von Albträumen<br />
gepeinigten Bru<strong>der</strong>s nicht aus ihrer Seele verbannen.<br />
Seine angstvollen, gequälten Worte, hervorgestoßen<br />
wie in größter Not, hallten in ihren Ohren wi<strong>der</strong>. Er<br />
fantasiert! Er redet im Fieber! Er <strong>ist</strong> noch nicht gesund.<br />
Hoffentlich muss er nicht zurück ins Lazarett.<br />
Sorgenvoll starrte sie in die Dunkelheit. Wie wird es<br />
weitergehen, fragte sie sich. Wie lange wird er zu Hause<br />
bleiben können? Ob er wie<strong>der</strong> an die Front muss, wenn<br />
seine Verletzung ausgeheilt <strong>ist</strong>? Er hat eine schwere<br />
Verwundung. Vielleicht muss er gar nicht <strong>mehr</strong> in den<br />
Krieg? Oh lieber Gott, lass den Krieg aus sein, ehe er<br />
wie<strong>der</strong> gesund <strong>ist</strong>. Lass mich nicht auch noch meinen<br />
Bru<strong>der</strong> verlieren. Unruhig wälzte Gertrud sich von einer<br />
Seite auf die an<strong>der</strong>e. Als es draußen schon hell wurde,<br />
fiel sie in einen kurzen, traumlosen Schlaf.<br />
»Ich habe dich heute Nacht gestört, entschuldige.«<br />
Ein scheues Lächeln, das wie gebrochen war, spielte um<br />
seine Lippen.<br />
»Schon gut, ich bin sofort wie<strong>der</strong> eingeschlafen«, log<br />
sie. Ein inniger Blick streifte ihren Bru<strong>der</strong>. Sie saßen am<br />
Frühstückstisch. Die Geschw<strong>ist</strong>er waren heute später<br />
aufgestanden als sonst. Oertel war schon zu seiner<br />
Vorlesung gegangen und Emmy mit Martha zum<br />
Einkaufen, um überhaupt noch etwas zu bekommen.<br />
Den Kaffee hatte sie unter einer Haube warm gehalten<br />
und Zucker und Sahne für Paul bereitgestellt. Sie<br />
versuchte, ihn immer ein bisschen zu verwöhnen, indem<br />
sie ihm etwas Beson<strong>der</strong>es zukommen ließ. Die übrige<br />
Familie trank den Kaffee schwarz o<strong>der</strong> mit ein bisschen<br />
dünner Milch.<br />
112
»Weißt du«, Paul sah Gertrud offen an, »diese<br />
Träume kommen immer wie<strong>der</strong>, fast jede Nacht ...« Er<br />
senkte den Blick. »Es <strong>ist</strong> schrecklich.«<br />
Gertrud schenkte ihrem Bru<strong>der</strong> eine zweite Tasse<br />
Malzkaffee ein. »Wenn dir danach <strong>ist</strong>, dann erzählst du<br />
mir einmal alles, ja? Wenn du willst.«<br />
Eine <strong>Zeit</strong> lang sprach keiner <strong>der</strong> beiden ein Wort.<br />
Stumm kauten sie an ihren Marmeladebroten. Dann<br />
sagte Paul in die Stille hinein: »Die me<strong>ist</strong>en von uns<br />
haben solche Albträume.« Er schwieg wie<strong>der</strong>. Gertrud<br />
schien es, als wolle er seine Gedanken sammeln. Sie<br />
wartete und sagte nichts.<br />
»<strong>Im</strong> Lazarett ...«, begann er stockend von Neuem, »...<br />
du kannst es dir nicht vorstellen ... in je<strong>der</strong> Ecke und auf<br />
den Fluren Metallbetten, und Matratzen und Strohsäcke<br />
auf dem Boden. Eine Luft zum Schneiden, heiß und<br />
stickig. Und überall Fliegen, angelockt von dem vielen<br />
Blut.« Gertrud sah den Ekel, den er jetzt noch empfand,<br />
auf seinem Gesicht. »Und das Stöhnen ... und die<br />
Schreie ... Ich weiß, auch ich habe geschrien, wenn die<br />
Albträume kamen ...« Er brach ab. Sein Gesicht<br />
verschloss sich wie<strong>der</strong>, als wolle er niemandem Zugang<br />
gewähren zu dieser Hölle, die er durchlebt hatte, auch<br />
seiner Schwester nicht. Gertrud blieb noch einen<br />
Augenblick sitzen, dann stand sie wortlos auf, räumte<br />
das Geschirr ab und trug es in die Küche. In <strong>der</strong><br />
nächsten <strong>Zeit</strong> setzte sie sich immer wie<strong>der</strong> einmal an den<br />
Flügel und spielte ihre Sonaten und Chopin-Etüden,<br />
aber auch Stücke, die sie einst mit Paul zusammen<br />
gespielt hatte. Sie hoffte, dadurch sein Interesse an <strong>der</strong><br />
Musik wie<strong>der</strong> zu wecken. Tagelang hörte er ihr nur zu.<br />
113
Aber schließlich holte er doch seine Geige und<br />
versuchte ein paar Passagen.<br />
»Es geht nicht <strong>mehr</strong>!« Traurig legte er das Instrument<br />
beiseite.<br />
»Es geht!« Gertrud sah ihm fest in die Augen. »Du<br />
musst dich nur nicht entmutigen lassen. Was man<br />
einmal gekonnt hat, das verlernt man nicht wie<strong>der</strong>.« Sie<br />
blickte in seine Noten und sah, dass er eine Bach-Sonate<br />
aufgeschlagen hatte. »Warum auch gleich mit dem<br />
Schwierigsten anfangen! Komm, lass es uns mit Mozart<br />
o<strong>der</strong> Haydn versuchen. Nein, besser noch mit Vivaldi!<br />
Seine Musik <strong>ist</strong> so voller Heiterkeit, voller Leichtigkeit,<br />
sie vertreibt alle schwermütigen Gedanken.«<br />
Sie bückte sich und suchte aus dem Stapel Noten, <strong>der</strong><br />
unten im Bücherregal lag, den Band mit den<br />
Violinsonaten von Vivaldi heraus. Dann setzte sie sich<br />
an den Flügel, und Paul stimmte seine Geige noch<br />
einmal. Als er fertig war, gab er ihr wie früher mit einem<br />
Kopfnicken zu verstehen, dass sie anfangen könnten.<br />
Zunächst klang die Geigenmelodie etwas zaghaft und<br />
zögerte immer wie<strong>der</strong> einmal. Gertrud, für die <strong>der</strong><br />
Klavierpart nicht schwierig war, stellte sich ganz auf<br />
Paul ein. Sie nahm das Tempo zurück, wenn sie merkte,<br />
dass ihm eine Stelle schwerfiel o<strong>der</strong> ein Lauf nicht recht<br />
glücken wollte, und sie passte auch die Lautstärke ihres<br />
Spiels dem etwas unsicheren, zarten Bogenstrich des<br />
Bru<strong>der</strong>s an. Den langsamen Satz <strong>der</strong> Sonate spielten sie<br />
ohne Unterbrechung durch. Dann ließ Paul den Bogen<br />
sinken.<br />
»Ich werde viel üben müssen.« Es klang resigniert,<br />
aber seine Augen glänzten.<br />
114
Es hat ihm Freude gemacht, dachte Gertrud beglückt.<br />
»Du siehst, es geht! Und es wird von Tag zu Tag besser<br />
werden, wenn wir wie<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> spielen und du<br />
auch ein bisschen übst.«<br />
»Ich werde meine Violinschule und auch die Etüden<br />
wie<strong>der</strong> hervorholen.« Er sah seine Schwester liebevoll<br />
an, dann fasste er sie leicht am Arm. »Danke, Gertrud«,<br />
sagte er leise. Von da an musizierten sie fast täglich<br />
zusammen. Anfangs geschah es noch öfter, dass Paul<br />
aufgeben wollte. Aber Gertrud redete ihm gut zu. Sie<br />
suchte die leichtesten Stücke heraus und übte geduldig<br />
mit ihm schwierigere Stellen. Allmählich gewann Paul<br />
wie<strong>der</strong> Selbstvertrauen, und sein Spiel wurde sicherer<br />
und selbstbewusster.<br />
Nach dem gemeinsamen Musizieren saßen sie oft<br />
noch eine Weile beisammen, und Paul fing an, von sich<br />
zu erzählen; tastend und zögernd, in Bruchstücken<br />
zuerst, aber Gertrud bekam einen Eindruck von den<br />
Schrecknissen des Krieges, die er erlebt hatte, und von<br />
<strong>der</strong> übermenschlichen, schweren Last, die auf seiner<br />
Seele lag und die er kaum tragen konnte.<br />
»Weißt du ... es war schrecklich ... dieses<br />
Trommelfeuer ... wochenlang. Um dich herum sterben<br />
deine Kameraden ... und du kannst nicht helfen ... kannst<br />
nicht heraus aus deinem Erdloch ... willst auch gar nicht!<br />
Dein einziger Gedanke <strong>ist</strong>: Hoffentlich trifft es mich<br />
nicht, hoffentlich bleibe ich am Leben! Du b<strong>ist</strong> nur noch<br />
auf dein Überleben konzentriert.« Er machte eine Pause<br />
und holte tief Luft, dann erschien ein schiefes Lächeln<br />
auf seinem Gesicht. »Aber es hat mich doch getroffen.«<br />
Müde Lehnte er sich im Sessel zurück.<br />
115
»Du b<strong>ist</strong> am Leben«, sagte Gertrud mit Wärme und<br />
umarmte ihren Bru<strong>der</strong>.<br />
»Am Leben. « Monoton sprach Paul ihre letzten<br />
Worte nach, dann blickte er grübelnd vor sich hin.<br />
Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Gertrud<br />
hatte das Gefühl, als ob er etwas sagen wolle, etwas, was<br />
ihm sehr wichtig zu sein schien, aber sie drängte ihn<br />
nicht. Still saß sie da und wartete. Wenn er wollte, würde<br />
er reden.<br />
»Am Leben«, wie<strong>der</strong>holte er noch einmal<br />
ge<strong>ist</strong>esabwesend. Dann sah er seine Schwester mit<br />
einem Blick an, <strong>der</strong> eine Reife und einen tiefen Ernst<br />
wi<strong>der</strong>spiegelte, die sie vorher nicht an ihm gekannt<br />
hatte. Er <strong>ist</strong> mit Gewalt vom Kind zum Mann gemacht<br />
worden, dachte sie, aber es ging über seine Kräfte.<br />
»Ich habe das Gefühl, als müsste ich ganz neu<br />
anfangen zu leben. Alles, was früher war, <strong>ist</strong> so weit weg<br />
von mir. Ich bin nicht <strong>mehr</strong> <strong>der</strong>selbe, <strong>der</strong> ich war, als ich<br />
mich freiwillig gemeldet habe, voller Bege<strong>ist</strong>erung, das<br />
Vaterland zu verteidigen. Mein Gott, was haben sie uns<br />
erzählt von Vaterlandsliebe und nationaler Größe, von<br />
Mannespflicht und Heldentum. Wir waren Kin<strong>der</strong>, wir<br />
haben ihnen geglaubt. Ob sie wohl wussten, wohin sie<br />
uns schickten?«<br />
Die Bitterkeit, die aus seinen Worten klang,<br />
erschreckte Gertrud.<br />
Paul sprach jetzt leise, nur zu sich selbst. »Aber wer<br />
bin ich? Wer will ich sein? Alles <strong>ist</strong> ins Wanken geraten,<br />
ich habe keinen festen Grund <strong>mehr</strong>, auf dem ich stehen<br />
kann. Ich muss mich neu zurechtfinden, einen<br />
Mittelpunkt für mein Leben suchen, damit ich nicht ins<br />
Bodenlose falle.«<br />
116
Er blieb noch einen Augenblick sitzen, dann stand er<br />
plötzlich auf und ging schweigend aus dem Zimmer.<br />
Was muss er durchgemacht haben, was muss er immer<br />
noch mit sich herumtragen! Nachdenklich räumte<br />
Gertrud die Noten zusammen und klappte den Flügel zu.<br />
Auch ich habe keinen Mittelpunkt in meinem Leben,<br />
ging es ihr durch den Sinn. Auch ich muss mich neu<br />
zurechtfinden. Seit Wilhelms Tod lebe ich ohne Ziel nur<br />
so dahin. Ich habe zwar meine Aufgaben hier im Haus,<br />
aber Emmy und Vater kämen auch ganz gut ohne mich<br />
zurecht. Soll es immer so weitergehen? Soll ich unter<br />
Vaters Fittichen als höhere Tochter auf einen Mann<br />
warten, <strong>der</strong> vielleicht nie kommen wird? Nach<br />
Wilhelms Tod steht mir auch <strong>der</strong> Sinn gar nicht nach<br />
einem an<strong>der</strong>en Mann. Sie setzte sich in den Sessel am<br />
Fenster. Gedankenverloren starrte sie hinaus, ohne<br />
etwas zu sehen. Wenn ich einen Beruf hätte ... Ich<br />
möchte ein eigenes Leben führen, unabhängig sein. Ein<br />
leidenschaftlicher Wunsch nach einem<br />
selbstbestimmten Leben erfüllte sie plötzlich. Er<br />
durchdrang ihr ganzes Sein. Ihr war fast schwindlig. Ja,<br />
wenn ich einen Beruf hätte ... Wenn ich Lehrerin würde<br />
wie Anni ... Aber nein, das könnte ich, glaube ich, nicht.<br />
Kin<strong>der</strong> unterrichten ... eine verantwortungsvolle<br />
Aufgabe ... Aber man muss sich auch durchsetzen<br />
können. Ob ich dem gewachsen wäre? Sie sann eine<br />
Weile vor sich hin. Krankenschwester ... ein schöner,<br />
doch auch schwieriger Beruf, wenn ich daran denke,<br />
was Paul aus dem Lazarett erzählt hat. Sie stützte den<br />
Kopf in beide Hände und blieb eine Weile so sitzen. Ihr<br />
Inneres war erfüllt von wi<strong>der</strong>streitenden Gefühlen. Ein<br />
sehnsüchtiges Suchen nach dem Sinn und dem Ziel ihres<br />
117
Lebens war in ihr, aber gleichzeitig auch ein ängstliches<br />
Zurückweichen vor einer Entscheidung, mit <strong>der</strong> sie dann<br />
allein gelassen sein würde; Furcht vor dem Vater, und<br />
dann wie<strong>der</strong> ein Aufbegehren gegen die Zwänge in<br />
ihrem Leben.<br />
Verwirrt hob sie den Kopf. Ihr Blick fiel auf die Post,<br />
die ihr Vater auf dem Tisch hatte liegen lassen. Und<br />
wenn ich Stenografie und Maschinenschreiben lernen<br />
würde? Wie ein Blitz durchzuckte sie dieser Gedanke.<br />
Damit könnte ich viel anfangen. Ich könnte in einem<br />
Büro arbeiten, Sekretärin werden und noch vieles <strong>mehr</strong>.<br />
Es gibt doch Kurse, in denen man das lernen kann. Und<br />
das traue ich mir zu. Ja, ich glaube, das würde ich<br />
können. Mit einem Ruck stand sie auf. Sie hatte einen<br />
Entschluss gefasst. Bei einer günstigen Gelegenheit<br />
wollte sie ihren Vater fragen. Diese Gelegenheit ergab<br />
sich ein paar Tage später. Oertel war nach dem<br />
Mittagessen noch am Tisch sitzen geblieben und hatte<br />
seine beiden Kin<strong>der</strong> gut gelaunt nach ihren<br />
musikalischen Fortschritten gefragt. Ein unsicheres<br />
Lächeln glitt über Pauls Züge. »Es geht schon ein<br />
bisschen besser, aber ich muss noch viel üben.«<br />
»Üben muss man sein Leben lang«, sagte Oertel.<br />
Dabei lachte er und zwinkerte Paul aufmunternd zu.<br />
»Vater, darf ich dich etwas fragen?« Gertruds<br />
Stimme zitterte ein wenig. Ihr Herz klopfte. Sie hatte<br />
Angst, dass <strong>der</strong> Vater ihre innere Erregung bemerken<br />
würde.<br />
Aber Oertel sagte aufgeräumt: »Nur zu! Was hast du<br />
denn auf dem Herzen?«<br />
118
Gertrud druckste ein bisschen herum, aber dann gab<br />
sie sich einen Ruck und nahm sich zusammen. Sicher<br />
und selbstbewusst kam es von ihren Lippen: »Ich<br />
möchte einen Kursus in Stenografie und<br />
Maschinenschreiben machen. Hast du etwas dagegen,<br />
Vater?«<br />
Oertels Miene verdüsterte sich jäh. »Wie kommst<br />
du denn auf so eine unsinnige Idee?« Ungläubig sah er<br />
seine Tochter an.<br />
»Ich kann doch nicht immer nur zu Hause sitzen.« In<br />
Gertruds Stimme lag etwas Flehendes. »Ich werde auch<br />
älter. Was soll aus mir werden? Wenn ich einen Beruf<br />
hätte ...«<br />
»Schlag dir das aus dem Kopf«, unterbrach Oertel sie<br />
barsch. »Du wirst eines Tages heiraten, und bis dahin <strong>ist</strong><br />
dein Platz hier in <strong>der</strong> Familie.« Er stand auf und schob<br />
den Stuhl heftiger zurück, als es notwendig gewesen<br />
wäre. Seine gute Laune war verflogen. Ohne noch ein<br />
Wort zu sagen, ging er aus dem Zimmer.<br />
Paul hatte die ganze <strong>Zeit</strong> stumm dabei gesessen. Nun<br />
nahm er Gertruds Hand und streichelte sie. »Er <strong>ist</strong> nun<br />
einmal so, nimm es nicht so schwer. Eines Tages<br />
vielleicht än<strong>der</strong>t er seine Meinung.«<br />
»Das glaube ich nicht.« Mutlos und enttäuscht zog<br />
Gertrud ihre Hand zurück.<br />
»Genug für heute, hören wir auf.« Erschöpft legte<br />
Paul die Geige beiseite und ließ sich in einen Sessel<br />
sinken. Gertrud sah ihn besorgt an. Sie verstand, dass<br />
seine Kräfte begrenzt waren. Die Geschw<strong>ist</strong>er hatten<br />
eine Stunde lang an einer Mozart-Sonate geübt, die sie<br />
119
neu in ihr Repertoire aufgenommen hatten. Das<br />
Musizieren war ihnen inzwischen zu einer lieben<br />
Gewohnheit geworden. Wie üblich würden sie<br />
anschließend noch ein bisschen zusammen reden. Es<br />
half Paul, seine schrecklichen Erlebnisse zu bewältigen.<br />
»Ich muss so oft an einen Kameraden denken ...<br />
Ludwig Schreiber ... Ich habe ihn im Heimatlazarett<br />
kennengelernt.« Gedankenverloren blickte er vor sich<br />
hin. Gertrud sagte nichts. Wenn er wollte, würde er<br />
weitererzählen, aber sie mochte ihn nicht drängen.<br />
Einige Minuten herrschte Schweigen zwischen<br />
ihnen, dann begann Paul wie<strong>der</strong> zu sprechen: »Er <strong>ist</strong><br />
älter als ich und wurde auch vor Verdun verwundet,<br />
genau wie ich, hat ein Bein verloren ... Wie oft haben<br />
wir auf <strong>der</strong> Bank unter <strong>der</strong> großen Kastanie gesessen, es<br />
war ja noch warm im September. Me<strong>ist</strong>ens haben wir<br />
über unsere Kriegserlebnisse gesprochen, aber eines<br />
Tages hat Ludwig gesagt: ›Ich werde mein Studium<br />
aufgeben.‹ Als ich ihn fragte, was er denn studiert habe,<br />
antwortete er: ›Theologie‹«. In sich gekehrt sah Paul<br />
zum Fenster hinaus. Er schien ganz in seinen<br />
Erinnerungen zu verweilen. Gertrud erschrak fast, als er<br />
die Stille unterbrach und in seinem Bericht fortfuhr.<br />
»Eine Weile sagte Ludwig nichts. Schließlich sprach er<br />
weiter, und er war sehr erregt: ›Wie kann ich, nach dem<br />
Grauen, das wir erlebt haben, zu den Menschen von <strong>der</strong><br />
Liebe Gottes sprechen? Wie kann ich ihnen sagen, dass<br />
ER sie wie ein guter Vater beschützt, nachdem ich mit<br />
angesehen habe, wie Hun<strong>der</strong>te auf den Schlachtfel<strong>der</strong>n<br />
elend verreckt sind? Und warum? Wofür? Kann das<br />
SEIN Wille sein? Und wenn nicht, warum lässt er das<br />
zu? Das Donnern <strong>der</strong> Geschütze, die Schreie <strong>der</strong><br />
120
Verwundeten, das Röcheln <strong>der</strong> Sterbenden wird für<br />
immer zwischen IHM und mir stehen. Ich habe die<br />
Unschuld meines Glaubens verloren. Die Lehren <strong>der</strong><br />
Bibel haben keinen Sinn <strong>mehr</strong> für mich, sie klingen<br />
falsch und hohl. Wie kann ich SEIN Wort verkünden?‹<br />
Nie werde ich diese Worte vergessen, nie die<br />
aufgewühlte, zutiefst bewegte Gemütsverfassung<br />
meines Freundes, während er sprach. Ich wusste nicht,<br />
was ich sagen sollte. Ich fühlte mich irgendwie hilflos,<br />
ratlos. Noch nie war ich einem Menschen begegnet, <strong>der</strong><br />
so tief gläubig <strong>ist</strong>, aus dem innersten Kern seines<br />
Wesens heraus. Religion, das sind für uns doch stets nur<br />
die traditionellen chr<strong>ist</strong>lichen Feste gewesen –<br />
Weihnachten, Ostern und Pfingsten – , gelegentliche<br />
Sonntagsgottesdienste, und dann <strong>der</strong> Schulunterricht<br />
mit Auswendiglernen von Gesangbuchversen,<br />
Bibelsprüchen, den Zehn Geboten und so weiter. Ich<br />
habe das alles mitgemacht, wie es sich für einen<br />
wohlerzogenen Jungen gehört, aber es <strong>ist</strong> mir nie zu<br />
Herzen gegangen. Und da steht plötzlich ein Mensch vor<br />
mir, zutiefst verstört und verzweifelt, weil er nicht <strong>mehr</strong><br />
an das glauben kann, was sein Leben bis jetzt<br />
ausgemacht hat.«<br />
Seine Stimme war plötzlich belegt, und es dauerte<br />
eine Weile, bis er weitersprechen konnte. »›Man kann<br />
diese Schreckensbil<strong>der</strong> nicht einfach abstreifen wie ein<br />
Hemd o<strong>der</strong> ausziehen wie die Socken o<strong>der</strong> die Schuhe‹,<br />
hat Ludwig dann etwas ruhiger gesagt. ›Wir sind nicht<br />
<strong>mehr</strong> dieselben, die wir waren, wenn wir diese Hölle<br />
durchlebt haben.‹ Die Liebe Gottes ... die Liebe ...<br />
Darüber musste ich nachdenken. Man müsste dem Hass<br />
die Liebe entgegensetzen, meinte ich. ›Der Hass wird<br />
121
stets <strong>der</strong> Sieger sein‹, hat Ludwig daraufhin verbittert<br />
gesagt. Ich dachte, man müsste es versuchen, immer<br />
wie<strong>der</strong> aufs Neue. Als könne er meine Gedanken lesen,<br />
sagte er: ›Nach allem, was geschehen <strong>ist</strong>, habe ich nicht<br />
<strong>mehr</strong> die Kraft dazu‹. Dieses Gespräch hat mich seitdem<br />
nicht <strong>mehr</strong> losgelassen. Ich will <strong>mehr</strong> erfahren, <strong>mehr</strong><br />
wissen über die Kräfte, die in unserem Leben wirken:<br />
Liebe und Hass, Leben und Tod, Glaube und Zweifel.<br />
Ich will diesen Gott kennenlernen, diesen<br />
unbegreiflichen Gott, <strong>der</strong> die Liebe sein soll und<br />
Millionen von Menschen durch den Hass sterben lässt.<br />
Der für seinen Sohn den Tod am Kreuz beschloss und<br />
dadurch Erlösung versprach. Von dem gesagt wird, dass<br />
sein Wesen Erbarmen sei, und <strong>der</strong> gleichzeitig seine<br />
Augen vor dem Leiden <strong>der</strong> Welt verschließt. Der sich<br />
hinter Rätseln verbirgt und dem man nicht entrinnen<br />
kann. Gertrud, ich habe beschlossen, Theologie zu<br />
studieren.«<br />
Er nahm ihre Hände, und sie fühlte, wie er innerlich<br />
bebte. Sie spürte, dass dieses Erlebnis ihn bis in die<br />
tiefsten Tiefen seines Wesens erschüttert haben musste.<br />
In seinen Augen spiegelte sich seine Betroffenheit.<br />
Bewegt sah sie ihn an. »Aber Vater ...«, wandte sie<br />
zaghaft ein.<br />
Er ließ sie los, stand auf und machte ein paar Schritte<br />
durch das Zimmer. Dann setzte er sich wie<strong>der</strong>. »Ich<br />
werde es ihm erklären müssen«, antwortete er mit einer<br />
Sicherheit, die Gertrud an ihm nicht kannte. »Ich habe<br />
neulich gesagt, dass ich keinen festen Grund <strong>mehr</strong> habe,<br />
auf dem ich stehen kann, und dass ich einen Mittelpunkt<br />
für mein Leben suchen muss. Vielleicht finde ich ihn auf<br />
diesem Weg.«<br />
122
Seit diesem Gespräch wartete Gertrud voller Angst<br />
auf die drohende Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen Vater<br />
und Sohn. Sie wusste, dass sie eines Tages kommen<br />
würde, sie war unvermeidlich. Jedes Zusammensein mit<br />
den beiden war für sie begleitet von einer inneren<br />
Spannung. Sie hatte das Gefühl, dass sie in bei<strong>der</strong><br />
Gegenwart nicht <strong>mehr</strong> unbefangen sein konnte, aber<br />
niemand schien es zu bemerken.<br />
So war es auch an diesem Tag, nach dem<br />
Abendessen. Emmy und Martha hatten den Tisch schon<br />
abgeräumt, aber ganz gegen seine Gewohnheit blieb<br />
Oertel noch sitzen. Gertrud und Paul warteten, dass er<br />
sich erhob, damit auch sie aufstehen konnten. Es<br />
entstand eine beklemmende Stille. Nur das Ticken <strong>der</strong><br />
großen Standuhr in <strong>der</strong> Ecke und das Kn<strong>ist</strong>ern des<br />
spärlichen Feuers im Ofen waren zu hören. Der<br />
Herbstwind trieb Regenböen vor sich her, die gegen die<br />
Fensterscheiben prasselten. Schließlich blickte Oertel zu<br />
seinem Sohn hinüber.<br />
»Du hast dich inzwischen doch ganz gut erholt. Ich<br />
denke, du solltest mit dem Studium anfangen, solange<br />
du noch zurückgestellt b<strong>ist</strong>.«<br />
Gertruds innere Anspannung wuchs. Nun wird es<br />
Streit geben, dachte sie beklommen. Sie fühlte sich hin<br />
und her gerissen zwischen dem Wunsch, das Zimmer zu<br />
verlassen, und dem Bedürfnis, ihrem Bru<strong>der</strong><br />
beizustehen. Gegen den Vater konnte sie zwar nichts<br />
ausrichten, aber ihre Nähe würde Paul vielleicht ein<br />
bisschen unterstützen können. Also blieb sie.<br />
Als Paul nicht antwortete, fuhr Oertel fort: »Du wirst<br />
sicher an <strong>der</strong> Carolo-Wilhelmina studieren wollen. Ich<br />
123
auche dir nicht zu sagen, dass ich es begrüßen würde,<br />
wenn du Mathematik als Studienfach wählen würdest.<br />
Du könntest einmal mein Nachfolger werden. Aber es<br />
gibt ja auch noch an<strong>der</strong>e interessante Möglichkeiten im<br />
technisch-naturwissenschaftlichen Bereich.«<br />
Paul wusste, dass er einer Antwort nun nicht <strong>mehr</strong><br />
ausweichen konnte. Er blickte dem Vater gerade ins<br />
Gesicht. »Ich möchte Theologie studieren.«<br />
In seiner Stimme liegt eine Festigkeit, die sie früher<br />
nicht gehabt hat, musste Gertrud denken. Über den Tisch<br />
hinweg sah sie ihren Vater an. Er sitzt wie versteinert da,<br />
als hätte er eben etwas gehört, das es nicht geben könne,<br />
nicht geben dürfe. Als sei es ein Irrtum, <strong>der</strong> sich gleich<br />
aufklären würde. Was wird er sagen?<br />
Doch Oertel blieb stumm. Ge<strong>ist</strong>esabwesend strich er<br />
über seinen Bart.<br />
Da sagte Paul in die Stille hinein: »Die Verwundeten,<br />
die Sterbenden auf den Schlachtfel<strong>der</strong>n, in all ihren<br />
Leiden und Qualen, ich habe es gehört, wie sie nach<br />
Gott gerufen haben. Sie haben um Erlösung gebetet, sie<br />
haben ihn angefleht, ihre Schmerzen zu lin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong><br />
ihnen den Tod zu schicken. Manche haben ihn auch<br />
verflucht um all des Elends, <strong>der</strong> Verzweiflung willen,<br />
die sie mit ansehen o<strong>der</strong> selbst durchmachen mussten.<br />
Gott war es, Gott allein, <strong>der</strong> ihnen wichtig war in diesen<br />
Stunden, keine mathematische Gleichung, keine<br />
physikalische Formel. Was nützen dem Menschen die<br />
Naturwissenschaften, wenn er sie doch nur dazu<br />
braucht, alles zu zerstören und seine Mitmenschen und<br />
schließlich auch sich selbst zu töten.«<br />
Erregt hielt er inne. Mit einem tiefen Atemzug<br />
versuchte er sich zu beruhigen.<br />
124
Oertel sagte lange nichts. Er ließ seinen Blick<br />
unverwandt auf seinem Sohn ruhen, aber das<br />
Unverständnis und die Strenge, die Gertrud eben noch<br />
in seinen Augen hatte lesen können, waren daraus<br />
gewichen. Sie hatten jetzt einen forschenden Ausdruck,<br />
und es schien ihr, als sehe sie auch ein wenig Wärme<br />
darin. Nach einer langen Pause begann ihr Vater zu<br />
sprechen. Seine Stimme klang ungewohnt weich.<br />
Gertrud spürte das Mitgefühl, das Pauls Worte in ihm<br />
geweckt haben mussten.<br />
»Du hast viel durchgemacht, und ich verstehe, dass<br />
du dich erst wie<strong>der</strong> im Leben zurechtfinden musst. Aber<br />
übereile nichts. Triff in einer solchen Verfassung keine<br />
Entscheidungen fürs Leben, die du später vielleicht<br />
einmal bereust. Wenn du <strong>mehr</strong> Abstand zu deinen<br />
Kriegserlebnissen gewonnen hast, wirst du die<br />
Wissenschaften ohne Emotionen und mit klarem<br />
Verstand betrachten, wirst zu logischem Denken und<br />
ge<strong>ist</strong>iger Einsicht fähig sein. Du lässt dich noch zu stark<br />
von jugendlicher Schwärmerei leiten.«<br />
Paul hatte ruhig zugehört. Er empfand die Autorität<br />
des Vaters und des Lehrers, aber er fühlte in sich auch<br />
die Kraft zum Wi<strong>der</strong>stand.<br />
»Die Sinnfragen sind es doch, Vater, die den<br />
Menschen umtreiben. Die Fragen: Warum bin ich hier?<br />
Warum muss ich so viel leiden? Was <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Sinn von<br />
alledem, was hier auf Erden geschieht? Darauf können<br />
die Naturwissenschaften keine Antwort geben. Ich<br />
weiß, welchen Weg ich gehen muss. Ich möchte dem<br />
Hass, <strong>der</strong> die Welt beherrscht, die Liebe<br />
entgegenstellen.«<br />
125
»Das <strong>ist</strong> ja sehr edel gedacht.« Die Worte hatten<br />
einen spöttischen Unterton, und Gertrud sah ein<br />
ironisches Lächeln um die Mundwinkel des Vaters<br />
spielen. Sie fühlte sich für ihren Bru<strong>der</strong> verletzt. Wollte<br />
er seinen Sohn kränken, fragte sie sich. Paul hat doch<br />
sehr gute Argumente für seine Ansichten. Sie sind es<br />
wert, bedacht zu werden.<br />
Aber dann sprach Oertel in väterlichem Ton weiter:<br />
»Du sagst, die Naturwissenschaften könnten dem<br />
Menschen keine Antworten auf seine Fragen geben.<br />
Siehst du denn nicht, dass es ihr einziges Anliegen <strong>ist</strong>,<br />
die Welt um uns herum zu erklären? Seit es Menschen<br />
auf dieser Erde gibt, haben sie Fragen gestellt. Sie haben<br />
die Sonne, den Mond und die Sterne beobachtet, die<br />
Jahreszeiten, das Leben <strong>der</strong> Tiere und das Werden und<br />
Vergehen in <strong>der</strong> Natur. Sie haben ihre Schlüsse daraus<br />
gezogen. Die großen Denker aller <strong>Zeit</strong>en haben<br />
Erklärungsmodelle beschrieben, die durch die<br />
Forschungen späterer Generationen verworfen o<strong>der</strong><br />
weitergeführt worden sind, je nach dem jeweiligen<br />
Erkenntnisstand. Durch unermüdliche menschliche<br />
Denkprozesse <strong>ist</strong> man im Laufe von Jahrtausenden <strong>der</strong><br />
Wahrheit immer wie<strong>der</strong> ein Stück näher gekommen.<br />
Wenn du dich einmal mit <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />
naturwissenschaftlichen Forschung beschäftigst, wirst<br />
du selbst sehen, dass das ein faszinierendes Geschehen<br />
<strong>ist</strong>. Und es gibt noch so vieles, was wir nicht erklären<br />
können, so viele Rätsel. Meinst du denn nicht, dass es<br />
für einen jungen, intelligenten Menschen wie dich eine<br />
interessante, lohnende Aufgabe, ja vielleicht die<br />
Erfüllung des Lebens sein könnte, an diesem Prozess<br />
mitzuwirken? Ein Bindeglied zu sein zwischen<br />
126
vergangenen und künftigen Generationen von<br />
Wissenschaftlern und mit deinen Kräften und<br />
Fähigkeiten dazu beizutragen, den noch fehlenden<br />
Antworten auf die Spur zu kommen?« Gertrud hatte<br />
fasziniert zugehört. So hatte sie ihren Vater noch nie<br />
erlebt. Mit welcher Bege<strong>ist</strong>erung, ja Leidenschaft er von<br />
seiner wissenschaftlichen Arbeit spricht, dachte sie. Sie<br />
<strong>ist</strong> ihm Erfüllung, Lebenssinn, alles, was sein Wesen<br />
ausmacht! Auch Paul scheint so zu empfinden. Welchen<br />
Eindruck werden Vaters Worte auf ihn gemacht haben?<br />
Wird er sein Vorhaben aufgeben?<br />
»Und was <strong>ist</strong> mit den vielen unbegreiflichen<br />
Schicksalen, was <strong>ist</strong> mit <strong>der</strong> menschlichen Seele, wer<br />
kann die erklären?«, fragte Paul.<br />
Sein Vater hob die Hand, doch Paul winkte ab. »Ich<br />
weiß, du denkst an die Psychologie. Aber auch die<br />
Psychologen haben ja erkannt, dass man nicht alles<br />
durch exakte Messungen beweisen kann. Es bleibt<br />
immer ein Rest, <strong>der</strong> sich dem Zugriff menschlicher<br />
Forschung entzieht. Und so <strong>ist</strong> es auch in den<br />
naturwissenschaftlichen Disziplinen. Du sprichst von<br />
fehlenden Antworten. Ich glaube, dass <strong>der</strong> Mensch<br />
niemals alle Rätsel lösen wird. Vielleicht soll er es auch<br />
gar nicht. Denke an das, was in <strong>der</strong> Bibel vom Baum <strong>der</strong><br />
Erkenntnis und vom Sündenfall steht. Ich sehe meine<br />
Aufgabe darin, für meine Mitmenschen da zu sein, zu<br />
versuchen, sie zu verstehen und ihnen zu helfen, wenn<br />
ich es kann. Wir sollten einan<strong>der</strong> das Leben hier auf<br />
Erden erträglicher machen. Die Bahnen <strong>der</strong> Gestirne am<br />
Himmel, die Entstehung des Lebens auf <strong>der</strong> Erde, die<br />
Ordnung und die Gesetzmäßigkeiten, die im Kosmos<br />
herrschen ... Das sind sicher Phänomene von<br />
127
fundamentaler Bedeutung, und ich verstehe, dass <strong>der</strong><br />
menschliche Ge<strong>ist</strong> dafür nach Erklärungen sucht, dass<br />
dich diese Fragen bewegen. Doch <strong>der</strong> Kranke, <strong>der</strong><br />
Schmerzen hat, <strong>der</strong> Unglückliche, <strong>der</strong> leidet, hat an<strong>der</strong>e<br />
Probleme, sucht Antworten auf an<strong>der</strong>e Fragen. Die<br />
Rätsel des Weltalls liegen außerhalb seiner zentralen<br />
Lebensproblematik in einer abstrakten Ferne. Ich denke<br />
darüber nach, wie Hass, Feindschaft, Grausamkeit in die<br />
Welt und in die Seelen <strong>der</strong> Menschen gekommen sind,<br />
in denen es doch auch aufopferungsvolle Liebe und<br />
Selbstverleugnung geben kann. Welche Kräfte sind hier<br />
am Werk?<br />
Das sind die Fragen, auf die ich Antworten suche.«<br />
»Mit deinen Ideen begibst du dich auf das Gebiet <strong>der</strong><br />
Spekulation!«, fuhr Oertel auf.<br />
»Vater ...«, wandte Gertrud schüchtern ein, »Vater,<br />
weise Paul doch nicht gleich ab. Denk doch erst einmal<br />
über seine Argumente . . . «<br />
Ihr Vater unterbrach sie verärgert. »Misch du dich<br />
nicht ein in Dinge, von denen du nichts verstehst«, wies<br />
er sie in scharfem Ton zurecht. Aber ich verstehe etwas<br />
von <strong>der</strong> Seele meines Bru<strong>der</strong>s, von seinem Fühlen und<br />
Denken, <strong>ist</strong> das nicht auch wichtig, dachte sie.<br />
Oertel wandte sich wie<strong>der</strong> seinem Sohn zu: »Wenn<br />
du schon meinst, dass mit wissenschaftlichen Methoden<br />
die Rätsel <strong>der</strong> Welt nicht zu lösen sind – spekulative<br />
Ansätze führen zu Unsicherheit, ja unter Umständen zu<br />
einem wilden, nicht <strong>mehr</strong> kontrollierbaren Spiel <strong>der</strong><br />
Fantasie. Dieser Weg führt in die Irre.«<br />
»Es bleibt noch <strong>der</strong> Weg des Glaubens«, sagte Paul<br />
schlicht.<br />
128
Der Vater warf ihm einen Blick zu, <strong>der</strong> seine<br />
Enttäuschung verriet. »Du wirst noch einmal an<strong>der</strong>s<br />
denken, wenn du reifer und einsichtiger geworden b<strong>ist</strong>.«<br />
»Versuche doch, mich zu verstehen«, sagte Paul nun<br />
in bittendem Ton. »Lass mich doch erst einmal<br />
anfangen. Vielleicht komme ich ja nach einiger <strong>Zeit</strong> ›zur<br />
Vernunft‹, wie du es nennst. Aber lass es mich<br />
wenigstens probieren.«<br />
Oertel strich einige Male über seinen Bart, rückte<br />
seine randlose Brille zurecht und räusperte sich. Mit<br />
belegter Stimme sagte er: »Ich werde es mir überlegen.«<br />
Dann verließ er das Zimmer, ohne seine Kin<strong>der</strong> noch<br />
einmal anzublicken.<br />
Gertrud stand auf, ging zu Paul und legte ihm den<br />
Arm um die Schultern. Sie wollte ihn trösten, aber er<br />
schien gar keinen Trost zu brauchen.<br />
»Du scheinst sehr genau zu wissen, was du willst«,<br />
meinte sie.<br />
»Ja. « Paul lächelte. »Und ich gehe meinen Weg.<br />
Wenn ich Vater Kummer mache, dann tut es mir sehr<br />
leid, glaube mir. Aber ich kann nicht an<strong>der</strong>s.«<br />
129
Freitag, den 15. November 1918,<br />
spätnachmittags<br />
E<br />
s <strong>ist</strong> so lange her, dass ich etwas in mein<br />
Tagebuch geschrieben habe. Aber worüber hätte ich<br />
auch schreiben sollen? Über den Hunger? Die<br />
Steckrüben, die es täglich als Gemüse, Suppe o<strong>der</strong><br />
Fleischersatz gab? Über die Kälte im Winter, weil wir<br />
nicht genug zum Heizen hatten? Über die sich ständig<br />
wie<strong>der</strong>holende alltägliche Misere? Dazu hat mir jede<br />
Lust gefehlt. Wir hatten alle nur noch die Kraft, das<br />
unbedingt Notwendige zu tun. Es war ein mühsames<br />
Sichhinschleppen von Tag zu Tag.<br />
Vater <strong>ist</strong> alt geworden. Sein Haar und sein Bart sind<br />
ganz grau, und er <strong>ist</strong> abgemagert. Seit Mutters Tod hat<br />
er schon nicht viel gelacht, jetzt lacht er überhaupt nicht<br />
<strong>mehr</strong>.<br />
Paul <strong>ist</strong> nach Göttingen gegangen, um Theologie zu<br />
studieren. Ich glaube, das bedrückt ihn noch zusätzlich.<br />
Er hofft wohl immer noch, dass sein Sohn sich eines<br />
Tages besinnt und doch ein naturwissenschaftliches<br />
Studium aufnimmt.<br />
Vaters schwermütige Stimmung hat auch mich<br />
traurig gemacht, sodass ich mich oft zu gar nichts<br />
aufraffen konnte, noch nicht einmal zum Klavierspielen.<br />
Aber heute musste ich mein Tagebuch wie<strong>der</strong><br />
hervorholen. In den letzten Tagen <strong>ist</strong> so viel passiert.<br />
Der Krieg <strong>ist</strong> aus! Endlich!! Ich sollte mich freuen. Wir<br />
sollten uns alle freuen und jubeln! Dennoch <strong>ist</strong> die<br />
Stimmung überall gedämpft. Je<strong>der</strong> <strong>ist</strong> zwar glücklich,<br />
dass nicht <strong>mehr</strong> geschossen wird und dass die Soldaten<br />
– die, die noch am Leben sind – wie<strong>der</strong> nach Hause<br />
kommen. Aber wie sieht es hier aus?<br />
130
Alles geht drunter und drüber, seit <strong>der</strong> Arbeiter- und<br />
Soldatenrat den Herzog gezwungen hat abzudanken.<br />
Den ganzen Tag sausen Autos mit bewaffneten Soldaten<br />
durch die Stadt, rote Fahnen am Kühler. Bei dem<br />
dauernden Gehupe muss man sich die Ohren zuhalten,<br />
wenn man auf die Straße geht. Aus <strong>der</strong> Villa des Prinzen<br />
wurden das ganze Bargeld, die Orden und alle<br />
wertvollen Gegenstände gestohlen. Und auch sonst:<br />
Einbruch und Diebstahl sind an <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />
Vater <strong>ist</strong> ganz deprimiert. Er sagt: »Jetzt haben wir<br />
Zustände wie in Russland. Das <strong>ist</strong> Anarchie! Die<br />
Proleten, die jetzt unser Land regieren, sind doch gar<br />
nicht fähig, die Ordnung wie<strong>der</strong> herzustellen.« Wenn ich<br />
daran denke, dass die sich heute im Schloss<br />
breitmachen, wo meine Eltern in früheren Jahren so oft<br />
Gäste waren, wo ich als Debütantin stolz meinen ersten<br />
Ball erlebt habe – ich könnte heulen. Wie wird es<br />
weitergehen? Man traut sich ja kaum noch auf die<br />
Straße. Werden wir noch einmal ruhige, ganz normale<br />
<strong>Zeit</strong>en erleben, wie es früher war?<br />
Weiches Spätnachmittagslicht fiel in das kleine<br />
Ankleidezimmer und verlieh <strong>der</strong> Elfenbeinfarbe, in <strong>der</strong><br />
die Seidentapete und die zierlichen Möbel gehalten<br />
waren, einen warmen und intensiven Ton. Die weiße<br />
Gardine blähte sich ein wenig im Luftzug des halb<br />
geöffneten Fensters. Gertrud saß auf dem Hocker vor<br />
ihrer Frisierkommode und betrachtete ihr Gesicht im<br />
Spiegel: das dunkelbraune, leicht gewellte Haar, das im<br />
Gegenlicht schimmerte, das ovale Gesicht, dem die<br />
großen braunen Augen mit ihrem träumerischen Glanz<br />
einen charakter<strong>ist</strong>ischen Ausdruck verliehen, den<br />
Mund, <strong>der</strong> mit seinen schmalen Lippen Empfindsamkeit<br />
131
verriet, aber gleichzeitig auch Festigkeit und<br />
Entschlossenheit, die zarte weiße Haut ... Heute nimmt<br />
man Rouge, um etwas Farbe auf die Wangen zu<br />
zaubern, auch Wimperntusche, Pu<strong>der</strong> und Lippenrot<br />
sind durchaus nicht verpönt, dachte sie, ich werde mir<br />
so etwas kaufen. Ihr Blick fiel auf die Ablage <strong>der</strong><br />
Frisierkommode. Neben Kamm und Bürste und dem<br />
einen Cremetopf war noch viel Platz dafür. Indem sie<br />
ihr Spiegelbild betrachtete, wurde Gertrud sich bewusst,<br />
dass sie gut aussah, dass sie sogar hübsch war. Der<br />
Wunsch aller Frauen erwachte in ihr, dieses Äußere<br />
noch besser zur Geltung zu bringen. Sie wollte gefallen.<br />
Dabei dachte sie an niemand Bestimmten, sie wollte<br />
einfach das Gefühl haben, dass sie eine attraktive junge<br />
Frau war, die man gern ansieht.<br />
Langsam stand sie auf und begann sich umzukleiden.<br />
Sie zog das Straßenkostüm aus, das sie bei ihren<br />
Einkäufen getragen hatte, um es gegen ein bequemeres<br />
Hauskleid zu vertauschen. Einem plötzlichen <strong>Im</strong>puls<br />
folgend, begann sie, auch die Unterwäsche abzulegen.<br />
Sie zog den Unterrock aus und legte ihn zurseite, löste<br />
die Strumpfbän<strong>der</strong> und das Korsett, streifte die seidene<br />
Untertaille ab und, etwas zögernd, die spitzenbesetzte<br />
Unterhose. Nun stand sie nackt vor ihrem Spiegel. Sie<br />
betrachtete ihren Körper mit <strong>der</strong>selben Aufmerksamkeit<br />
und kritischen Neugier, wie sie vorhin ihr Gesicht<br />
angesehen hatte. Es war ihr, als nähme sie ihn zum<br />
ersten Mal bewusst wahr. Sie war klein, von zartem<br />
Knochenbau, schlank, aber nicht mager. Langsam ließ<br />
sie ihre Hände über die sanften Rundungen ihrer Brüste<br />
gleiten. Dann ertastete sie die leichte Wölbung des<br />
Bauches. Ihre Haut fühlte sich glatt an und kühl wie<br />
132
Seide. Eine innere Unruhe erfüllte sie, eine unbestimmte<br />
Sehnsucht, die sie verwirrte. Sie wehrte sich dagegen,<br />
schob sie von sich weg, unterdrückte sie. Sie zog ein<br />
Negligé über und setzte sich wie<strong>der</strong> auf den Hocker vor<br />
den Frisiertisch. Gedankenverloren sah sie ihr<br />
Spiegelbild an. Vierundzwanzig Jahre war sie nun alt.<br />
Was war ihr Leben bisher gewesen? Eine glückliche,<br />
behütete Kindheit, eine sorglose Jugend. Die<br />
Erinnerung daran zauberte ein Lächeln auf ihre Züge,<br />
das bei dem Gedanken an den Tod <strong>der</strong> Mutter jäh<br />
verschwand. Dieser Schicksalsschlag hatte sie wie eine<br />
Katastrophe getroffen. Wenn Mutter noch leben würde,<br />
wie an<strong>der</strong>s wäre alles, dachte sie. Ich hätte eine<br />
Vertraute, einen Menschen, <strong>der</strong> mich versteht, dem ich<br />
alles sagen könnte, was mich bewegt. Ich liebe Vater, ja,<br />
aber er <strong>ist</strong> oft so fern und unnahbar. Wie habe ich mich<br />
bemüht, ihm zur Seite zu stehen in jenen schweren<br />
Tagen, obwohl ich manchmal selbst keine Kraft <strong>mehr</strong><br />
hatte. Niemand, auch Vater nicht, hat bemerkt, wie es in<br />
mir aussah, denn ich versuchte, nach außen hin ruhig<br />
und gelassen zu erscheinen. Dabei hatte ich oft das<br />
Gefühl, dass alles um mich herum zusammenbrechen<br />
würde. Wie abwesend strich sie eine Haarsträhne<br />
zurück, die ihr in die Stirn gefallen war.<br />
Die Gedanken an den Verlust <strong>der</strong> Mutter ließen die<br />
Erinnerung an Wilhelms Tod lebendig werden, wühlten<br />
die Gefühle von Schmerz und Trauer wie<strong>der</strong> auf. Es war<br />
wie ein Abgrund, <strong>der</strong> sich vor mir auftat. Ich hatte Angst<br />
hineinzustürzen. Monatelang hatte ich immer wie<strong>der</strong><br />
das Gefühl, als schwanke <strong>der</strong> Boden unter meinen<br />
Füßen, dachte sie. Ich war ohne Richtung in meinem<br />
Leben, ohne Ziel, hilflos ausgeliefert an ein Geschehen,<br />
133
das ich nicht begreifen konnte, nicht begreifen wollte.<br />
Wäre Mutter doch bei mir gewesen, sie hat mir so<br />
gefehlt! Dann die Kriegsjahre voller Hunger und<br />
Entbehrungen, freudlos und tr<strong>ist</strong>. Das war das Leben,<br />
das war mein Leben! Wie wird es weitergehen? Ein<br />
heißes Aufbegehren erfüllte sie plötzlich, ein nie<br />
gekannter Hunger nach Leben. Ihre Wangen glühten,<br />
die Augen waren feucht, <strong>der</strong> Mund trocken. Sie fühlte<br />
sich, als ob sie Fieber hätte. Ein leidenschaftliches<br />
Verlangen danach, <strong>der</strong> Enge des Alltags zu entfliehen,<br />
die Grenzen zu sprengen, ließ sie erschauern. Lange<br />
unterdrückte Gefühle stiegen in ihr auf, <strong>der</strong>en Intensität<br />
sie verwirrte. Die Gedanken überstürzten sich. Ich bin<br />
doch noch jung. Das Leben liegt noch vor mir, ich will<br />
seine Schönheit auskosten, will meine Kräfte<br />
verschwenden, will etwas schaffen, will es genießen, ich<br />
will lieben und geliebt werden, ich will leben, aus vollen<br />
Zügen leben! Die Jahre gehen vorbei, eines Tages werde<br />
ich alt sein, jetzt will ich leben!<br />
In ihre Gedanken drangen Geräusche von <strong>der</strong> Straße<br />
herauf: laute Stimmen, Gröhlen, Schreien, dazu <strong>der</strong> Tritt<br />
schwerer Stiefel. Sie hatte es schon öfter gehört. Der<br />
Krieg <strong>ist</strong> zwar vorbei, aber Frieden haben wir noch<br />
lange nicht, dachte sie bitter. Diese randalierenden<br />
Gruppen, die durch die Stadt ziehen ... verfeindete<br />
politische Cliquen ... Schlägereien und<br />
Messerstechereien sind an <strong>der</strong> Tagesordnung ... Es gab<br />
sogar politische Morde! Neulich hat die Regierung<br />
Truppen nach Braunschweig geschickt, um einen<br />
Aufstand nie<strong>der</strong>zuschlagen. Was für eine <strong>Zeit</strong>! Wann<br />
werden wir endlich wirklichen Frieden haben?<br />
134
Ein Knall drang von <strong>der</strong> Straße her in die Stille ihres<br />
Ankleidezimmers. Gertrud schreckte auf. Was war das,<br />
ein Schuss? Verwirrt legte sie das Gesicht in beide<br />
Hände. So blieb sie eine Weile sitzen, als wolle sie sich<br />
sammeln, aus dem Sturm ihrer Gefühle wie<strong>der</strong><br />
zurückfinden in die Wirklichkeit. Langsam klang ihre<br />
innere Erregung ab. Schließlich stand sie auf und<br />
begann, sich anzukleiden. Als sie die Tür ihres<br />
Klei<strong>der</strong>schranks öffnete, um ein Hauskleid<br />
herauszunehmen, hielt sie plötzlich inne. Diese alten<br />
Sachen, immer wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Hausschnei<strong>der</strong>in<br />
umgeän<strong>der</strong>t – wie lange trage ich sie eigentlich schon?<br />
In all den Kriegsjahren hat man ja nichts kaufen können.<br />
Und mir stand auch <strong>der</strong> Sinn nicht danach, mich hübsch<br />
anzuziehen. Aber jetzt ... Ich werde mir ein neues Kleid<br />
kaufen, so ein schickes, modisches, eines von denen, die<br />
ich neulich am Kohlmarkt im Schaufenster gesehen<br />
habe. Vielleicht das Rote mit <strong>der</strong> weißen Stickerei? Das<br />
gefiel mir beson<strong>der</strong>s gut. Aber auch das Grüne mit dem<br />
Spitzenbesatz, das so einfach geschnitten war und<br />
gerade dadurch sehr elegant wirkte, war hübsch. Sie<br />
nahm sich fest vor, in den nächsten Tagen in die Stadt<br />
zu gehen und sich eines von den mo<strong>der</strong>nen Klei<strong>der</strong>n zu<br />
kaufen, die ihr so gut gefielen.<br />
Gertruds Gedanken kre<strong>ist</strong>en nach wie vor um ihren<br />
Wunsch, einen Beruf zu erlernen. Schließlich bat sie<br />
ihren Vater um eine Unterredung. Nun saßen sie sich im<br />
Studierzimmer gegenüber, <strong>der</strong> Vater hinter dem<br />
Schreibtisch, die Arme verschränkt auf <strong>der</strong> Tischplatte,<br />
mit angespanntem Gesicht darauf wartend, dass sie das<br />
Gespräch beginnen würde. Eine o<strong>der</strong> zwei Minuten lang<br />
135
hatten sie geschwiegen, dann war Gertrud klar<br />
geworden, dass sie den ersten Schritt würde tun müssen.<br />
Tapfer fing sie an:<br />
»Vater, du weißt, dass ich gern einen Kursus in<br />
Maschinenschreiben und Stenografie besuchen würde.<br />
Ich habe schon ein paar Mal davon gesprochen, denn<br />
mir liegt sehr viel daran. Wirst du es mir erlauben?« In<br />
ihrem Ton lag fast etwas Flehendes. »Du würdest mir<br />
eine große Freude damit machen. Ich bitte dich sehr<br />
darum.«<br />
Oertel strich schweigend über seinen Bart, eine<br />
Geste, die er häufig machte, wenn er über irgendetwas<br />
nachdachte. Schließlich fragte er seine Tochter in<br />
ruhigem Ton: »Was willst du damit erreichen?«<br />
»Ich könnte in einem Büro arbeiten. Ich könnte<br />
Sekretärin werden, eine verantwortungsvolle Position,<br />
eine Vertrauensstellung bekleiden«, erwi<strong>der</strong>te sie<br />
lebhaft, in <strong>der</strong> Hoffnung, den Vater für sich zu<br />
gewinnen. »Zu Hause langweile ich mich nur.«<br />
»In einem Büro willst du arbeiten? Zu Hause<br />
langweilst du dich?« Oertels Ton wurde schärfer. »Du<br />
b<strong>ist</strong> schließlich meine Tochter, du b<strong>ist</strong> eine Oertel. Du<br />
hast es nicht nötig, zu arbeiten und Geld zu verdienen.<br />
Hier gibt es genug für dich zu tun. Du kannst Emmy zur<br />
Hand gehen und den Haushalt lernen. Du kannst Klavier<br />
spielen und schöne Handarbeiten machen wie deine<br />
Mutter in früheren <strong>Zeit</strong>en.« Ein Schatten glitt kurz über<br />
sein Gesicht, aber dann sprach er mit unvermin<strong>der</strong>ter<br />
Schärfe weiter: «Büroarbeit, Sekretärin spielen, das <strong>ist</strong><br />
keine Beschäftigung für meine Tochter. Wer weiß, mit<br />
was für Leuten du da zusammenkommst, in was für<br />
136
Kreise du gerätst. Du b<strong>ist</strong> leicht beeinflussbar, und das<br />
<strong>ist</strong> nicht immer nur zu deinem Vorteil.«<br />
»Ich stelle es mir aber interessant vor, die<br />
Korrespondenz einer Firma zu erledigen und vielleicht<br />
die rechte Hand des Chefs zu werden. <strong>Im</strong> Übrigen finde<br />
ich darüber hinaus neue menschliche Kontakte sehr<br />
anregend. Warum soll ich nicht nette Leute<br />
kennenlernen?«<br />
Gertrud hoffte noch immer, den Vater umstimmen zu<br />
können. Als sie jedoch an seinem abweisenden Gesicht<br />
sah, dass ihr das nicht gelingen würde, erwachte <strong>der</strong><br />
Trotz in ihr. Sie wollte sich nicht <strong>mehr</strong> bevormunden<br />
und ihr Leben von an<strong>der</strong>en bestimmen lassen. Bald<br />
würde sie ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feiern.<br />
»Ich halte es auf die Dauer zu Hause nicht aus. Ich<br />
will das Leben kennenlernen. Es gibt so viele Frauen,<br />
die heutzutage einen Beruf erlernen, eine Ausbildung<br />
machen o<strong>der</strong> sogar studieren. Warum ich nicht? Warum<br />
willst du es durchaus nicht? Warum machst du mir<br />
solche Schwierigkeiten?«<br />
Oertel reagierte verärgert: »Es wird <strong>Zeit</strong>, dass du<br />
heiratest. Dann vergehen dir diese Flausen. Ein<br />
standesgemäßer Ehemann für dich wird sich über kurz<br />
o<strong>der</strong> lang schon finden lassen.«<br />
Mit einer knappen Handbewegung deutete er an, dass<br />
die Unterredung beendet war.<br />
Gertrud stand auf und verließ das Zimmer in<br />
namenloser Enttäuschung. Hatte sie vor dem Gespräch<br />
noch gehofft, den Vater überzeugen zu können o<strong>der</strong><br />
wenigstens seine Einwilligung für die Teilnahme an<br />
dem Kursus zu bekommen, so musste sie jetzt einsehen,<br />
137
dass er in diesem Punkt nie würde mit sich reden lassen.<br />
In jener knappen Geste am Schluss <strong>der</strong><br />
Auseinan<strong>der</strong>setzung lag Endgültigkeit. Sie besagte:<br />
Komm mir nie wie<strong>der</strong> damit. Ich lasse darüber nicht mit<br />
mir reden.<br />
Als Gertrud den Schatten <strong>der</strong> Bäume, die ihren Weg<br />
durch die Kaiser-Wilhelm-Straße säumten und sie vor<br />
<strong>der</strong> erbarmungslosen Sonne schützten, verließ, sprang<br />
die Hitze sie an wie ein wildes Tier. Vom Himmel<br />
herab, aus den Mauern <strong>der</strong> Häuser, aus den Steinen des<br />
Straßenpflasters griff sie nach ihr. Doch Gertrud schien<br />
es nicht zu empfinden. Mit leichten, beschwingten<br />
Schritten bahnte sie sich ihren Weg durch die<br />
Menschenmenge; denn trotz <strong>der</strong> hochsommerlichen<br />
Temperaturen waren die Straßen belebt.<br />
Menschentrauben drängten sich an den Haltestellen <strong>der</strong><br />
»Elektrischen«, <strong>der</strong>en Kommen man schon von Weitem<br />
an ihrem charakter<strong>ist</strong>ischen Rattern und Klingeln und<br />
am Kreischen <strong>der</strong> Bremsen hören konnte. Kleine<br />
Büromädchen in billigen bunten Sommerkleidchen und<br />
Herren mit Hüten, großen Aktentaschen und wichtigen<br />
Mienen strebten eilig nach Hause, in ein Restaurant, zur<br />
Kegelbahn, zu ihrer Geliebten o<strong>der</strong> wo sie sonst ihren<br />
Feierabend zu verbringen gedachten. Elegant<br />
angezogene Damen promenierten gemessenen Schrittes<br />
die Straße entlang, sich gelegentlich umblickend, ob sie<br />
auch bemerkt würden.<br />
Gertrud konnte sich nicht sattsehen an dem Betrieb,<br />
an dem bunten Gewimmel, das sie umgab. Sie fühlte<br />
sich wie trunken, mit hineingenommen in diese<br />
Lebensfülle, fortgerissen von dem Sog <strong>der</strong> alles<br />
138
durchdringenden Vitalität. Dienstmädchen und<br />
Arbeiterfrauen mit Einkaufstaschen drängten sich durch<br />
das Gewühl, junge Frauen schoben Kin<strong>der</strong>wagen, und<br />
halbwüchsige Jungen versuchten, inmitten <strong>der</strong><br />
Menschenmenge Fangen o<strong>der</strong> Fußball zu spielen. Das<br />
Leben pulsiert wie<strong>der</strong>, endlich, dachte Gertrud. In den<br />
Kriegsjahren war es so ruhig hier. Nun atmen die<br />
Menschen wie<strong>der</strong> auf. Wie einen belebenden Cocktail<br />
sog sie dieses Gemisch aus Farben, Bil<strong>der</strong>n, Geräuschen<br />
und Gerüchen in sich ein: hupende Autos und<br />
knatternde Motorrä<strong>der</strong>, die seit Kriegsende immer<br />
zahlreicher geworden waren, lachende und schwatzende<br />
Menschen auf dem Gehsteig, Musik aus einer<br />
Tanzdiele, <strong>der</strong>en Türen zur Straße hin geöffnet waren,<br />
Gedränge vor <strong>der</strong> Kinokasse, Eis schleckende Kin<strong>der</strong>,<br />
<strong>der</strong> Geruch nach Benzin und Autoabgasen, die Luft,<br />
heiß und staubig. Das <strong>ist</strong> Großstadtluft, das <strong>ist</strong> Leben!<br />
Sie genoss das brodelnde Durcheinan<strong>der</strong> um sich<br />
herum. Inmitten des bunten Treibens fühlte sie sich auf<br />
eine intensivere Art und Weise lebendig, voller<br />
Unternehmungslust, bereit, <strong>der</strong> Zukunft<br />
entgegenzugehen und sie mit offenen Armen zu<br />
empfangen, voller Hunger nach neuen Eindrücken und<br />
Erfahrungen, erfüllt von einer Sehnsucht, die fast<br />
schmerzhaft war, nach irgendetwas, das sie nicht<br />
kannte. Den ärmlich aussehenden Mann, <strong>der</strong> an eine<br />
Hauswand gelehnt dasaß, ein Schild mit <strong>der</strong> Aufschrift<br />
»Ich bin arbeitslos« und eine Pappschachtel vor sich,<br />
beachtete sie nicht weiter.<br />
Ein paar junge Burschen drehten sich nach ihr um,<br />
riefen: «Olala« und pfiffen. Sie reg<strong>ist</strong>rierte ihre<br />
bewun<strong>der</strong>nden Blicke mit einem Anflug von<br />
139
Selbstgefälligkeit. Ihr bastseidenes, erdbeerrotes Kleid<br />
mit <strong>der</strong> weißen Stickerei war unterhalb <strong>der</strong> Taille leicht<br />
gerafft und ließ sie sehr schlank erscheinen. Der Mode<br />
entsprechend war es nur wadenlang, sodass die Beine,<br />
die in durchsichtigen Strümpfen steckten, zu sehen<br />
waren. Sie hatte den Schmuck, den sie von ihrer Mutter<br />
geerbt hatte, angelegt: die Perlenkette, den Brillantring<br />
und das dazu passende Armband. Auch ihre Frisur hatte<br />
sie zeitgemäß verän<strong>der</strong>t: Sie trug einen Pagenkopf, »le<br />
<strong>der</strong>nier cri« <strong>der</strong> Friseurkunst. Ihr Gesicht hatte sie ein<br />
wenig geschminkt: ganz hell gepu<strong>der</strong>t, die Wangen<br />
leicht mit Rouge betupft und den Mund mit einem<br />
leuchtenden Rot nachgezogen, das zur Farbe des<br />
Kleides passte. Die Augen waren durch zwei kaum<br />
sichtbare schwarze Striche in den Augenwinkeln betont.<br />
Sie hatte viel <strong>Zeit</strong> auf ihre Aufmachung verwendet, und<br />
als sie zum Schluss ihr Spiegelbild betrachtete, gefiel<br />
ihr, was sie sah.<br />
Ihr Ziel war das Tanzcafé Wagner. Ihre Freundin<br />
Anni war bereits da, als Gertrud das Lokal betrat. Sie<br />
entdeckte sie an einem <strong>der</strong> kleinen runden<br />
Marmortischchen. Vor ihr stand eine Tasse Kaffee.<br />
Gertruds Blick fiel auf die lange Zigarettenspitze aus<br />
Elfenbein in <strong>der</strong> Hand ihrer Freundin. Natürlich, dachte<br />
sie belustigt, ohne ihre türkischen Zigaretten kann Anni<br />
nicht sein. Aber das schlichte graugrüne<br />
Sommerkostüm steht ihr gut. Sie kann solche matten<br />
Farben tragen. Der einfache, ein bisschen strenge<br />
Schnitt <strong>der</strong> Jacke, die kleine goldene Nadel am Revers<br />
als einziger Schmuck, die glatte Frisur mit dem Knoten<br />
im Nacken ... Das alles passt zu ihr, zu ihrer etwas<br />
herben, intellektuellen Persönlichkeit.<br />
140
»B<strong>ist</strong> du schick«, rief Anni <strong>der</strong> Freundin entgegen,<br />
»ein bisschen auffallend zwar, ein bisschen extravagant,<br />
aber warum nicht? Gut siehst du aus!« Sie nickte ihr mit<br />
einem anerkennenden Lächeln zu. Gertrud fühlte sich<br />
geschmeichelt und setzte sich.<br />
»Wo hast du das Kleid arbeiten lassen?«<br />
»Ich habe es von <strong>der</strong> Stange gekauft. Das <strong>ist</strong> viel<br />
praktischer als die ewigen Anproben bei <strong>der</strong><br />
Schnei<strong>der</strong>in. Du glaubst ja nicht, wie gut man sich fühlt<br />
in einem modischen, schicken Kleid!« Gertruds Augen<br />
leuchteten.<br />
Die Serviererin kam, und sie bestellte Schokolade<br />
und ein Stückchen Baumkuchen. Dann blickte sie sich<br />
im Café um. Sonnenlicht, das durch die gerafften<br />
Gardinen und die roten Samtvorhänge leicht gedämpft<br />
wurde, ließ die Goldrahmen <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> und Spiegel und<br />
den vergoldeten Stuckzierrat aufglänzen wie kleine<br />
Lichtpünktchen. Überall im Raum verteilt standen<br />
kleine, runde Marmortischchen mit zierlichen Stühlen,<br />
wie <strong>der</strong>, an dem sie mit Anni saß. In <strong>der</strong> Mitte hatte man<br />
einen freien Platz gelassen. Das <strong>ist</strong> sicher die<br />
Tanzfläche, dachte Gertrud, und schaute auf das<br />
spiegelblanke Parkett. Sie beobachtete die<br />
Serviererinnen in ihren schwarzen Klei<strong>der</strong>n mit den<br />
weißen Schürzen und den weißen Häubchen auf dem<br />
Kopf. Wie geschickt sie sich mit ihren Tabletts<br />
zwischen den Tischen bewegen, ich glaube, ich könnte<br />
das nicht. Ich würde bestimmt das Tablett fallen lassen.<br />
Ihr Blick wan<strong>der</strong>te weiter durch den Raum. Auf dem<br />
roten Plüschsofa in dem Erker beim Fenster saß ein<br />
junges Paar eng beieinan<strong>der</strong>. Sie lächelte. Ein<br />
141
Liebespaar – so wie sie sich ansehen und bei den<br />
Händen halten.<br />
»Hattest du Schwierigkeiten, von zu Hause<br />
wegzukommen?« Annis Stimme riss sie aus ihren<br />
Gedanken. Sie sah Gertrud mit einem ernsten, fast ein<br />
wenig mitleidigen Ausdruck an.<br />
»Ich lasse mich doch nicht einsperren!« Gertrud warf<br />
den Kopf in den Nacken. In ihren Augen blitzte es auf.<br />
»Du lernst es noch.« Anni schmunzelte.<br />
Gertrud sah sie verständnislos und fragend an.<br />
»Dich durchzusetzen«, sagte Anni lachend. »Du hast<br />
ja schon damit angefangen.«<br />
Sie zog an ihrer Zigarettenspitze und blies die<br />
Rauchwölkchen genüsslich in die Luft. Gertrud nippte<br />
an ihrer Schokolade und steckte ein Stückchen<br />
Baumkuchen in den Mund. Leises Stimmengewirr<br />
erfüllte den Raum. Der Rauch von Zigaretten und<br />
Zigarren legte sich wie ein feiner Dunst über alles.<br />
Gedämpft drangen Geräusche von <strong>der</strong> Straße herein.<br />
Alles <strong>ist</strong> hier gedämpft, dachte Gertrud. Vorhin auf <strong>der</strong><br />
Straße, da war Leben, brandendes, quirliges Leben. Man<br />
konnte es spüren mit allen Sinnen. Hier geht es ruhig<br />
und gesetzt zu. Sie fühlte sich, als wäre sie eingehüllt in<br />
einen Schleier, <strong>der</strong> das ursprüngliche Leben nur gefiltert<br />
hindurchlässt. Die me<strong>ist</strong>en Tische waren besetzt.<br />
Gertrud wun<strong>der</strong>te sich, dass auch ältere Leute hier<br />
waren. »Die Dame da drüben, zum Beispiel, mit dem<br />
aus <strong>der</strong> Mode gekommenen Hut, die <strong>ist</strong> doch sicher<br />
schon fünfzig. Ob sie wohl damit rechnet, zum Tanzen<br />
aufgefor<strong>der</strong>t zu werden?« meinte sie lachend zu Anni.<br />
142
Die Freundin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht<br />
will sie auch nur Kaffee trinken. Hier gibt es guten<br />
Kuchen.«<br />
Die Tanzmusik begann wie<strong>der</strong>. Offensichtlich hatten<br />
die Musiker eine Pause eingelegt. Ein zierliches, kleines<br />
Männchen mit einer gewaltigen weißen Mähne setzte<br />
sich mit pathetischem Gehabe ans Klavier und stellte<br />
umständlich seine Noten auf.<br />
Gertrud beugte sich zu Anni hinüber und flüsterte:<br />
»Er hält sich wohl für Beethoven!«<br />
Beide Mädchen glucksten und kicherten hinter<br />
vorgehaltener Hand.<br />
Anni fasste Gertrud leicht am Arm: »Guck dir den<br />
Dicken an, den Stehgeiger neben dem Klavier, hat <strong>der</strong><br />
einen Bauch! Und wie <strong>der</strong> schwitzt, dauernd wischt er<br />
sich mit seinem Taschentuch über die Stirn.« Lachend<br />
wandten sie ihre Gesichter ab.<br />
Es wurde ein langsamer Foxtrott gespielt, und nach<br />
und nach begaben sich die Paare zur Tanzfläche. Ein<br />
blon<strong>der</strong> junger Mann for<strong>der</strong>te Gertrud zum Tanzen auf.<br />
»Sie sind mir sofort aufgefallen, als Sie hereinkamen,<br />
gnädiges Fräulein«, sagte er, während sie mit ruhigen,<br />
gemessenen Schritten über die Tanzfläche glitten. »Darf<br />
ich Ihnen ein Kompliment machen über Ihr Aussehen?<br />
Sehr elegant, dieses Kleid, sehr geschmackvoll. Und die<br />
mo<strong>der</strong>ne Pagenkopffrisur steht Ihnen ausgezeichnet.«<br />
Gertrud wehrte ab. Diese aufdringliche Schmeichelei<br />
war ihr unangenehm, sie empfand sie als plumpe<br />
Anbie<strong>der</strong>ung und war froh, als <strong>der</strong> Tanz endlich zu Ende<br />
war.<br />
143
»Ich muss dir vom Lehrerinnenseminar erzählen«,<br />
sagte Anni, als sie wie<strong>der</strong> am Tisch saßen. »Es <strong>ist</strong><br />
hochinteressant!« Sie zog an ihrer Zigarette, atmete den<br />
Rauch tief ein und sprach dann lebhaft weiter. »In<br />
unserer <strong>Zeit</strong> gibt es ja so viele Reformgedanken, so viele<br />
neue Ideen auf pädagogischem Gebiet. Du solltest die<br />
lebhaften Diskussionen hören, die wir führen:<br />
Autoritätsschule, wie sie bisher üblich war, o<strong>der</strong> eine<br />
Pädagogik vom Kinde aus, wie Berthold Otto und einige<br />
an<strong>der</strong>e sie for<strong>der</strong>n? Soll die Schule nur Wissen<br />
vermitteln? Sehen wir im Kinde ausschließlich das<br />
spätere nützliche und angepasste Mitglied <strong>der</strong><br />
Gesellschaft? O<strong>der</strong> haben wir die Aufgabe, die<br />
individuelle Persönlichkeit des jungen Menschen<br />
heranzubilden und zu för<strong>der</strong>n? Führen o<strong>der</strong> wachsen<br />
lassen? Das <strong>ist</strong> die Frage. Es gibt für alles Argumente,<br />
und es geht manchmal heiß her in den Seminaren.«<br />
Gertrud hatte ihr mit wachsendem Interesse zugehört.<br />
Sie vergaß das Stückchen Baumkuchen auf ihrer<br />
Kuchengabel. Es blieb auf dem Teller liegen. »Hast du<br />
auch schon einmal unterrichtet?«<br />
Anni schüttelte den Kopf. »Richtig unterrichtet, so in<br />
eigener Verantwortung, nein. So weit bin ich noch nicht.<br />
Aber wir hospitieren regelmäßig im Unterricht, und ich<br />
durfte auch schon einmal unter <strong>der</strong> Aufsicht einer<br />
Lehrerin mit den Schülern ein Lesestück üben und<br />
Aufgaben an <strong>der</strong> Tafel rechnen. Ich glaube, ich werde<br />
gut mit den Klassen zurechtkommen. Ich finde schnell<br />
Kontakt zu Kin<strong>der</strong>n.«<br />
Gertrud sagte nichts. Sie beneidete Anni, die sich<br />
durchgesetzt hatte mit ihrem Berufswunsch.<br />
144
»Wie <strong>ist</strong> es mit dir? Hast du inzwischen den Kursus<br />
in Stenografie und Schreibmaschine angefangen?«<br />
Gertruds Gesicht bekam einen harten Ausdruck. Die<br />
Erinnerung an die Auseinan<strong>der</strong>setzung, die es mit dem<br />
Vater über diesen Punkt gegeben hatte, wurde wie<strong>der</strong><br />
lebendig in ihr. Als sie jetzt <strong>der</strong> Freundin von diesem<br />
Gespräch berichtete, hatte sie Tränen in den Augen.<br />
»Es geht doch nicht nur um Geld und Versorgung!<br />
Ich möchte so leben, wie es mir gefällt, nach meinen<br />
Vorstellungen! Ich möchte frei und unabhängig sein<br />
und nicht die Rolle <strong>der</strong> abhängigen Tochter mit <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />
abhängigen Ehefrau vertauschen. So viele Frauen üben<br />
heute einen Beruf aus, und das nicht nur, weil sie Geld<br />
verdienen müssen. Es macht ihnen Spaß, es erfüllt sie,<br />
es <strong>ist</strong> für sie eine Lebensaufgabe. Warum <strong>ist</strong> Vater so<br />
dagegen?«<br />
»Du b<strong>ist</strong> doch mündig.« Anni hob beide Hände und<br />
ließ sie wie<strong>der</strong> sinken. »Verlass das Elternhaus, o<strong>der</strong><br />
mach es hinter seinem Rücken.«<br />
Gertrud schwieg einen Augenblick lang, dann sagte<br />
sie leise: »Das kann ich nicht, er <strong>ist</strong> doch mein Vater, ich<br />
habe ihn lieb. Es würde ihn umbringen, nachdem Paul<br />
sich ihm schon wi<strong>der</strong>setzt hat. Er nimmt alles so<br />
schwer.«<br />
Gertrud sah das Mitleid in Annis Augen. Sie kann<br />
nicht verstehen, dass ich mich immer wie<strong>der</strong> dem Vater<br />
füge, dachte sie. Anni hätte es nicht getan. Wenn ihre<br />
Eltern nicht mit ihren Plänen einverstanden gewesen<br />
wären, dann hätte sie die Konsequenzen gezogen und<br />
wäre aus dem Haus gegangen. Wir sind nicht alle aus<br />
dem gleichen Holz geschnitzt. Ich bin weicher und<br />
gefühlvoller veranlagt als Anni, das macht das Leben<br />
145
nicht gerade leichter. Mit einem leisen Seufzer lehnte sie<br />
sich in ihrem Stuhl zurück.<br />
»Was hat er denn zu deiner Frisur gesagt? Und zu<br />
deinen modischen Klei<strong>der</strong>n?«, fragte Anni.<br />
»Nichts, er hat nur geguckt. Aber zu Emmy hat er<br />
gesagt, das sei eine Laune, das gehe vorbei.«<br />
»Und dass du dich schminkst, wie nimmt er das auf?«<br />
»Das sieht er nicht. Ich mache es immer erst, wenn<br />
ich gehe, unten im Hausflur.« Gertrud lachte. Es war ein<br />
kurzes Auflachen, in dem so etwas wie Schadenfreude<br />
mitschwang.<br />
Die Musik begann wie<strong>der</strong>.<br />
»Man könnte meinen, sie spielen immer dasselbe<br />
Stück«, sagte Gertrud.<br />
Anni verdrehte die Augen. »Ja, es <strong>ist</strong> langweilig,<br />
<strong>mehr</strong> etwas für die älteren Herrschaften. Sie haben<br />
wirklich nicht viel zu bieten. Da sind unsere Atelierfeste<br />
etwas ganz an<strong>der</strong>es.«<br />
»Atelierfeste?«<br />
»Weißt du, ich bin befreundet mit ein paar Malern<br />
und Literaten. Es <strong>ist</strong> eine nette Clique. Einige junge<br />
Schauspielerinnen vom Theater gehören auch dazu. Sie<br />
sind noch nichts Großartiges, stehen erst am Anfang<br />
ihrer Karriere, wenn es denn eine geben sollte. Aber alle<br />
sind jung und für jeden Spaß zu haben. In Marcels<br />
Atelier kann man wun<strong>der</strong>volle Feste feiern. Da kannst<br />
du dich wirklich amüsieren. Aber es geht manchmal<br />
recht ausgelassen zu, bürgerliche Moralvorstellungen<br />
musst du zu Hause lassen.«<br />
Gertrud spürte prickelnde Neugier. Sie stellte sich<br />
diese Welt bunt und aufregend vor, wie einen farbigen<br />
146
Kontrast zu ihrem Alltag. Diese Menschen wollte sie<br />
kennenlernen. Sie wollte etwas erleben, sich jung<br />
fühlen, zusammen mit an<strong>der</strong>en jungen Menschen<br />
einfach unbeschwert fröhlich sein.<br />
»Kannst du mich einmal mitnehmen?«, bat sie und<br />
sah Anni mit leuchtenden Augen an.<br />
»In vierzehn Tagen <strong>ist</strong> wie<strong>der</strong> was los. Marcel hat<br />
ein Bild verkauft, das erste! Das muss gefeiert<br />
werden. Gäste sind immer willkommen, zumal,<br />
wenn sie so hübsch sind wie du.« Anni lächelte.<br />
»Aber was wird dein Vater dazu sagen? Wird er es<br />
erlauben?«<br />
»Ich brauche ihm ja nichts zu erzählen. Mir wird<br />
schon eine Ausrede einfallen«, sagte Gertrud leichthin<br />
mit einer wegwerfenden Handbewegung.<br />
Arm in Arm schlen<strong>der</strong>ten Anni und Gertrud die<br />
stille Nebenstraße entlang, in <strong>der</strong> Marcels Atelier lag.<br />
Sie genossen den lauen Sommerabend. Tagsüber hatte<br />
es geregnet, aber jetzt war <strong>der</strong> Himmel wie<strong>der</strong> klar.<br />
Gertrud atmete tief den würzigen Duft ein, <strong>der</strong> die Luft<br />
erfüllte. Sie betrachtete im Vorbeigehen die Fassaden<br />
<strong>der</strong> alten Patrizierhäuser. Manche waren mit Efeu o<strong>der</strong><br />
Weinlaub bewachsen. In den kleinen Vorgärten blühten<br />
Rosen. Wie ruhig es hier war. Da blieb Anni stehen und<br />
deutete auf eines <strong>der</strong> alten Häuser: »Wir sind da.« Die<br />
innere Spannung, die Gertrud schon den ganzen Tag<br />
über gespürt hatte, wurde stärker, als sie die drei Stufen<br />
zur Haustür hinaufgingen und dann in den kühlen,<br />
dämmrigen Flur eintraten. »Wir müssen ganz nach<br />
oben, vier Treppen rauf. Marcels Atelier <strong>ist</strong> unter dem<br />
Dach«, sagte Anni.<br />
147
Mit einem Gefühl gesteigerter Erwartung, in das sich<br />
Neugier, aber gleichzeitig auch Unsicherheit und ein<br />
bisschen Angst vor dem Unbekannten mischte, folgte<br />
Gertrud <strong>der</strong> Freundin. Sie waren noch nicht ganz oben,<br />
da schallte ihnen laute Jazzmusik entgegen. Anni drehte<br />
sich zu Gertrud um: »Das Fest <strong>ist</strong> schon in vollem<br />
Gange, aber wir haben noch nichts versäumt. Komm.«<br />
Sie öffnete die Tür – und Gertrud blieb überrascht auf<br />
<strong>der</strong> Türschwelle stehen. Verwirrt starrte sie in den<br />
riesigen Raum mit vier großen Dachfenstern, durch die<br />
man geradewegs in den Himmel blicken konnte. Was<br />
für ein Chaos, was für ein Durcheinan<strong>der</strong>! Welch ein<br />
Gegensatz zu <strong>der</strong> stillen Straße! Sie bemühte sich,<br />
Einzelheiten zu erfassen. Verwun<strong>der</strong>t sah sie, wie einige<br />
<strong>der</strong> Gäste auf <strong>der</strong> freien Fläche in <strong>der</strong> Mitte ihre Glie<strong>der</strong><br />
verrenkten. So kann man also auch tanzen, dachte sie.<br />
Na ja, zu <strong>der</strong> schrillen Musik passt das. Ihr Blick<br />
wan<strong>der</strong>te weiter über die Kissen und Polster, die<br />
rundherum auf dem Boden verteilt waren, über die<br />
Mädchen und die jungen Männer, die es sich darauf<br />
bequem gemacht hatten, rauchend, trinkend,<br />
miteinan<strong>der</strong> schwatzend. Die Luft war dunstig von<br />
Zigarettenqualm, und die Jazzmusik hämmerte in ihren<br />
Ohren. Das <strong>ist</strong> nichts für mich, hier gehöre ich nicht hin!<br />
Sie wollte am liebsten davonlaufen. Da gab Anni ihr<br />
einen leichten Klaps auf den Rücken. »Komm, o<strong>der</strong><br />
willst du ewig hier stehen bleiben?«<br />
»Hallo, da kommt ja unsere Lehrerin«, rief ein junger<br />
Mann Anni entgegen.<br />
»Pädagogin, bitte, Raoul. Sie studiert doch<br />
Pädagogik«, sagte eine große, schlanke Blondine mit<br />
einem vielsagenden Augenaufschlag.<br />
148
»Was für einen Paradiesvogel hast du denn da<br />
mitgebracht? Komm, Kleine, lass dich mal ansehen. Süß<br />
siehst du aus.« Er legte Gertrud seine Hände auf die<br />
Schultern und drehte sie zu sich hin. Gertrud fühlte, wie<br />
sie errötete, und senkte für einen Moment scheu ihren<br />
Blick. Aber dann sah sie ihr Gegenüber neugierig an und<br />
schaute in zwei übermütig blitzende blaue Augen unter<br />
einem wuscheligen blonden Haarschopf. Halb<br />
schüchtern, halb kokett lächelte sie ihm zu. Mit einem<br />
aufmunternden Blinzeln fasste <strong>der</strong> junge Mann Gertruds<br />
Arm und wollte sie mit sich fortziehen.<br />
»Finger weg, Raoul! Die <strong>ist</strong> nichts für dich.« Anni<br />
gab ihm lachend einen Klaps auf die Hand.<br />
»Na, na, nicht so streng, Frau Oberlehrerin. Aber<br />
nachher tanzen wir zusammen, ja, schöne Goldmarie?«<br />
Das <strong>ist</strong> wohl eine Anspielung auf mein Kleid, dachte<br />
Gertrud. Sie sah an sich herunter und stellte fest, dass ihr<br />
gelbes Kunstseidenkleid in <strong>der</strong> schummrigen<br />
Beleuchtung einen matten Goldglanz bekommen hatte.<br />
»Holen wir uns was zu trinken, hier bedient sich je<strong>der</strong><br />
selbst.« Anni nahm Gertrud mit sich fort zu einem<br />
langen, schmalen Tisch, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Wand aufgestellt<br />
war. »Das <strong>ist</strong> eigentlich ein Arbeitstisch, aber heute wird<br />
er zweckentfremdet als Bar benutzt.« Sie deutete auf die<br />
vielen Flaschen. Zwischen Wein-, Sekt- und<br />
Bierflaschen sah Gertrud auch an<strong>der</strong>e, die sie nicht<br />
kannte. Neugierig griff sie nach einer solchen Flasche<br />
und wollte sich ein Glas einschütten, doch Anni hielt sie<br />
zurück: »Damit würde ich nicht gerade anfangen. Trink<br />
ein Glas Moselwein, <strong>der</strong> <strong>ist</strong> süffig. Marcel bekommt ihn<br />
von seinem Onkel, <strong>der</strong> hat ein Weingut.« Die beiden<br />
149
Mädchen schenkten sich Wein ein und nahmen auch<br />
von den Häppchen, die auf dem Tisch standen.<br />
»Hallo, Anni, kommt zu uns!« Ein Mädchen mit<br />
einem lustigen Gesicht, dem die braunen Locken keck<br />
in die Stirn fielen, winkte ihnen zu. Der blonde Junge an<br />
ihrer Seite wirkt ein bisschen schüchtern, dachte<br />
Gertrud, und fühlte Sympathie für ihn. Er scheint sich<br />
hier auch nicht ganz wohl zu fühlen. Ihr war zumute, als<br />
sei sie ohne Übergang, von einem Augenblick zum<br />
an<strong>der</strong>en, in eine fremde, schillernde Welt versetzt<br />
worden. Diese Welt faszinierte sie, aber sie fürchtete<br />
sich auch ein bisschen davor. Sie fühlte sich unsicher<br />
und sehnte sich nach ihrem geordneten Zuhause, nach<br />
dem Schutz ihrer bürgerlichen Familie. Gleichzeitig<br />
spürte sie jedoch in sich einen Hunger nach neuen<br />
Erlebnissen, nach Abenteuern und die Bereitschaft, sich<br />
auf das Ungewöhnliche einzulassen, auch wenn es mit<br />
Risiken verbunden war. Wenn sie die ausgelassenen<br />
Tänzer ansah, dann erfüllte sie eine prickelnde Lust, sich<br />
unter sie zu mischen und es ihnen gleichzutun. Doch<br />
irgendetwas in ihrem Innern hielt sie auf ihrem Sitz fest.<br />
Sie nippte an ihrem Wein und sah zu dem Paar hinüber,<br />
das sich in einer Ecke eng umschlungen hielt. Das<br />
Mädchen hatte sein Kleid halb heruntergestreift, sodass<br />
<strong>der</strong> Busen zu sehen war. Dass sie sich nicht geniert!!<br />
Empörung stieg in Gertrud auf. Sie runzelte die Stirn<br />
und zog die Mundwinkel verächtlich nach unten, sodass<br />
ihr Gesicht einen abweisenden Ausdruck bekam. Doch<br />
dann glätteten sich ihre Züge wie<strong>der</strong>, und ein Lächeln<br />
spielte um ihre Lippen. Das <strong>ist</strong> ein völlig an<strong>der</strong>es Leben!<br />
So frei, so ohne Zwang! Je<strong>der</strong> gibt sich, wie er <strong>ist</strong>, keiner<br />
verstellt sich, alle sind fröhlich, genießen das Leben.<br />
Warum muss man es sich immer so schwer machen wie<br />
150
Vater? Es lebt sich doch viel leichter mit ein bisschen<br />
Lustigsein, ein bisschen Spaß. »Bohème-Milieu« würde<br />
Vater sagen, und <strong>der</strong> Ausdruck seiner Augen und <strong>der</strong><br />
Tonfall seiner Stimme würden voller Verachtung sein.<br />
Wenn er gewusst hätte, wohin ich gehe, dann hätte er es<br />
mir bestimmt verboten. Aber warum? Hat man nicht<br />
auch ein Recht darauf, einmal zu lachen, zu tanzen,<br />
Wein zu trinken und fröhlich zu sein? Sie betrachtete das<br />
Mädchen, das<br />
151
ihr gegenüber saß. Es trug ein grellbuntes Kleid mit<br />
einem tiefen Dekolleté. Ziemlich gewagt, ich würde so<br />
etwas nicht anziehen. Aber sie hat eine gute Figur, und<br />
mit dem schwarzen Haar und dem dunklen Teint sieht<br />
sie wie eine Zigeunerin aus.<br />
Eine neue Platte wurde aufgelegt. »Komm, kleine<br />
Mimi, jetzt tanzen wir Shimmy.« Raoul zog Gertrud am<br />
Arm mit sich fort, ehe Anni protestieren konnte. Gertrud<br />
kannte diesen Tanz nicht. Raoul erklärte ihr, dass er aus<br />
Amerika stamme. »Ein ganz neuer Tanz!« Wie<strong>der</strong><br />
dieses Blitzen in seinen Augen, das ihr so ein<br />
merkwürdiges Kribbeln verursachte. Mit festem Griff<br />
wirbelte er sie herum, sodass sie Angst hatte, den Boden<br />
unter den Füßen zu verlieren.<br />
Anni rief ihr im Vorbeitanzen zu: »Das <strong>ist</strong> was<br />
an<strong>der</strong>es als das langweilige Gedudel beim Tanztee,<br />
findest du nicht auch?« Die letzten Worte gingen in<br />
einer rasanten Drehung unter. Gertrud fühlte sich wie<br />
berauscht.<br />
Plötzlich ließ Raoul Gertrud los. Sie blieb<br />
erschrocken mitten auf <strong>der</strong> Tanzfläche stehen und sah<br />
ihm verwun<strong>der</strong>t nach. Er stellte das Grammophon ab,<br />
stieg auf einen Stuhl und fing an zu deklamieren:<br />
jolifanta bambla<br />
o falli bambla<br />
grossige m'pfa babla horem<br />
egiga goramen<br />
Mit großen Gesten unterstrich er seine Worte, so, als<br />
hätte er etwas äußerst Bedeutungsvolles zu sagen.<br />
Inzwischen waren alle aufmerksam geworden. Ein paar<br />
152
Mädchen riefen lachend »Aufhören, Raoul!«, an <strong>der</strong>e<br />
klatschten bege<strong>ist</strong>ert Beifall.<br />
»Er heißt eigentlich Otto, aber er nennt sich Raoul<br />
nach seinem großen Vorbild Raoul Hausmann«, erklärte<br />
Anni Gertrud mit einem spöttischen Lächeln.<br />
Inzwischen hatte sich eine kleine Gruppe um Raoul<br />
versammelt, <strong>der</strong> immer noch auf seinem Stuhl stand.<br />
Alle redeten gleichzeitig auf ihn ein.<br />
»Dada <strong>ist</strong> doch Unsinn, schon <strong>der</strong> Name bedeutet<br />
nichts, ein Zufall!« Eine laute Stimme übertönte die<br />
an<strong>der</strong>en. Gertrud blickte in die Richtung, aus <strong>der</strong> sie<br />
kam, und entdeckte einen dicken Mann, dessen<br />
gewaltiger Bauch über <strong>der</strong> Hose hing. Sein Hemd war<br />
aus dem Hosenbund herausgerutscht. Angewi<strong>der</strong>t<br />
dachte sie: Wie nachlässig! Aber es scheint ihn nicht zu<br />
stören.<br />
»<strong>Im</strong> Französischen heißt es immerhin<br />
›Steckenpferd‹, Guido«, konterte Raoul und unterstrich<br />
seine Worte mit ausgestrecktem Zeigefinger, »im<br />
Rumänischen heißt es ›Jawohl, wirklich, so machen<br />
wir's‹, im<br />
Deutschen ...«<br />
»Babysprache«, unterbrach ihn lachend ein<br />
rothaariges Mädchen in einem engen schwarzen Kleid.<br />
»Babysprache <strong>ist</strong> es im Deutschen, nichts an<strong>der</strong>es.« Sie<br />
schien sich über Raoul lustig zu machen.<br />
»Es heißt ›Ich pfeif drauf, rutsch mir den Buckel<br />
runter‹«, rief jemand aus einer an<strong>der</strong>en Ecke herüber.<br />
Künstlervolk, ging es Gertrud durch den Kopf,<br />
Künstlervolk würde Vater missbilligend sagen.<br />
153
»Dada <strong>ist</strong> die einzig mögliche Lebensform ... sich<br />
von den Dingen werfen lassen ... nein sagen und lachen<br />
... lachen über den gewaltigen Hokuspokus des Daseins<br />
...«, hörte sie jetzt einen schlanken, blassen jungen<br />
Mann mit dunkler Hornbrille sagen, den sie bisher noch<br />
nicht beachtet hatte.<br />
»Über die Wirklichkeit kann man nicht lachen ...«<br />
»Der Künstler muss politisch denken und sich<br />
engagieren ...«<br />
Wie kann jemand diesen Quatsch überhaupt ernst<br />
nehmen, dachte Gertrud, hörte aber doch interessiert<br />
weiter zu.<br />
»Ha, sich totschießen lassen für eine fragwürdige<br />
Nation ... für das Vaterland ... Was <strong>ist</strong> denn das, das<br />
Vaterland? Wie können wir es lieben, wenn es unsere<br />
Arme und Beine, unser Leben verlangt in einem<br />
unsinnigen Krieg?« Das war Raoul mit seinem<br />
ungestümen Temperament. Er war inzwischen von<br />
seinem Stuhl heruntergekommen und hatte sich unter<br />
die an<strong>der</strong>en gemischt.<br />
»Damit das nicht wie<strong>der</strong> passiert, müssen wir uns<br />
engagieren. Wie, das haben uns Max Beckmann und<br />
George Grosz gezeigt mit ihren Bil<strong>der</strong>n. Sie malten den<br />
Krieg, wie er wirklich <strong>ist</strong>.« Gertrud horchte auf. Welch<br />
sympathische Stimme!<br />
»Und es wird wie<strong>der</strong> so kommen, Marcel, wenn wir<br />
das Bürgertum nicht endlich aus seinem sanften<br />
Schlummer aufwecken, mit Posaunengedröhn:<br />
Zumba, zamba<br />
Buliamba<br />
154
Ein Mädchen hielt ihm den Mund zu. »Lasst uns<br />
lieber tanzen, Raoul, ver<strong>der</strong>bt uns nicht die Stimmung!«<br />
Aber ihr Einwand ging in dem allgemeinen Gerede un<br />
ter.<br />
»Nachdem die bürgerliche Ordnung ins Chaos<br />
geführt hat, wollen wir Chaos in die Ordnung bringen.<br />
Die Gesellschaft <strong>ist</strong> krank. Ein neuer Mensch muss<br />
geschaffen werden ...«<br />
Gertrud war erstaunt. Wie kann jemand im Ernst<br />
wünschen, Chaos in die bürgerliche Ordnung zu<br />
bringen, und sich dann auch noch einbilden, so könne<br />
ein neuer Mensch entstehen? Aber sie schien nicht allein<br />
so zu denken.<br />
»Wie wollt ihr mit Chaos einen neuen Menschen<br />
schaffen? Man lacht doch nur über euch, nimmt euch<br />
nicht ernst ...«, rief das rothaarige Mädchen dazwischen,<br />
das sich vorhin über Raoul lustig gemacht hatte.<br />
»Die Menschen werden uns noch ernst nehmen,<br />
wenn sie anfangen zu denken«, sagte Raoul mit<br />
Überzeugung.<br />
Aber das tun sie doch, die Menschen machen sich<br />
Gedanken. Gertrud erinnerte sich an ihren Vater und<br />
ihren Bru<strong>der</strong> und an die Auseinan<strong>der</strong>setzungen, die es<br />
gegeben hatte. Sie machen es sich wirklich nicht leicht.<br />
»Die Menschen werden euch als Provokateure<br />
einsperren!«, rief wie<strong>der</strong> jemand von hinten.<br />
»Dada <strong>ist</strong> die einzig wirkliche Kunstform ... getragen<br />
vom spontanen Einfall ... Es lebe die Spontaneität ...<br />
nicht gegängelt und verstümmelt von Regeln,<br />
Vorschriften und Prinzipien ...«<br />
155
Raoul redet sich ja richtig in Bege<strong>ist</strong>erung, dachte<br />
Gertrud. Ihr schwirrte <strong>der</strong> Kopf. Sie verstand nicht recht,<br />
dass alle sich <strong>der</strong>artig ereiferten. Diese Gedanken, diese<br />
Ideen ... Sie waren so fremd und ungewohnt für sie.<br />
Müssen nicht Regeln und Vorschriften sein? Aber wie<br />
oft habe ich mich selbst innerlich aufgelehnt gegen<br />
Vaters strenge Prinzipien. Wie eingeengt fühlte ich<br />
mich dadurch. Es <strong>ist</strong> vielleicht etwas Wahres dran an<br />
dem, was sie sagen. Ihr geordnetes Dasein wurde ihr auf<br />
einmal fragwürdig. Fasziniert hörte sie weiter zu.<br />
»Dada <strong>ist</strong> <strong>mehr</strong> ... es <strong>ist</strong> ein Ge<strong>ist</strong>eszustand ... <strong>der</strong><br />
einzige, mit dem es sich leben lässt ... Weg mit<br />
Begriffen wie Moral, Ehre, Freiheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit ...<br />
Wohin haben sie uns geführt? Nach <strong>der</strong> Wirklichkeit des<br />
Krieges sind sie nur noch ein Skelett von<br />
Konventionen.«<br />
»Aber was wollt ihr an die Stelle setzen? Etwa euer<br />
Dada-Gestammel? Hört doch auf!«<br />
»Wovon wollt ihr denn leben? Nur von Spontaneität,<br />
von <strong>der</strong> ›einzig wirklichen Kunstform‹, von einem<br />
›Ge<strong>ist</strong>eszustand‹ kann man nicht ex<strong>ist</strong>ieren. Ihr könnt ja<br />
noch nicht mal das Papier für eure sogenannten<br />
›Gedichte‹ und Farben, Pinsel und Leinwand bezahlen.«<br />
»Wir leben, das <strong>ist</strong> uns genug. Und es hat sich noch<br />
immer jemand gefunden, <strong>der</strong> für uns bezahlt hat. Sonst<br />
leben wir eben auf Pump.«<br />
Auf Pump leben! Gertrud war schockiert.<br />
»Ihr macht es euch leicht ...«<br />
»Legt doch eine neue Platte auf, Schluss mit dem<br />
Gequassel. Lasst uns wie<strong>der</strong> tanzen.«<br />
156
Ein paar Mädchen gingen zum Grammophon, aber<br />
plötzlich standen drei <strong>der</strong> eifrigsten Dada-Verfechter<br />
auf Stühlen und fingen gleichzeitig an zu deklamieren.<br />
Mit einer würdevollen Haltung und ernstem<br />
Gesichtsausdruck gaben sie sich den Anschein, als<br />
hätten sie et was Bedeutendes zu sagen. Gertrud konnte<br />
kein Wort verstehen.<br />
»Das nennen sie ein ›simultan<strong>ist</strong>isches Gedicht‹. Sie<br />
wollen damit zeigen, das auch im Leben das me<strong>ist</strong>e<br />
nebeneinan<strong>der</strong> und nicht nacheinan<strong>der</strong> geschieht«,<br />
erklärte Anni <strong>der</strong> verwun<strong>der</strong>ten Gertrud, die die drei mit<br />
offenem Mund anstarrte. »Aber man versteht natürlich<br />
nichts. Sie sind alle ein bisschen verrückt.«<br />
Doch dann schlug die Stimmung um, und es wurde<br />
wie<strong>der</strong> getanzt.<br />
Marcel näherte sich Gertrud. »Nun wird es aber <strong>Zeit</strong>,<br />
dass ich auch einmal mit unserem schönen neuen<br />
Gast tanze.«<br />
Galant nahm er ihren Arm und führte sie zur<br />
Tanzfläche. Er hatte weiches, leicht gewelltes<br />
schwarzes Haar, sehr dunkle Augen und einen<br />
bräunlichen Teint. Über <strong>der</strong> Oberlippe trug er ein<br />
kleines Bärtchen, das ihn verführerisch erscheinen ließ.<br />
Marcel tanzte gut, nicht so wild wie die me<strong>ist</strong>en<br />
an<strong>der</strong>en. Er führte sie mit sicheren Schritten. Hautnah<br />
spürte sie seinen geschmeidigen, biegsamen Körper, <strong>der</strong><br />
sich je<strong>der</strong> Schwingung <strong>der</strong> Musik anzupassen schien.<br />
Sie fühlte sich geborgen in seinen Armen, gleichzeitig<br />
erregte sie seine Nähe. Es wurde ein Tango gespielt, und<br />
sie wünschte, dass dieser Tanz nie zu Ende gehen möge.<br />
157
Aber er ging zu Ende, und Marcel wurde zu einer<br />
an<strong>der</strong>en Gruppe gerufen.<br />
Gertrud setzte sich zu Anni und sah ihrem Tänzer<br />
nach. Anni bemerkte es. »Seine Mutter stammt aus<br />
Südfrankreich, daher <strong>der</strong> französische Name und auch<br />
sein südländisches Aussehen«, erklärte sie Gertrud und<br />
zündete sich eine Zigarette an.<br />
158
»Möchtest du auch eine?« Mit einem anzüglichen<br />
Lächeln hielt ihr ein junger Mann in einem fantasievoll<br />
bestickten Umhang, <strong>der</strong> wie ein japanischer Kimono<br />
aussah, sein Etui hin.<br />
»Danke. Ich rauche zwar nicht, aber warum soll ich<br />
es nicht einmal probieren?« Sie griff nach einer<br />
Zigarette.<br />
»Probier eine an<strong>der</strong>e«, Anni hielt Gertruds Hand<br />
zurück, »für den Anfang sind diese ein bisschen stark.«<br />
Eine dickliche Brünette in einem schulterfreien Kleid<br />
mit langen Fransen am Rock lachte.<br />
»Es <strong>ist</strong> etwas drin ... Wenn du das nicht gewöhnt b<strong>ist</strong>,<br />
kann es dich umwerfen. Aber ich fühle mich gut, wenn<br />
ich ein paar Züge intus habe.«<br />
Sie streckte sich und verdrehte genießerisch die<br />
Augen. Gertrud zog unsicher ihre Hand zurück.<br />
Plötzlich war Marcel wie<strong>der</strong> da und lächelte ihr zu.<br />
»Komm, ich zeige dir meine Bil<strong>der</strong>.« Er führte sie zu<br />
<strong>der</strong> Staffelei, die hinten im Raum stand, und nahm das<br />
Tuch weg. Das Bild zeigte eine Straßenszene. Zwei<br />
grellbunt angezogene Mädchen mit gewöhnlichen,<br />
maskenhaft geschminkten Gesichtern boten sich in<br />
eindeutiger Weise einem eleganten korpulenten Herrn<br />
an, offensichtlich ein Kriegsgewinnler o<strong>der</strong> Schieber.<br />
<strong>Im</strong> Hintergrund war ein Krüppel zu sehen, ein Mann in<br />
abgerissener Soldatenuniform, <strong>der</strong> auf Krücken ging,<br />
weil ihm ein Bein fehlte. Gertrud war betroffen. Sie<br />
konnte nichts sagen. Die Brutalität, mit <strong>der</strong> Marcel ohne<br />
jede Beschönigung die Wirklichkeit dargestellt hatte,<br />
ließ sie erschauern. Sie verstand auf einmal, warum die<br />
Dada<strong>ist</strong>en die Welt verän<strong>der</strong>n wollten. Die Armseligkeit<br />
159
<strong>der</strong> Huren und die selbstgerechte Arroganz des<br />
Schiebertyps auf dem Bild rissen ein Fenster auf, das<br />
bisher für sie verschlossen gewesen war und durch das<br />
sie das Leben noch nicht betrachtet hatte. Sie fühlte sich<br />
elend, wenn sie an ihr behütetes Dasein dachte. Marcel<br />
bemerkte ihre Bestürzung. In sanftem Ton erklärte er:<br />
«Ich will damit auf das Elend aufmerksam machen, das<br />
<strong>der</strong> Krieg angerichtet hat. Früher habe ich an<strong>der</strong>s<br />
gemalt. Aber das rein Ästhetische hat für mich seinen<br />
Sinn verloren. Wir haben als Künstler auch eine<br />
politische Aufgabe. Wir können uns nicht in einen<br />
Elfenbeinturm zurückziehen und alles, was um uns<br />
herum geschieht, nicht zur Kenntnis nehmen. Willst du<br />
meine an<strong>der</strong>en Bil<strong>der</strong> ansehen?«<br />
Gertrud nickte. Sie war beeindruckt, wie ernst und<br />
verantwortungsbewusst Marcel seine Kunst auffasste,<br />
und folgte ihm ins Nebenzimmer. Er zeigte ihr einige<br />
seiner Blätter. Sie waren völlig an<strong>der</strong>s. Gertrud hatte so<br />
etwas noch nie gesehen. Sie hatte nur einmal von<br />
Kubismus gehört im Zusammenhang mit einer<br />
Ausstellung sogenannter »mo<strong>der</strong>ner Maler«, <strong>der</strong>en<br />
Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vater aber skeptisch beurteilte. Er war <strong>der</strong><br />
Ansicht, dass die jungen Künstler sich an den großen<br />
Vorbil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vergangenheit orientieren sollten. Ist<br />
das Kubismus, fragte sie sich, als sie Marcels Bil<strong>der</strong><br />
betrachtete.<br />
»Eine an<strong>der</strong>e Art des Sehens«, erklärte er ihr, »sie<br />
dürfte dir fremd sein. Hast du die Namen Pablo Picasso<br />
o<strong>der</strong> George Braque schon einmal gehört? Diese Art zu<br />
malen reduziert das Sichtbare auf geometrische Formen.<br />
Eine künstlerisch sehr interessante Abstraktion. Aber<br />
kann ich damit die Menschen aufrütteln?<br />
160
Gesellschaftlich etwas verän<strong>der</strong>n? Ich zweifle daran.<br />
Darum werde ich zumindest in <strong>der</strong> nächsten <strong>Zeit</strong> an<strong>der</strong>e<br />
Bil<strong>der</strong> malen.«<br />
»Sie sind hübsch«, sagte Gertrud aus ihren Gedanken<br />
heraus. »Wenn man sich eingesehen hat, an die an<strong>der</strong>e<br />
Sehweise gewöhnt hat, gefallen sie. Die Farben, die<br />
Formen, eine harmonische Komposition. Es <strong>ist</strong> Musik<br />
darin.«<br />
Plötzlich drehte Marcel Gertrud mit einem festen<br />
Griff zu sich herum und drückte sie leidenschaftlich an<br />
sich. »Das hast du schön gesagt, das von <strong>der</strong> Musik. Du<br />
selbst b<strong>ist</strong> Musik, du, wie du dich bewegst, wie du gehst,<br />
wie du tanzt, wie du sprichst, alles an dir <strong>ist</strong> Musik, dein<br />
schönes Gesicht, dein Haar, dein Körper. « Ehe sie<br />
etwas sagen konnte, verschloss er ihren Mund mit einem<br />
glühenden Kuss. Sie hatte ein Gefühl, als würden ihre<br />
Lippen versengt. Seine Hand glitt über ihre Schulter,<br />
den nackten Arm entlang, über den Rücken bis hinunter<br />
zur Taille. Sie war überrascht, verwirrt, gleichzeitig aber<br />
erwachte eine Sehnsucht in ihr, nachzugeben, sich<br />
diesen heftigen Gefühlen zu überlassen, sich dem<br />
Augenblick hinzugeben, ohne an etwas an<strong>der</strong>es zu<br />
denken. Aber als Marcel nach ihrem Busen griff und<br />
versuchte, ihr Kleid zu öffnen, gewann sie ihre<br />
Beherrschung wie<strong>der</strong>. So weit wollte sie das Spiel nicht<br />
treiben. Mit einer entschiedenen Bewegung befreite sie<br />
sich aus seiner Umarmung. Halb verlegen, halb kokett<br />
sagte sie: »Sie sind aber stürmisch.« Dabei sah sie ihn<br />
mit einem unbewusst verführerischen Lächeln an.<br />
»Verzeih mir, aber du gefällst mir so sehr.« Er küsste<br />
ihre Hand und sah ihr in die Augen.<br />
161
»Lassen Sie uns tanzen, es wird gerade eine neue<br />
Platte aufgelegt.« Mit diesen leicht hingeworfenen<br />
Worten ging Gertrud aus dem Zimmer.<br />
Als sie nach Hause kam, war es schon lange nach<br />
Mitternacht. Sie hoffte inständig, dass niemand<br />
aufwachte. Dem Vater hatte sie gesagt, sie sei von Anni<br />
zum Geburtstag eingeladen worden. Wie sollte sie<br />
erklären, dass eine Geburtstagsfeier mit einer<br />
ehemaligen Schulfreundin bis in die frühen<br />
Morgenstunden hinein gedauert hatte? Leise schloss sie<br />
die Tür auf und zog die Schuhe aus. Es war ruhig im<br />
Haus, alles schien zu schlafen. Schnell wischte sie sich<br />
die Schminke vom Gesicht, falls sie doch jemandem<br />
begegnen sollte. Sie huschte in ihr Zimmer und zog<br />
geräuschlos die Tür hinter sich zu. Gott sei Dank,<br />
niemand hat mich bemerkt! Aufatmend begann sie sich<br />
auszuziehen.<br />
Sie konnte lange nicht einschlafen. Ihr war ganz<br />
benommen und schwindlig zumute. Sie fühlte sich wie<br />
berauscht, obwohl sie nur drei Gläser Wein getrunken<br />
hatte. <strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> erlebte sie in ihrer Fantasie den<br />
Abend, sah die unbeschwerte, bunte Gesellschaft vor<br />
sich, hörte die Jazzmusik und das Dada-Gerede, sah<br />
Marcels Bil<strong>der</strong>, spürte seine Arme und Hände auf ihrer<br />
Haut und seinen Kuss auf ihren Lippen. Eine Welle <strong>der</strong><br />
Erregung überflutete ihren Körper. Ich habe es selbst so<br />
weit kommen lassen, weil ich mit ihm allein ins<br />
Nebenzimmer gegangen bin, dachte sie. Aber wollte ich<br />
es vielleicht sogar? War ich neugierig darauf, was<br />
geschehen könnte? Am liebsten würde ich die ganze<br />
sogenannte »gute Erziehung« über Bord werfen und nur<br />
162
meinem Gefühl folgen. Mit diesem Gedanken und<br />
einem glücklichen Lächeln auf den Lippen schlief sie<br />
schließlich ein.<br />
Als sie am nächsten Morgen später als sonst am<br />
Frühstückstisch erschien, war ihr Vater schon<br />
gegangen. Emmy empfing sie mit ernstem Gesicht.<br />
»Sie sind sehr spät nach Hause gekommen«, sagte<br />
sie. »Der Herr Geheimrat hat Sie gehört, er konnte nicht<br />
schlafen.« In ihrem Ton lag eine Spur von<br />
Zurechtweisung. Was nimmt sie sich heraus, dachte<br />
Gertrud unwillig, aber sie schwieg. Fast bittend setzte<br />
Emmy jetzt hinzu: »Sie sollten Ihren Vater nicht<br />
verärgern, Fräulein Gertrud, er hat sich Sorgen um Sie<br />
gemacht.«<br />
Am liebsten hätte sie geantwortet: »Ich bin alt<br />
genug« o<strong>der</strong> »ich weiß, was ich tue« o<strong>der</strong> »ich bin<br />
volljährig, ich muss mir von Vater nichts sagen lassen«,<br />
doch sie schluckte die Worte hinunter. Emmy meinte es<br />
ja gut. Trotzdem! Wie sie diese Bevormundung hasste!<br />
Lustlos begann sie, Honig auf ihr Brötchen zu streichen.<br />
10. November<br />
1919,<br />
vormittag<br />
s<br />
G<br />
estern war wie<strong>der</strong> ein Atelierfest bei<br />
Marcel.<br />
Wie bin ich Anni dankbar, dass<br />
sie mich in ihre Clique aufgenommen hat. So viel Spaß<br />
wie in den letzten Wochen und Monaten habe ich noch<br />
163
nie gehabt! Raoul hat wie<strong>der</strong> eines seiner Dada-<br />
Gedichte vorgetragen, die Gäste im »Fanny« waren<br />
verblüfft und schockiert. Die Gesichter, die sie gemacht<br />
haben! Zum Schreien! Dabei <strong>ist</strong> »Fanny« eine<br />
Weinstube, in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne und aufgeschlossene<br />
Menschen verkehren! Aber dieses scheinbar sinnlose<br />
Spielen mit Lauten und Silben <strong>ist</strong> nichts für jeden.<br />
Und dann neulich im »Künstlerkeller«. War ich<br />
anschließend beschwipst! Der Wein schmeckte aber<br />
auch zu gut. Ein Glück, dass Marcel mich nach Hause<br />
gebracht hat. Er war wie<strong>der</strong> sehr zärtlich. Ich habe es<br />
gern, wenn er mich streichelt. Seine Hände auf meiner<br />
Haut ... ein wun<strong>der</strong>bares Gefühl! Liebe ich ihn? Liebt er<br />
mich? Ich weiß es nicht.<br />
Mein Leben hat sich völlig verän<strong>der</strong>t. So viel gelacht<br />
wie in den letzten Wochen habe ich in all den Jahren<br />
vorher nicht. Die schreckliche Kriegszeit ... die Trauer<br />
um Mutter und Wilhelm ...<br />
Ich mag gar nicht daran denken. Das Leben war so<br />
voller Schwere, die mich fast zu Boden drückte. Auf<br />
einmal <strong>ist</strong> es heiter und beschwingt, manchmal fühle ich<br />
mich wie berauscht!<br />
<strong>Im</strong> Atelier finde ich es immer am schönsten. Alle<br />
sind<br />
so frei und ungezwungen, so offen, keiner verstellt sich.<br />
Die schöne Rita zum Beispiel trug gestern ein schwarzes<br />
Kleid mit einem Rückenausschnitt, <strong>der</strong> bis zur Taille<br />
reichte! Sie war ganz weiß gepu<strong>der</strong>t, hatte sich den<br />
Mund knallrot geschminkt und die Augen schwarz<br />
umrandet. An ihrem Busen steckte eine rote Rose.<br />
Richtig verführerisch sah sie aus! Raoul ließ sie den<br />
164
ganzen Abend nicht aus den Augen. Schließlich<br />
verschwanden die beiden im Nebenzimmer.<br />
Ich finde, in einem Lokal wird man von an<strong>der</strong>en<br />
Leuten gesehen, und daher muss man Rücksichten<br />
nehmen. Aber einige aus <strong>der</strong> Clique, zum Beispiel Raoul<br />
und Kurt, setzen sich darüber hinweg. Es scheint ihnen<br />
Spaß zu machen, bei den übrigen Gästen Anstoß zu<br />
erregen.<br />
Woher sie nur immer Geld haben für ihre Feste? Die<br />
me<strong>ist</strong>en verdienen nichts. Manchmal verkauft einer ein<br />
Bild o<strong>der</strong> veröffentlicht etwas in einer <strong>Zeit</strong>ung, aber das<br />
bringt nicht viel. Marcel wird wohl von seinem Onkel an<br />
<strong>der</strong> Mosel unterstützt, und einige an<strong>der</strong>e haben<br />
vielleicht auch ihre Gönner. Sie müssen es wissen, ich<br />
frage nicht.<br />
Dieses Mal habe ich Vater gesagt, wohin ich gehe.<br />
Was soll's! Ich bin erwachsen, und er glaubt mir meine<br />
Ausreden sowieso nicht <strong>mehr</strong>. Er hat zwar geschimpft,<br />
aber er hat mir nicht verboten auszugehen. Habe ich<br />
nicht ein Recht darauf, fröhlich zu sein und Spaß zu<br />
haben, nach allem, was hinter mir liegt? Ich bin doch<br />
noch jung! Wenn er doch endlich etwas sagen würde,<br />
dachte Gertrud beklommen. Lange halte ich dieses<br />
Schweigen nicht <strong>mehr</strong> aus. Mit klopfendem Herzen saß<br />
sie ihrem Vater an seinem großen Schreibtisch<br />
gegenüber. Ihr Gesicht war blass. Sie hatte das Gefühl,<br />
nicht atmen zu können, als würde sich eine Klammer um<br />
ihre Brust legen, die ihr die Luft abdrückte. Wie stickig<br />
es hier <strong>ist</strong>, ich sollte ein Fenster aufmachen. Sie warf<br />
ihrem Vater einen scheuen Blick zu, wandte die Augen<br />
aber schnell wie<strong>der</strong> ab von seiner undurchdringlichen<br />
Miene. Er sitzt da wie ein Richter. Was habe ich denn<br />
165
getan? Nur, weil ich das Leben ein bisschen genießen<br />
wollte, weil ich mit an<strong>der</strong>en zusammen fröhlich war, soll<br />
ich jetzt eine Strafpredigt bekommen? Was <strong>ist</strong> denn so<br />
schlimm daran? Ihr Blick fiel auf die Adventskerze, die<br />
Emmy fürsorglich auf den Schreibtisch gestellt hatte.<br />
Die Flamme flackerte ein wenig, es folgte ein leises<br />
Kn<strong>ist</strong>ern – das einzige Geräusch in dieser bedrückenden<br />
Stille – , dann stoben zwei o<strong>der</strong> drei kleine Funken zur<br />
Seite, eine zarte blaue Rauchfahne stieg auf, und die<br />
Kerze brannte wie<strong>der</strong> ruhig.<br />
Oertel strich einige Male über seinen Bart und<br />
begann schließlich mit leiser Stimme zu sprechen, in <strong>der</strong><br />
jedoch ein gefährlich drohen<strong>der</strong> Unterton mitschwang.<br />
Gertrud spürte es genau.<br />
»Was Werner mir da heute Morgen erzählt hat, meine<br />
liebe Gertrud, hat mich wahrlich schockiert. Du treibst<br />
dich mit völlig indiskutablen Leuten in zweifelhaften<br />
Lokalen herum. Ein Mädchen aus guter Familie! Was<br />
denkst du dir eigentlich dabei? Weißt du gar nicht, was<br />
sich schickt? Was du unserem guten Ruf schuldig b<strong>ist</strong>?«<br />
Gertrud blickte auf und sah in zwei eisige blaue<br />
Augen. Flüchtig ging ihr durch den Sinn, dass dieselben<br />
Augen sie auch liebevoll ansehen konnten. <strong>Im</strong><br />
Augenblick aber konnte sie das kaum glauben.<br />
»Vater«, begann sie unsicher, »das sind keine<br />
indiskutablen Leute, wie du sie nennst. Es sind<br />
Freunde von Anni, fröhliche, junge Menschen,<br />
Künstler ...«<br />
»Künstler«, unterbrach er sie mit einer ungeduldigen<br />
Handbewegung. Seine Stimme wurde lauter. »Künstler<br />
nennst du das? Wenn ein junger Mann in aller<br />
Öffentlichkeit eine Rede hält zum Thema ›Jesus <strong>ist</strong> uns<br />
166
wurscht‹, nach dem Vorbild dieses obskuren Johannes<br />
Baa<strong>der</strong>? Und das auch noch in <strong>der</strong> Adventszeit? Wenn<br />
deine Freundin Anni die Gesellschaft solcher<br />
Individuen bevorzugt, dann <strong>ist</strong> das ihre Sache. Für<br />
meine Tochter <strong>ist</strong> das kein Umgang, und Anni <strong>ist</strong> sicher<br />
nicht die richtige Freundin für dich.«<br />
»Das war doch nur ein Ausrutscher«, versuchte<br />
Gertrud ihren Vater zu beschwichtigen, »Raoul hatte zu<br />
viel getrunken...«<br />
»Zu viel getrunken!« Empört ließ Oertel seine Hand<br />
auf die Schreibtischplatte fallen. »Ich wünsche nicht,<br />
dass du mit Leuten verkehrst, die zu viel trinken!«,<br />
herrschte er seine Tochter an.<br />
In Gertrud regte sich Wi<strong>der</strong>stand. Er springt mit mir<br />
um, als sei ich immer noch ein Kind, dabei bin ich schon<br />
seit drei Jahren volljährig. Ich habe es nicht nötig, mich<br />
so behandeln zu lassen. Viele Frauen in meinem Alter<br />
sind berufstätig o<strong>der</strong> verheiratet, bestimmen ihr Leben<br />
selbst, und er hält mich immer noch zu Hause fest und<br />
verfügt über mich. Trotz klang mit in ihren Worten, als<br />
sie dem Vater entgegenhielt: »Und übrigens, diese so<br />
genannten ›zweifelhaften Lokale‹, die kennst du ja gar<br />
nicht, darum kannst du sie auch nicht beurteilen. Es <strong>ist</strong><br />
sehr nett da.« Mit herausfor<strong>der</strong>ndem Lächeln und einem<br />
leicht ironischen Unterton in <strong>der</strong> Stimme setzte sie<br />
hinzu: »Außerdem gibt es dort einen hervorragenden<br />
Wein.«<br />
Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine<br />
übereinan<strong>der</strong>, eine aufreizende Bewegung, die ihr aber<br />
nur halb bewusst war.<br />
»Ich bitte mir <strong>mehr</strong> Respekt aus!« Oertel schlug mit<br />
<strong>der</strong> Faust auf den Tisch und sah seine Tochter wütend<br />
167
an. Für einen Moment glaubte er, in ihren Augen ein<br />
triumphierendes Aufblitzen zu erkennen.<br />
Wie<strong>der</strong> schwiegen beide. Oertel starrte vor sich hin<br />
auf die mit Schriftstücken bedeckte Schreibtischplatte,<br />
ohne etwas davon wahrzunehmen. Gertrud hatte die<br />
Augen gesenkt. Sie verkrampfte die Hände in ihrem<br />
Schoß und presste die Finger aneinan<strong>der</strong>, sodass die<br />
Knöchel weiß wurden. Keiner von beiden sah zu dem<br />
an<strong>der</strong>en hin. Schließlich hielt Gertrud die gespannte<br />
Atmosphäre nicht <strong>mehr</strong> aus. In einem versöhnlicheren<br />
Ton wandte sie sich an den Vater: »Unsere Freunde sind<br />
aufgeschlossene junge Leute, an allen aktuellen<br />
Problemen interessiert, sie sind ge<strong>ist</strong>reich, witzig,<br />
amüsant, man kann mit ihnen unbeschwert fröhlich sein.<br />
Es sind eben mo<strong>der</strong>n denkende Menschen.«<br />
»Das kennt man ja«, sagte Oertel bissig. »Mo<strong>der</strong>ne<br />
Ansichten! Kommun<strong>ist</strong>isches Gedankengut, lockere<br />
Moralvorstellungen – das alles bezeichnet man heute als<br />
mo<strong>der</strong>n. Künstler sind da beson<strong>der</strong>s anfällig. Such dir<br />
deine Freunde in unseren Kreisen, ehe du völlig auf die<br />
schiefe Bahn gerätst. Du wirst dir dein ganzes späteres<br />
Leben ruinieren, wenn du so weitermachst wie bisher.«<br />
Was ich mit meinem Leben anfange, <strong>ist</strong> einzig und<br />
allein meine Angelegenheit, wollte sie aufbegehren.<br />
Doch sie beherrschte sich und hielt den Mund, um den<br />
Vater nicht noch <strong>mehr</strong> zu reizen. Bil<strong>der</strong> stiegen vor<br />
ihrem inneren Auge auf. Diese Söhne und Töchter aus<br />
›unseren Kreisen‹, wie langweilig sind sie doch! Und<br />
die Diners, zu denen ich manchmal eingeladen werde ...<br />
Die ganze <strong>Zeit</strong> muss ich steif auf einem Stuhl sitzen und<br />
mir anhören, wie die Damen über Dienstbotenprobleme,<br />
Kochrezepte und Kin<strong>der</strong>erziehung schwatzen. Und die<br />
168
Herren fachsimpeln über Politik. Wir jungen Leute<br />
dürfen nur brav zuhören und gelegentlich ein paar<br />
belanglose Nettigkeiten von uns geben. Wie an<strong>der</strong>s <strong>ist</strong><br />
doch die lebensprühende Clique um Anni! <strong>Im</strong><br />
Gegensatz dazu kommt mir diese Gesellschaft vor wie<br />
hölzerne Marionettenpuppen.<br />
Oertel sah seine Tochter eine <strong>Zeit</strong> lang ernst an, dann<br />
sagt er ruhig: »Es wird höchste <strong>Zeit</strong>, dass du heiratest<br />
und ein standesgemäßes Leben führst.«<br />
Erschrocken hob Gertrud den Kopf. »Wen soll ich<br />
denn heiraten?«, fragte sie fassungslos.<br />
Plötzlich bekamen die eisigen blauen Augen einen<br />
liebevollen Ausdruck. »Wenn du erst einmal eine<br />
Familie hast, einen Mann und Kin<strong>der</strong>, dann wirst du<br />
glücklich sein. Dann denkst du nicht <strong>mehr</strong> daran, dir<br />
Zerstreuung und Vergnügungen in Künstlerkreisen zu<br />
suchen, die es mit <strong>der</strong> Moral nicht so genau nehmen.«<br />
»Aber ich kann doch nicht irgendjemanden heiraten,<br />
bloß um versorgt zu sein und ein bürgerliches Leben zu<br />
führen!« Ungläubig starrte sie ihren Vater an. Der Klang<br />
ihrer Stimme war voller Protest, aber im Ausdruck ihrer<br />
Augen lag die unausgesprochene Frage: Ist das dein<br />
Ernst? Verlangst du das wirklich von mir?<br />
Oertel stand auf und ging um den Schreibtisch<br />
herum zu seiner Tochter. Er strich ihr zärtlich über<br />
das Haar. Gertrud war ganz verwirrt über diesen<br />
plötzlichen Sinneswandel. Eben hatte <strong>der</strong> Vater ihr<br />
noch die heftigsten Vorwürfe gemacht, und auf<br />
einmal war er so freundlich zu ihr, als sei gar nichts<br />
gewesen. Erstaunt sah sie zu ihm auf. Manchmal <strong>ist</strong><br />
er wirklich schwer zu verstehen, dachte sie.<br />
169
»Wir werden einen Mann finden, mit dem du eine<br />
glückliche Ehe führen kannst.« Damit war die<br />
Unterredung für ihn beendet.<br />
Die letzten Worte ihres Vaters klangen in ihren<br />
Ohren nach, als sie das Studierzimmer verließ. Wen soll<br />
ich denn heiraten? Es gibt niemanden, den ich so liebe,<br />
dass ich mit ihm ein Leben lang zusammen sein möchte<br />
– vielleicht Marcel, aber <strong>der</strong> <strong>ist</strong> nichts zum Heiraten. Er<br />
führt ein unruhiges Dasein und verdient nicht viel. Eine<br />
Familie muss doch auch eine Ex<strong>ist</strong>enzgrundlage haben.<br />
Ihre Augen bekamen einen nachdenklichen Ausdruck.<br />
Ist die Ehe wirklich das höchste Glück für eine Frau, wie<br />
immer gesagt wird? Wäre ich da nicht genauso abhängig<br />
von meinem Mann, wie jetzt von Vater? Warum <strong>ist</strong> das<br />
Leben nur so kompliziert. »Willkommen in meinem<br />
bescheidenen Heim!«<br />
Josua Goltstein streckte mit <strong>der</strong> ihm eigenen offenen<br />
Herzlichkeit seinen Gästen beide Hände entgegen, um<br />
sie zu begrüßen, nachdem das Hausmädchen ihnen die<br />
Mäntel abgenommen hatte.<br />
»Ich danke Ihnen, dass Sie mir einen Blick in Ihr<br />
Allerheiligstes gestatten«, sagte Oertel schmunzelnd.<br />
»Nicht <strong>der</strong> Rede wert«, meinte Goltstein mit einem<br />
abwehrenden Lächeln. »Sie werden sehen, dass mein<br />
kleines Labor im Keller in keiner Weise mit<br />
entsprechenden Einrichtungen an <strong>der</strong> Hochschule<br />
konkurrieren kann.«<br />
»Nein, nein, seien Sie nicht zu bescheiden.« Oertel<br />
sah seinen Gastgeber mit einem Blick an, in dem<br />
aufrichtige Bewun<strong>der</strong>ung lag. »Dass ein Kaufmann wie<br />
Sie sich mit chemischen Experimenten beschäftigt, das<br />
170
<strong>ist</strong> schon etwas Beson<strong>der</strong>es. Und dann noch<br />
wissenschaftlich so fundiert! Ich habe mit großem<br />
Interesse Ihre Veröffentlichungen gelesen, und Ihr<br />
Vortrag neulich hat mich sehr beeindruckt.<br />
Kompliment!«<br />
»Mein kleines Hobby. Sonst wäre die Tätigkeit eines<br />
Kaufmanns doch zu eintönig.« Goltstein schien über das<br />
Lob aus dem Munde von Oertel, <strong>der</strong> zurzeit Rektor <strong>der</strong><br />
Hochschule war und als Wissenschaftler einen<br />
ausgezeichneten Ruf besaß, fast ein wenig verlegen.<br />
Dann machte er eine einladende Handbewegung hin zur<br />
offenen Tür des Salons.<br />
Oertel und Gertrud waren zum Tee bei Goltsteins<br />
eingeladen, doch Gertrud war dieser Einladung mit<br />
gemischten Gefühlen gefolgt. Sie vermutete, dass ihr<br />
Vater zwischen ihr und Philipp, dem ältesten Sohn <strong>der</strong><br />
Goltsteins, eine Beziehung anbahnen wollte. Ich kenne<br />
ihn ja, dachte sie. Wir waren zufällig ein paar Mal<br />
zusammen bei gemeinsamen Bekannten eingeladen, da<br />
habe ich ihn getroffen. Er sieht ganz gut aus, groß<br />
gewachsen und blond, und er <strong>ist</strong> nicht unsympathisch,<br />
aber so langweilig, so korrekt und von ›untadeligem<br />
Benehmen‹. Das schätzt Vater sicher an ihm. Doch<br />
wenn ich ihn mit meinen Freunden aus <strong>der</strong><br />
Künstlerclique vergleiche ... Er <strong>ist</strong> völlig ohne Fantasie<br />
und besitzt kein bisschen Originalität. Man bemerkt es<br />
nicht, ob er in einem Raum anwesend <strong>ist</strong> o<strong>der</strong> ob er ihn<br />
gerade verlassen hat. Es geht nichts von ihm aus, was<br />
Aufmerksamkeit erregt. Still und unauffällig hält er sich<br />
me<strong>ist</strong>ens im Hintergrund.<br />
»Ich freue mich, Sie bei uns zu sehen.« Warmherzig<br />
und mit dem Charme <strong>der</strong> weltgewandten Dame begrüßte<br />
171
nun auch Rebecca Goltstein Vater und Tochter. Wie sie<br />
sich kleidet, so elegant und doch dezent, ihr ganzes<br />
Auftreten, das hat etwas, dachte Gertrud. Ihr Blick<br />
streifte den Teetisch, den eine Kr<strong>ist</strong>allvase mit<br />
Orchideen schmückte, und ging dann weiter zu den<br />
antiken Möbeln, den Ölgemälden und den<br />
Orientteppichen, die dem Salon seine beson<strong>der</strong>e Note<br />
verliehen. Sie versteht es, eine kultivierte Atmosphäre<br />
zu schaffen.<br />
Rebecca Goltstein war die Tochter eines<br />
Düsseldorfer Bankiers, und etwas von <strong>der</strong><br />
Weltläufigkeit, <strong>der</strong> Heiterkeit und Eleganz dieser<br />
liebenswürdigen Stadt am Rhein ging auch von ihrer<br />
Persönlichkeit aus. Sie war vollschlank und nicht sehr<br />
groß, aber sie verstand es, sich so geschickt anzuziehen,<br />
dass niemand die kleinen Mängel ihrer Figur bemerkte.<br />
In ihrem grauen Seidenkleid mit dem nur leicht<br />
angedeuteten modischen Tütenrock und einer langen<br />
Perlenkette als einzigem Schmuck war sie eine aparte<br />
Erscheinung. Und wer mit ihr zu tun hatte, in welcher<br />
Angelegenheit auch immer, <strong>der</strong> fühlte sich wohl in ihrer<br />
Gegenwart. Ihre freundliche, offene Art flößte<br />
Vertrauen ein. Sie hatte für jeden einen guten Rat, für<br />
vieles Verständnis, sie ging Meinungsverschiedenheiten<br />
nicht aus dem Weg, aber sie verstand es, sie<br />
diplomatisch beizulegen, ohne dass <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sich<br />
unterlegen fühlen musste.<br />
Philipp kam herein. Er begrüßte Gertrud und ihren<br />
Vater etwas verlegen, dann setzten sich alle an den<br />
Tisch, und Frau Goltstein entließ das Mädchen, das den<br />
Tee gebracht hatte. Sie wollte ihre Gäste selbst<br />
bedienen. Während sie die hauchdünnen<br />
172
Porzellantassen mit dem aromatisch duftenden<br />
englischen Tee füllte, begann Goltstein zu erzählen:<br />
»Als wir neulich in Berlin waren – ich hatte dort<br />
geschäftlich zu tun – , haben wir einen außerordentlich<br />
bemerkenswerten Film gesehen, nicht wahr, Rebecca?«<br />
»Ja, 'Das Cabinet des Dr. Caligari'.« Frau Goltstein<br />
blickte auf und sprach lebhaft weiter: »Er hat großes<br />
Aufsehen erregt. Diese skurrilen, geradezu<br />
albtraumhaften Bil<strong>der</strong>! Nie zuvor habe ich etwas<br />
Derartiges gesehen. Es <strong>ist</strong> eine Fantasiewelt, aber sie<br />
kann einem Angst machen. Werner Krauss als Dr.<br />
Caligari war großartig, aber das Ganze <strong>ist</strong> eine<br />
unheimliche Geschichte. In New York soll man gesagt<br />
haben, die Deutschen sind wegen des verlorenen<br />
Krieges verrückt geworden.«<br />
»Ein Horrorfilm, ich habe davon gehört«, sagte<br />
Oertel und nahm einen Schluck aus seiner Teetasse.<br />
»Ich weiß nicht, ob die Aufhebung <strong>der</strong> Zensur eine<br />
glückliche Entscheidung war. Früher wurde sicher zu<br />
streng zensiert, aber was heute alles erlaubt <strong>ist</strong> – man<br />
denke nur an das Theater, das ›klassenkämpferisch<br />
orientiertes Tribunal‹ sein will, wie Piscator zu<br />
verstehen gab, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu<br />
erneuern. O<strong>der</strong> an sogenannte ›Dramatiker‹ wie Ernst<br />
Toller, <strong>der</strong> seine Stücke den Proletariern widmet, ein<br />
Kommun<strong>ist</strong>! Und dann diese ›Dada<strong>ist</strong>en‹!« Er blickte<br />
kurz mit einem strengen Ausdruck in den Augen zu<br />
Gertrud hinüber, die daraufhin errötend den Kopf<br />
senkte. »Dieses sinnlose Silbengestammel ... diese<br />
Ideen vom Chaos, das sie in die Gesellschaft bringen<br />
wollen, um angeblich damit die Welt zu verbessern ...«<br />
173
»Die Jugend.« Ein nachsichtiges Lächeln spielte um<br />
Frau Goltsteins Lippen. »Zu allen <strong>Zeit</strong>en hat die jüngere<br />
Generation gegen die ältere rebelliert, auf die eine o<strong>der</strong><br />
an<strong>der</strong>e Art und Weise. Und wenn sie auch über das Ziel<br />
hinausschießen, indem sie alles in Frage stellen ... Sie<br />
sind so voller Lebendigkeit, ein gutes Gegengewicht zu<br />
erstarrten Traditionen. Das ge<strong>ist</strong>ige Leben bleibt in<br />
Bewegung, wenn man sich immer wie<strong>der</strong> mit ihnen<br />
auseinan<strong>der</strong>setzt.«<br />
Oertel sah sie zweifelnd an und zuckte mit den<br />
Schultern. »Ich weiß nicht, ob das die richtige Art und<br />
Weise <strong>ist</strong>, das ge<strong>ist</strong>ige Leben in Bewegung zu halten.«<br />
»Warten wir es doch erst einmal ab.« Goltstein hob<br />
leicht die Hände und ließ sie wie<strong>der</strong> sinken. Seine<br />
klugen, verständnisvollen Augen blickten Oertel offen<br />
an. »Noch gärt es überall. Der Krieg, die Revolution, das<br />
sind Ereignisse gewesen, die unsere bisherige Welt auf<br />
den Kopf gestellt haben. Was wir jetzt erleben, <strong>ist</strong> die<br />
Reaktion darauf. Mit <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> wird sich alles klären und<br />
glätten. Viele extreme Tendenzen, die uns heute<br />
beunruhigen, werden wie<strong>der</strong> verschwinden. Und<br />
außerdem: Warum soll nicht aus manchem, was uns<br />
heute fremdartig und manchmal sogar beängstigend<br />
erscheint, ein positiver Anstoß für eine künftige<br />
Entwicklung kommen?«<br />
»Wenn ich an die mo<strong>der</strong>nen Maler denke, die sich<br />
völlig abwenden von <strong>der</strong> traditionellen<br />
Kunstauffassung, wie zum Beispiel Picasso, Gris o<strong>der</strong><br />
Braque ...<br />
Kub<strong>ist</strong>en nennen sie sich ... Der Gegenstand, den sie<br />
darstellen wollen, <strong>ist</strong> ja gar nicht <strong>mehr</strong> zu erkennen ...<br />
174
aufgelöst in geometrische Formen ... Woher soll da ein<br />
positiver Anstoß für künftige Entwicklung kommen?«<br />
»Seien Sie nicht so streng, Herr Oertel.« Frau<br />
Goltstein lächelte ihm zu, und Goltstein meinte: »Ich für<br />
meine Person finde es interessant, auch einmal die<br />
Entwicklung solcher Experimente zu beobachten.<br />
Vielleicht führen sie ja in eine Sackgasse, aber wer kann<br />
das heute schon sagen?«<br />
Goltstein war ein liberal denken<strong>der</strong> Mann. Er fühlte<br />
sich als Deutscher, obwohl er Jude war. Seine Familie<br />
lebte schon seit etwa sechshun<strong>der</strong>t Jahren in<br />
Deutschland. Goltsteins feierten die chr<strong>ist</strong>lichen Feste<br />
wie Weihnachten und Ostern genauso wie alle<br />
Deutschen, obwohl sie dem israelitischen Bekenntnis<br />
angehörten. Beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Weihnachtsbaum, <strong>der</strong> mit<br />
zierlichen Glöckchen, Sternen und Engeln aus<br />
mundgeblasenem Glas geschmückt war und an dem<br />
außerdem bunte Zuckerringe und Schokoladenkringel<br />
hingen, rief jedes Jahr das Entzücken aller<br />
Familienmitglie<strong>der</strong> hervor, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />
Goltsteins nahmen teil an <strong>der</strong> deutschen Kultur, liebten<br />
die großen Dichter wie Goethe, Schiller, Lessing o<strong>der</strong><br />
Kle<strong>ist</strong>, verehrten Beethoven, Mozart und an<strong>der</strong>e<br />
bedeutende Kompon<strong>ist</strong>en. Josua Goltstein selbst und<br />
seine Kin<strong>der</strong> hatten eine human<strong>ist</strong>ische Bildung<br />
genossen. Hätte man ihm o<strong>der</strong> einem an<strong>der</strong>en Mitglied<br />
<strong>der</strong> Familie gesagt, sie seien keine Deutschen, seien<br />
Fremdkörper und hätten in Deutschland nichts verloren,<br />
so hätte er nur verwun<strong>der</strong>t den Kopf geschüttelt und den<br />
Sprecher für verrückt gehalten.<br />
Philipp hatte sich nicht an <strong>der</strong> Unterhaltung beteiligt<br />
und nur schweigend seinen Tee getrunken. Ein paar Mal<br />
175
lickte er zu Gertrud hinüber, aber sie beachtete ihn<br />
nicht. Daher war sie fast erschrocken, als er nun das<br />
Wort an sie richtete: »Was denken Sie denn über diese<br />
mo<strong>der</strong>nen Strömungen in <strong>der</strong> Kunst, Fräulein Oertel?«<br />
Etwas verwirrt antwortete sie: »Ach, ich finde das<br />
alles ganz interessant ... Man sollte es vielleicht nicht<br />
gleich verurteilen ... Je<strong>der</strong> kann sich ja seine eigenen<br />
Gedanken machen.«<br />
»Haben Sie nicht neulich anlässlich eines Konzerts in<br />
<strong>der</strong> Hochschule als Pian<strong>ist</strong>in einen großen Erfolg<br />
gehabt?«, wandte sich Frau Goltstein an Gertrud und bot<br />
ihr noch einen von den kleinen Kuchen an, die in einer<br />
silbernen Gebäckschale auf dem Tisch standen. Gertrud<br />
errötete leicht, freute sich aber gleichzeitig über die<br />
anerkennende Bemerkung.<br />
»Ja, ich habe einige Préludes von Chopin und die<br />
'Pathétique' von Beethoven gespielt«, erwi<strong>der</strong>te sie<br />
schlicht.<br />
»Ich bewun<strong>der</strong>e Sie.« Rebecca Goltsteins dunkle<br />
Stimme klang warm und voll. »Ich würde sicher<br />
fürchterliches Lampenfieber haben, ganz abgesehen<br />
davon, dass ich nicht so gut Klavierspielen kann wie Sie.<br />
Ich klimpere nur ein bisschen.«<br />
»Das glaube ich nicht«, sagte Gertrud liebenswürdig,<br />
»ich habe gehört, dass Sie recht gut spielen.« Nach dem<br />
Tee gingen die beiden Herren ins Labor. Die jungen<br />
Leute le<strong>ist</strong>eten Frau Goltstein noch eine Weile<br />
Gesellschaft, dann schlug Philipp vor, er könne Gertrud<br />
den Garten zeigen.<br />
Es war ein sonniger Tag Ende März. Über den<br />
blassblauen Himmel glitten einige kleine Wölkchen wie<br />
176
weiße Boote. Gertrud atmete tief den erquickenden,<br />
herb-würzigen Geruch nach feuchter Erde ein. Die<br />
frische Luft belebte sie, aber gleichzeitig fühlte sie sich<br />
in Philipps Gegenwart ein wenig beklommen. Während<br />
sie schweigend nebeneinan<strong>der</strong> hergingen, betrachtete<br />
sie die Schneeglöckchen und die Krokusse, die die<br />
Rabatten säumten, die schwellenden Knospen <strong>der</strong><br />
Forsythien und die hier und da aus dem Boden<br />
guckenden grünen Spitzen, die ahnen ließen, dass in<br />
wenigen Wochen dort Tulpen und Narzissen blühen<br />
würden. Der Garten war nicht groß, eben ein<br />
Stadtgarten, aber sehr gepflegt. Mit seinen englisch kurz<br />
gehaltenen Rasenflächen, verschiedenen einzeln<br />
stehenden Sträuchern und Bäumen, die sich ohne<br />
störende Nachbarn zu ihrer besten Form entwickeln<br />
konnten und <strong>der</strong> aus hellem Sandstein erbauten Villa<br />
machte das ganze Anwesen einen feudalen Eindruck.<br />
Nur um etwas zu sagen, stellte Gertrud fest: »Ihr Garten<br />
<strong>ist</strong> sehr hübsch.«<br />
»Ihr Garten in Harzburg <strong>ist</strong> sicher viel größer und<br />
schöner«, antwortete Philipp und räusperte sich<br />
verlegen. Gertrud musste unwillkürlich lächeln, doch<br />
sie fasste sich schnell wie<strong>der</strong> und sagte leichthin: »Ja,<br />
aber dort <strong>ist</strong> alles viel weiter zurück als hier. Vor kurzem<br />
lag noch Schnee.«<br />
Die Unterhaltung stockte. Philipp kämpfte gegen<br />
seine Gehemmtheit an. Obwohl er zehn Jahre älter war<br />
als Gertrud, wusste er nicht, wie er sich diesem<br />
eigenwilligen, aparten Mädchen gegenüber verhalten<br />
sollte. Ihre Reserviertheit, die jedoch ihren natürlichen<br />
Charme nicht verleugnen konnte, verunsicherte ihn. Er<br />
setzte ein paar Mal zum Sprechen an, schwieg dann aber<br />
177
doch. Schließlich fragte er Gertrud: »Wir könnten<br />
einmal zusammen ins Theater gehen. Hätten Sie Lust<br />
dazu?« Dabei sah er sie unsicher von <strong>der</strong> Seite an.<br />
»Vielleicht«, antwortete Gertrud knapp.<br />
Philipp bemühte sich, an ihrem Gesicht zu erkennen,<br />
wie sie darüber dachte, aber es drückte keine Regung<br />
aus, we<strong>der</strong> Zustimmung noch Ablehnung. Enttäuscht<br />
wandte er den Blick ab.<br />
Mittlerweile war <strong>der</strong> Rundgang durch den Garten<br />
beendet. Philipp schlug vor, wie<strong>der</strong> ins Haus zu gehen.<br />
»Die Sonne hat zwar schon Kraft, aber <strong>der</strong> Wind <strong>ist</strong><br />
noch kalt. Nicht, dass Sie sich erkälten, Fräulein<br />
Oertel.« Mit einem verlegenen, ein wenig schiefen<br />
Lächeln wollte er ihren Arm nehmen, aber Gertrud<br />
wehrte ihn mit einer spontanen Bewegung ab: »So<br />
schnell erkälte ich mich nicht, aber gehen wir ins Haus<br />
zurück. Die beiden Herren haben das Labor sicher<br />
inzwischen ausreichend besichtigt.«<br />
Goltstein und Oertel saßen schon in angeregtem<br />
Gespräch im Raucherzimmer, je<strong>der</strong> mit einer Zigarre.<br />
Frau Goltstein empfing die jungen Leute mit einem<br />
Sherry.<br />
Kurze <strong>Zeit</strong> später verabschiedete man sich mit dem<br />
Versprechen, sich bald einmal im Oertelschen Hause<br />
wie<strong>der</strong>zutreffen.<br />
»Was hältst du denn von Philipp Goltstein?«, fragte<br />
Oertel seine Tochter auf dem Heimweg. Er bemühte<br />
sich um einen unverfänglichen Ton, aber Gertrud spürte,<br />
dass <strong>mehr</strong> hinter <strong>der</strong> Frage steckte, als <strong>der</strong> Vater ihr<br />
gegenüber zugeben wollte. »Er <strong>ist</strong> ganz nett, aber nichts<br />
Beson<strong>der</strong>es«, sagte sie obenhin.<br />
178
Wenn Gertrud sich später an diese <strong>Zeit</strong> ihres Lebens<br />
erinnerte, hatte sie immer die Vorstellung, als treibe sie<br />
in einem Boot über ein unendliches Meer, steuerlos,<br />
führerlos, von den Wellen davongetragen, ohne Kurs,<br />
ohne Ziel, unter einem dunklen Himmel, von dem kein<br />
Stern zu ihr herableuchtete, um ihr den Weg zu weisen.<br />
Es war ihr gleichgültig, wo sie ankommen würde und ob<br />
sie überhaupt ankommen würde. Sie überließ sich den<br />
Strömungen im Ozean ihres Lebens, ohne einen<br />
Entschluss zu fassen, ohne die Richtung zu bestimmen.<br />
Sie ging weiter mit Anni und ihrer Clique aus und<br />
setzte sich über die missbilligenden Blicke und<br />
gelegentlichen zurechtweisenden Äußerungen des<br />
Vaters hinweg. Von Philipp ließ sie sich ins Theater<br />
begleiten. »Ich habe extra eine Oper ausgesucht. Ich<br />
weiß doch, wie sehr Sie die Musik lieben. ›La Bohème‹<br />
von Puccini ... Ist das das Richtige für Sie?«, hatte er<br />
eifrig gesagt. Gertrud spürte in seinen Worten, wie er<br />
sich um sie bemühte, doch das weckte in ihr<br />
zwiespältige Gefühle. »Wie nett, danke«, antwortete sie<br />
höflich, mied aber seinen Blick.<br />
Kurze <strong>Zeit</strong> später wurden Goltsteins zum Essen<br />
eingeladen, und Gertrud war als Tochter des Hauses die<br />
charmante Gastgeberin. Emmy hat sich wie<strong>der</strong><br />
beson<strong>der</strong>s viel Mühe gegeben, dachte sie. Die Pilzsuppe<br />
aus den im Harz selbstgesuchten Pilzen, das<br />
Kalbsfricandeau mit Leipziger Allerlei scheinen den<br />
Gästen gut zu schmecken. »Aber <strong>der</strong> Nachtisch <strong>ist</strong> <strong>der</strong><br />
Clou!«, meinte Goltstein bege<strong>ist</strong>ert und nahm sich ein<br />
zweites Mal von <strong>der</strong> Welfenspeise. »Ich habe noch nie<br />
so etwas Köstliches gegessen,« stimmte Frau Goltstein<br />
179
ihrem Mann zu. Gertrud unterdrückte ein Schmunzeln.<br />
Sie fühlte sich geschmeichelt, denn Goltsteins waren<br />
Leute, die Ansprüche stellten. Der Mocca wurde<br />
anschließend im Musikzimmer serviert, wo Vater und<br />
Tochter die Gäste mit ihrem Spiel unterhielten. Gertrud<br />
begann mit <strong>der</strong> A-Dur-Sonate von Mozart, dann spielten<br />
sie gemeinsam eine Cellosonate von Brahms. Goltsteins<br />
waren aufmerksame und interessierte Zuhörer, und<br />
Philipp, <strong>der</strong> selbst kein Instrument spielte, zeigte offen<br />
seine Bewun<strong>der</strong>ung für Gertruds Spiel. »Großartig, wie<br />
Sie das können! Aber sicher müssen Sie viel üben! Ist<br />
das nicht langweilig?«, fragte er. Mit einem<br />
schwärmerischen, gleichzeitig naiven Ausdruck in den<br />
Augen sah er sie an.<br />
»Es macht mir Spaß«, antwortete sie leichthin, »und<br />
außerdem habe ich diese Stücke schon oft gespielt.«<br />
»Sie haben es sehr schön hier.« Philipp ließ seinen<br />
Blick durch den Raum schweifen, über den wertvollen<br />
Perserteppich, den antiken Schrank, in dem die Noten<br />
aufbewahrt wurden, den mit Figuren verzierten<br />
Kerzenleuchter, <strong>der</strong> neben dem Flügel stand. »Es<br />
herrscht so eine gemütliche Atmosphäre, dazu das<br />
ausgezeichnete Essen, die schöne Musik, alles so<br />
stilvoll und harmonisch. Sie müssen sich sehr wohl zu<br />
Hause fühlen.«<br />
»Tja.« Es klang wie ein Auflachen, aber auch<br />
gleichzeitig wie ein Seufzen. Gertrud hob die Hände und<br />
ließ sie wie<strong>der</strong> sinken. »Es kann auch ganz schön<br />
langweilig sein. Als ›brave Tochter‹...«, sie verdrehte<br />
die Augen, »... als brave Tochter muss ich dafür sorgen,<br />
dass Vater immer ein frisches Hemd und saubere<br />
Wäsche hat, dass die Zimmerpflanzen gegossen werden<br />
180
und frische Sträuße in den Blumenvasen sind. Ich muss<br />
beim Staubwischen und Silberputzen helfen und<br />
gelegentlich einkaufen. Gewiss, das muss alles getan<br />
werden. Aber dieser Alltagstrott! Manchmal denke ich,<br />
ich halte es nicht <strong>mehr</strong> aus.«<br />
Philipp sah sie mit großen Augen an. »Aber das sind<br />
doch die Aufgaben einer Frau.«<br />
»So? Denken Sie das auch?« Die Schärfe in ihrem<br />
Ton irritierte ihn. »Frauen gehören ins Haus und an den<br />
Herd? Frauen können auch im Beruf etwas le<strong>ist</strong>en, und<br />
das <strong>ist</strong> viel interessanter.«<br />
Gertrud hatte immer lauter gesprochen, sodass Oertel<br />
und Goltsteins einen Augenblick lang verwun<strong>der</strong>t zu ihr<br />
herüber sahen.<br />
Philipp wusste nicht, was er sagen sollte. Unruhig<br />
rutschte er in seinem Sessel hin und her. Dieser<br />
plötzliche Ausbruch war ihm peinlich, er hatte Gertrud<br />
nicht kränken wollen.<br />
Aber sie schlug schon wie<strong>der</strong> versöhnlichere Töne<br />
an. »Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel. Ich fühle mich<br />
nur manchmal ein bisschen eingesperrt. Das<br />
Klavierspiel bedeutet mir unendlich viel. In <strong>der</strong> Musik<br />
kann ich ausdrücken, was mich bewegt. All meine<br />
Gefühle, Freude, Kummer o<strong>der</strong> Schmerz finden darin<br />
ihren Wi<strong>der</strong>hall. Sie nimmt mich mit in ein Land<br />
jenseits des grauen Alltags.« Ein Strahlen lag auf ihrem<br />
Gesicht.<br />
Bald darauf verabschiedeten sich Goltsteins. »Es war<br />
ein wun<strong>der</strong>schöner Abend, herzlichen Dank. Sie müssen<br />
uns bald wie<strong>der</strong> besuchen.«<br />
181
Dies <strong>ist</strong> das Ende <strong>der</strong> Leseprobe von „<strong>Im</strong> <strong>Zwielicht</strong><br />
<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>“.<br />
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