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Im Zwielicht der Zeit - Buch ist mehr - Verlag 3.0

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Ellinor Wohlfeil<br />

<strong>Im</strong> <strong>Zwielicht</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Familiensaga - Roman<br />

ISBN 978-3-944343-10-5 Edition BUCH + eBook<br />

Das dazugehörige eBook (wahlweise als PDF, ePub, mobi<br />

o<strong>der</strong> kindle) bitte per Mail anfor<strong>der</strong>n bei:<br />

service@verlag30.de<br />

© 2013 by <strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong> Zsolt Majsai,<br />

50181 Bedburg, Neusser Str. 23 | http://buch-<strong>ist</strong>-<strong>mehr</strong>.de<br />

Alle Rechte vorbehalten, insbeson<strong>der</strong>e das Recht <strong>der</strong><br />

mechanischen, elektronischen o<strong>der</strong> fotografischen<br />

Vervielfältigung, <strong>der</strong> Einspeicherung und Verarbeitung in<br />

elektronischen Systemen, des Nachdrucks in <strong>Zeit</strong>schriften<br />

o<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>ungen, des öffentlichen Vortrags, <strong>der</strong> Verfilmung<br />

o<strong>der</strong> Dramatisierung, <strong>der</strong> Übertragung durch Rundfunk,<br />

Fernsehen o<strong>der</strong> Video, auch einzelner Text- und Bildteile<br />

sowie <strong>der</strong> Übersetzung in an<strong>der</strong>e Sprachen.<br />

Coverbild: Ellinor Wohlfeil | http://ellinor-wohlfeil.de<br />

Covergestaltung: <strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong> | http://buch-<strong>ist</strong>-<strong>mehr</strong>.de<br />

Satz: <strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong> | http://buch-<strong>ist</strong>-<strong>mehr</strong>.de<br />

Redaktionelle Betreuung:<br />

Hubert Quirbach | http://sprache-und-auge.de<br />

Printed in EU


Bibliografische Information <strong>der</strong> Deutschen Nationalbiblithek<br />

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese<br />

Publkation in <strong>der</strong> Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte<br />

bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de<br />

abrufbar.<br />

Ellinor Wohlfeil<br />

<strong>Im</strong> <strong>Zwielicht</strong> <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

Roman - Familiensaga Teil 1<br />

1912 - 1945<br />

<strong>Verlag</strong> <strong>3.0</strong>


Dem Andenken meiner Mutter


Die handelnden Personen sind frei erfunden, die<br />

Handlung des Romans orientiert sich jedoch an<br />

tatsächlichen Ereignissen.


Erster Teil<br />

G<br />

ertrud war siebzehn, als ihre Mutter starb.<br />

Die Todesursache war Diabetes.<br />

Zehn Jahre später sollte es Insulin geben, das so vielen<br />

Menschen, die an dieser Krankheit litten, ein halbwegs<br />

normales Leben ermöglichte. Aber damals – man<br />

schrieb das Jahr 1912 – waren sie Todeskandidaten.<br />

Gertrud stand wie in Trance am Bett ihrer Mutter und<br />

blickte starr auf <strong>der</strong>en bleiches, wächsernes Gesicht. Sie<br />

war schön, von einer unschuldigen, fast kindlichen<br />

Schönheit. Das braune Haar, das sie sonst <strong>der</strong> Mode<br />

entsprechend hochgesteckt trug, lag in losen Strähnen<br />

auf dem Kissen und umrahmte ihr stilles Antlitz.<br />

Plötzlich meinte Gertrud, sie leise atmen zu hören, zu<br />

sehen, wie sich ihre Brust ganz sacht hob und senkte.<br />

»Sie <strong>ist</strong> nicht tot, sie lebt!!! Die Ärzte haben sich<br />

geirrt!«, wollte sie aufschreien. Ihr war, als<br />

verschwände <strong>der</strong> Boden unter ihren Füßen und die<br />

Wände des Zimmers zögen sich zurück, als schwebe sie<br />

im leeren Raum, nur sie allein mit ihrer Mutter auf dem<br />

Totenbett, allein in einer öden, tiefschwarzen Finsternis.<br />

Sie drohte in einen Abgrund zu stürzen, aber ehe dies<br />

geschah, empfand sie einen ungeheuren Hunger nach<br />

Leben. Er durchzog ihre A<strong>der</strong>n, zerrte an je<strong>der</strong> Faser<br />

ihres Körpers mit übermächtigem Sehnen. Gleichzeitig<br />

spürte sie einen verzehrenden Schmerz, <strong>der</strong> sie<br />

6


auszulöschen schien. »Ich will leben, leben! Ich will<br />

leben!«, schluchzte sie auf und sank am Bett ihrer<br />

Mutter nie<strong>der</strong>. Sie weinte bis zur Erschöpfung. All die<br />

aufgestauten Gefühle des Tages – die verzweifelte<br />

Hoffnung, an die sie sich zunächst geklammert hatte,<br />

das langsame Begreifen <strong>der</strong> Endgültigkeit des<br />

Abschieds, <strong>der</strong> Lebenshunger und <strong>der</strong> unendliche<br />

brennende Schmerz – wurden mit <strong>der</strong> Tränenflut<br />

hinweggeschwemmt.<br />

Später setzte sie sich in den Sessel neben dem Bett<br />

<strong>der</strong> Toten und sank in einen unruhigen Schlaf, <strong>der</strong> von<br />

wirren Träumen begleitet war. Sie sah ihre Mutter, wie<br />

sie sie als Kind oft gesehen hatte, im Sessel sitzend, mit<br />

einer Handarbeit beschäftigt, still, freundlich zu<br />

je<strong>der</strong>mann, liebevoll zu ihren Kin<strong>der</strong>n. Aber ihre<br />

Liebkosungen waren nur flüchtig, sie strich ihren<br />

Kin<strong>der</strong>n leicht über das Haar, tätschelte zart ihre<br />

Wangen o<strong>der</strong> hauchte einen kaum spürbaren Kuss<br />

darauf, so als wolle sie sie nicht zu stark an sich binden,<br />

als ahne sie, dass sie früh von ihnen gehen würde. Sie<br />

vertiefte sich in ihre Stickerei. Unter ihren Händen<br />

entstanden kunstvolle Tischdecken, die man überall im<br />

Haus auf Tischen, Truhen und Kommoden bewun<strong>der</strong>n<br />

konnte. Und noch viele Jahre später, als längst<br />

Kunststoffe und maschinell bedruckte Tücher benutzt<br />

wurden, sollte sich ihre Enkelin Anna daran freuen,<br />

wenn sie diese Kunstwerke bei festlichen Gelegenheiten<br />

aus dem Schrank holte. Sie war immer ein wenig müde,<br />

still und geduldig, je<strong>der</strong> hatte sie gern. Die Krankheit,<br />

die ihr ständiger Begleiter war, ließ sie dem Leben mit<br />

einer gewissen Teilnahmslosigkeit begegnen. Sie liebte<br />

ihre Kin<strong>der</strong>, sie liebte ihren Mann, aber es war ihr<br />

7


stärker als an<strong>der</strong>en Menschen bewusst, dass sie ihr nur<br />

für eine kurze <strong>Zeit</strong>spanne ihres Lebens gegeben waren.<br />

In ihrem Traum war Gertrud wie<strong>der</strong> das kleine<br />

Mädchen, das zu den Füßen <strong>der</strong> Mutter saß und sich<br />

in ihren Rock kuschelte. Doch plötzlich entfernte<br />

sich ihre Mutter auf rätselhafte Weise, sie wurde<br />

durchsichtig, immer kleiner und schien ganz zu<br />

verschwinden. »Mama!«, schrie Gertrud auf, das<br />

Wort ihrer Kin<strong>der</strong>tage benutzend, und erwachte vom<br />

Klang ihrer eigenen Stimme. Sie rieb sich die<br />

Augen. Es dämmerte. Sie fühlte sich verlassen und<br />

allein. So sollte es ihr Leben lang bleiben. In<br />

Stunden tiefer Verzweiflung und<br />

Nie<strong>der</strong>geschlagenheit war sie immer allein.<br />

Gertrud hatte einen Sinn für das Praktische, und sie<br />

hatte die Fähigkeit zu Beherrschung und Disziplin, was<br />

ihr Wesen und ihre Gefühle betraf. Damit konnte sie<br />

später manche Krise in ihrem Leben bewältigen. In <strong>der</strong><br />

gegenwärtigen Situation halfen ihr diese Eigenschaften,<br />

die Trauer und die Ängste <strong>der</strong> Nacht in ihrem Herzen<br />

einzuschließen und sich den Dingen zuzuwenden, die<br />

nun erledigt werden mussten. Sie ging in die Küche, wo<br />

sie Fine, die Hausangestellte, schon am Herd hantieren<br />

hörte.<br />

»Ach, Fräulein Gertrud, mein Beileid«, sagte die Frau<br />

mit unsicherer Stimme und wischte sich mit dem<br />

Schürzenzipfel die Augen. Sie war schon lange in <strong>der</strong><br />

Familie. Gertruds Mutter hatte sie mitgebracht, als sie<br />

vom Rhein nach Braunschweig heiratete. Fine hatte die<br />

Kin<strong>der</strong> aufwachsen sehen. Aus Treue zu ihrer kranken<br />

Herrin hatte sie nie geheiratet. Inzwischen war sie ein<br />

ältliches Mädchen geworden, mit scharfen Zügen und<br />

8


abgearbeiteten Händen, aber ihre Augen waren voller<br />

Güte und Verstehen. Ohne die Hoffnung auf einen<br />

Mann und eigene Kin<strong>der</strong> hatte sie ihre Herrschaft zu<br />

ihrer Familie gemacht.<br />

»Der Herr Geheimrat hat die ganze Nacht Licht in<br />

seinem Zimmer gehabt. Er hat sicher gar nicht<br />

geschlafen«, redete Fine weiter, als sie Gertrud eine<br />

Tasse Kaffee hinstellte. »Der wird Ihnen gut tun,<br />

Fräulein Gertrud. Ach, wie schrecklich, dass die<br />

gnädige Frau so früh sterben musste, mit<br />

neununddreißig Jahren.«<br />

»Ja, Fine, es <strong>ist</strong> für uns alle ein großes Unglück«,<br />

antwortete Gertrud mit einer fast steifen Förmlichkeit.<br />

Man ließ sich vor den Dienstboten nicht gehen, auch<br />

wenn sie schon so lange im Haus waren wie Fine. Das<br />

gehörte sich nicht. »Deck den Frühstückstisch, ich<br />

werde nach meinem Vater und meinem Bru<strong>der</strong> sehen.«<br />

Der Geheime Hofrat Professor Dr. Friedrich Oertel<br />

hatte sich in seine Studierstube zurückgezogen. Wie<br />

betäubt saß er an seinem Schreibtisch. Es gelang ihm<br />

nicht, seine Gedanken zu ordnen. »Ich werde eine<br />

Haushälterin einstellen müssen ... Gertrud <strong>ist</strong> noch zu<br />

jung ... <strong>der</strong> Haushalt ... ich in meiner Stellung habe<br />

Verpflichtungen ... ich muss repräsentieren ...« Dann<br />

überwältigte ihn <strong>der</strong> Schmerz. Wie ein reißen<strong>der</strong> Fluss,<br />

<strong>der</strong> über die Ufer tritt und alle Dämme zerstört,<br />

überflutete er sein Inneres und löschte jede an<strong>der</strong>e<br />

Empfindung aus. Schwach und hilflos fühlte Oertel sich<br />

dem ausgeliefert, was geschehen war. Obwohl er über<br />

die Krankheit immer genau Bescheid gewusst hatte,<br />

konnte er in diesem Augenblick nicht begreifen, dass er<br />

9


seine Frau nun endgültig verloren haben sollte. Nie<br />

<strong>mehr</strong> würde sie ihn anlächeln, nie <strong>mehr</strong> ihre Hand leicht<br />

auf seine Schulter legen, niemals wie<strong>der</strong> mit ihrer<br />

sanften Stimme zu ihm sprechen. Es konnte nicht sein,<br />

es durfte nicht sein! Etwas in ihm wehrte sich mit aller<br />

Macht gegen diese grausame Wahrheit. Sein Kopf sank<br />

vornüber auf die Schreibtischplatte. Tränenloses,<br />

krampfhaftes Schluchzen erschütterte seinen Körper.<br />

So verharrte er lange <strong>Zeit</strong>, ohne etwas denken zu<br />

können, ganz dem Ansturm seiner Gefühle<br />

preisgegeben. Schließlich stand er auf, ging langsam<br />

zum Fenster und öffnete es. Die Nacht war schwül, die<br />

Luft schwer, er meinte, er müsse ersticken. Der Himmel<br />

war wolkenverhangen, kein Stern sandte einen<br />

Lichtschimmer in die Finsternis. In <strong>der</strong> Ferne donnerte<br />

es leise. Ab und zu erhellte Wetterleuchten am Horizont<br />

die Nacht. Vor dem geöffneten Fenster ging ein leichter<br />

Sommerregen nie<strong>der</strong>. Manchmal sprühte er Tropfen in<br />

Oertels Gesicht, aber er konnte dessen heiße Stirn nicht<br />

kühlen.<br />

Dieses Haus am Waldrand – er hatte es für sie gebaut.<br />

Es trug ihren Namen, »Lorenhöhe«. Sie sollte sich hier<br />

ausruhen, erholen, neue Kraft schöpfen. Nun war sie<br />

hier gestorben. Ihm war, als habe er, ohne es zu wissen,<br />

ein Mausoleum für sie erbaut. Lange stand er am Fenster<br />

und starrte in die Dunkelheit. Schließlich setzte er sich<br />

benommen, leer und ausgebrannt wie<strong>der</strong> an seinen<br />

Schreibtisch. Er stützte den Kopf in beide Hände. Er<br />

wusste nicht, wie spät es war, es interessierte ihn nicht.<br />

Er spürte nichts, gar nichts <strong>mehr</strong>, auch nicht den<br />

wütenden Schmerz, <strong>der</strong> sein Innerstes aufgewühlt hatte.<br />

Es war, als sei alles Leben aus ihm gewichen, als sei er<br />

10


mit ihr gestorben. Eine lange <strong>Zeit</strong> saß er so da, bis ihn<br />

plötzlich ein Geräusch aufschreckte.<br />

Mit Erstaunen nahm er wahr, dass Tageslicht ins<br />

Zimmer fiel. Die Tür war leise geöffnet worden. Gertrud<br />

stand im Türrahmen, gefasst, aber mit bleichem,<br />

übernächtigtem Gesicht. Sie ging auf den Vater zu. Eine<br />

Welle von Liebe und Mitgefühl stieg in ihr auf.<br />

Sie wusste, wie sehr er seine Frau geliebt, wie viel er mit<br />

ihr verloren hatte. Ihr eigener Schmerz um die tote<br />

Mutter ließ sie das Leid des Vaters mitfühlen. Sie<br />

schlang zärtlich die Arme um ihn, eine Geste, die es<br />

schon lange nicht <strong>mehr</strong> zwischen ihnen gegeben hatte.<br />

Er ließ es wie selbstverständlich geschehen. Gertrud<br />

konnte sich nicht erinnern, dass ihr Vater sie in den Arm<br />

genommen hatte, seit sie dem Kleinkindalter<br />

entwachsen war. Eine Respekt gebietende Autorität war<br />

immer von ihm ausgegangen, eine d<strong>ist</strong>anzierte Strenge.<br />

Die Kin<strong>der</strong> wussten sich von ihm geliebt, er gab ihnen<br />

Sicherheit und Geborgenheit. Aber gleichzeitig war die<br />

Übermacht seiner starken Persönlichkeit stets<br />

allgegenwärtig. Sein Wort war Gesetz. Je<strong>der</strong> hatte sich<br />

nach ihm zu richten. Wi<strong>der</strong>spruch o<strong>der</strong> kleine<br />

Ungehorsamkeiten wurden nicht geduldet. Er regierte<br />

sein Hauswesen und seine Familie wie ein guter<br />

Patriarch: mit Liebe, aber auch mit Strenge; mit<br />

Verantwortungsbewusstsein, aber Gehorsam for<strong>der</strong>nd;<br />

gerecht, aber unduldsam gegenüber Meinungen, die er<br />

nicht teilte; mit einer Autorität, die je<strong>der</strong> in seiner<br />

Umgebung spürte und die in seinem Charakter<br />

begründet war. Es schnitt Gertrud ins Herz, ihren<br />

starken Vater so zu sehen, gramgebeugt, ein schwacher<br />

Mensch.<br />

11


Friedrich Oertel entstammte einem alten<br />

nie<strong>der</strong>sächsischen Bauerngeschlecht. Er war zwar nicht<br />

<strong>mehr</strong> auf einem Hof aufgewachsen, doch sein großer,<br />

kräftiger Körperbau, seine robuste Gesundheit, seine<br />

Liebe und Verbundenheit zur Natur waren das Erbteil<br />

seiner bäuerlichen Vorfahren. Auch die Kraft seiner<br />

Persönlichkeit, die Willenstärke und Disziplin hatten<br />

ihren Ursprung in seiner Bindung an die bäuerliche<br />

Heimat. Sein Vater war zwar Beamter gewesen, denn<br />

<strong>der</strong> Hof wurde immer an den ältesten Sohn vererbt, und<br />

er war <strong>der</strong> Zweitgeborene, aber <strong>der</strong> Kontakt <strong>der</strong> Familie<br />

zu ihren bäuerlichen Verwandten und damit zu ihrem<br />

Ursprung blieb stets bestehen.<br />

Schon früh zeigten sich Oertels<br />

überdurchschnittliche Intelligenz und seine Begabung<br />

für die mathematischen und naturwissenschaftlichen<br />

Fächer. Er erhielt ein Stipendium und studierte nach<br />

dem Besuch des Gymnasiums an verschiedenen<br />

Universitäten Mathematik, Physik, Philosophie und<br />

Pädagogik. Sein Vater sah darin die Erfüllung eigener<br />

Träume und Wünsche. Er hoffte, es noch zu erleben,<br />

dass <strong>der</strong> Sohn eines Tages ein bedeuten<strong>der</strong><br />

Mathematiker würde, was ihm, dem Bauernsohn, trotz<br />

eigener Neigung und Begabung nicht möglich gewesen<br />

war. Er blieb zeitlebens ein kleiner Katasterbeamter, <strong>der</strong><br />

im Auftrag seiner Behörde Landvermessungen<br />

durchzuführen hatte.<br />

Friedrich Oertel war ehrgeizig und hatte eine hohe<br />

Meinung von sich selbst. Aber er stellte auch ebenso<br />

hohe Ansprüche an sich und seine<br />

Le<strong>ist</strong>ungsbereitschaft. Als ihm im Staatsexamen nur die<br />

Durchschnittsnote zwei plus zuerkannt wurde und er in<br />

12


den mündlichen Kommentaren zu seinen<br />

Prüfungsle<strong>ist</strong>ungen einige Kritik und Einschränkungen<br />

seitens <strong>der</strong> Prüfungskommission hinnehmen musste,<br />

beschwerte er sich bitter darüber in einem Brief an seine<br />

Eltern. Aber gleichzeitig führte er aus, dass er nun<br />

an<strong>der</strong>e Ziele habe. Er wolle sein Doktorexamen mit dem<br />

Grad »ad modum laudabilis« machen, ein einfaches<br />

»cum laude» wolle er an<strong>der</strong>en Leuten überlassen.<br />

Sein Staatsexamen berechtigte ihn, die Fächer, die<br />

er studiert hatte, am Gymnasium zu unterrichten. Er<br />

wurde jedoch, kurz nachdem er in den Schuldienst<br />

übernommen worden war, freigestellt, um einige Jahre<br />

lang <strong>der</strong> Erzieher des Prinzen Joachim Albrecht von<br />

Preußen zu sein. Danach habilitierte er sich als<br />

Privatdozent für Mathematik und folgte einem Ruf<br />

seines alten Lehrers an die Universität Göttingen. Zwei<br />

Jahre später wurde er Ordinarius an <strong>der</strong> Technischen<br />

Hochschule in Braunschweig, <strong>der</strong> er bis zu seinem<br />

Lebensende die Treue hielt. Zweimal wurde er im Laufe<br />

dieser <strong>Zeit</strong> zum Rektor berufen. Er schrieb einige<br />

mathematische Bücher, die viel Beachtung fanden.<br />

<strong>Im</strong> Alter von dreiunddreißig Jahren heiratete er<br />

Leonore, ein zwanzigjähriges Mädchen,<br />

Fabrikantentochter aus dem Rheinland. Sie war fröhlich<br />

und aufgeschlossen, den schönen Seiten des Lebens<br />

zugewandt. Sie brachte Farbe und Wärme in sein Leben,<br />

das Leben eines Wissenschaftlers und Gelehrten, das<br />

sich im Wesentlichen in seiner Studierstube über<br />

Büchern abspielte. Sie war <strong>der</strong> lebendige Mittelpunkt<br />

<strong>der</strong> Familie und des Hauswesens, bis die Schatten <strong>der</strong><br />

beginnenden Krankheit sie stiller und matter werden<br />

ließen. Sie schien <strong>mehr</strong> und <strong>mehr</strong> in eine unbestimmte<br />

13


Ferne entrückt zu sein, und eines Tages verlosch ihr<br />

Leben wie eine nie<strong>der</strong>gebrannte Kerze. Gertrud hatte<br />

von ihrer Mutter die Freude am Leben geerbt. Aber es<br />

war auch etwas von <strong>der</strong> Strenge und Verschlossenheit<br />

des Vaters in ihr, das sich in späteren Lebensjahren, in<br />

den Konflikten ihres eigenen Schicksals, <strong>mehr</strong> und <strong>mehr</strong><br />

zeigen sollte.<br />

Am 28. August<br />

1912,<br />

spätabends<br />

G<br />

estern haben wir Mutter begraben. Ich bin<br />

noch immer wie betäubt! Bis jetzt war ich<br />

nicht in <strong>der</strong> Lage, ein Wort zu schreiben.<br />

Meine Hände zitterten so sehr, ich konnte die<br />

Schreibfe<strong>der</strong> nicht halten. Dass sie so früh von uns<br />

gehen musste – das kann ich nicht begreifen! Sie war<br />

krank, ja, wir wussten es schon lange, aber zuletzt<br />

ging alles so schnell! Die ganze Nacht habe ich an<br />

ihrem Bett gesessen, als <strong>der</strong> Arzt gegangen war und<br />

Vater den Totenschein gegeben hatte. ›Totenschein‹ –<br />

was für ein grässliches Wort! Sie sah aus, als ob sie<br />

schliefe. Ich hatte das Gefühl, als müsse sie jeden<br />

Augenblick aufwachen, ihre Augen aufschlagen und<br />

ihre Arme nach mir ausstrecken. Aber sie lag nur still<br />

da. Und nun liegt sie in <strong>der</strong> dunklen Erde und kommt<br />

nicht <strong>mehr</strong> zurück.<br />

Es war eine große Beerdigung, aber ich habe alles<br />

nur wie im Traum erlebt. Ich hatte so ein Gefühl, als<br />

säße ich unter einer Glasglocke und das, was da<br />

14


geschah, käme nicht wirklich an mich heran. Den Sarg,<br />

<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Fülle von Blumen und Kränzen kaum noch<br />

zu sehen war, den Gesang des Hochschulchores, den<br />

Klang <strong>der</strong> Orgel, die Worte des Pfarrers – das alles<br />

habe ich nur wie von ferne wahrgenommen. Ich weiß<br />

auch nicht <strong>mehr</strong>, wer mir später am offenen Grab die<br />

Hand gedrückt und was man zu mir gesagt hat. Es<br />

waren, glaube ich, immer dieselben Worte. Viele<br />

Menschen waren gekommen, denn Mutter war überall<br />

beliebt, und Vater <strong>ist</strong> ja eine bekannte Persönlichkeit.<br />

Wie er die ganze Zeremonie überstanden hat, so gefasst<br />

und würdevoll, das kann ich nur bewun<strong>der</strong>n, denn ich<br />

weiß doch, wie er leidet. Paul hat viel geweint. Er <strong>ist</strong> ja<br />

auch erst fünfzehn und sehr sensibel. Ich glaube, dass<br />

die Mutter ihm ganz beson<strong>der</strong>s fehlen wird, denn Vater<br />

<strong>ist</strong> oft sehr streng mit ihm.<br />

Wie wird es jetzt weitergehen? Das Haus <strong>ist</strong> so leer<br />

ohne sie. Wenn ich ins Wohnzimmer komme, dann meine<br />

ich, sie müsse in ihrem Sessel sitzen und sticken, so wie<br />

sie es immer getan hat. Doch sie wird nie <strong>mehr</strong> in diesem<br />

Sessel sitzen. Ich werde mich mit <strong>der</strong> bitteren Wahrheit<br />

abfinden müssen. Wir haben alle nicht daran gedacht,<br />

dass wir sie verlieren könnten, jedenfalls jetzt noch<br />

nicht. Ich bin unendlich traurig!<br />

Die Familie kehrte nach den Trauerfeierlichkeiten<br />

nicht nach Harzburg zurück. Man blieb in dem<br />

Stadthaus in Braunschweig. Friedrich Oertel hätte es<br />

nicht ertragen, sich in den Räumen aufzuhalten, wo ihn<br />

alles an den Abschied von seiner Frau erinnerte, an ihre<br />

letzten Stunden, an ihre immer schwächer werdenden<br />

Atemzüge, die das Leben mit sich fortnahmen und<br />

gleichzeitig auch alle seine Hoffnungen. Manchmal fuhr<br />

15


er zwar an den Wochenenden nach Harzburg, ohne<br />

jedoch einen Fuß in sein Haus zu setzen. Er machte<br />

stundenlang einsame Wan<strong>der</strong>ungen durch die Wäl<strong>der</strong><br />

und über die Harzberge, aber abends kam er stets wie<strong>der</strong><br />

mit dem letzten Zug in Braunschweig an. Er brauchte<br />

die Einsamkeit in <strong>der</strong> Natur, um sich wie<strong>der</strong>zufinden<br />

und um seinen Schmerz zu verarbeiten. Über Gefühle<br />

zu reden, im Gespräch mit an<strong>der</strong>en Trost zu suchen war<br />

seinem Charakter fremd. Zeigte er sich in seiner<br />

beruflichen und gesellschaftlichen Stellung auch<br />

aufgeschlossen und wortgewandt, seine innersten<br />

Empfindungen verschloss er vor an<strong>der</strong>en Menschen tief<br />

in seinem Herzen. Das Bild, das er von sich selbst hatte,<br />

war das einer starken Persönlichkeit. Die verletzliche<br />

Seite seines Wesens gestand er sich nicht ein. Er lehnte<br />

es ab, vor an<strong>der</strong>en Schwäche zu zeigen. Nur Leonore<br />

hatte wissen dürfen, dass auch er verwundbar war.<br />

In dem großen Haus herrschte eine düstere<br />

Stimmung. Es war nicht allein die gewittrige Schwüle<br />

<strong>der</strong> Augusthitze, die alles lähmte. Gertrud hatte das<br />

Gefühl, dass in allen Ecken die Trauer saß, wie eine<br />

lebensfeindliche, unerbittliche Göttin, und sie anstarrte.<br />

Sie vermisste ihre Mutter unendlich. Wenn Leonore<br />

Oertel auch in den letzten Jahren immer stiller geworden<br />

war, so hatte sie doch mit ihrem freundlichen, etwas<br />

müden Lächeln und mit ihrer leisen Stimme, die voller<br />

Anteilnahme war, Wärme und Zärtlichkeit verbreitet.<br />

Gertrud empfand deutlich mit jener hellsichtigen<br />

Klarheit, die durch starke Erschütterungen<br />

hervorgerufen werden kann, dass sie mit ihrer Mutter<br />

einen wesentlichen Teil ihres Lebens unwi<strong>der</strong>ruflich<br />

16


verloren hatte. Sie bewun<strong>der</strong>te ihren Vater, sie hatte die<br />

größte Hochachtung vor ihm, aber liebte sie ihn? Wollte<br />

er überhaupt Liebe? Wollte er nicht vielleicht nur<br />

respektiert werden, geachtet werden, bewun<strong>der</strong>t<br />

werden? Die Mutter hatte ihn geliebt. Und seine<br />

verzweifelte Trauer zeugte von <strong>der</strong> tiefen Liebe zu<br />

seiner Frau. Vielleicht hat er all seine Liebesfähigkeit in<br />

<strong>der</strong> Beziehung zu ihr erschöpft? Dieser Gedanke kam<br />

Gertrud plötzlich in den Sinn. Mit einer ruckartigen<br />

Bewegung strich sie eine Haarsträhne aus dem Gesicht,<br />

als wollte sie ihn verscheuchen, und wandte sich <strong>der</strong><br />

Post zu, die vor ihr auf dem Tisch lag.<br />

Ein Sonnenstrahl fiel durch das Erkerfenster des<br />

großen Wohnzimmers und ließ kleine Staubkörnchen<br />

aufblitzen. Gertrud hatte es übernommen, die<br />

Kondolenzbriefe zu beantworten, um dem Vater diese<br />

traurige Arbeit abzunehmen. An dem kleinen<br />

Schreibtisch im Erker ging sie die Briefe durch. Dabei<br />

wun<strong>der</strong>te sie sich, dass viele Bekannte offenbar gar<br />

nicht gewusst hatten, dass ihre Mutter krank gewesen<br />

war. Sie las immer wie<strong>der</strong>, dass man erstaunt sei über<br />

ihren frühen Tod. Oft wurde Gertrud auch damit<br />

getröstet, dass sie ja nun die schöne Aufgabe habe, für<br />

ihren Vater und ihren Bru<strong>der</strong> zu sorgen und die<br />

Hausfrau zu ersetzen. Sie würde sicher Erfüllung und<br />

Befriedigung darin finden, und das würde ihr über ihren<br />

eigenen Schmerz hinweghelfen. Die<br />

Selbstverständlichkeit dieser Erwartungen überraschte<br />

sie. Darüber hatte sie noch nicht nachgedacht. <strong>Im</strong><br />

Augenblick versorgte sie mit Fine und einer Zugehfrau<br />

den kleinen Haushalt, aber so würde es wohl nicht<br />

bleiben. Vater wollte ja eine Haushälterin engagieren.<br />

17


Doch wie konnte Hausarbeit einen Menschen ersetzen?<br />

Mit dem Gefühl, dass man hier über sie verfügen wollte,<br />

dass man ihr Pflichten diktierte, die sie nur selbst aus<br />

freien Stücken übernehmen könnte, legte sie die Briefe<br />

beiseite.<br />

Die Mahlzeiten wurden gemeinsam im Esszimmer<br />

eingenommen, das hinter dem Wohnzimmer lag. Es war<br />

ein großer Raum, halb hoch mit Eichenholz getäfelt,<br />

was ihm eine behagliche, aber etwas düstere<br />

Atmosphäre verlieh. Den Abschluss <strong>der</strong> Täfelung<br />

bildete ein Bord, auf dem Krüge und Teller aus Zinn<br />

o<strong>der</strong> Keramik standen. An <strong>der</strong> einen Seite befanden sich<br />

ein Büfett zur Unterbringung des Geschirrs und des<br />

Tafelsilbers und eine Anrichte, darauf stand ein<br />

schwerer silberner Kerzenleuchter. In <strong>der</strong> Mitte<br />

dominierte ein großer ausziehbarer Tisch mit vier<br />

Stühlen. Ein wuchtiger Kronleuchter hing darüber. Das<br />

Esszimmer war vom Wohnzimmer durch eine Flügeltür<br />

getrennt. Wenn sie geöffnet wurde, konnte man aus den<br />

beiden Zimmern einen großen repräsentativen Raum<br />

machen, in dem die Diners stattfanden, die Friedrich<br />

und Leonore Oertel ihrer gesellschaftlichen Stellung<br />

gemäß hatten geben müssen.<br />

Das Wohnzimmer wurde auch <strong>der</strong> »Salon« genannt.<br />

Ein kostbarer Teppich bedeckte den Fußboden. Die<br />

Seidentapete an den Wänden, das zierliche Sofa und die<br />

dazu gehörenden Sesselchen sowie <strong>der</strong> kleine<br />

Schreibtisch im Erker waren mit viel Geschmack<br />

ausgesucht worden. Diese Einrichtung trug Leonores<br />

Handschrift.<br />

18


<strong>Im</strong> Erdgeschoss gab es dann noch das Musikzimmer,<br />

in dem <strong>der</strong> große Flügel stand. Hier fanden regelmäßig<br />

Hauskonzerte statt, denn Friedrich Oertel spielte sehr<br />

gut Cello, und Gertrud hatte sich zu einer tüchtigen<br />

Pian<strong>ist</strong>in entwickelt. Auch Paul machte auf <strong>der</strong> Geige<br />

gute Fortschritte. Einige Kollegen des Hausherrn waren<br />

gleichfalls bege<strong>ist</strong>erte Musiker, und so hatte man sich<br />

immer gern im Oertelschen Hause zum Musizieren<br />

getroffen.<br />

<strong>Im</strong> Souterrain lag die Küche. Sie war ziemlich dunkel<br />

und ging auf einen kleinen gepflasterten Hof hinaus. In<br />

den oberen Stockwerken befanden sich das<br />

Studierzimmer des Professors sowie das Schlafzimmer<br />

und die Zimmer <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />

Oertel saß mit seinen Kin<strong>der</strong>n bei Tisch. Wohlgefällig<br />

betrachtete er seine Tochter. Fine hatte soeben die<br />

Suppe gebracht, und Gertrud füllte zunächst den Teller<br />

des Vaters, dann den des Bru<strong>der</strong>s und zuletzt ihren<br />

eigenen. Sie bewegte sich anmutig und mit einer<br />

natürlichen Grazie. Plötzlich kam ihm zum<br />

Bewusstsein, dass seine Tochter kein Kind <strong>mehr</strong> war.<br />

Sie hatte sich zu einer hübschen jungen Frau entwickelt.<br />

Das leicht gewellte dunkle Haar umrahmte ihr ovales<br />

Gesicht und gab ihm einen weichen Ausdruck. Das<br />

Schönste in diesem Antlitz aber waren die großen<br />

braunen Augen mit ihrem träumerischen Glanz. Ich<br />

werde einen Mann für sie finden müssen, dachte Oertel.<br />

Es wird nicht schwer sein. Ich werde dafür sorgen, dass<br />

sie eine gute Partie macht, dass sie sich standesgemäß<br />

verheiratet. Ein warmes Gefühl <strong>der</strong> Zuneigung<br />

durchströmte ihn.<br />

19


Dann wan<strong>der</strong>te sein Blick zu Paul, seinem Sohn. Er<br />

setzte große Hoffnungen in ihn. Er wünschte, dass Paul<br />

einmal ein tüchtiger Naturwissenschaftler werden<br />

würde, vielleicht Mathematiker, wie er selbst, vielleicht<br />

sein Nachfolger auf dem Lehrstuhl, den er jetzt<br />

innehatte. Seine Neigungen zur Theologie ... sie würden<br />

vergehen. Er war ja noch Gymnasiast. Seine<br />

Entwicklung war noch nicht abgeschlossen. Seine<br />

Zeugnisnoten waren durchweg gut, aber sie ließen keine<br />

herausragende Begabung erkennen. Man würde sehen,<br />

er war ja noch jung, sein Charakter noch im Werden.<br />

Fine kam wie<strong>der</strong> herein. Sie stellte eine Platte mit<br />

Braten auf den Tisch und holte dann Schüsseln mit<br />

Blumenkohlgemüse, Kartoffeln und Sauce. Nachdem<br />

Oertel sich genommen hatte, reichte er die Speisen<br />

weiter an seine Kin<strong>der</strong>. Es wurde wenig gesprochen<br />

während des Essens. Die Geschw<strong>ist</strong>er waren von klein<br />

auf so erzogen worden, bei den Mahlzeiten nur dann<br />

etwas zu sagen, wenn sie gefragt wurden. Der Vater<br />

hatte sich früher bei Tisch mit <strong>der</strong> Mutter unterhalten,<br />

aber jetzt war er schweigsam geworden. Der leere Stuhl<br />

war für alle drei eine ständige schmerzliche Erinnerung<br />

daran, was sie unwie<strong>der</strong>bringlich verloren hatten.<br />

»Hast du heute schon geübt?«, unterbrach Oertel die<br />

Stille und wandte sich an seinen Sohn.<br />

»Ja, zwei Stunden. Es sind ja noch Ferien.«<br />

»Brav«, lobte <strong>der</strong> Vater ihn. »So kann aus dir etwas<br />

werden.«<br />

Gertrud nutzte die Gelegenheit und ergriff das Wort:<br />

»Vater, sollten wir nicht unsere Hauskonzerte wie<strong>der</strong><br />

aufnehmen? Du hast doch immer so viel Freude daran<br />

gehabt. Das kann dich vielleicht auf an<strong>der</strong>e Gedanken<br />

20


ingen. Du wirst noch ganz krank vor lauter<br />

Traurigkeit.« Sie sah ihn an, voller Mitgefühl und<br />

Zärtlichkeit.<br />

Er erwi<strong>der</strong>te ihren Blick. »Vielleicht hast du recht.<br />

Ich werde es mir überlegen.«<br />

Fine brachte die Nachspeise. Es wurde kein weiteres<br />

Wort <strong>mehr</strong> gesprochen. Schließlich stand <strong>der</strong> Professor<br />

auf und begab sich in sein Studierzimmer. Das war das<br />

Zeichen für die Kin<strong>der</strong>, sich auch zurückzuziehen. Paul<br />

ging in sein Zimmer und las. Gertrud half Fine beim<br />

Aufräumen <strong>der</strong> Küche und beim Spülen des Geschirrs.<br />

Als die Arbeit erledigt war, ging auch sie auf ihr<br />

Zimmer.<br />

15.<br />

Oktober, nach dem<br />

Mittagessen<br />

E<br />

s <strong>ist</strong> alles so trostlos, es herrscht so eine<br />

beklemmende<br />

Stimmung im Haus. Manchmal<br />

denke ich, ich kann es nicht <strong>mehr</strong> aushalten, und dann<br />

möchte ich am liebsten davonlaufen. Vater spricht nur<br />

das Nötigste. Mit Paul rede ich manchmal über Mutter,<br />

und dann weinen wir beide. Aber das Leben geht doch<br />

auch weiter. Wenn wir uns in unserem Kummer<br />

vergraben, das macht Mutter auch nicht wie<strong>der</strong><br />

lebendig. Ich bin oft so verzweifelt, weil sie nicht <strong>mehr</strong><br />

bei uns <strong>ist</strong>, aber dann denke ich auch wie<strong>der</strong>, ich bin<br />

doch noch jung. Soll mein Leben so weitergehen?<br />

An<strong>der</strong>erseits, was soll ich denn machen? Ich kann Vater<br />

21


und Paul jetzt nicht allein lassen. Sie brauchen mich,<br />

und ich habe sie doch auch lieb. Wir trauern alle um<br />

Mutter, und wir müssen uns gegenseitig be<strong>ist</strong>ehen, so<br />

gut es geht. Wie kann ich Vater nur helfen, wie kann ich<br />

ihn aus seiner Verschlossenheit herausholen? Er wird<br />

noch krank werden! Wenn wir die Hauskonzerte wie<strong>der</strong><br />

aufnehmen könnten! Er hat früher so viel Freude daran<br />

gehabt. Ich werde ihm ein bisschen zureden. Vielleicht<br />

hilft ihm die Musik.<br />

Aber es gibt da noch etwas an<strong>der</strong>es, was mir immer<br />

wie<strong>der</strong> durch den Kopf geht, wenn ich daran denke<br />

wegzulaufen. Wo soll ich denn hin, ein Mädchen, das<br />

nur die Höhere Töchterschule besucht hat und sonst<br />

nichts kann? Vater will ja nicht, dass ich einen Beruf<br />

erlerne. Er sagt, ich solle heiraten und bis dahin im<br />

Elternhaus bleiben. Ich hätte es nicht nötig, zu arbeiten<br />

und Geld zu verdienen. Doch heutzutage haben schon<br />

so viele junge Frauen eine Ausbildung und sind<br />

berufstätig, zum Beispiel als Sekretärinnen, als<br />

Lehrerinnen o<strong>der</strong> Krankenschwestern. Manche haben<br />

sogar studiert und sind Ärztinnen o<strong>der</strong><br />

Rechtsanwältinnen. Was <strong>ist</strong> dagegen einzuwenden? Ich<br />

verstehe Vater nicht. Jetzt <strong>ist</strong> mein Platz hier, das weiß<br />

ich, bis wir alle ein wenig über Mutters Tod<br />

hinweggekommen sind, wenn man überhaupt je darüber<br />

hinwegkommen kann. Aber später, in zwei o<strong>der</strong> drei<br />

Jahren vielleicht, werde ich versuchen, von Vater die<br />

Erlaubnis für eine Berufsausbildung zu bekommen.<br />

Warum soll eine Frau nicht auch ein bisschen<br />

Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Leben haben?<br />

Ein Jahr nach Leonore Oertels Tod kam Emmy ins<br />

Haus. Sie sollte ein Glücksfall für die Familie werden.<br />

Emmy stammte aus einer westfälischen<br />

22


Industriellenfamilie. Sie war Mitte dreißig, als sie in das<br />

Oertelsche Haus kam, eine praktische, tüchtige Frau, die<br />

überall da mit anpackte, wo es notwendig war, und die<br />

keine Arbeit scheute. Gertrud ging ihr gern zur Hand.<br />

Heute waren die beiden Frauen in <strong>der</strong> Küche<br />

beschäftigt. Oertel erwartete am nächsten Tag Gäste,<br />

und Emmy bereitete einen Kalbskopf in Aspik vor, <strong>der</strong><br />

bei allen so beliebt war. »Sie dürfen die Stücke nicht zu<br />

groß schneiden, aber auch nicht zu klein, Fräulein<br />

Gertrud, etwa so.« Sie zeigte Gertrud, die dabei war, das<br />

Fleisch und das Gemüse zu zerteilen, wie sie es meinte.<br />

»Eines Tages werden Sie auch eine Hausfrau sein, dann<br />

müssen Sie kochen können.« Sie nickte ihr aufmunternd<br />

zu.<br />

»Wo haben Sie das alles gelernt?«, wollte Gertrud<br />

wissen.<br />

»In <strong>der</strong> Haushaltsschule von Hedwig Heyl in Berlin.<br />

Sie hat auch das große Kochbuch geschrieben, das dort<br />

steht.« Ohne von ihrer Arbeit aufzusehen, deutete sie<br />

mit einer Kopfbewegung in Richtung Regal. »Eine<br />

Hausfrau muss doch die feine Küche kennen, aber auch<br />

einfache Gerichte schmackhaft zubereiten können. Sie<br />

muss wissen, wie man die Wäsche richtig pflegt und das<br />

Silber. Und wie man Hühner und Gänse schlachtet, das<br />

stand auch auf unserem Programm.«<br />

Gertrud starrte Emmy entge<strong>ist</strong>ert an. Ein Schauer lief<br />

ihr über den Rücken. Sie sah Emmy vor sich, ein Beil in<br />

<strong>der</strong> einen Hand und mit <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en das Tier festhaltend,<br />

dem sie gleich den Kopf abschlagen würde. Sie<br />

schüttelte sich bei dem Gedanken.<br />

»Das muss man können, wenn man in einem<br />

Landhaushalt arbeitet«, sagte Emmy mit Überzeugung.<br />

23


Sie scheint gar nichts dabei zu finden, dachte<br />

Gertrud, noch immer schockiert. So eine<br />

Haushaltsschule, das wäre nichts für mich. Sie war mit<br />

ihrer Arbeit fertig, stand auf und wusch sich die Hände.<br />

Emmy goss die Gelatinelösung über die Fleisch- und<br />

Gemüsestücke und stellte die Schüssel kalt. »Helfen Sie<br />

mir noch, die Wäsche wegzuräumen, Fräulein<br />

Gertrud?«<br />

Sie gingen nach oben zu dem großen Wäscheschrank,<br />

vor dem bereits <strong>der</strong> Korb mit <strong>der</strong> gebügelten Wäsche<br />

stand. Gertrud beobachtete, wie Emmy die Laken und<br />

Bezüge ganz genau aufeinan<strong>der</strong> legte und die<br />

Wäschestapel mit rosa Bändchen zusammenband. Alle<br />

Schleifen sahen genau gleich aus, exakt wie Soldaten,<br />

dachte Gertrud.<br />

»Ordnung muss sein, und es soll doch auch hübsch<br />

aussehen.« Emmy hatte Gertruds erstaunten Blick<br />

bemerkt. Über ihr Gesicht glitt ein Lächeln.<br />

Gertrud fand die Bän<strong>der</strong> mit den Schleifen<br />

überflüssig. Das werde ich später bestimmt nicht so<br />

machen, dachte sie, als sie Emmy die Wäschestapel<br />

anreichte. Warum hat sie eigentlich nicht geheiratet, wo<br />

sie doch so eine perfekte Hausfrau <strong>ist</strong>? Sie betrachtete<br />

Emmy verstohlen von <strong>der</strong> Seite. Ihre große, etwas<br />

grobknochige Figur, ihr scharf geschnittenes Gesicht,<br />

ihre selbstbewusste Art ... das <strong>ist</strong> sicher nichts für<br />

Männer. Die wollen ein anschmiegsames Weibchen.<br />

Aber als anschmiegsames Weibchen konnte Gertrud<br />

sich Emmy nicht vorstellen. Vielleicht wollte sie gar<br />

nicht heiraten und lieber unabhängig sein, das würde zu<br />

ihr passen.<br />

24


Am Abend schickte Oertel Gertrud zu Emmy, um ihr<br />

etwas auszurichten. Gertrud fand sie in ihrem Zimmer<br />

im Sessel neben <strong>der</strong> Stehlampe sitzend, ein <strong>Buch</strong> in <strong>der</strong><br />

Hand.<br />

»Setzen Sie sich, Fräulein Gertrud.« Emmy zeigte<br />

auf einen Stuhl und legte das <strong>Buch</strong> in den Schoß. Johann<br />

Wolfgang von Goethe, Sämtliche Werke, las Gertrud.<br />

Ihr Blick ging durch den Raum, umfasste das akkurat<br />

zugedeckte Bett, den Tisch mit <strong>der</strong> gestärkten<br />

Spitzendecke, die Waschkommode mit <strong>der</strong> geblümtem<br />

Waschschüssel und <strong>der</strong> dazu passenden Wasserkanne.<br />

An <strong>der</strong> Wand entdeckte sie ein Bücherregal, in dem<br />

weitere Bände von Goethe standen neben Schiller und<br />

Shakespeare und Büchern von Heine, Tolstoi und<br />

Fontane. Gertrud staunte. Das war eine ganz an<strong>der</strong>e<br />

Emmy, so kannte sie sie gar nicht.<br />

»Warum sind sie gekommen, Fräulein Gertrud?«,<br />

riss Emmys Stimme sie aus ihren Gedanken. »Sollen<br />

Sie mir etwas vom Herrn Geheimrat ausrichten, o<strong>der</strong><br />

wollen Sie mich besuchen?« Sie bemerkte Gertruds<br />

Verlegenheit und lächelte ihr freundlich zu.<br />

Gertrud besann sich. »Vater lässt Ihnen sagen, dass er<br />

morgen früh das Frühstück eine halbe Stunde früher als<br />

sonst haben möchte. Er hat vor <strong>der</strong> Vorlesung noch<br />

etwas zu erledigen.«<br />

Emmy nickte. »Das geht in Ordnung.«<br />

Was für eine eigenartige Frau, dachte Gertrud beim<br />

Hinausgehen. Morgens arbeitet sie in <strong>der</strong> Küche,<br />

erzählt, dass sie Hühner und Gänse schlachten kann, und<br />

abends liest sie Klassiker.<br />

25


Novembernebel hing zwischen den kahlen Zweigen<br />

<strong>der</strong> Bäume. Die Luft schien gesättigt zu sein mit<br />

Tausenden kleiner Wassertropfen. Sie verwischten die<br />

Konturen <strong>der</strong> Straßenlaternen und zerstreuten ihr Licht<br />

in einem milchigen Schimmer. Die Häuser, die<br />

Sträucher und Zäune <strong>der</strong> Vorgärten, die wenigen<br />

Menschen, die in diesem ungemütlichen Wetter<br />

unterwegs waren – alles wurde von ihnen in undeutliche<br />

Schemen verwandelt, die plötzlich auftauchten und<br />

wie<strong>der</strong> verschwanden. Auch das Licht <strong>der</strong> hohen,<br />

schmalen Erkerfenster des Hauses Kaiser-Wilhelm-<br />

Straße 17 wurde von <strong>der</strong> feuchten Dunkelheit<br />

verschluckt. Wer zufällig vorbeiging, hörte Musik,<br />

Klavier und Geigenklang, wie von ferne durch die<br />

geschlossenen Fenster dringen.<br />

Es gab wie<strong>der</strong> Hausmusik bei <strong>der</strong> Familie Oertel.<br />

Gertrud hatte ihrem Vater von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> vorsichtig<br />

zugeredet, um ihn aus seiner Trauer herauszureißen.<br />

Schließlich hatte er nachgegeben. <strong>Im</strong> ganzen Haus war<br />

seit dem Morgen eine erwartungsvolle, freudige<br />

Spannung zu spüren. Paul, <strong>der</strong> zum ersten Mal im<br />

Quartett die zweite Geige spielen durfte, übte in seinem<br />

Zimmer eifrig seine Stimme. Auch Gertrud spielte noch<br />

einmal den Klavierpart des Haydn-Trios durch, das<br />

heute Abend unter an<strong>der</strong>em auf dem Programm stand.<br />

Die drei Stücke aus den Kin<strong>der</strong>szenen von Schumann<br />

und die beiden Préludes von Chopin, die sie außerdem<br />

spielen wollte, konnte sie gut. Sie beschloss, dass es<br />

nicht nötig sei, sie noch einmal anzusehen. Emmy war<br />

schon vom frühen Morgen an beschäftigt. Martha, ein<br />

junges Mädchen, das sie als Haushaltshilfe eingestellt<br />

hatte, weil Fine gegangen war, ging ihr dabei zur Hand.<br />

26


Sie fühle sich inzwischen zu alt, hatte Fine gesagt. Aber<br />

es war wohl eher so, dass sie sich an die Verän<strong>der</strong>ungen<br />

im Hause Oertel nicht <strong>mehr</strong> gewöhnen konnte. Das<br />

Musikzimmer, in dem <strong>der</strong> große Flügel stand, musste<br />

hergerichtet werden. Die drei Klubsessel und <strong>der</strong> kleine<br />

Tisch wurden beiseitegerückt, damit das Streichquartett<br />

in <strong>der</strong> Mitte Platz hatte. Aus dem Esszimmer holten die<br />

beiden Frauen vier Stühle herein und stellten sie in<br />

einem Halbkreis vor dem Flügel auf. Zwei große<br />

Kerzenleuchter wurden so angeordnet, dass sie die<br />

Notenpulte zusätzlich beleuchten konnten, wenn das<br />

Licht des Kronleuchters an <strong>der</strong> Decke nicht ausreichen<br />

sollte.<br />

Nach dem Mittagessen ging die Arbeit in <strong>der</strong> großen<br />

Küche im Souterrain weiter. Emmy hatte geplant, in <strong>der</strong><br />

Pause als Erfrischung »dänische Brötchen« und Punsch<br />

zu servieren.<br />

»Schade, dass wir in dieser Jahreszeit keine frische<br />

Petersilie und keine Radieschen haben«, sagte<br />

Emmy zu Martha, »es würde noch hübscher<br />

aussehen.«<br />

Die Platte mit den Brötchen wurde kühl gestellt. Der<br />

Teepunsch konnte erst im letzten Moment zubereitet<br />

werden, da er ja warm getrunken wurde. Aber Emmy<br />

stellte schon einmal den Rotwein, den Rum, Zucker und<br />

Tee bereit, damit nachher alles schnell ging. Zufrieden<br />

betrachteten die beiden Frauen ihr Werk.<br />

Oertel merkte nichts von all <strong>der</strong> Geschäftigkeit. Er<br />

saß in seinem Studierzimmer über seinen Büchern.<br />

Seinen Part brauchte er nicht zu üben, denn er war ein<br />

versierter Cell<strong>ist</strong>, und sowohl das Streichquartett von<br />

Boccherini als auch das Haydn-Trio stellten an ihn keine<br />

27


großen Anfor<strong>der</strong>ungen. Das Boccherini-Quartett hatte<br />

ihm sein Freund und Kollege, Professor Reisinger,<br />

gegeben, <strong>der</strong> heute Abend, wie an so vielen<br />

Hausmusikabenden im Hause Oertel, die Bratsche<br />

spielen sollte. Er hatte die Stimmen gleich<br />

weitergegeben, damit die übrigen Mitspieler sich<br />

vorbereiten konnten: die für die zweite Geige seinem<br />

Sohn Paul, und die für die erste Geige Wilhelm Zeidler,<br />

<strong>der</strong> auch die Geigenstimme für das Haydn-Trio<br />

bekommen hatte.<br />

Wilhelm Zeidler war einer von Oertels Studenten. Er<br />

war dem Professor neulich bei einem Hochschulkonzert<br />

als vielversprechen<strong>der</strong> junger Geiger aufgefallen. Weil<br />

sein an<strong>der</strong>er Kollege, <strong>der</strong> sonst im Quartett <strong>der</strong> »Erste«<br />

war, heute nicht kommen konnte, hatte er Wilhelm<br />

gebeten, ihn zu vertreten. Der junge Mann empfand es<br />

als eine beson<strong>der</strong>e Ehre, von seinem Professor zum<br />

privaten Musizieren eingeladen zu werden, und sagte<br />

natürlich hocherfreut zu.<br />

Pünktlich um achtzehn Uhr, zur verabredeten <strong>Zeit</strong>,<br />

klingelte Wilhelm Zeidler an <strong>der</strong> Tür des Hauses<br />

Kaiser-Wilhelm-Straße 17.<br />

»Herzlich willkommen in meinem Heim, lieber<br />

Wilhelm«, begrüßte Oertel seinen Studenten. Auf<br />

Professor Reisinger musste man noch warten. Wie<br />

immer kam er fünfzehn Minuten zu spät. Er war eben an<br />

das akademische Viertel gewöhnt. »Scheußliches<br />

Wetter«, murmelte er ein bisschen atemlos, als er seine<br />

Gummiüberschuhe auszog und an <strong>der</strong> Gar<strong>der</strong>obe<br />

abstellte. Professor Reisinger war ein eher kleiner, etwas<br />

korpulenter Herr mit einem runden, freundlichen<br />

28


Gesicht. Die Fältchen an seinen Augenwinkeln<br />

vermittelten den Eindruck, dass er gern lachte.<br />

»Kommen Sie herein, lieber Kollege.« Der Hausherr<br />

führte ihn in den Salon. »Gertrud wird uns zunächst<br />

etwas auf dem Klavier spielen. Da haben Sie <strong>Zeit</strong> zu<br />

verschnaufen, und Ihr Instrument kann sich an die<br />

Zimmertemperatur gewöhnen.« Oertel, Reisinger und<br />

Emmy nahmen in den Sesseln Platz, Paul und Wilhelm<br />

Zeidler setzten sich auf die Stühle, die für die<br />

Quartettspieler bestimmt waren.<br />

Gertrud, die schon bei Hochschulkonzerten<br />

öffentlich gespielt hatte, ging ohne Scheu und völlig<br />

unbefangen zum Flügel und setzte sich auf den Hocker.<br />

Noten brauchte sie nicht, sie konnte die Stücke<br />

auswendig. Sie konzentrierte sich kurz und begann mit<br />

<strong>der</strong> »Träumerei« aus den Kin<strong>der</strong>szenen von Schumann.<br />

Mit weichem Anschlag, sanft und voller Innigkeit ließ<br />

sie die ersten Takte erklingen. Etwas Schwebendes, ja,<br />

fast etwas Märchenhaftes lag über ihrem Spiel. Die<br />

Zuhörer fühlten sich wie verzaubert und in eine an<strong>der</strong>e<br />

Welt entrückt. Mit tiefem Empfinden und musikalischer<br />

Sensibilität gestaltete sie die Melodiebögen, indem sie<br />

vor einer aufwärts strebenden Linie immer ein bisschen<br />

verzögerte, so als ob die Kräfte erst gesammelt werden<br />

müssten, die sich zum Höhepunkt aufschwingen. Leicht<br />

und ohne jede Anstrengung schienen ihre Finger die<br />

Tasten zu bewegen. Sie selbst war ganz versunken in ihr<br />

Spiel, und ihre Versunkenheit teilte sich auch den<br />

Zuhörern mit.<br />

Die nächsten beiden Stücke kamen munter und<br />

lebhaft daher. Mit kraftvollen Akkorden <strong>der</strong> »Ritter vom<br />

Steckenpferd«, mit übermütigen, leichtfüßigen<br />

29


Passagen <strong>der</strong> »Haschemann«. Und so schwerelos<br />

Gertruds Finger eben noch auf den Tasten lagen, so<br />

kräftig konnten sie nun zupacken, so virtuos und<br />

geschickt bewältigten sie die schnellen Läufe.<br />

Wilhelm Zeidler hatte während <strong>der</strong> ganzen <strong>Zeit</strong> den<br />

Blick nicht von Gertrud gewandt. Er war überrascht,<br />

hingerissen, sowohl von ihrem Spiel als auch von ihrer<br />

Erscheinung. Wie sie da am Flügel saß, mit anmutigen,<br />

leichten Bewegungen <strong>der</strong> Hände und Finger, im gelben<br />

Seidenkleid mit dem Spitzenkragen, das einen schönen<br />

Kontrast zu ihrem dunklen, zu Schnecken aufgesteckten<br />

Haar bildete.<br />

Die Stimmung <strong>der</strong> »Träumerei« wie<strong>der</strong> aufnehmend,<br />

begann sie nun mit dem »Regentropfen-Prélude« von<br />

Chopin. Voller Bewun<strong>der</strong>ung hörte er ihr zu. Wie sie die<br />

stereotypen Tonwie<strong>der</strong>holungen des<br />

Regentropfenmotivs spielte, ganz leicht hingetupft ...<br />

wie sie darüber die friedvolle Melodie erklingen ließ,<br />

verhalten, doch mit beseeltem Ausdruck, das berührte<br />

ihn zutiefst. Um so <strong>mehr</strong> überraschte ihn die sich nun<br />

ständig steigernde Intensität ihres Spiels, mit <strong>der</strong> sie das<br />

Donnergrollen in den Bässen vorbereitete, das sich<br />

schließlich in einem Fortissimo-Ausbruch entlud. Wie<br />

viel Kraft und zugleich auch wie viel Innigkeit lebten in<br />

dieser jungen Frau! Er betrachtete ihr feines Profil, das<br />

vom Kerzenschein weich beleuchtet war, und meinte,<br />

ein Märchenwesen vor sich zu haben, eine Fee o<strong>der</strong> eine<br />

Elfe. Den Abschluss ihres Vortrags bildete das B-Dur<br />

Prélude. Das lebhafte, unbeschwerte Stück vermittelte<br />

eine heitere Stimmung, und als <strong>der</strong> letzte Akkord<br />

verklungen war, wurde spontan Beifall geklatscht. Auch<br />

Oertel nickte seiner Tochter anerkennend zu. Gertrud<br />

30


errötete, aber gleichzeitig war sie sehr stolz auf das Lob,<br />

das sie in den Augen ihres Vaters lesen konnte. Der<br />

Beifall und die Stimmen <strong>der</strong> übrigen Anwesenden rissen<br />

Wilhelm Zeidler aus seiner Verzauberung. Spontan<br />

applaudierte auch er. Wie gern wäre er aufgestanden, zu<br />

ihr hingegangen, um ihr zu sagen, wie sehr er sie<br />

bewun<strong>der</strong>te, aber das wagte er nicht. Er hätte ihr die<br />

Hand küssen mögen, um ihr seine Gefühle zu zeigen,<br />

aber das war ganz unmöglich. Nun formierte sich das<br />

Quartett. Oertel begann souverän, mit vollem, warmem<br />

Ton. Gertrud horchte auf, und ihr Herz schlug höher.<br />

Wie gut, dachte sie, dass ich Vater überreden konnte,<br />

wie<strong>der</strong> Musik zu machen. Sie wird ihm helfen, seine<br />

Trauer zu überwinden. Professor Reisinger mit seiner<br />

Bratsche, das Zusammenspiel mit seinem Kollegen<br />

gewöhnt, folgte dem Cello mühelos. Paul war ängstlich<br />

und nervös und verpasste den ersten Einsatz, woraufhin<br />

<strong>der</strong> Vater abwinkte und ärgerlich »noch mal von vorn«<br />

brummte. Der Junge bekam feuchte Hände und einen<br />

roten Kopf, aber er nahm sich zusammen und war dieses<br />

Mal rechtzeitig da. Als dann etwas später die erste Geige<br />

einsetzte, war es, als ob die Sonne aufging. Wilhelm<br />

eroberte sich mit seinem strahlenden Geigenklang,<br />

seinem ausdrucksvollen Spiel, das bei allem Gefühl,<br />

welches er hineinlegte, immer klar und durchsichtig und<br />

sauber intoniert blieb, sofort die Herzen <strong>der</strong> Zuhörer und<br />

<strong>der</strong> Mitspieler. Und jetzt ging es Gertrud so, wie es ihm<br />

vorhin gegangen war: Sie konnte den Blick nicht<br />

abwenden von dem schlanken, gut aussehenden jungen<br />

Mann, <strong>der</strong> wie verwachsen schien mit seiner Geige.<br />

Eine blonde Haarsträhne fiel ihm ins Gesicht, aber er<br />

merkte es nicht. Gertrud meinte zu spüren, dass die<br />

Musik vollständig von ihm Besitz ergriffen hatte.<br />

31


Paul konnte seine Nervosität nicht ganz ablegen.<br />

Wahrscheinlich war es auch die Gegenwart des Vaters,<br />

die ihn unsicher machte. Er hatte fleißig geübt und<br />

konnte seinen Part, aber unter den strengen Blicken des<br />

Professors fühlte er sich nicht wohl in seiner Haut und<br />

machte Fehler. <strong>Im</strong> Mittelteil, wo die erste und die zweite<br />

Geige in Terzparallelen geführt werden, intonierte er<br />

unsauber und hielt das Tempo nicht durch, aber Oertel<br />

ließ nicht unterbrechen. Er warf seinem Sohn nur einen<br />

strafenden Blick zu. Später würde er ihm sagen, was er<br />

zu sagen hatte. So ging <strong>der</strong> erste Satz ohne eine größere<br />

Störung zu Ende.<br />

Vor dem zweiten Satz gab Friedrich Oertel kurze<br />

Anweisungen:<br />

»Die erste Zählzeit im Menuett sollte etwas betont<br />

werden, aber nicht übertrieben. <strong>Im</strong> dritten Satz kann die<br />

erste Geige Virtuosität zeigen. Aber ich denke, wir<br />

nehmen ihn zunächst allegro mo<strong>der</strong>ato und nicht allegro<br />

con brio. Wir spielen schließlich das erste Mal<br />

zusammen. Die Hauptsache <strong>ist</strong> jetzt, dass wir uns<br />

gegenseitig hören und aufeinan<strong>der</strong> eingehen. Nach dem<br />

Boccherini und vor dem Haydn werden wir dann eine<br />

Pause machen.«<br />

Die Pause war eine willkommene Entspannung für<br />

die Musiker. Sie ließen sich gern in das geräumige<br />

Esszimmer führen und setzten sich an den großen Tisch<br />

in <strong>der</strong> Mitte, auf dem die Kanne mit dem dampfenden<br />

Punsch und die appetitlich anzusehende Platte mit den<br />

Brötchen standen. Ein Strauß aus Tannengrün und<br />

Stechpalmen mit roten Beeren zierte den Tisch und<br />

erinnerte daran, dass die Adventszeit nahe war.<br />

32


Kerzenschein tauchte den Raum in ein warmes,<br />

gemütliches Licht. Martha goss den Punsch ein, und<br />

Emmy nahm gern die Lobreden entgegen, mit denen<br />

ihre Brötchen bedacht wurden. Dann ergriff Friedrich<br />

Oertel das Wort:<br />

»Ich freue mich, Wilhelm, dass wir Sie gewinnen<br />

konnten, in unserem Quartett mitzuspielen«, wandte er<br />

sich an seinen Studenten. »Sie haben einen schönen,<br />

ausdrucksvollen, klaren Ton, und das Zusammenspielen<br />

macht Ihnen ja keine Schwierigkeiten, wie ich gemerkt<br />

habe. Haben Sie schon in einem Ensemble mitgewirkt?«<br />

»Ich spiele manchmal mit ein paar Freunden<br />

zusammen«, antwortete <strong>der</strong> junge Mann bescheiden.<br />

»Nun, ich würde mich freuen, wenn wir Sie öfter in<br />

unserer Mitte haben könnten. Es sollte nicht bei dem<br />

heutigen Abend bleiben. Sie spielen ein sehr gutes<br />

Legato«, fügte Oertel dann hinzu, »aber vielleicht<br />

könnten Sie die Phrasierungen noch etwas deutlicher<br />

herausarbeiten.« Dann wandte er sich an die an<strong>der</strong>en:<br />

»<strong>Im</strong> Mittelteil des ersten Satzes bei Boccherini müssen<br />

wir <strong>der</strong> ersten Geige unbedingt die Führung überlassen.<br />

Die tieferen Stimmen sollten sich deshalb etwas<br />

zurückhalten. Auch bei Motivwie<strong>der</strong>holungen bitte auf<br />

die Dynamik achten, also mezzoforte o<strong>der</strong> piano<br />

spielen, je nachdem, was vorausgegangen <strong>ist</strong>.«<br />

Missbilligend sah <strong>der</strong> Professor seinen Sohn an. Der<br />

Junge kannte diesen Ausdruck in den Augen des Vaters<br />

und wusste, dass er gleich einen Tadel bekommen<br />

würde. »Paul, achte darauf, dass du immer mitzählst«,<br />

sagte er, und <strong>der</strong> vorwurfsvolle Ton in seiner Stimme<br />

war nicht zu überhören. »Du b<strong>ist</strong> bei deinen Einsätzen<br />

ein paar Mal zu spät gewesen, und gewackelt hat es fast<br />

33


jedes Mal. Bemühe dich, das Tempo mitzuhalten. Auch<br />

deine Intonation <strong>ist</strong> nicht immer ganz sauber. Nimm dir<br />

ein Beispiel an Herrn Zeidler, <strong>der</strong> selbst seine<br />

Oktavsprünge lupenrein spielt und seinen Ton schön<br />

ausschwingen lässt. Du solltest überhaupt noch <strong>mehr</strong><br />

üben, insbeson<strong>der</strong>e die Triller.«<br />

»Na, na, Oertel«, mischte sich Professor Reisinger<br />

begütigend ein, »seien Sie nicht so streng mit dem<br />

jungen Mann. Für das erste Mal hat er sich doch tapfer<br />

geschlagen. Und geübt hat er, das konnte man merken.«<br />

Er klopfte Paul, <strong>der</strong> neben ihm saß, aufmunternd auf die<br />

Schulter: »Wenn man zum ersten Mal mit geübten<br />

Musikern zusammenspielt, dann <strong>ist</strong> man nervös und<br />

aufgeregt. Ist mir in deinem Alter genau so gegangen.<br />

Nur Mut, du wirst noch ein guter Geiger werden.«<br />

Paul wurde über und über rot und wusste vor<br />

Verlegenheit nicht, wohin er gucken sollte. Er starrte<br />

krampfhaft auf das Brötchen auf seinem Teller, aber er<br />

hatte einen Kloß in <strong>der</strong> Kehle und konnte nichts<br />

herunterkriegen. Warum muss Vater nur immer an mir<br />

herummeckern? Nichts kann ich ihm recht machen.<br />

<strong>Im</strong>mer hat er etwas auszusetzen. Er fühlte ich enttäuscht<br />

und entmutigt, denn er hatte sich so viel Mühe gegeben<br />

und fleißig geübt.<br />

Es hatte sich so ergeben, dass Gertrud und Wilhelm<br />

einan<strong>der</strong> gegenüber saßen. Dadurch begegneten sich<br />

ihre Blicke während des Essens immer wie<strong>der</strong>. Und<br />

obwohl sie die Augen schnell nie<strong>der</strong>schlug, so fing sie<br />

doch seinen Blick auf, einen Blick, in dem sich<br />

Bewun<strong>der</strong>ung und Zärtlichkeit mischten und <strong>der</strong> ihr<br />

Herzklopfen verursachte.<br />

34


Nach <strong>der</strong> Pause gingen sie wie<strong>der</strong> in den Salon.<br />

Professor Reisinger und Paul waren jetzt die Zuhörer.<br />

Gertrud setzte sich ans Klavier, und Oertel und Wilhelm<br />

stimmten noch einmal ihre Instrumente. Schon gleich<br />

im ersten Satz, in dem Geige und Klavier miteinan<strong>der</strong><br />

gehen, dann sich loslassen und in einem Frage- und<br />

Antwortspiel wie<strong>der</strong>finden, empfand Gertrud eine<br />

geheimnisvolle Übereinstimmung mit Wilhelm. Sie<br />

fühlte sich von <strong>der</strong> Geigenmelodie auf eine bisher nicht<br />

erlebte Art und Weise inspiriert, getragen, an die Hand<br />

genommen und in Bereiche geführt, die sie nicht kannte.<br />

Und als dann <strong>der</strong> Teil kam, in dem das Klavier die<br />

Führung übernimmt, war sie voller Bege<strong>ist</strong>erung. Mit<br />

einem überströmenden Glücksgefühl variierte sie<br />

virtuos die Melodie <strong>der</strong> Geige. Der ruhige zweite Satz<br />

mit seinen Kantilenen voller Poesie glich einem<br />

Ausatmen, einer inneren Entspannung und Beruhigung.<br />

Er war gewissermaßen eine Zäsur, bevor <strong>der</strong> letzte Satz<br />

– ein Zigeunertanz – mit übersprudeln<strong>der</strong> Lebendigkeit<br />

Spieler und Zuhörer in seinen Bann schlug. Wilhelm<br />

und Gertrud beflügelten sich gegenseitig mit ihrer<br />

Spielfreude. Ihr war, als hätten sie schon immer<br />

zusammen musiziert, als sei dies nicht das erste Mal.<br />

Keine Fremdheit war zwischen ihnen. Es war ein<br />

selbstverständliches Miteinan<strong>der</strong>, ein gemeinsames<br />

Schwingen im Ge<strong>ist</strong>e <strong>der</strong> Musik. Als <strong>der</strong> letzte Ton<br />

verklungen war und die Zuhörer Beifall klatschten,<br />

sahen sie sich glücklich und mit vor Bege<strong>ist</strong>erung<br />

heißen Gesichtern an. Sie hätten noch lange so<br />

weiterspielen mögen, um diese gegenseitige<br />

Verzauberung nicht aufhören zu lassen.<br />

35


Professor Reisinger verabschiedete sich bald.<br />

Wilhelm wusste, dass es sich für ihn gehörte, nun auch<br />

zu gehen, obwohl er so gerne noch geblieben wäre. Er<br />

bedankte sich höflich bei Professor Oertel für den<br />

schönen Abend und wurde eingeladen, doch bald<br />

wie<strong>der</strong>zukommen.<br />

»Wir planen ein Hauskonzert mit dem heutigen<br />

Programm. Es würde mich freuen, wenn Sie dabei<br />

wären, Wilhelm. Ich werde meinen Kollegen, <strong>der</strong> heute<br />

verhin<strong>der</strong>t war, fragen, ob er Ihnen für eine Weile seinen<br />

Platz überlässt. Die Art und Weise, wie Sie an die<br />

Stücke herangehen, hat mir sehr gut gefallen. Herr<br />

Scholz <strong>ist</strong> ein vielbeschäftigter Mann und hat sicher<br />

nichts dagegen. Ein paar Mal sollten wir noch vorher<br />

üben. Der heutige Abend war ja eigentlich <strong>mehr</strong> ein<br />

Kennenlernen. Ich dachte, dass wir zunächst einmal<br />

ausprobieren müssten, ob wir in dieser Besetzung<br />

zueinan<strong>der</strong> passen. Außerdem sollten wir uns bekannt<br />

machen mit dem Gesamtklang <strong>der</strong> Stücke. Manche<br />

Einsätze müssten noch präziser herausgearbeitet<br />

werden, und auch über Tempi und Ritardandi müssten<br />

wir uns verständigen. Gertrud und ich werden außerdem<br />

eine Cellosonate spielen.«<br />

Gertrud reichte Wilhelm ihre Hand zum Abschied,<br />

und er drückte einen zarten Kuss darauf, <strong>der</strong> auch als<br />

Höflichkeit verstanden werden konnte. Aber sie<br />

empfand bei <strong>der</strong> Berührung seiner Lippen eine seltsame,<br />

unbekannte Erregung. Noch in den nächsten Tagen<br />

spürte sie seinen Kuss auf ihrem Handrücken, und<br />

manchmal warf sie einen verstohlenen Blick auf die<br />

Stelle, als wolle sie prüfen, ob dort etwas zu sehen sei.<br />

36


20 . November<br />

1913,<br />

vormittag<br />

s<br />

I<br />

ch bin noch ganz durcheinan<strong>der</strong>! Endlich gab es<br />

wie<strong>der</strong> Hausmusik bei uns! Vater hatte einen seiner<br />

Studenten eingeladen, die erste Geige zu spielen,<br />

weil Professor Scholz nicht konnte. Er spielte<br />

hinreißend! Ich muss immerzu an ihn denken. Wie er<br />

den Bogen führte ... leicht und doch kraftvoll ... sein<br />

seelenvoller Ton ... mir <strong>ist</strong>, als habe er sich mit seiner<br />

Geige tief in mein Herz hineingespielt. Den Kuss auf<br />

meine Hand ... ich spüre ihn noch immer ... <strong>der</strong> Blick,<br />

mit dem er mich ansah ... er ging mir durch und durch<br />

... ich muss ihn wie<strong>der</strong>sehen!<br />

Der Morgen versprach einen strahlenden Tag. Noch<br />

war die Sonne nicht zu sehen, denn sie wurde von <strong>der</strong><br />

gegenüberliegenden Häuserfront verdeckt. Doch ihr<br />

Schein tauchte die Dächer und das darüberliegende<br />

Stück Himmel in pures Gold. Ein paar weiße Wölkchen<br />

schwammen im zarten Blau des Firmaments.<br />

Gertrud erwachte früher als sonst. Sie freute sich auf<br />

diesen Tag. Zeidlers hatten sie zu einem Picknick<br />

eingeladen. Einen ganzen Tag mit Wilhelm<br />

zusammensein zu können ... dieser Gedanke machte sie<br />

schwindlig vor Glück. Sie hatte das Gefühl, als würde<br />

ihr Blut schneller durch ihre A<strong>der</strong>n fließen. Alle ihre<br />

Nerven schienen zu vibrieren. Seit jenem<br />

37


Hausmusikabend waren sie sich immer wie<strong>der</strong><br />

begegnet, und sie empfand eine wachsende Zuneigung,<br />

ja eine Vertrautheit mit dem jungen Mann, über die sie<br />

sich zunächst selbst wun<strong>der</strong>te. Aber dann ließ sie es<br />

geschehen, dass er immer <strong>mehr</strong> von ihrem Denken und<br />

Fühlen Besitz ergriff. Sie sehnte sich nach seiner Nähe.<br />

Sie konnte stundenlang am Flügel sitzen und die Stücke<br />

spielen, die er so gern hörte. Vor ihrem inneren Auge<br />

erstand dann sein Bild, und sie spielte nur für ihn.<br />

Emmy, die einmal ins Zimmer kam, meinte: »Sie<br />

spielen wun<strong>der</strong>schön, Fräulein Gertrud, mit viel <strong>mehr</strong><br />

Empfindung als früher, viel ausdrucksvoller.«<br />

Sie blieb noch einen Augenblick liegen und gab sich<br />

einer süßen, träumerischen Stimmung hin, in <strong>der</strong><br />

Vorfreude und Erwartung sich mischten, dann holte sie<br />

die Helligkeit des Sommermorgens, die durch die<br />

weißen Vorhänge ins Zimmer drang, aus dem Bett. Sie<br />

hatte zwar noch viel <strong>Zeit</strong>, um zehn Uhr wollten Zeidlers<br />

sie mit <strong>der</strong> Kutsche abholen, und jetzt war es erst sieben.<br />

Aber sie war kribbelig vor Ungeduld und Erwartung.<br />

Außerdem musste sie ja noch ein passendes Kleid<br />

auswählen, und auch die Frisur sollte heute beson<strong>der</strong>s<br />

sorgfältig aufgesteckt werden. Ein Blick aus dem<br />

Fenster sagte ihr, dass es sicher warm werden würde.<br />

Also kam nur ein Sommerkleid in Frage. Sie probierte<br />

zuerst ein hellblaues Kleid an, von dem sie dachte, dass<br />

es ihr beson<strong>der</strong>s gut stand, entschied sich dann aber<br />

an<strong>der</strong>s, weil es ihr mit seinem empfindlichen<br />

Seidenstoff und den Rüschen und Schleifen für ein<br />

Picknick im Freien nicht geeignet erschien. Das<br />

schlichte rosa Baumwollkleid kam eher in Frage, aber<br />

sie fand es mit seinem weiten Glockenrock zu<br />

38


altmodisch. So etwas trägt man heute nicht <strong>mehr</strong>, sagte<br />

sie zu sich selbst, die modischen Röcke sind enger. Sie<br />

haben höchstens Falten o<strong>der</strong> Plissee. Schließlich<br />

entschied sie sich für ein weißes Musselinkleid in<br />

Prinzessform. Es hatte einen kleinen viereckigen<br />

Ausschnitt, <strong>der</strong> mit Spitze unterlegt war, und<br />

dreiviertellange Ärmel. Gertrud drehte sich vor dem<br />

Spiegel hin und her und war zufrieden mit ihrem<br />

Äußeren. Ob ich Wilhelm gefallen werde? Sie errötete<br />

ein bisschen bei diesem Gedanken. In das Gefühl einer<br />

leichten Unsicherheit mischte sich freudige Erwartung.<br />

Dann war es <strong>Zeit</strong> zum Frühstück, und sie ging hinunter.<br />

Pünktlich um zehn Uhr klingelte Wilhelm, und<br />

Gertrud, die es nicht <strong>mehr</strong> erwarten konnte, lief selbst<br />

zur Tür, um zu öffnen. Er machte eine spontane<br />

Bewegung, als wolle er sie in die Arme schließen, aber<br />

als er Emmy im Hintergrund auftauchen sah, hielt er<br />

inne und gab ihr nur die Hand, wie es sich gehörte.<br />

»Guten Morgen! Ich freue mich so, dass Sie mit uns<br />

kommen«, sagte er leise. Seine Stimme hatte einen<br />

zärtlichen Unterton. Er führte Gertrud zur Kutsche und<br />

half ihr beim Einsteigen. Herr und Frau Zeidler<br />

streckten Gertrud ihre Hände entgegen und begrüßten<br />

sie freundlich, und auch die beiden Jungen, die mit in<br />

<strong>der</strong> Kutsche saßen, bemühten sich, eine artige<br />

Verbeugung anzudeuten. Dabei stießen sie sich an und<br />

kicherten. Emmy reichte einen Korb hinauf: »Ich habe<br />

einen Rodonkuchen gebacken, Fräulein Gertrud, wie ich<br />

es Ihnen versprochen habe. Lassen Sie ihn sich<br />

schmecken«, setzte sie, zu den übrigen Insassen <strong>der</strong><br />

Kutsche gewandt, lächelnd hinzu. Dann verabschiedete<br />

sie sich und winkte noch einmal zurück, während sich<br />

39


die beiden Braunen mit gemächlichem Tempo in<br />

Bewegung setzten.<br />

»Wir freuen uns, dass Sie uns begleiten«, sagte<br />

Wilhelms Onkel zu Gertrud gewandt.<br />

»Hoffentlich wird es nicht zu heiß. Ich kann die Hitze<br />

so schlecht vertragen«, seufzte die Tante.<br />

»Wir suchen ein schattiges Plätzchen aus«, beruhigte<br />

sie ihr Mann.<br />

»Kommst du mit uns auch Schmetterlinge fangen?«,<br />

fragte einer <strong>der</strong> beiden Jungen.<br />

»O<strong>der</strong> Steine sammeln?«, mischte sich <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e<br />

ein. Stolz zeigten sie Gertrud ihre Schmetterlingsnetze<br />

und ihre Botanisiertrommel.<br />

Wilhelm wohnte für die <strong>Zeit</strong> seines Studiums bei dem<br />

jüngeren Bru<strong>der</strong> seines Vaters, und die beiden Jungen<br />

waren seine Vettern, zehn und zwölf Jahre alt. Die<br />

Sommerferien hatten gerade angefangen, und deshalb<br />

brauchten sie heute nicht zur Schule zu gehen. Sie waren<br />

zappelig und ausgelassen. Der Onkel musste sie<br />

<strong>mehr</strong>mals ermahnen, doch während <strong>der</strong> Kutschfahrt<br />

stillzusitzen.<br />

»<strong>Im</strong> ›Grünen Jäger‹ kehren wir erst einmal ein und<br />

trinken etwas«, verkündete Herr Zeidler, was von seinen<br />

beiden Söhnen mit Bege<strong>ist</strong>erung aufgenommen wurde.<br />

Inzwischen hatten sie in gemütlicher Fahrt den<br />

Stadtrand erreicht. Gelegentlich knallte <strong>der</strong> Kutscher<br />

mit <strong>der</strong> Peitsche, um die Pferde zu einer etwas flotteren<br />

Gangart anzutreiben, aber das gelang ihm nur für kurze<br />

<strong>Zeit</strong>, dann fielen sie wie<strong>der</strong> in ihren langsamen Trott.<br />

Oben auf dem Kutschbock saß Käte, das Hausmädchen<br />

von Zeidlers, mit dem großen Picknickkorb. Sein<br />

40


geheimnisvoller Inhalt schien vielversprechend zu sein,<br />

und einer <strong>der</strong> beiden Jungen meinte, dass er jetzt schon<br />

Hunger habe. »Warte es ab«, brummte <strong>der</strong> Vater.<br />

Gertrud hatte sich in ihrer Ecke bequem<br />

zurückgelehnt. Gewiegt von den leichten, schaukelnden<br />

Bewegungen <strong>der</strong> Kutsche und mit Wilhelm an ihrer<br />

Seite fühlte sie sich wohl und geborgen. Verträumt<br />

betrachtete sie die Landschaft. Zu beiden Seiten <strong>der</strong><br />

Straße dehnten sich Wiesen, die jetzt im Sommer von<br />

vielen blühenden Blumen bunt gesprenkelt waren. Ihr<br />

Grün mischte sich mit dem Weiß <strong>der</strong> Margeriten. Gelbe,<br />

blaue, violette und rote Farbtupfer machten das Bild<br />

vollkommen. Auf den Fel<strong>der</strong>n stand das Getreide schon<br />

hoch und begann, sich gelb zu färben. Roter Mohn und<br />

blaue Kornblumen bildeten dazwischen farbige Inseln.<br />

Die Luft war vom Gesang <strong>der</strong> Lerchen erfüllt. Gertrud<br />

beobachtete, wie sie in steilem Flug vom Boden in die<br />

Luft aufstiegen und geradewegs in den Himmel hinauf<br />

zu fliegen schienen. Hie und da waren kleine<br />

Baumgruppen zu sehen, und in <strong>der</strong> Ferne konnte man<br />

einige weidende Kühe und Schafe erkennen. Es <strong>ist</strong> so<br />

still, so friedlich, dachte Gertrud. Am liebsten hätte sie<br />

diesen Augenblick festhalten und immer so<br />

weiterfahren mögen. Wenn nur diese harmonische<br />

Stimmung nie enden würde.<br />

Wilhelm betrachtete sie von <strong>der</strong> Seite. Er hatte ihre<br />

Hand in die seine genommen. Ihr feines Profil, ihr<br />

dunkel schimmerndes Haar, das unter dem breiten,<br />

weißen Hut hervorsah, ihre weiche Haut, <strong>der</strong> Duft, <strong>der</strong><br />

von ihr ausging, ihre ganze Persönlichkeit berührte ihn<br />

immer wie<strong>der</strong> aufs Neue tief und ließ den Wunsch in<br />

ihm wach werden, sie in die Arme zu schließen, ganz<br />

41


fest, und ihr Gesicht, ihren Mund mit Küssen zu<br />

bedecken. Seit einigen Tagen quälte er sich mit <strong>der</strong><br />

Frage, wie sie wohl reagieren würde, wenn er sie bäte,<br />

seine Frau zu werden. Seit jener ersten Begegnung im<br />

November beim gemeinsamen Musizieren, <strong>der</strong> so viele<br />

Stunden glücklichen Zusammenseins gefolgt waren,<br />

hatte sie ihn immer wie<strong>der</strong> mit ihrer Erscheinung und<br />

ihrem Wesen bezaubert, und er meinte zu spüren, dass<br />

auch sie ihn mochte. Der Gedanke, sie zu heiraten, ging<br />

ihm immer öfter durch den Kopf, doch dann zweifelte<br />

er wie<strong>der</strong>, ob er sich schon so früh binden sollte. Sie<br />

waren beide noch so jung, er studierte noch, und<br />

außerdem, vielleicht wollte sie ihn ja doch nicht zum<br />

Mann. Aber während er neben ihr saß und sie ansah, ihre<br />

Gegenwart hautnah spürte, war er sich vollkommen<br />

sicher, dass er sie und nur sie zu seiner Frau machen<br />

wollte. Er nahm sich vor, ihr heute die entscheidende<br />

Frage zu stellen, und sein Herz klopfte schneller bei<br />

diesem Gedanken. Gertrud schien es zu spüren. Sie<br />

wandte kurz den Kopf und lächelte ihm zu.<br />

Mit einem »Brrr« hielt <strong>der</strong> Kutscher die Pferde an,<br />

und <strong>der</strong> Wagen stand still. Sie waren vor dem »Grünen<br />

Jäger« angekommen. Die beiden jungen Leute schraken<br />

aus ihren Gedanken hoch. Sie hatten gar nicht bemerkt,<br />

dass die Fahrt zu Ende war.<br />

»So, aussteigen«, rief <strong>der</strong> Onkel aufgeräumt, »wir<br />

sind da.« Alle kletterten aus <strong>der</strong> Kutsche, Käte hievte<br />

den großen Picknickkorb vom Kutschbock herunter,<br />

und Herr Zeidler zahlte den Kutscher aus. »Heute<br />

Nachmittag um fünf Uhr holen Sie uns bitte hier wie<strong>der</strong><br />

ab«, sagte er noch, dann gingen alle in den großen<br />

Garten des Restaurants.<br />

42


»Da hinten, unter dem Baum <strong>ist</strong> am me<strong>ist</strong>en<br />

Schatten«, sagte die Tante echauffiert und steuerte auf<br />

eine entlegene Ecke im Hintergrund zu. Sie war ein<br />

bisschen füllig und schwitzte leicht. Während <strong>der</strong> Fahrt<br />

hatte sie sich schon des Öfteren mit ihrem<br />

Spitzentaschentuch Kühlung zugefächelt, und die Sonne<br />

stand jetzt hoch am Himmel. Es war spürbar wärmer<br />

geworden.<br />

Der Ober kam schnell, um die Bestellung<br />

aufzunehmen, denn um diese <strong>Zeit</strong> gab es noch nicht<br />

viele Gäste. Bald darauf wurden die Getränke auch<br />

schon gebracht, für die Herren je ein großes Bier, für die<br />

Jungen Zitronenlimonade und Himbeerlimonade für die<br />

Damen.<br />

Gertrud hatte ihren Hut abgesetzt und ihn neben sich<br />

auf einen leeren Stuhl gelegt. Ein sanfter Wind kühlte<br />

ihre Stirn und löste eine Haarsträhne aus <strong>der</strong> Frisur, was<br />

ihrem Gesicht einen beson<strong>der</strong>en Reiz verlieh. Wilhelm,<br />

<strong>der</strong> ihr gegenüber saß, unterdrückte nur mit Mühe das<br />

Verlangen aufzuspringen, die Haarsträhne aus ihrem<br />

Gesicht zu streichen und sie zu küssen.<br />

Als sie sich erfrischt hatten, gingen sie zu Fuß weiter.<br />

Wilhelm und Gertrud hatten sich bei <strong>der</strong> Hand gefasst.<br />

Der Weg führte vorbei an einem idyllisch gelegenen Gut<br />

mit einem romantischen Teich, <strong>der</strong> von dichtem Schilf<br />

umrandet war und über dem zahllose Libellen<br />

schwebten.<br />

»Sieh mal, wie schön!« Sie blieben stehen. Gertrud<br />

lehnte sich leicht an Wilhelms Schulter und betrachtete<br />

mit einem entrückten Ausdruck im Gesicht die liebliche<br />

Szenerie. Wilhelm hatte jedoch nur Augen für Gertrud.<br />

Für ihn konnte es im Augenblick nichts Schöneres<br />

43


geben. Plötzlich bemerkte sie, dass die übrige<br />

Gesellschaft sich schon ein ganzes Stück von ihnen<br />

entfernt hatte. »Komm«, rief sie erschrocken und zog<br />

Wilhelm mit sich fort, »wir müssen uns beeilen.«<br />

Lachend liefen sie hinter den an<strong>der</strong>en her. Ein<br />

Picknickplatz war bald gefunden: eine Wiese an einem<br />

kleinen Gehölz, die sowohl Schatten als auch sonnige<br />

Stellen bot. Die beiden Jungen liefen sofort los, um mit<br />

ihren Schmetterlingsnetzen und <strong>der</strong> Botanisiertrommel<br />

auf »Schatzsuche« zu gehen. Frau Zeidler und Käte<br />

bereiteten das Picknick vor, wobei Gertrud ihnen zur<br />

Hand ging. Als sie ihren Rodonkuchen auspackte, war<br />

die Freude groß. »Den essen wir später zum Kaffee«,<br />

schlug die Tante vor. Alle langten kräftig zu. »<strong>Im</strong> Freien<br />

schmeckt es doch am besten, nicht wahr, Fräulein<br />

Gertrud?« meinte die Tante, zu ihrem Gast gewandt.<br />

Gertrud nickte und sagte, dass sie sich ganz beson<strong>der</strong>s<br />

auf den heutigen Tag gefreut habe. Herr und Frau<br />

Zeidler tauschten einen vielsagenden Blick, den Gertrud<br />

eigentlich nicht sehen sollte, aber sie bemerkte ihn und<br />

errötete.<br />

Nach dem Essen zündete sich <strong>der</strong> Onkel eine Zigarre<br />

an, Käte räumte das Geschirr zusammen und verstaute<br />

es in dem großen Korb. »Ich lege mich ein bisschen hin<br />

und mache ein Nickerchen«, sagte die Tante.<br />

Wilhelm sah Gertrud an. »Sollen wir einen kleinen<br />

Spaziergang machen?«, fragte er. Sie nickte, und Hand<br />

in Hand gingen sie einen schmalen Weg entlang, <strong>der</strong><br />

tiefer in das Gehölz hineinführte. Rundum Stille, auch<br />

die Vögel schwiegen in <strong>der</strong> Mittagshitze, nur das<br />

Summen von Insekten war zu hören und aus <strong>der</strong> Ferne<br />

das Rufen <strong>der</strong> spielenden Kin<strong>der</strong>. In dieser Lautlosigkeit<br />

44


kam es ihnen so vor, als könnten sie gegenseitig den<br />

Herzschlag des an<strong>der</strong>en wahrnehmen, spüren, wie das<br />

Blut seinen Körper durchfließt, seine geheimsten<br />

Gedanken und Gefühle erraten. So nah beieinan<strong>der</strong> zu<br />

sein, das war für beide ein fast bedrängendes Erlebnis.<br />

»Ein herrlicher Tag«, sagte Wilhelm und wun<strong>der</strong>te sich<br />

selbst darüber, wie fremd seine Stimme auf einmal<br />

klang. Verlegen dachte er, dass dies eine überflüssige<br />

und alberne Bemerkung war. Er wollte auch eigentlich<br />

etwas an<strong>der</strong>es sagen, aber er hatte keine Worte für die<br />

übermächtigen Gefühle, die sein Inneres erfüllten. Es<br />

war, als ob seine Gedanken und Empfindungen in einem<br />

Kerker eingeschlossen waren, aus dem sie keinen<br />

Ausweg fanden, so verzweifelt sie sich auch bemühten.<br />

»Und so still«, antwortete Gertrud, »noch nicht<br />

einmal die Vögel singen.« Sie warf Wilhelm einen<br />

scheuen Blick zu, in den sich eine unbewusste<br />

Zärtlichkeit mischte. Wilhelm legte den Arm um<br />

Gertrud und zog sie näher an sich. Seine Berührung<br />

erregte sie, ging durch ihren Körper wie ein<br />

elektrisieren<strong>der</strong> Strom. Verwirrt bemerkte sie, dass sie<br />

sich wünschte, seine Lippen auf den ihren zu spüren.<br />

Aber Wilhelm wagte nicht, sie auf den Mund zu küssen.<br />

Er hauchte ihr einen zarten Kuss auf die Wange, <strong>mehr</strong><br />

getraute er sich nicht.<br />

»Sollen wir uns hier ein bisschen hinsetzen?«, fragte<br />

Gertrud, und deutete auf eine kleine Waldwiese. Dann<br />

lagen sie nebeneinan<strong>der</strong> im lichten Baumschatten auf<br />

trockenem Gras. Die Zweige dämpften das Sonnenlicht,<br />

sodass es wärmte, aber nicht verbrannte. Wie ein Filter<br />

ließen sie einzelne Strahlen hindurch, es sah wie ein<br />

Fächer aus. Die Atmosphäre hat etwas Traumhaftes,<br />

45


Unwirkliches, dachte Gertrud. Sie ließ ihre Gedanken<br />

schweifen, Bil<strong>der</strong> erfüllten ihre Seele. Die erste<br />

Begegnung mit Wilhelm, damals, an dem<br />

Hausmusikabend im November, wurde wie<strong>der</strong><br />

lebendig. Wie tief war sie berührt von seinem<br />

ausdrucksvollen Geigenspiel, sie konnte es nicht<br />

vergessen. Damals fing alles an, ging es ihr durch den<br />

Kopf. Dann kamen die nächsten Musikabende, und<br />

dann das Konzert: Wie schön war es, mit ihm<br />

gemeinsam zu musizieren, wie fühlte sie sich von ihm<br />

inspiriert, getragen, mitten hineingenommen in die<br />

Musik, so als ob sie eins wären. Das zufällige Treffen<br />

auf <strong>der</strong> Eisbahn ... Es war einer jener klaren Tage im<br />

Januar gewesen. Die frostige Luft ließ alles erstarren,<br />

und ein kalter Ostwind brannte im Gesicht und drang<br />

durch die Kleidung bis auf die Haut. Aber die Sonne<br />

wärmte schon ein bisschen. Sie war mit ihrer Freundin<br />

Olga zum Schlittschuhlaufen gegangen. Eine Weile<br />

zogen sie bereits ihre Kreise, da war plötzlich jemand<br />

neben ihr und lief mit ihr auf gleicher Höhe. Sie drehte<br />

den Kopf, und ein freudiges Erschrecken durchzuckte<br />

sie: Wilhelm. Er nahm sie bei <strong>der</strong> Hand und führte sie<br />

mit sich fort. Wie leicht fühlte sie sich an seinem Arm,<br />

wie sicher, ohne Angst, dass sie fallen könnte. Es war,<br />

als schwebten sie über die glatte Fläche. Sie hatte das<br />

Gefühl, immer so weiterlaufen zu können bis ans Ende<br />

<strong>der</strong> Welt.<br />

Aus diesem zufälligen Treffen wurde eine Reihe von<br />

Verabredungen. <strong>Im</strong>mer war Olga mit von <strong>der</strong> Partie. So<br />

konnte sie zu Hause sagen, dass sie mit einer Freundin<br />

Schlittschuhlaufen ging. Ein Treffen allein mit Wilhelm<br />

– auch wenn <strong>der</strong> Vater ihn noch so gern mochte, dem<br />

46


hätte er nicht zugestimmt. Und Olga, verständnisvoll,<br />

wie sie war, trennte sich von ihr, sowie sie auf <strong>der</strong><br />

Eisbahn angekommen waren. Sie verabredeten sich für<br />

den Nachhauseweg, und dann war sie mit Wilhelm<br />

allein. Einmal wäre sie beinahe gestürzt, aber er fing sie<br />

auf und hielt sie fest. Man müsste immer jemanden<br />

haben, <strong>der</strong> einen auffängt und festhält, wünschte sie.<br />

Ein paar Mal waren sie zusammen im Theater,<br />

begleitet vom Vater. Und wenn seine Gegenwart sie<br />

beide auch etwas befangen machte, es war trotzdem<br />

schön. Jedes Zusammensein mit Wilhelm hat mich<br />

glücklich gemacht, auch wenn wir nicht allein waren!<br />

Einmal hatte <strong>der</strong> Vater sogar erlaubt, dass sie mit ihm in<br />

eines <strong>der</strong> neumodischen Kinos ging und einen<br />

Stummfilm ansah. Es war erst ein paar Wochen her. Er<br />

hatte ihre Hand in die seine genommen, und in <strong>der</strong><br />

Dunkelheit des Raumes spürte sie seine Nähe wie eine<br />

schützende Hülle. Sie konnte kaum auffassen, was sich<br />

auf <strong>der</strong> Leinwand vor ihr abspielte. Und als sie zu Hause<br />

nach dem Film gefragt wurde, kam sie ins Stottern. Seit<br />

Mutters Tod habe ich mich nicht <strong>mehr</strong> so unbeschwert,<br />

so glücklich gefühlt wie in seiner Gegenwart, dachte sie<br />

schwärmerisch.<br />

Auch Wilhelm hing seinen Gedanken nach, aber sie<br />

waren nicht in die Vergangenheit gerichtet. Sie<br />

beschäftigten sich mit <strong>der</strong> Gegenwart und kre<strong>ist</strong>en nur<br />

um die eine Frage: Soll ich Gertrud einen Heiratsantrag<br />

machen, soll ich sie fragen, ob sie meine Frau werden<br />

will? Sie so nah bei sich zu haben wie gerade jetzt im<br />

Augenblick weckte in ihm ein leidenschaftliches<br />

Verlangen. Er wollte sie festhalten, fürs Leben<br />

festhalten! Ein ganzes Leben mit ihr, was konnte es<br />

47


Schöneres geben! Sein Studium hatte er fast beendet,<br />

das Examen würde er bestehen, daran zweifelte er nicht.<br />

Er würde auch eine Stelle finden und für eine Familie<br />

sorgen können, da war er ganz sicher. Aber <strong>der</strong><br />

Professor, Gertruds Vater, verunsicherte ihn. Er war<br />

sein Lehrer und außerdem so eine respektgebietende<br />

Persönlichkeit. Würde er ihn als Schwiegersohn<br />

akzeptieren? Als Studenten schätzte er ihn, dessen war<br />

Wilhelm sich bewusst, aber als Ehemann für seine<br />

Tochter? Das war etwas an<strong>der</strong>es.<br />

Er quälte sich mit seinen Gedanken, seiner<br />

Unschlüssigkeit. Dann sah er Gertrud neben sich an, wie<br />

sie dalag und verträumt in die Baumkronen hinaufsah,<br />

die Augen halb geschlossen. Das weiße Kleid, in dem<br />

die Sonnenstrahlen sich verfingen, umgab sie wie eine<br />

Hülle aus Licht. Auf ihrem Haar und Gesicht spielten<br />

die Schatten <strong>der</strong> vom Wind leicht bewegten Zweige.<br />

Von ihrem Liebreiz überwältigt, setzte er sich auf und<br />

ergriff sanft ihre Hand. Er wollte sie nicht erschrecken,<br />

nicht abrupt aus ihrer Verträumtheit herausreißen. Seine<br />

Stimme bebte, als er leise begann: »Fräulein Gertrud ...<br />

Gertrud ... ich möchte Ihnen sagen ... viel<strong>mehr</strong>, ich<br />

möchte Sie fragen ...«<br />

Aber er konnte den Satz nicht zu Ende sprechen.<br />

Unversehens kam einer <strong>der</strong> beiden Jungen auf ihn<br />

zugelaufen und schlug zum Spaß mit seinem<br />

Schmetterlingsnetz nach ihm. »Jetzt fange ich einen<br />

großen, dicken Schmetterling«, schrie er. Der Zauber<br />

<strong>der</strong> Stunde war jäh zerrissen. Gertrud war erschrocken,<br />

und Wilhelm sah seinen kleinen Vetter zunächst völlig<br />

verblüfft, dann aber verärgert an. »Könnt ihr einen denn<br />

48


nie in Ruhe lassen?«, schimpfte er. Der Junge,<br />

enttäuscht über den misslungenen Scherz, trollte sich.<br />

Aus <strong>der</strong> Ferne rief Frau Zeidler zum Kaffeetrinken,<br />

und so wurde es auch für die beiden jungen Leute <strong>Zeit</strong>,<br />

zu <strong>der</strong> Familie zurückzukehren. Gertrud hatte sich die<br />

Stimmung dieser Mittagsstunde in ihrem Innern<br />

bewahrt. Sie wusste ja nichts von Wilhelms<br />

Seelenqualen. Er jedoch war verstimmt.<br />

Nie<strong>der</strong>geschlagen trat er den Rückweg an.<br />

Als die beiden wie<strong>der</strong> am Picknickplatz eintrafen,<br />

war <strong>der</strong> Kuchen schon aufgeschnitten worden, und Frau<br />

Zeidler schenkte gerade den Kaffee ein. »Da seid ihr ja«,<br />

rief sie ihnen entgegen, »kommt, wir wollen noch<br />

gemütlich Kaffee trinken, und dann wird es <strong>Zeit</strong> für uns.<br />

Wir wollen die Kutsche nicht warten lassen.« In den<br />

nächsten Tagen hatte Gertrud das Gefühl, als lebte sie in<br />

einer beson<strong>der</strong>en, nur ihr zugänglichen Welt; als sei sie<br />

eingehüllt in eine lichte Wolke o<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Außenwelt<br />

getrennt durch einen zarten Schleier. Ihre Gedanken<br />

kre<strong>ist</strong>en um das Zusammensein mit Wilhelm. <strong>Im</strong>mer<br />

wie<strong>der</strong> sah sie sich mit ihm unter den Bäumen liegen,<br />

fühlte seine Nähe, spürte seine Berührung. Er wollte mir<br />

etwas sagen, dachte sie. Was kann das gewesen sein?<br />

Wollte er mich fragen ...? Am Abend, vor dem<br />

Einschlafen, wusste sie es auf einmal ganz genau: Wenn<br />

Wilhelm mich fragen würde, ob ich seine Frau werden<br />

will, ich würde ja sagen.<br />

Friedrich Oertel hatte seine Tochter schon eine <strong>Zeit</strong><br />

lang beobachtet. Sie hat sich verän<strong>der</strong>t, dachte er. Aus<br />

dem jungen Mädchen, das fast noch ein Kind war, <strong>ist</strong> in<br />

kurzer <strong>Zeit</strong> eine junge Frau geworden. Sie bewegt sich<br />

49


an<strong>der</strong>s, geht mit <strong>mehr</strong> Ruhe und Sicherheit durchs Haus,<br />

ein Leuchten, das aus dem tiefsten Inneren zu kommen<br />

scheint, gibt ihren fast noch kindhaften Zügen einen<br />

warmen, fraulichen Ausdruck. Wenn sie spricht, wählt<br />

sie die Worte sorgfältiger, mit <strong>mehr</strong> Besonnenheit und<br />

Überlegung. Außerdem scheint sie immer ein wenig<br />

abwesend zu sein, wie in Gedanken.<br />

Manchmal hört sie nicht, wenn sie angesprochen wird.<br />

Sie hat sich verliebt, ging es ihm durch den Kopf, sie hat<br />

sich in Wilhelm verliebt. Diese Erkenntnis freute ihn. Es<br />

wäre schön, wenn die beiden heiraten würden. Gertrud<br />

hätte ihren Platz im Leben gefunden, und Wilhelm<br />

würde sicher einmal eine glänzende berufliche Karriere<br />

machen. Die Fähigkeiten hatte er. Seit dem Tod seiner<br />

Frau fühlte er als Vater eine Art Verpflichtung, einen<br />

Mann für seine Tochter zu finden und damit ihre<br />

Zukunft zu sichern. So würde sich das Problem auf die<br />

beste Art und Weise von selbst lösen. Er lächelte vor<br />

sich hin. Ein paar Tage nach dem Picknick beschloss er,<br />

mit Gertrud zu sprechen, und rief sie zu sich in sein<br />

Studierzimmer.<br />

Mit klopfendem Herzen saß Gertrud ihrem Vater<br />

gegenüber. Ihr war beklommen zumute. Es muss etwas<br />

Beson<strong>der</strong>es sein, was er mir zu sagen hat, dachte sie.<br />

Über belanglose o<strong>der</strong> alltägliche Dinge spricht er<br />

me<strong>ist</strong>ens beim Essen o<strong>der</strong> zwischendurch. Aber warum<br />

schweigt er jetzt? Warum sagt er nichts? Es <strong>ist</strong>, als ob er<br />

mich gar nicht bemerken würde. Unbehaglich rutschte<br />

sie auf ihrem Stuhl hin und her.<br />

Oertel saß hinter seinem Schreibtisch. Er machte ein<br />

paar Notizen, ordnete dann die Papierbogen, die vor ihm<br />

50


lagen, nahm seine Brille ab und legte sie umständlich<br />

beiseite. Dann sah er Gertrud an. Seine Augen hatten<br />

dieses schalkhafte Blitzen, was sie manchmal haben<br />

können, wenn er sich freute o<strong>der</strong> wenn ihn etwas<br />

belustigte. Gertrud wurde unter seinen Blicken ganz<br />

warm ums Herz. Es war wohl nichts Unangenehmes,<br />

was er ihr sagen wollte. Er blickt gar nicht so streng<br />

drein wie sonst manchmal, dachte sie. Erleichtert atmete<br />

sie auf. Oertel schien nach Worten zu suchen.<br />

Schließlich räusperte er sich, strich mit <strong>der</strong> Hand über<br />

seinen Bart und zwinkerte Gertrud zu.<br />

»Du magst ihn wohl gern, den Wilhelm Zeidler?«<br />

Heiße Röte stieg ihr ins Gesicht. Auf diese Frage war<br />

sie nicht gefasst gewesen. Sie senkte verschämt den<br />

Kopf und schwieg.<br />

»Er <strong>ist</strong> ja auch ein netter Junge«, fuhr Oertel fort, »ein<br />

fleißiger und tüchtiger Student. Seine Vorexamina hat<br />

er mit »Gut« bestanden, und außerdem hat er einige<br />

hervorragende Arbeiten geschrieben. Er bringt alle<br />

Voraussetzungen dafür mit, einmal eine Frau und eine<br />

Familie standesgemäß unterhalten zu können.<br />

Außerdem stammt er aus guten Kreisen. Hat er sich dir<br />

schon erklärt?« Er sah Gertrud forschend an.<br />

»Nein«, hauchte sie. Es machte sie unsicher, dass ihr<br />

Vater sie so direkt ansprach auf ihre Hoffnungen und<br />

Wünsche, die sie in den Tiefen ihres Innern verborgen<br />

glaubte.<br />

»Na, es <strong>ist</strong> ja auch noch ein bisschen zu früh«, sagte<br />

Oertel in sachlichem Ton. Er schien Gertruds<br />

Verlegenheit nicht zu bemerken. »Erst muss er mal sein<br />

Abschlussexamen machen und eine Stellung finden, ehe<br />

er an Verlobung o<strong>der</strong> gar Hochzeit denken kann. Als<br />

51


gebildeter und verantwortungsbewusster junger Mann,<br />

<strong>der</strong> er <strong>ist</strong>, wird er sich das sicher selbst sagen.« Plötzlich<br />

wurde er sehr ernst. Die Heiterkeit, die er anfangs hatte,<br />

war ganz aus seinem Gesicht verschwunden. »Die<br />

politische Lage macht mir Sorgen. Es könnte Krieg<br />

geben.« Er hielt seine Augen starr auf die<br />

Schreibtischplatte geheftet und schien seinen Gedanken<br />

nachzuhängen. Seine Finger spielten nervös mit einem<br />

Ble<strong>ist</strong>ift. Es entstand eine längere Pause.<br />

Gertrud konnte nicht verstehen, was den Vater an<br />

dem Wort »Krieg« so beunruhigte. Sie dachte an die<br />

Siegesfeiern im August am Sedantag, an das<br />

Glockengeläute, das dann von allen Türmen her die<br />

Straßen erfüllte, an die wehenden Fahnen vor den<br />

Häusern, an die vielen Tausend Menschen, die sich auf<br />

dem Altstadtmarkt versammelten und die Kaiserhymne<br />

sangen und den Choral »Nun danket alle Gott«. Wie oft<br />

hatte sie selbst mitgesungen. Und die Soldaten in ihren<br />

schmucken Uniformen, die Kavaller<strong>ist</strong>en hoch zu Ross<br />

mit ihren in <strong>der</strong> Sonne blitzenden Säbeln, die Orden und<br />

Ehrenzeichen, die viele trugen ... das war so feierlich, so<br />

erhebend.<br />

Die besorgte Stimme des Vaters schreckte sie aus<br />

ihren Gedanken auf. »<strong>Im</strong> Falle eines Krieges <strong>ist</strong> damit<br />

zu rechnen, dass Wilhelm zu den Truppen einrücken<br />

muss.« Oertel strich sich mit <strong>der</strong> Hand über die Stirn, als<br />

wolle er diese Möglichkeit wegwischen. Dann straffte<br />

er sich. »Aber es wird wohl nicht so weit kommen, und<br />

wenn, dann wird es sicher nicht lange dauern.« Er stand<br />

auf, nahm Gertrud in den Arm und strich ihr zärtlich<br />

über das Haar. »Wenn es einmal so weit <strong>ist</strong>, meinen<br />

Segen habt ihr.«<br />

52


25 . Juni<br />

1914,<br />

nachmittags<br />

I<br />

ch fühle mich – ich weiß nicht wie. Glücklich?<br />

O<strong>der</strong> auch ein bisschen bange? Aber da <strong>ist</strong><br />

eine tiefe innere Freude, und dieses Gefühl<br />

durchdringt alles. Die Strahlen <strong>der</strong> Nachmittagssonne<br />

fallen durchs Fenster. Die bunten Glasscheiben lassen<br />

farbige Muster auf den Seiten meines Tagebuchs<br />

entstehen. Wie hübsch das aussieht, wie hell und<br />

freundlich, ein Spiegelbild meiner Stimmung. Vater war<br />

so verständnisvoll, so zärtlich zu mir. Es kommt nicht<br />

oft vor, dass er mich in den Arm nimmt, aber es macht<br />

mich immer sehr froh, wenn er es tut. Oh, wie wünsche<br />

ich mir, Wilhelms Frau zu werden! Aber will er mich<br />

auch? Wenn er da <strong>ist</strong>, dann bin ich ganz sicher, dass er<br />

genauso fühlt wie ich. Wie er mich ansieht, wie er meine<br />

Hand hält o<strong>der</strong> seinen Arm um mich legt ... das alles<br />

scheint mir zu sagen, dass er mich liebt, so wie ich ihn<br />

liebe. Doch wenn er nicht da <strong>ist</strong>, bin ich voller Bangen<br />

und Zweifel, zwischen Hoffen und Mutlosigkeit hinund<br />

hergerissen.<br />

In den letzten Julitagen des Jahres 1914 sprach man<br />

nur noch vom bevorstehenden Krieg. Selbst an Gertrud,<br />

die sich eingesponnen hatte in ihre Traumwelt <strong>der</strong> Liebe<br />

zu Wilhelm, gingen diese Gerüchte nicht vorüber. Die<br />

Ermordung von Erzherzog Franz Ferdinand und seiner<br />

Frau in Sarajevo, die die Menschen erregte, nahm sie<br />

53


kaum zur Kenntnis. Das war so weit weg. Es geschah in<br />

einem Land, in einer Stadt, die sie nicht kannte; und es<br />

war auch so fern von ihren Gedanken und Gefühlen. Das<br />

berührte sie nicht. Aber nun bemerkte sie, dass das<br />

Gesicht des Vaters noch ernster war als sonst und dass<br />

Emmy mit einer besorgten Miene durchs Haus ging.<br />

Paul verkündete, dass er das Notabitur machen und<br />

sich freiwillig melden wolle, falls es Krieg geben würde,<br />

und dem Vater schien es recht zu sein. Oertel erhoffte<br />

sich vom Militärdienst einen positiven erzieherischen<br />

Einfluss auf seinen Sohn, sowohl in physischer als auch<br />

in psychischer Hinsicht. Dieser Junge, dessen<br />

körperliche und seelische Konstitution immer ein<br />

bisschen empfindlich war, <strong>der</strong> noch wie ein halbes Kind<br />

wirkte, könnte sich als Soldat zum Manne entwickeln,<br />

meinte er. Er würde ja erst eine Ausbildung machen und<br />

wahrscheinlich gar nicht <strong>mehr</strong> an Kampfhandlungen<br />

teilnehmen. Der Krieg würde sicher in ein paar Wochen<br />

beendet sein. Mit diesen Gedanken beruhigte Oertel<br />

seine aufkeimenden Sorgen.<br />

Wenn die Menschen vom Krieg redeten, dann schien<br />

es Gertrud, als ob sie sich freuten, ja, als ob sie es gar<br />

nicht erwarten könnten, dass es nun endlich losging. Ihr<br />

war, als sei die Atmosphäre von einer Hochspannung<br />

erfüllt, die durch die schwüle Julihitze noch verstärkt<br />

wurde. Und dann, in den ersten Augusttagen, erklärte<br />

Deutschland zuerst Russland und zwei Tage danach<br />

Frankreich den Krieg. Die Mobilmachung wurde<br />

befohlen. War das eine Aufregung in den Straßen! Auch<br />

Gertrud hielt es nicht im Haus. Sie lief auf die Straße,<br />

hin zu dem <strong>Zeit</strong>ungsboten mit den Extrablättern. Sie<br />

drängte sich mit den Menschen vor den Depeschentafeln<br />

54


<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>ungen und vor dem Anschlag mit dem Aufruf<br />

des Herzogs. Überall wurde heftig und leidenschaftlich<br />

diskutiert. Wortfetzen drangen an ihr Ohr: »Na, endlich<br />

geht's los! ... Denen werden wir's zeigen ... Stellt euch<br />

das nicht so einfach vor ... nur ein paar Wochen? Das<br />

wird länger dauern ... Wir schreiben ein neues<br />

Ruhmesblatt in <strong>der</strong> deutschen Geschichte!« Sie sah die<br />

ersten Soldaten in Feldgrau die Straße<br />

entlangmarschieren, sah die Mädchen ihnen Blumen<br />

zuwerfen. Die Soldaten steckten die Blumen in ihre<br />

Gewehrläufe und warfen den Mädchen Kusshände zu.<br />

Mit <strong>der</strong> Menge sang Gertrud »Die Wacht am Rhein«<br />

und »Deutschland, Deutschland, über alles«. Das <strong>ist</strong> ja<br />

wie ein Volksfest, dachte sie, mitgerissen von dem Jubel<br />

und <strong>der</strong> Bege<strong>ist</strong>erung um sie herum.<br />

Emmy war skeptisch. »Dieser übertriebene<br />

Enthusiasmus gefällt mir nicht«, sagte sie am<br />

Mittagstisch. »Es kann doch jetzt noch keiner wissen,<br />

wie dieses Abenteuer ausgeht. Vielleicht kommt alles<br />

ganz an<strong>der</strong>s. Man soll sich nie zu früh freuen.«<br />

»Der Kaiser hat befohlen, und die deutschen Truppen<br />

marschieren. Dass sie es mit Freude tun und dass sie mit<br />

Beifallskundgebungen verabschiedet werden, zeugt<br />

doch nur von Vaterlandsliebe«, entgegnete Oertel. Er<br />

war zwar kein National<strong>ist</strong>, aber er hatte eine<br />

vaterländische Gesinnung. Durch seine human<strong>ist</strong>ische<br />

Bildung und seine wissenschaftliche Arbeit waren ihm<br />

die engstirnigen und einseitigen politischen Ansichten<br />

vieler seiner <strong>Zeit</strong>genossen fremd, er konnte über<br />

gesellschaftliche und nationale Grenzen hinausblicken.<br />

Mit einigen seiner wissenschaftlichen Kollegen in<br />

an<strong>der</strong>en europäischen Län<strong>der</strong>n pflegte er einen<br />

55


egelmäßigen Gedankenaustausch, las ihre Artikel in<br />

Fachzeitschriften, und auch seine Veröffentlichungen<br />

wurden außerhalb Deutschlands gelesen. Dadurch<br />

beschränkte sich sein Denken nicht nur auf nationale<br />

Themen. Er hatte auch einen offenen Blick für die<br />

Lebensweise an<strong>der</strong>er Völker. Aber er war dem Ge<strong>ist</strong> <strong>der</strong><br />

<strong>Zeit</strong> entsprechend dazu erzogen worden, ein getreuer<br />

Untertan seines Kaisers zu sein.<br />

Nachmittags klingelte es an <strong>der</strong> Haustür, und<br />

Wilhelm Zeidler machte überraschend einen Besuch. Er<br />

war schon in Uniform. Morgens hatte er seinen<br />

Einberufungsbefehl erhalten, am nächsten Tag würde er<br />

ausrücken. Gertrud empfing ihn im Salon. Wie gut er<br />

aussieht, war ihr erster Gedanke, als sie ihn sah. Wie<br />

ihm die Uniform steht! Ein heißes Aufwallen ging durch<br />

ihren Körper und ließ ihre Glie<strong>der</strong> schwer werden. Ihr<br />

Blick war voll Zärtlichkeit. Dann mischte sich Stolz in<br />

dieses Gefühl. Der Stolz auf ihren Liebsten, <strong>der</strong> mit bei<br />

den Ersten sein durfte, die das Vaterland verteidigen<br />

sollten. Sie empfand es als eine Ehre für ihn und auch<br />

für sich selbst. So standen sich die beiden eine kurze<br />

<strong>Zeit</strong> schweigend gegenüber. Ihre Blicke waren voller<br />

Liebe.<br />

Emmy kam leise herein. Gertrud schreckte<br />

zusammen. »Bitte, bringen Sie uns Tee und Gebäck,<br />

Emmy«, sagte sie, schnell wie<strong>der</strong> gefasst, »und sagen<br />

Sie meinem Vater Bescheid.« Wie<strong>der</strong> allein, setzten sie<br />

sich in die mit geblümtem Stoff bezogenen Sessel, die<br />

um den kleinen Tisch herum angeordnet waren.<br />

Wilhelm kämpfte mit seiner Verlegenheit, aber er wollte<br />

die <strong>Zeit</strong> nutzen, um mit Gertrud ohne die Gegenwart<br />

ihres Vaters zu sprechen. Aus einem plötzlichen <strong>Im</strong>puls<br />

56


heraus ergriff er ihre Hand. »Fräulein Gertrud ... Gertrud<br />

...«, kam es zunächst etwas stockend von seinen Lippen,<br />

aber dann überstürzten sich die Worte. Alles, was sein<br />

Innerstes erfüllte, was sein Herz so lange bewahrt hatte,<br />

drängte nun auf einmal aus ihm hinaus. Mit klopfendem<br />

Herzen und angehaltenem Atem hörte Gertrud ihn<br />

sagen: »Morgen muss ich zur Armee einrücken. Ich<br />

komme gleich an die Front, aber in ein paar Wochen<br />

wird ja alles vorbei sein. Darf ich hoffen, wenn ich<br />

wie<strong>der</strong> zu Hause bin ... Gertrud ... Darf ich darauf hoffen<br />

... liebste Gertrud ... möchten Sie meine Frau werden?«<br />

Nie hatte sie eine solche Seligkeit empfunden. Wie<br />

gern hätte sie in seinen Armen gelegen, den Kopf an<br />

seine Schulter gelehnt. Leise hörte sie ihn noch sagen:<br />

»Ich liebe dich, Gertrud ... Ich liebe dich über alles.<br />

Werde meine Frau!«<br />

Wie gern möchte ich das, wie gern! hätte sie schreien<br />

mögen. Auch ich liebe dich wie mein Leben. Aber ihre<br />

Antwort kam nur wie ein Hauch: »Ja, das möchte ich.«<br />

Fast unhörbar fügte sie hinzu: »Ich liebe dich.«<br />

Wilhelm hatte das starke Verlangen, sie an sich zu<br />

ziehen, sie an seine Brust zu drücken und sie auf den<br />

Mund zu küssen. Doch da ging die Tür auf, und Oertel<br />

kam ins Zimmer.<br />

»Ah, Wilhelm, schon in Uniform?« Er reichte ihm<br />

die Hand und setzte sich dann auf das Sofa mit den<br />

geschweiften Armlehnen.<br />

»Ja, morgen geht es an die Front.«<br />

»Der Dienst für das Vaterland <strong>ist</strong> für jeden Mann eine<br />

Ehre«, sagte Oertel und klopfte ihm anerkennend auf die<br />

Schulter.<br />

57


Emmy brachte den Tee, und Gertrud übernahm das<br />

Einschenken. Der Vater sprach von dem Mord in<br />

Sarajevo und von dem Ultimatum Österreichs an<br />

Serbien. Sie hörte nicht zu. Ihre Gedanken waren<br />

Gefangene <strong>der</strong> zärtlichen Gefühle, <strong>der</strong> beglückenden<br />

Hoffnungen, die Wilhelms Antrag in ihr ausgelöst hatte.<br />

Mit Herzklopfen wartete sie darauf, dass er den Vater<br />

um ihre Hand bitten würde, während sie scheinbar ruhig<br />

am Teetisch saß und ein Plätzchen aus <strong>der</strong> Silberschale<br />

nahm, die mitten auf dem Tisch stand.<br />

»Es <strong>ist</strong> gut, dass es endlich losgeht«, meinte Wilhelm,<br />

»diese Ungewissheit war ja nicht <strong>mehr</strong> zu ertragen.«<br />

Aus seinem Blick sprach jugendliche Bege<strong>ist</strong>erung.<br />

»Zu welcher Waffengattung rücken Sie ein?«, fragte<br />

Oertel interessiert und betrachtete den jungen Mann<br />

voller Sympathie.<br />

»Zur Infanterie.«<br />

Als es schon fast <strong>Zeit</strong> für ihn war zu gehen, gab er<br />

sich einen Ruck. Er nahm all seinen Mut zusammen,<br />

stand auf, zog seinen Uniformrock glatt – eine<br />

Verlegenheitsgeste, denn es war nichts glatt zu ziehen –<br />

, stellte sich vor Oertel hin und verbeugte sich förmlich.<br />

Gertrud ahnte, was jetzt kommen würde. Ihre Hände<br />

zitterten so sehr, dass sie fast ihren Tee verschüttet hätte.<br />

»Herr Professor, ich weiß, es <strong>ist</strong> sehr überstürzt ...«<br />

Nun kam er doch ins Stottern, und die vorher so gut<br />

zurechtgelegten Worte wollten ihm einfach nicht über<br />

die Lippen kommen. Er verhaspelte sich und setzte dann<br />

neu an: »... es <strong>ist</strong> ... weil ich doch morgen in den Krieg<br />

ziehen muss ... Herr Professor, ich bitte Sie um die Hand<br />

ihrer Tochter.«<br />

58


Obwohl <strong>der</strong> Antrag für Oertel nicht überraschend<br />

kam, schwieg er einen Augenblick. »Haben Sie Gertrud<br />

schon gefragt?«, war dann das Erste, was er sagte.<br />

Als Wilhelm bejahte, wandte er sich seiner Tochter<br />

zu: »Und du, was sagst du dazu?«<br />

»Ach, Vater!« Sie strahlte ihn an, und dieses Strahlen<br />

war Antwort genug.<br />

»<strong>Im</strong> Grunde bin ich einverstanden«, fuhr er fort,<br />

»doch lassen wir erst einmal den Krieg vorüber sein.<br />

Und dann müssen Sie ja noch Ihr Examen machen. Aber<br />

wenn ihr beiden euch wirklich gern habt, dann wird eine<br />

gewisse Wartezeit <strong>der</strong> Liebe keinen Schaden zufügen.«<br />

Gertrud sah bei dieser Bemerkung wie<strong>der</strong> das<br />

schalkhafte Lächeln in den Augen ihres Vaters<br />

aufblitzen, und dankbar empfand sie sein<br />

Einverständnis.<br />

Wilhelm Zeidler verabschiedete sich. Gertrud fühlte<br />

sich schon wie eine glückliche Braut. Sie sah ihn die<br />

Straße hinuntergehen, mit leichtem, fe<strong>der</strong>ndem Schritt,<br />

die große, schlanke Gestalt durch die gut geschnittene<br />

Uniform noch betont. Sie stand lange so da, blickte in<br />

die Richtung, in <strong>der</strong> er verschwunden war, als wolle sie<br />

ihn mit ihren Augen begleiten, wo immer er hingehen<br />

würde.<br />

4 . August<br />

1914,<br />

abends<br />

59


B<br />

ald werde ich Frau Zeidler sein! Wenn <strong>der</strong><br />

Krieg vorbei <strong>ist</strong>, werden Wilhelm und ich<br />

heiraten. Er<br />

hat eben um meine Hand angehalten, und Vater war<br />

einverstanden. Ich bin so glücklich wie noch nie in<br />

meinem Leben! Ich möchte tanzen, singen ... ach, ich<br />

weiß nicht, was ich alles anstellen möchte vor lauter<br />

Seligkeit!<br />

Der Krieg soll ja nicht lange dauern, das sagen alle,<br />

ein paar Wochen, höchstens drei o<strong>der</strong> vier Monate. Das<br />

halte ich noch aus. Die Hochzeit wird wun<strong>der</strong>voll<br />

werden. Ich wünsche mir ein Brautkleid aus weißer<br />

Spitze und einen ganz langen Schleier. Wilhelms Neffen<br />

werden Blumen streuen, und Vater wird mich zum Altar<br />

führen. Alle Leute werden uns nachsehen, wenn ich an<br />

seinem Arm durch die Kirche gehe. Und dann werden<br />

wir auch bald eine eigene Wohnung haben. Hell soll sie<br />

sein, licht und freundlich, mit Fenstern nach Süden,<br />

durch die die Sonne hereinscheint. Ich werde die<br />

schönsten Möbel aussuchen, die ich finden kann. Und<br />

an ein Kin<strong>der</strong>zimmer müssen wir denken. Ich möchte<br />

Kin<strong>der</strong> haben, nicht nur eines. Zwei o<strong>der</strong> drei Kin<strong>der</strong>,<br />

vielleicht zwei Jungen und ein Mädchen; aber das <strong>ist</strong><br />

auch egal, es <strong>ist</strong> auf jeden Fall schön, Kin<strong>der</strong> zu haben,<br />

ob es nun Jungen o<strong>der</strong> Mädchen sind. Wilhelm wird ein<br />

sehr guter Vater sein, davon bin ich fest überzeugt. Wir<br />

werden eine glückliche Familie sein!<br />

Oertel hatte seiner Tochter erlaubt, Wilhelm zum<br />

Bahnhof zu bringen, wo er sich zu melden hatte. Stolz<br />

schritt sie an seinem Arm durch die Straßen. Von überall<br />

60


her kamen Männer in Feldgrau, die jungen begleitet von<br />

ihrer Liebsten o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Mutter, die älteren von<br />

ihren Frauen und Kin<strong>der</strong>n. Am Bahnhof herrschte ein<br />

fürchterliches Gedränge. Gertrud blickte staunend auf<br />

die vielen Menschen. Mütter drückten ihre Söhne noch<br />

einmal ans Herz, Frauen umarmten ihre Männer und<br />

küssten sie. Kin<strong>der</strong> drängten sich an ihre Väter.<br />

»Du b<strong>ist</strong> so still.« Wilhelm legte Gertrud den Arm<br />

um die Taille, und sie schmiegte sich eng an ihn. »Die<br />

vielen Leute ... ich weiß nicht ... mir <strong>ist</strong> ein bisschen<br />

bange zumute.« Dann sah sie ihn an mit einem Blick,<br />

aus dem ihre ganze Liebe sprach. »Wenn du nur erst<br />

wie<strong>der</strong> bei mir b<strong>ist</strong>«, sagte sie leise.<br />

Patriotische Lie<strong>der</strong> wurden gesungen, und die Menge<br />

ließ die ausrückenden Truppen hochleben. Der Zug<br />

stand schon abfahrtbereit. An einigen Waggons waren<br />

Aufschriften angebracht: »Je<strong>der</strong> Schuss ein Russ!« o<strong>der</strong><br />

»Je<strong>der</strong> Stoß ein Franzos!« Als Gertrud sie las, hatte sie<br />

einen Augenblick lang das Gefühl, als ob eine kalte<br />

Hand nach ihrem Herzen griff. Sie schau<strong>der</strong>te. Aber sie<br />

schob diese Empfindung entschlossen beiseite und<br />

dachte nicht weiter darüber nach. Sie war glücklich, seit<br />

dem gestrigen Tage <strong>mehr</strong> denn je, und sie wollte<br />

glücklich sein.<br />

»Warte einen Augenblick hier auf mich, ich muss<br />

mich melden«, sagte Wilhelm und führte Gertrud aus<br />

dem Gedränge heraus an einen Platz, wo es etwas<br />

ruhiger war. Als er zurückkam, nahm er sie in seine<br />

Arme, drückte sie fest an seine Brust und küsste sie<br />

leidenschaftlich auf den Mund. Dieser Kuss brannte sich<br />

in Gertruds Erinnerung ein. Außer ein paar<br />

61


Feldpostbriefen sollte es das Einzige sein, was ihr von<br />

ihrem Verlobten blieb.<br />

In den ersten Kriegswochen schienen sich alle<br />

optim<strong>ist</strong>ischen Erwartungen zu bestätigen. Die deutsche<br />

Armee stieß schnell von Belgien aus nach Frankreich<br />

vor. <strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> läuteten die Kirchenglocken von<br />

allen Türmen <strong>der</strong> Stadt und verkündeten einen Sieg <strong>der</strong><br />

deutschen Truppen. Gertrud sah täglich mit innerer<br />

Spannung dem Briefträger entgegen. Wilhelm schrieb<br />

ihr, so oft er konnte. »Es geht schneller vorwärts, als wir<br />

gedacht haben, bald wird <strong>der</strong> Krieg zu Ende sein. Wir<br />

werden siegen, glaube mir! Es kann gar nicht an<strong>der</strong>s<br />

sein. Oh, wie freue ich mich darauf, Dich wie<strong>der</strong> in<br />

meinen Armen zu halten.« Gertrud las die Zeilen mit<br />

bewegtem Herzen und feuchten Augen. Sie sah<br />

Wilhelm vor sich, wie sie ihn das letzte Mal gesehen<br />

hatte, in seiner schmucken Uniform, stellte sich vor, wie<br />

er mit seinen Kameraden vorwärtsstürmte. Ein an<strong>der</strong>es<br />

Mal schrieb Wilhelm: »Wie ich Dich liebe, mein<br />

allerschönstes Mädchen! Oh, wüsstest Du, wie oft ich<br />

an Dich denke! <strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> sehe ich Dein Bild vor<br />

mir, Dein seidiges dunkles Haar, Deine träumerischen<br />

braunen Augen.« Gertrud stieg das Blut in die Wangen.<br />

Sie verschloss diese Sätze tief in ihrem Herzen.<br />

Aber als <strong>der</strong> deutsche Vormarsch ins Stocken geriet<br />

und die Glocken immer seltener zu hören waren, kamen<br />

auch nicht <strong>mehr</strong> so viele Briefe an. <strong>Im</strong>mer öfter sah<br />

Gertrud den Briefträger gehen, ohne dass er ihr ein<br />

Lebenszeichen von ihrem Verlobten gebracht hätte.<br />

Einmal kam ein langer Brief. »Liebe Gertrud«, schrieb<br />

62


Wilhelm, »wir liegen nun schon seit Wochen in einem<br />

Schützengraben, ohne Schutz dem Regen ausgesetzt.<br />

Wir sind völlig durchnässt und waten im Schlamm. Es<br />

geht überhaupt nicht <strong>mehr</strong> vorwärts, und die Stimmung<br />

<strong>ist</strong> sehr gedrückt. Von <strong>der</strong> Bege<strong>ist</strong>erung zu Anfang des<br />

Krieges <strong>ist</strong> bei uns allen nicht <strong>mehr</strong> viel übrig. Das<br />

Trommelfeuer <strong>der</strong> feindlichen Artillerie zermürbt uns!<br />

Es dröhnt uns Tag und Nacht in den Ohren. Neulich war<br />

<strong>der</strong> Herzog da und hat uns besucht. Das hat uns wie<strong>der</strong><br />

ein wenig Mut gemacht. Aber die Älteren unter uns, die<br />

<strong>mehr</strong> Erfahrung haben, glauben nicht <strong>mehr</strong> an einen<br />

leichten und schnellen Sieg. Ja, einige zweifeln sogar<br />

daran, dass es überhaupt einen Sieg geben wird.<br />

Tagelang können wir nicht aus dem Schützengraben<br />

heraus, und ich weiß gar nicht, ob Du diesen Brief<br />

überhaupt bekommen wirst.«<br />

Aus seinen Zeilen spricht Resignation und<br />

Müdigkeit, dachte Gertrud. Mit Beklemmung empfand<br />

sie diesen Wandel, als sie seine ersten Briefe noch<br />

einmal las. Voller Sorgen legte sie sie zurück in das<br />

hübsche messingbeschlagene Holzkästchen, in dem sie<br />

die Nachrichten von Wilhelm aufbewahrte.<br />

Dann wartete sie lange vergebens auf Post. Eines<br />

Tages, als die Bäume schon ihre Blätter verloren hatten<br />

und ein kalter Wind durch die Straßen pfiff, kam Oertel<br />

mit ernstem Gesicht aus <strong>der</strong> Hochschule nach Hause. Er<br />

hielt den Kopf gesenkt, und seine aufrechte, hohe<br />

Gestalt schien gebeugt. Als Gertrud ihren Vater so sah,<br />

wurde sie von bösen Vorahnungen erfasst. Ihr Herz<br />

krampfte sich zusammen. Angst erfüllte sie, Angst vor<br />

etwas Drohendem, das sie nicht kannte, nicht benennen<br />

63


konnte, von dem sie aber fürchtete, dass es ihr Leben<br />

zerstören und sie verschlingen würde. Sie war blass und<br />

zitterte, als Oertel sie eine halbe Stunde später zu sich<br />

ins Studierzimmer rief. Der Vater saß in genau <strong>der</strong>selben<br />

gebeugten Haltung hinter seinem Schreibtisch, die<br />

Gertrud an ihm aufgefallen war, als er nach Hause kam.<br />

Er starrte auf die Tischplatte, ohne etwas zu sehen, und<br />

bemerkte seine Tochter nicht, die leise zur Tür<br />

hereingekommen war. Sie setzte sich still auf den Stuhl<br />

ihm gegenüber und wartete in einer angstvollen<br />

Spannung, die sie fast zu zerreißen drohte, darauf, dass<br />

<strong>der</strong> Vater endlich sprach. Sie wollte wissen, was ihn so<br />

bedrückte. Sie wollte es wissen, was es auch sei.<br />

Nach einigen Minuten qualvollen Schweigens<br />

begann Oertel mit belegter Stimme: »Wir haben heute<br />

eine L<strong>ist</strong>e bekommen mit den Namen <strong>der</strong> Studenten, die<br />

bis jetzt gefallen sind.« Kaum hörbar fuhr er fort:<br />

»Wilhelms Name <strong>ist</strong> dabei.«<br />

Gertrud erstarrte. Ihr Gesicht wurde zu einer Maske.<br />

Sie weinte nicht, sie schrie ihren Schmerz nicht heraus.<br />

Ihr war zu Mute, als würde sie von einem Ungeheuer<br />

gepackt, das sie fest in seinen Klauen hielt und ihr die<br />

Kehle zudrückte. Sie konnte keinen Laut hervorbringen.<br />

Gedankenfetzen und Bil<strong>der</strong> stiegen wahllos und<br />

ungeordnet in ihrem Innern auf. Sie sah Wilhelm, wie er<br />

von einer Granate zerfetzt wurde ... Gott, wie kannst du<br />

so etwas zulassen, schrie es in ihr ... Dann sah sie ihn,<br />

wie ein Franzose ihm eine Kugel in den Kopf schoß ...<br />

sah ihn hilflos auf dem Schlachtfeld liegen ... Es darf<br />

nicht sein ... Es darf nicht sein ... Es kann nicht sein!<br />

Dann verschwanden die Bil<strong>der</strong>, um eine trostlose Leere<br />

zurückzulassen.<br />

64


Oertel ging langsam auf sie zu, zog sie vom Stuhl<br />

hoch und nahm sie in seine Arme. Er legte ihren Kopf<br />

an seine Schulter und strich ihr tröstend über das Haar.<br />

Sie ließ es geschehen, ohne dass es ihr bewusst wurde.<br />

Völlig benommen ging sie in ihr Zimmer und warf sich<br />

auf das Bett. Dort lag sie lange und starrte vor sich hin.<br />

Sie konnte nichts denken, nichts fühlen. Es war etwas<br />

zerbrochen in ihr, etwas, das nie wie<strong>der</strong> heil werden<br />

konnte.<br />

Wie in Trance ging sie in den nächsten Tagen im<br />

Haus umher. Sie sah niemanden und hörte nicht, wenn<br />

sie angesprochen wurde. Ihre alltäglichen Pflichten<br />

erledigte sie mechanisch, wie ein Automat. Dann sah sie<br />

die Todesanzeige mit dem Eisernen Kreuz und<br />

Wilhelms Namen darunter. Während sie das Blatt<br />

anstarrte, quoll auf einmal eine Flut von Tränen aus ihr<br />

heraus. Es war, als sei <strong>der</strong> Damm gebrochen, <strong>der</strong> bisher<br />

alle Gefühle zurückgehalten hatte. Mit diesen Tränen<br />

kamen die Bil<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>. Sie sah Wilhelm im Schlamm<br />

des Schlachtfeldes liegen mit einer blutenden Wunde in<br />

seiner Brust, und sie sah ihre Mutter auf dem Totenbett.<br />

Wie<strong>der</strong> ein Tod in meinem Leben, dachte sie. Wie viele<br />

Tode werden es noch sein, die ich erdulden muss? Mit<br />

dem Tränenstrom aber wurde sie fähig zu trauern. Die<br />

Starre <strong>der</strong> letzten Tage löste sich langsam, und an ihre<br />

Stelle trat ein Gefühl von Ohnmacht und Verzweiflung,<br />

das in eine grenzenlose Traurigkeit mündete. Die<br />

Todesanzeige klebte sie in ihr Tagebuch ein. Lange <strong>Zeit</strong><br />

war sie unfähig, Worte für ihren Schmerz zu finden.<br />

20 . Februar<br />

1915,<br />

abends<br />

65


N<br />

un <strong>ist</strong> Wilhelm schon fast fünf Monate tot.<br />

Ich kann es noch immer nicht fassen. Wie<br />

glücklich war ich damals, als er mich fragte,<br />

ob ich seine Frau werden wolle. Wie verzweifelt bin<br />

ich heute! Ich habe das Gefühl, dass ich aus einem<br />

schrecklichen Traum aufgewacht bin, nein, aus<br />

einem wun<strong>der</strong>vollen Traum, <strong>der</strong> sich jäh in einen<br />

Albtraum verwandelt hat. Die Bege<strong>ist</strong>erung <strong>der</strong><br />

ersten Kriegstage – heute kann ich sie nicht <strong>mehr</strong><br />

verstehen. Aber keiner wusste ja, was kommen<br />

würde. Je<strong>der</strong> dachte, in ein paar Wochen <strong>ist</strong> alles<br />

vorbei. Nun dauert <strong>der</strong> Krieg schon ein halbes Jahr,<br />

und es <strong>ist</strong> kein Ende abzusehen. Was für ein<br />

ahnungsloses Kind bin ich gewesen! Den Krieg<br />

stellte ich mir als einen Spaziergang vor, auf dem<br />

mal eben <strong>der</strong> Feind besiegt würde. Doch was <strong>ist</strong><br />

inzwischen nicht alles passiert! Wilhelm wird nicht<br />

<strong>mehr</strong> wie<strong>der</strong>kommen. Und Paul ... auch er <strong>ist</strong> nun<br />

schon seit Wochen an <strong>der</strong> Front. Bis auf eine Karte,<br />

gleich nachdem er sich bei seinem Regiment in<br />

Frankreich gemeldet hatte, haben wir keine<br />

Nachricht <strong>mehr</strong> von ihm bekommen. Wie wird er das<br />

alles aushalten, immer draußen zu sein, im Schlamm<br />

bei Regen und Kälte? Und dann das Artilleriefeuer<br />

... Ob er vielleicht verwundet <strong>ist</strong>? Hoffentlich bleibt<br />

er am Leben! Olgas älterer Bru<strong>der</strong> <strong>ist</strong> gefallen, auch<br />

<strong>der</strong> Vater von Martha. In so vielen Familien<br />

herrschen Trauer und Leid, wie soll das alles noch<br />

enden?<br />

66


Vater hat jetzt immer öfter Magenschmerzen. Er kann<br />

das Kartoffelbrot nicht vertragen. Emmy backt ihm<br />

deshalb Brot ohne Kartoffelzusatz. Sie <strong>ist</strong> überhaupt <strong>der</strong><br />

gute Ge<strong>ist</strong> in unserem Haus. Was würden wir ohne sie<br />

anfangen! Ich glaube nicht, dass ich mit dem Wenigen,<br />

das wir haben, einen Haushalt führen könnte; noch dazu,<br />

wo alles so teuer geworden <strong>ist</strong>.<br />

Wie schön habe ich mir noch vor kurzer <strong>Zeit</strong> mein<br />

Leben vorgestellt: Glücklich verheiratet als Frau<br />

Zeidler, mit einem lieben Mann und niedlichen Kin<strong>der</strong>n<br />

– und wie an<strong>der</strong>s <strong>ist</strong> alles gekommen, wie furchtbar<br />

an<strong>der</strong>s! An manchen Tagen bin ich so deprimiert, dass<br />

ich mich am liebsten in eine dunkle Ecke verkriechen<br />

möchte, wo ich nichts <strong>mehr</strong> höre und sehe. Aber die<br />

traurigen Gedanken lassen sich nicht vertreiben.<br />

Oertels saßen beim Mittagessen. Schweigend<br />

löffelten sie ihre Suppe, die nur aus Kartoffeln und<br />

Wasser bestand. Butter war knapp und teuer und oft nur<br />

durch langes Schlangestehen zu bekommen, genauso<br />

wie Eier und Milch. Und Fleisch wurde zu so hohen<br />

Preisen verkauft, dass Emmys Haushaltsgeld dafür nicht<br />

immer ausreichte. Sie hatte sich zwar bemüht, <strong>der</strong><br />

dünnen Suppe mit getrockneten Kräutern aus dem<br />

Harzburger Garten etwas <strong>mehr</strong> Farbe und Geschmack<br />

zu geben, aber nahrhafter wurde sie dadurch nicht.<br />

Draußen wehte ein kalter Nordostwind und trieb mit<br />

seinen Böen immer wie<strong>der</strong> Schneeregen- und<br />

Graupelschauer gegen die Fensterscheiben. Nun <strong>ist</strong> es<br />

bereits März, aber vom Frühling keine Spur, dachte<br />

Gertrud missmutig.<br />

67


»Ich lasse Martha gleich nach dem Mittagessen den<br />

Ofen in Ihrem Studierzimmer anheizen, Herr<br />

Professor.« Emmy blickte besorgt durch das Fenster in<br />

das ungemütliche Wetter hinaus.<br />

»Lassen Sie nur, Emmy«, winkte Oertel müde ab.<br />

»Ich habe sowieso heute Nachmittag noch eine<br />

Vorlesung. Es genügt, wenn <strong>der</strong> Ofen später geheizt<br />

wird. Wir sollten mit Holz und Kohlen sparsam<br />

umgehen. Wer weiß, wie lange wir noch damit<br />

auskommen müssen. Die englische Blockade ...« Der<br />

Rest ging in einem Hustenanfall unter. Gertrud und<br />

Emmy tauschten besorgte Blicke.<br />

»Sie sollten zu Hause bleiben, Herr Professor«, sagte<br />

die Haushälterin in ihrer fürsorglich-resoluten Art und<br />

sah Oertel ernst an.<br />

»Ja, Vater, Emmy hat Recht. Deine Erkältung kann<br />

nicht besser werden, wenn du dich nicht mal ein paar<br />

Tage ins Bett legst.« Lebhafter, als es sonst ihre Art war,<br />

mischte Gertrud sich in das Gespräch und warf ihrem<br />

Vater einen eindringlichen Blick zu.<br />

Oertel machte eine unwirsche Bewegung mit <strong>der</strong><br />

Hand. »Ach was, das bisschen Husten«, knurrte er, »das<br />

bringt mich nicht um.« Dabei unterdrückte er einen<br />

erneuten Hustenanfall.<br />

»Wenn du dich stundenlang in den kalten Räumen<br />

aufhältst, wirst du nur noch kränker. Auch in <strong>der</strong><br />

Hochschule wird sicher sparsam geheizt.«<br />

Oertel schlug unwillig mit <strong>der</strong> flachen Hand auf den<br />

Tisch, ein Zeichen, dass er das Thema beenden wollte,<br />

und die beiden Frauen wagten nichts <strong>mehr</strong> zu sagen.<br />

68


Emmy klingelte nach dem Mädchen. Martha brachte<br />

aus <strong>der</strong> Küche die Schüssel mit dem Hauptgericht und<br />

räumte die Suppenteller ab. Schon wie<strong>der</strong> Eintopf,<br />

dachte Gertrud und verdrehte die Augen, aber sie sagte<br />

nichts.<br />

Emmy entschuldigte sich: »Es tut mir leid, dass ich<br />

zum dritten Mal in dieser Woche ein Eintopfgericht auf<br />

den Tisch bringe, aber so lässt sich mit dem teuren<br />

Fleisch besser wirtschaften. Diese Preise kann ja kein<br />

Mensch <strong>mehr</strong> bezahlen!«, empörte sie sich.<br />

Energischer, als es nötig gewesen wäre, nahm sie den<br />

Deckel von <strong>der</strong> Schüssel, um die Teller zu füllen.<br />

»Schon gut, Emmy«, beruhigte sie Oertel, »wir<br />

müssen es eben nehmen, wie es kommt.«<br />

Sie fischte aus dem Gemisch von Kohl und<br />

Kartoffeln das größte Stück Fleisch heraus und legte es<br />

auf den Teller des Professors. Eine <strong>Zeit</strong> lang herrschte<br />

Schweigen, nur das leise Klappern des Geschirrs war zu<br />

hören.<br />

Nach einer Weile unterbrach Gertrud die Stille:<br />

»Noch immer keine Nachricht von Paul in <strong>der</strong> Post,<br />

Vater?«, fragte sie beklommen, denn sie wusste, die<br />

Antwort würde ›nein‹ lauten, sonst hätte <strong>der</strong> Vater<br />

sicher schon etwas gesagt.<br />

»Nein, immer noch nicht«, brummte Oertel und aß<br />

schweigend weiter.<br />

»Wie mag es ihm gehen?« Gertrud sprach leise und<br />

blickte bedrückt zum Fenster. Ihre Worte fielen wie<br />

Tropfen in den Raum. »Ich denke oft an ihn. Dieses<br />

Wetter ... Wir haben wenigstens ein Dach über dem<br />

Kopf ... aber die Soldaten in den Schützengräben bei<br />

69


Kälte und Nässe ... und dann das ständige Trommelfeuer<br />

... Hoffentlich <strong>ist</strong> ihm nichts passiert. Ich habe solche<br />

Angst.« Die Erinnerung an Wilhelms Tod, die stets<br />

lebendig in ihr war, wurde übermächtig, und sie<br />

unterdrückte mühsam ihre Tränen.<br />

Das Gespräch stockte wie<strong>der</strong>, und je<strong>der</strong> hing seinen<br />

Gedanken nach.<br />

»Ich hätte nicht erlauben sollen, dass er das Notabitur<br />

macht«, sagte Oertel schließlich in das Schweigen<br />

hinein und sah ge<strong>ist</strong>esabwesend auf seinen Teller.<br />

»Aber damals sah alles ganz an<strong>der</strong>s aus. Ich habe nicht<br />

damit gerechnet, dass er an Kampfhandlungen würde<br />

teilnehmen müssen. Der Krieg würde vorbei sein, ehe er<br />

seine Ausbildung beendet hätte, dachte ich. Heute<br />

mache ich mir Vorwürfe.« Es entstand eine<br />

beklemmende Pause. Oertel strich mit <strong>der</strong> Hand über<br />

seinen Bart, eine Geste, die er immer unbewusst machte,<br />

wenn tiefere Gefühle ihn berührten. Endlich sagte er<br />

leise, <strong>mehr</strong> zu sich selbst: »Er <strong>ist</strong> seelisch und körperlich<br />

viel zu zart für das, was er jetzt erleben muss.«<br />

Das Mittagessen ging zu Ende, ohne dass noch ein<br />

weiteres Wort gesprochen wurde. Oertel setzte sich mit<br />

<strong>der</strong> Tageszeitung in den Sessel, den Emmy fürsorglich<br />

neben den Ofen gerückt hatte. Auch hier im Esszimmer<br />

brannte bloß ein kleines Feuer, das den Raum nur mäßig<br />

erwärmte. Gertrud betrachtete ihren Vater. Er <strong>ist</strong><br />

abgemagert, dachte sie. Das sorgenvolle Gesicht ... Es<br />

scheint, als sei er in den letzten Monaten gealtert. Und<br />

jetzt noch dieser Husten! Alle Pillen, die Dr. Winkler<br />

verschreibt, und <strong>der</strong> Tee, den Emmy ihm kocht,<br />

scheinen nicht zu helfen. Wenn er nur nicht noch<br />

schlimmer krank wird! Sorge und Zärtlichkeit<br />

70


vermischten sich in ihr zu einem innigen Gefühl <strong>der</strong><br />

Zuneigung. Am liebsten würde ich ihn in den Arm<br />

nehmen, seine Wangen streicheln und mich an ihn<br />

schmiegen. Warum kann ich das nicht? Ich konnte es<br />

nie. <strong>Im</strong>mer <strong>ist</strong> da diese unsichtbare Mauer um ihn<br />

herum, wie eine Grenze, die niemand überschreiten<br />

darf. Es <strong>ist</strong>, als würde er all zu große Nähe fürchten. Ich<br />

habe ihn doch lieb, aber ich kann es ihm nicht so zeigen,<br />

wie ich möchte. Das bedrückt mich manchmal. Sie warf<br />

ihm einen zärtlichen Blick zu und ging aus dem<br />

Zimmer.<br />

Oertel las in <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>ung Berichte von <strong>der</strong> Westfront,<br />

<strong>der</strong>en Inhalt nun schon seit Wochen stets <strong>der</strong> gleiche<br />

war. Noch immer lagen sich die verfeindeten Truppen<br />

in den Schützengräben gegenüber. Es gelang keinem <strong>der</strong><br />

Gegner, Boden zu gewinnen. Die Kämpfe schienen<br />

erstarrt zu sein, in Frankreichs Erde eingegraben.<br />

Deprimiert ließ er die <strong>Zeit</strong>ung sinken und starrte vor sich<br />

hin. Der Krieg wird wahrscheinlich viel länger dauern,<br />

als wir alle anfangs gedacht haben. Welch<br />

verhängnisvoller Irrtum!<br />

Ein erneuter krampfhafter Hustenanfall schüttelte<br />

seinen Körper. Als es vorbei war, lehnte er sich eine <strong>Zeit</strong><br />

lang erschöpft in seinem Sessel zurück und schloss die<br />

Augen. Schließlich nahm er seine Lektüre wie<strong>der</strong> auf.<br />

Zuerst die vielen Siegesmeldungen, wie haben wir uns<br />

täuschen lassen, dachte er. Deutlich wurde ihm die<br />

Ungewissheit <strong>der</strong> Zukunft bewusst. Sie lastete auf ihm<br />

wie eine Drohung. Paul, würde er lebend<br />

zurückkommen? Und Gertrud, was sollte aus ihr<br />

werden? Wie würde diese ganze schreckliche<br />

71


Geschichte überhaupt ausgehen? Mit einem Seufzer<br />

stützte er den Kopf in beide Hände.<br />

15 . April 1915<br />

N<br />

un <strong>ist</strong> es passiert: Vater hat eine<br />

Lungenentzündung! Warum hat er auch<br />

nicht hören wollen, <strong>ist</strong> immer in seinen<br />

Dienst gegangen. Dadurch hat er die Erkältung<br />

verschleppt. Jetzt bleibt ihm gar nichts an<strong>der</strong>es übrig,<br />

als im Bett zu liegen. Er hat hohes Fieber, ich mache<br />

mir solche Sorgen! Eine Lungenentzündung, das <strong>ist</strong><br />

eine schwere Krankheit. Manche Menschen sterben<br />

daran. Oh Gott, wenn ich mir vorstelle, dass ich auch<br />

noch Vater verlieren könnte. Welch schrecklicher<br />

Gedanke! Dann würde ich mutterseelenallein<br />

dastehen! Und ich hab ihn doch lieb, obwohl er<br />

manchmal so streng <strong>ist</strong>. Was <strong>ist</strong> das nur für eine<br />

schlimme <strong>Zeit</strong>! Vater schwer krank, von Paul noch<br />

immer keine Nachricht – soll ich alle Menschen<br />

verlieren, die ich liebe? Manchmal bin ich so<br />

nie<strong>der</strong>geschlagen, so ganz ohne Hoffnung. Wie wird<br />

mein Leben weitergehen, was wird die Zukunft<br />

bringen? Ich mag gar nicht darüber nachdenken. –<br />

Doch nein, ich will den Mut nicht sinken lassen.<br />

Vater wird wie<strong>der</strong> gesund werden, und auch Paul<br />

wird wie<strong>der</strong>kommen. Ich will fest daran glauben!<br />

Wenn nur dieser schreckliche Krieg erst einmal zu<br />

Ende wäre!<br />

Drei Wochen musste Oertel das Bett hüten. Der Arzt<br />

kam jeden Tag, um nach ihm zu sehen. Schließlich<br />

72


durfte er aufstehen, zunächst nur eine Stunde täglich.<br />

Dann setzte er sich warm eingepackt in den Sessel und<br />

las die <strong>Zeit</strong>ung o<strong>der</strong> auch ein <strong>Buch</strong>. Oft saß Gertrud<br />

neben ihm auf einem Stuhl und hielt seine Hand. Sie<br />

sprachen kaum miteinan<strong>der</strong>, aber es war ein tiefes<br />

Verstehen zwischen ihnen, das keiner Worte bedurfte.<br />

Und dann kam endlich eine Karte von Paul! Gertrud<br />

hatte an diesem Morgen die Post in Empfang genommen<br />

und die Feldpostkarte gleich entdeckt. Aufgeregt fischte<br />

sie sie aus den übrigen Briefen und Drucksachen heraus<br />

und lief damit zum Vater. Wie wird er sich freuen!<br />

Strahlend betrat sie das Zimmer. »Post von Paul!«, rief<br />

sie ihm entgegen und schwenkte die Karte durch die<br />

Luft. Dann setzte sie sich neben ihn und las ihm die<br />

Nachricht vor:<br />

»Das Trommelfeuer <strong>ist</strong> entsetzlich«, schrieb Paul,<br />

»und <strong>der</strong> Schlamm und die Nässe machen uns viel zu<br />

schaffen. Manchmal werden wir abgelöst und bleiben<br />

ein paar Tage hinter <strong>der</strong> Front, um uns zu erholen.<br />

Jedesmal, wenn wir wie<strong>der</strong> nach vorn müssen, denke<br />

ich, nun hat sich etwas verän<strong>der</strong>t, und wir sind<br />

vorgerückt. Aber immer wie<strong>der</strong> kommen wir in die alten<br />

Stellungen zurück. Wie lange soll das noch so<br />

weitergehen?«<br />

Oertel schwieg. Sein Gesicht war ernst. Gertrud sah<br />

ihn an. Die Freude, die sie eben noch erfüllt hatte, wurde<br />

schal.<br />

»Vater, er lebt doch«, versuchte sie, seine trüben<br />

Gedanken zu zerstreuen und drückte seine Hand. Oertel<br />

starrte lange wortlos vor sich hin. Schließlich sah er<br />

seine Tochter an. Gertrud blickte in von Schwermut<br />

umschattete Augen.<br />

73


»Wer weiß, wie lange noch«, sagte er kaum hörbar.<br />

In einer heftigen Aufwallung von Mitgefühl umarmte<br />

Gertrud plötzlich ihren Vater, und er ließ es geschehen.<br />

Es war einer jener seltenen Augenblicke, in dem die<br />

Reserviertheit, mit <strong>der</strong> er sich umgab, aufgehoben<br />

schien. Er empfand eine tiefe Verbundenheit mit seiner<br />

Tochter und fühlte sich ihr nahe in <strong>der</strong> gemeinsamen<br />

Angst um einen geliebten Menschen, und er war<br />

dankbar für diese Nähe.<br />

Schließlich wurden die Tage wärmer. Gertrud hatte<br />

sich mit einem <strong>Buch</strong> auf die Bank vor dem Haus gesetzt,<br />

aber nach ein paar Minuten legte sie es beiseite. Sie<br />

mochte nicht lesen.<br />

Wohlig räkelte und streckte sie sich in <strong>der</strong> Sonne und<br />

hielt ihr Gesicht den wärmenden Strahlen entgegen. Sie<br />

blinzelte in die grünen Kronen <strong>der</strong> Bäume, die die<br />

Straße säumten, und nahm beglückt die Farben <strong>der</strong><br />

Blumen wahr, die den kleinen Vorgarten schmückten.<br />

Alles war so hell und freundlich! Ihr war, als ob das<br />

Leben ein bisschen leichter würde, als ob all das<br />

Schwere, das sie nie<strong>der</strong>gedrückt hatte, langsam von ihr<br />

abfiel und sich in <strong>der</strong> Heiterkeit dieser sonnigen Tage<br />

auflöste. »Ist es heute nicht schön?«, rief sie fröhlich<br />

Emmy entgegen, die gerade mit einem vollen<br />

Einkaufskorb den Kiesweg entlang auf die Haustür<br />

zuging.<br />

»Jetzt kommt bald <strong>der</strong> Sommer, Gott sei Dank!«<br />

Emmy nickte ihr zu und verschwand in <strong>der</strong> Haustür.<br />

Gertrud folgte ihr. »Ich werde ein paar Rosen<br />

abschneiden für die Vase auf dem kleinen Tisch im<br />

Wohnzimmer.« Sie nahm die Schere aus <strong>der</strong> Schublade<br />

74


und ging wie<strong>der</strong> hinaus in den Vorgarten. Als sie die<br />

Blumen in die Vase ordnete, meinte sie zu Emmy: »Ich<br />

sollte wie<strong>der</strong> anfangen, Klavier zu spielen. So lange<br />

habe ich keine Taste <strong>mehr</strong> angerührt. Ob ich es<br />

überhaupt noch kann?«<br />

Emmy, die gerade dabei war, ihre Einkäufe<br />

wegzuräumen, blickte auf. »Aber selbstverständlich,<br />

Fräulein Gertrud! Wer so gut Klavier spielt wie Sie, <strong>der</strong><br />

verlernt es nicht.« Sie sah Gertrud mit einem warmen<br />

Ausdruck in den Augen an. »Ich würde mich freuen,<br />

wenn Sie wie<strong>der</strong> spielen, ich habe Ihnen so gern<br />

zugehört. Und es hat Ihnen doch auch immer viel Freude<br />

gemacht. Vielleicht müssen Sie anfangs ein bisschen<br />

<strong>mehr</strong> üben, doch Sie werden schnell wie<strong>der</strong> die<br />

gewohnte Fingerfertigkeit haben.«<br />

Gertrud sah Emmy dankbar an. Sie fühlte sich<br />

ermutigt und nahm sich vor, am Nachmittag ein paar<br />

Noten herauszusuchen und einmal zu probieren, was sie<br />

noch konnte.<br />

Später beim Abendbrot sagte Oertel: »Ich denke,<br />

dass wir nächste Woche wie<strong>der</strong> nach Harzburg fahren<br />

können.« Es klang beiläufig, trotzdem beobachtete er<br />

Gertrud und Emmy gespannt, wie sie wohl reagieren<br />

würden.<br />

»Vater!«, rief Gertrud aus. Vor Freude wäre sie fast<br />

vom Tisch aufgesprungen, aber sie beherrschte sich und<br />

sagte in ruhigerem Ton: »Das <strong>ist</strong> ja wun<strong>der</strong>voll, aber<br />

geht es dir auch gut genug?«<br />

»Ich war heute bei Dr. Winkler«, sagte Oertel,<br />

während er Butter auf seine Brotscheibe strich. »Er hat<br />

nichts dagegen. Ich soll nur keine zu anstrengenden<br />

75


Wan<strong>der</strong>ungen unternehmen, aber Luftverän<strong>der</strong>ung<br />

würde mir gut tun.«<br />

»Wie schön, wir fahren wie<strong>der</strong> nach Harzburg!«<br />

Gertrud strahlte. Sie liebte das Haus am Waldrand. Als<br />

sie an diesem Abend im Bett lag, hörte sie, schon halb<br />

im Traum, das Rauschen des Windes in den<br />

Baumkronen, das dort ihren Schlaf begleitete, und das<br />

Zwitschern <strong>der</strong> Vögel, die sie morgens weckten. Von<br />

Vorfreude erfüllt, war sie bald eingeschlafen.<br />

In den nächsten Tagen half sie Emmy beim Packen.<br />

Beschwingt lief sie treppauf und treppab. Dann war es<br />

endlich so weit: Die Kutsche stand vor <strong>der</strong> Haustür, das<br />

Gepäck wurde aufgeladen, und sie stieg ein mit Vater<br />

und Emmy. Die Fahrt konnte beginnen, zunächst zum<br />

Bahnhof und dann weiter mit dem Zug nach Harzburg.<br />

Ein leises Klopfen an <strong>der</strong> Tür und Emmys Stimme<br />

»Aufstehen, Fräulein Gertrud, es <strong>ist</strong> sechs Uhr« drangen<br />

in Gertruds Träume. Verschlafen reckte sie sich, rieb<br />

sich die Augen und blinzelte in den Sonnenstrahl, <strong>der</strong><br />

durch die geschnitzte Öffnung in den Fensterläden ins<br />

Zimmer drang und Staubkörnchen aufblitzen und tanzen<br />

ließ. Was <strong>ist</strong> los, wollte sie fragen, doch dann fiel es ihr<br />

ein. Sie hatte sich ja vorgenommen, mit Emmy in den<br />

Wald zu gehen und Heidelbeeren zu pflücken. Schnell<br />

stand sie auf und goss Wasser aus <strong>der</strong> Steingutkanne in<br />

die Waschschüssel, die auf <strong>der</strong> Waschkommode mit <strong>der</strong><br />

Marmorplatte stand. Sie fuhr sich rasch mit dem<br />

Schwamm über Gesicht, Arme und Oberkörper. Heute<br />

Abend, wenn sie verschwitzt und schmutzig von <strong>der</strong><br />

Arbeit nach Hause kam, würde sie ein Bad nehmen, aber<br />

jetzt musste es schnell gehen. Dann ging sie zum<br />

Klei<strong>der</strong>schrank, öffnete die Tür und überlegte, was sie<br />

76


anziehen sollte. Ihr Blick fiel auf das graue<br />

Musselinkleid. Das kann ruhig ein paar Flecke<br />

abbekommen, dachte sie. Es <strong>ist</strong> alt und abgetragen. Ich<br />

hätte es längst ausrangiert, aber man kann ja nichts<br />

Neues kaufen. Sie streifte es über und begann ihr Haar<br />

aufzustecken.<br />

Erinnerungen stiegen in ihr auf. Mit Paul bin ich<br />

früher oft ins Heidelbeerkraut entwischt, wenn wir mit<br />

den Eltern spazieren gingen, dachte sie. Einen blauen<br />

Mund und blaue Finger haben wir uns geholt, und oft<br />

hatten wir Flecken in unseren Klei<strong>der</strong>n. Dann war<br />

Mutter verärgert, aber so richtig schimpfen konnte sie<br />

eigentlich nie. Ein wehmütiges Lächeln spielte um<br />

Gertruds Lippen. Damals war das Heidelbeerpflücken<br />

noch Spiel und Spaß gewesen, wir naschten von den<br />

Sträuchern, bis wir satt waren o<strong>der</strong> keine Lust <strong>mehr</strong><br />

hatten. Heute wird es richtige Arbeit werden. Emmy<br />

will Saft, Marmelade und Kompott einkochen, wie sie<br />

das schon mit all den Früchten aus dem Garten getan<br />

hat. So viele Gläser stehen schon im Keller! Die<br />

nimmermüde Emmy! Ich finde, ich muss ihr wirklich<br />

einmal helfen.<br />

Als Gertrud in die Küche kam, stand ihr Frühstück<br />

schon bereit: eine Tasse Malzkaffee und zwei Scheiben<br />

Brot mit Pflaumenmus ohne Butter, denn die war knapp<br />

und teuer.<br />

Während sie ihr Frühstück aß, betrachtete sie<br />

neugierig die Dinge, die Emmy zurechtgelegt hatte:<br />

zwei Kämme, zwei kleine Schüsseln und zwei große<br />

Eimer.<br />

»Mit den Kämmen streifen wir die Beeren vom<br />

Heidelbeerkraut ab in die kleinen Schüsseln«, erklärte<br />

77


Emmy, die Gertruds fragenden Blick gesehen hatte.<br />

»Wenn die Schüsselchen voll sind, werden sie in den<br />

Eimer ausgeleert.« Verständnislos blickte Gertrud sie<br />

an. Emmy lächelte ihr aufmunternd zu. »Ich zeige es<br />

Ihnen nachher.«<br />

Heidelbeeren pflücken, das hieß für die beiden<br />

Frauen zunächst einmal zwei Stunden bergauf gehen,<br />

ehe sie die Stelle erreichten, wo die besten Beeren<br />

wuchsen. Sie mussten sich also beizeiten auf den Weg<br />

machen. Mit festem Schritt gingen die beiden Frauen die<br />

nur mäßige Steigung durch den Wald hinauf. Gertrud<br />

atmete tief die frische Morgenluft ein, und die letzte<br />

Müdigkeit verflog rasch. Wie schön <strong>der</strong> Wald <strong>ist</strong> zu<br />

dieser frühen Stunde, dachte sie, und ließ sich<br />

verzaubern vom Gold <strong>der</strong> Sonnenstrahlen, die durch die<br />

Wipfel <strong>der</strong> hohen <strong>Buch</strong>en drangen und ein Muster aus<br />

Licht und Schatten auf den Waldboden malten. Alles<br />

kommt mir so unwirklich vor. Ich würde mich gar nicht<br />

wun<strong>der</strong>n, wenn plötzlich ein Zwerg am Wegesrand säße<br />

o<strong>der</strong> eine Fee zwischen den Bäumen erschiene. In einer<br />

solchen Stimmung müssen Märchen entstanden sein.<br />

Ein Eichhörnchen lief vor ihnen einen Stamm hinauf.<br />

»Ich habe ja schon so oft gesehen, wie graziös diese<br />

niedlichen Tiere klettern und springen«, sagte sie leise<br />

zu Emmy, »aber ich kann mich immer wie<strong>der</strong> daran<br />

freuen.«<br />

»Sehen Sie da zwischen den Bäumen das Reh?«<br />

Emmy blieb stehen und zeigte in die Richtung, aber das<br />

Tier war verschwunden, ehe Gertrud es entdeckt hatte.<br />

»Schade, dass sie so scheu sind«.<br />

Sie warteten noch einen Augenblick, aber das Reh<br />

zeigte sich nicht wie<strong>der</strong>. In <strong>der</strong> Morgenkühle war <strong>der</strong><br />

78


Weg nicht anstrengend, und die beiden Frauen kamen<br />

schnell voran. Gertrud war Spaziergänge in den<br />

Harzbergen gewohnt, denn sie begleitete ihren Vater oft.<br />

Auf <strong>der</strong> Höhe angekommen, sahen sie, dass an<strong>der</strong>e<br />

schon emsig bei <strong>der</strong> Arbeit waren. Erschrocken blickte<br />

Gertrud auf die vielen Menschen, die im<br />

Heidelbeerkraut knieten und mit ihren Kämmen die<br />

Beeren von den Sträuchern abstreiften.<br />

»Wir hätten noch früher aufstehen müssen.« Ihr<br />

enttäuschter Blick streifte Emmy. »Ich dachte, wir<br />

würden die Ersten sein! Hoffentlich finden wir<br />

überhaupt noch genug.«<br />

»Wir finden noch genug, Fräulein Gertrud, glauben<br />

Sie mir.« Emmy legte ihr beschwichtigend eine Hand<br />

auf die Schulter.<br />

»Guten Morgen, Fräulein Lehmann, auch schon so<br />

früh auf den Beinen?«<br />

Eine dickliche Frau, <strong>der</strong> ein paar fettige Haarsträhnen<br />

aus ihrem Knoten gerutscht waren, hatte sich<br />

aufgerichtet und winkte herüber. Durch die laute,<br />

ordinär klingende Stimme aufmerksam geworden, sah<br />

Gertrud zu ihr hin. Welch eine aufdringliche,<br />

unsympathische Person!<br />

»Guten Morgen, Frau Krämer«, antwortete Emmy<br />

kurz angebunden, und ein säuerliches Lächeln spielte<br />

um ihre Lippen. »Frau Raffke <strong>ist</strong> natürlich auch schon<br />

wie<strong>der</strong> unterwegs«, murmelte sie vor sich hin.<br />

Gertrud sah sie fragend an.<br />

»Ich nenne sie Frau Raffke«, erklärte Emmy, »weil<br />

sie immer alles wie besessen zusammenrafft. Ob es<br />

Beeren sind o<strong>der</strong> Pilze o<strong>der</strong> irgendwelche Angebote in<br />

79


den Läden – Frau Raffke <strong>ist</strong> stets als Erste zur Stelle und<br />

schnappt den an<strong>der</strong>en die besten Sachen weg.«<br />

Gertrud blickte auf die vielen Menschen. Wie große<br />

überdimensionale Käfer sahen sie aus, wie sie da so<br />

durchs Heidelbeerkraut krochen. Gleich werde ich auch<br />

so ein Käfer sein.<br />

»Kommen Sie, Fräulein Gertrud.« Emmy fasste sie<br />

am Arm und führte sie zu einer Stelle, wo noch niemand<br />

war. Sie knieten sich auf den Boden und begannen, mit<br />

ihren Kämmen die Beeren von den Sträuchern in die<br />

kleine Schale abzustreifen. Wenn das Schälchen voll<br />

war, wurde es in den Eimer entleert. Es war eine<br />

mühselige Arbeit. »So möchte ich nicht mein täglich<br />

Brot verdienen müssen«, sagte Gertrud halblaut zu sich<br />

selbst und dachte dabei an die Frauen, die für einen<br />

Tagelohn diese Arbeit verrichteten. Tapfer nahm sie die<br />

kleinen Sträucher zwischen die Finger und zog sie durch<br />

ihren Kamm. Er hatte zwar breite Zinken, aber immer<br />

wie<strong>der</strong> erwischte sie mit den Beeren auch Blätter. Diese<br />

fielen mit den Früchten zusammen in die kleine Schale,<br />

die sie vor sich auf den Boden gestellt hatte. »Ich habe<br />

ja mindestens so viele Blätter wie Beeren in meinem<br />

Topf!« Halb lachend, halb verärgert über ihre<br />

Ungeschicklichkeit sah sie zu Emmy hinüber. Mit<br />

spitzen Fingern versuchte sie, das Laub aus den<br />

Heidelbeeren herauszusortieren, aber Emmy rief ihr zu:<br />

»Halten Sie sich damit nicht auf, die Beeren müssen<br />

ja doch noch verlesen werden. Sie bekommen nur<br />

unnötig blaue Finger.«<br />

Zwei Stunden arbeiteten sie ohne Pause. Gertrud<br />

musste sich zwischendurch immer wie<strong>der</strong> aufrichten.<br />

Durch die ungewohnte Haltung, das Knien und Bücken,<br />

80


schmerzten ihre Glie<strong>der</strong>. Dann reckte und streckte sie<br />

sich, und für kurze <strong>Zeit</strong> ging es besser. Heute Abend<br />

werde ich ganz lahm sein, und einen tüchtigen<br />

Muskelkater werde ich auch bekommen, dachte sie<br />

leicht verstimmt, aber ich wollte es ja so. Emmy holte<br />

eine Flasche mit kaltem Tee und zwei Schmalzbrote aus<br />

ihrem Beutel.<br />

»Jetzt stärken wir uns erst einmal, Fräulein Gertrud.<br />

Ich finde, das haben wir uns verdient«, sagte sie gut<br />

gelaunt.<br />

»Das <strong>ist</strong> die beste Idee!« Gertrud war froh über die<br />

Pause und strich sich die vorwitzige Haarsträhne aus<br />

dem Gesicht, die ihr bei <strong>der</strong> Arbeit bis fast über die<br />

Augen gefallen war und an <strong>der</strong> feuchten Stirn klebte.<br />

»Ich habe richtig Hunger und Durst bekommen.« Sie<br />

biss herzhaft in ihr Brot, dann blickte sie erstaunt zu<br />

Emmy hinüber. »Woher haben Sie denn das Schmalz?«<br />

»Ich habe es für ein Silberschälchen von einem<br />

Bauern in Westerode bekommen.« Ein l<strong>ist</strong>iges Lächeln<br />

blitzte in ihren blauen Augen auf.<br />

Als sie ihre Pause beendeten, sah Gertrud bekümmert<br />

in ihren Eimer. »Es geht so langsam. Mein Eimer <strong>ist</strong><br />

kaum zu einem Viertel voll.«<br />

»Der Tag <strong>ist</strong> ja noch nicht herum.« Emmy lachte und<br />

band die Schleife ihrer Schürze neu, die sich gelöst<br />

hatte. »Außerdem, wenn Ihr Eimer nicht ganz voll wird,<br />

so schadet das doch auch nichts.«<br />

Sie machten sich wie<strong>der</strong> an die Arbeit. Mit <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong><br />

stieg die Sonne höher. Die Augusthitze durchdrang jetzt<br />

auch den Wald und ließ die Arbeit mühsamer werden.<br />

Gertrud hätte am liebsten Schluss gemacht. Alle<br />

81


Heiterkeit, die sie am Morgen noch empfunden hatte,<br />

alle Leichtigkeit und Beschwingtheit, die sie auf dem<br />

Weg nach oben begleitet hatte, war von ihr abgefallen.<br />

Die ungewohnte Anstrengung drückte auf ihr Gemüt.<br />

Alles machte auf einmal keinen Spaß <strong>mehr</strong>. Missmutig<br />

betrachtete sie die Heidelbeeren in ihrem Eimer. Was <strong>ist</strong><br />

das nur für eine langweilige, monotone Tätigkeit, dachte<br />

sie seufzend, und das jetzt noch stundenlang! Aber ich<br />

will Emmy nicht enttäuschen. Verbissen pflückte sie<br />

weiter. Der Wald erschien ihr auf einmal finster und<br />

drohend, die Sonne grell und feindselig. Die<br />

kräftezehrende Arbeit in <strong>der</strong> Hitze hatte die Fröhlichkeit<br />

des Morgens in eine düstere Stimmung verwandelt. Sie<br />

ließ traurige Erinnerungen lebendig werden und erfüllte<br />

Gertrud mit schwermütigen Gedanken. Wie glücklich<br />

war ich doch noch vor einem Jahr, als Wilhelm mich<br />

fragte, ob ich seine Frau werden wollte. Und nicht<br />

einmal drei Monate später war er tot! Ihre Augen füllten<br />

sich mit Tränen. Als sie die Wangen hinabrollten,<br />

vermischten sie sich mit den Schweißtropfen auf ihrem<br />

Gesicht. Sie nahm ihre Umgebung nur wie durch einen<br />

Schleier wahr und achtete nicht darauf, was sie tat.<br />

Mechanisch arbeiteten ihre Finger weiter, als gehörten<br />

sie nicht zu ihr, als hätten sie sich selbstständig gemacht<br />

und nähmen nicht teil an den Gefühlen, die sie<br />

bewegten. Unermüdlich streiften sie die Beeren vom<br />

Heidelbeerkraut, während Gertrud in ihre Gedanken<br />

versponnen war wie die Puppe einer Seidenraupe in<br />

ihren Kokon. Wenn dieser Krieg nicht gekommen wäre,<br />

dann wäre ich jetzt vielleicht schon verheiratet, hätte<br />

einen eigenen Haushalt und sicher bald auch ein Kind.<br />

Wie schön wäre es, für eine eigene Familie sorgen zu<br />

können! Wahrscheinlich würde ich dann viel lieber<br />

82


Heidelbeeren pflücken, wenn ich es für meinen Mann<br />

und meine Kin<strong>der</strong> täte. Ein Lächeln huschte über ihr<br />

Gesicht. Aber was soll nun aus mir werden? Wie lange<br />

soll ich noch bei Vater leben? Ich liebe ihn, ja, und ich<br />

habe es auch gut bei ihm, das weiß ich. Aber eines Tages<br />

möchte ich doch mein eigenes Leben führen, nicht<br />

immer nur zu Hause herumsitzen, etwas Sinnvolles tun!<br />

Ist das ego<strong>ist</strong>isch? Undankbar? Ich denke, Vater wird<br />

das verstehen. Man bleibt doch nicht ewig Kind. Und<br />

als alte Jungfer, abhängig von <strong>der</strong> Gnade <strong>der</strong><br />

Verwandten, wie Tante Eugenie, möchte ich meine<br />

Tage auch nicht beschließen. Wie wird meine Zukunft<br />

aussehen? Wird mein Leben weiter in alltäglicher<br />

Belanglosigkeit versinken? Ich bin doch noch jung!<br />

Wenn nur dieser schlimme Krieg erst einmal zu Ende<br />

wäre, dann wird vielleicht manches an<strong>der</strong>s.<br />

Der liebliche Gesang eines Rotkehlchens über ihr in<br />

<strong>der</strong> <strong>Buch</strong>e drang durch den Schleier ihrer Traurigkeit.<br />

Die silbrigen Klänge fielen wie schimmernde Perlen in<br />

die Dunkelheit ihrer Seele. Sie richtete sich auf und rieb<br />

sich die Augen. Warum quäle ich mich mit trübsinnigen<br />

Gedanken? Es gibt doch auch noch etwas Schönes in <strong>der</strong><br />

Welt. Mit einem Lächeln sah sie zu dem kleinen Vogel<br />

hinauf.<br />

Gegen Mittag setzte sie sich erschöpft auf den<br />

weichen Waldboden und lehnte sich an einen<br />

Baumstamm. Sie war völlig verschwitzt und schmutzig,<br />

ihr Haar im Nacken war ganz feucht. Selbst im Schatten<br />

<strong>der</strong> <strong>Buch</strong>en war es jetzt heiß. Der leichte Wind, <strong>der</strong> sie<br />

am Morgen noch erfrischt hatte, war eingeschlafen, die<br />

Luft war drückend. Was gäbe ich für ein kühles Bad,<br />

dachte sie und betrachtete ihre Finger, die ganz blau und<br />

83


klebrig waren vom Heidelbeersaft. Hätte ich gewusst,<br />

dass diese Arbeit so anstrengend <strong>ist</strong>, wäre ich vielleicht<br />

doch zu Hause geblieben. Emmy kam auf sie zu und<br />

reichte ihr einen Becher Tee.<br />

»Da, trinken Sie einen Schluck, Sie müssen durstig<br />

sein. Wir machen eine kleine Pause.«<br />

Gierig trank Gertrud den Tee, aber essen wollte sie<br />

nichts, sie hatte keinen Hunger.<br />

Als die Schatten länger wurden und die Sonne tiefer<br />

stand, machten sie sich auf den Heimweg.<br />

»Gott sei Dank, dass es jetzt bergab geht«, seufzte<br />

Gertrud erleichtert. Ihr Eimer war doch noch fast voll<br />

geworden, sodass sie schwer zu tragen hatte. Emmy war<br />

glücklich über die reiche Ernte.<br />

»Gleich morgen fange ich an, Saft und Kompott zu<br />

machen.« Sie strahlte.<br />

Gertrud betrachtete unglücklich ihre blauen Hände.<br />

Wie sollte sie die wie<strong>der</strong> sauber kriegen, und noch dazu<br />

ohne Zitrone?<br />

An diesem Abend ging sie früher zu Bett als sonst.<br />

Müde ließ sie sich in die Kissen sinken. Aber das<br />

Bewusstsein, durchgehalten und etwas gele<strong>ist</strong>et zu<br />

haben, erfüllte sie mit Genugtuung. Sie kuschelte sich<br />

unter ihre Bettdecke und war bald fest eingeschlafen.<br />

84


30 . August 1915,<br />

spätnachmittags<br />

W<br />

ie schön war es wie<strong>der</strong> in Harzburg! Den<br />

ganzen Sommer über waren wir dort, wie<br />

jedes Jahr. Gestern sind wir nach Hause<br />

gekommen. Ich liebe Harzburg, das Haus, den Garten,<br />

den Wald! Drei Jahre nach Mutters Tod <strong>ist</strong> die<br />

Erinnerung an sie auch nicht <strong>mehr</strong> so schmerzlich wie<br />

am Anfang. Ich denke jetzt doch <strong>mehr</strong> an die vielen<br />

schönen Stunden, die wir hier zusammen mit ihr<br />

verbracht haben, und ich glaube, Vater geht es<br />

genauso. Er hat sich sehr gut erholt und <strong>ist</strong> wie<strong>der</strong><br />

ganz <strong>der</strong> Alte. Was hatten wir für Sorgen! Aber er<br />

scheint die Krankheit ohne Nachwirkungen<br />

überstanden zu haben. Auch seine Herzbeschwerden<br />

sind verschwunden, sagt er. Zunächst wollte er sich ja<br />

gar nicht in dem Haus aufhalten, in dem sie gestorben<br />

<strong>ist</strong>. Aber jetzt scheint er sich zu freuen, wie<strong>der</strong> dort zu<br />

sein. Er <strong>ist</strong> viel fröhlicher und aufgeschlossener.<br />

Emmy war ja wie<strong>der</strong> unermüdlich! Sie hat auch dafür<br />

gesorgt, dass ich keine Langeweile bekam. Die Kratzer,<br />

die ich mir in den letzten Tagen beim Brombeerpflücken<br />

an Armen und Beinen geholt hatte, sind jetzt noch zu<br />

sehen. Aber sie <strong>ist</strong> wirklich ein Schatz. Sie sorgt so gut<br />

für uns. <strong>Im</strong> Herbst will sie wie<strong>der</strong> nach Harzburg fahren<br />

und <strong>Buch</strong>eckern sammeln. Sie sagt, sie bekommt Öl<br />

dafür. Wenn wir sie nicht hätten!<br />

85


Der Sommer ging zu Ende, und je<strong>der</strong> fürchtete, dass<br />

es einen zweiten Kriegswinter geben würde. Gertrud<br />

erinnerte sich nur zu gut an den letzten Winter.<br />

Wie kalt und ungemütlich war es manchmal im Haus<br />

gewesen, weil es nicht genug zum Heizen gab. Und alle<br />

Nahrungsmittel waren knapp und teuer. Ob es dieses<br />

Jahr noch schlimmer wird, fragte sie sich oft. Sie dachte<br />

mit Bangen an die kalte Jahreszeit und sehnte sich nach<br />

den schönen Sommertagen in Harzburg, nach dem<br />

Garten und dem Wald. Selbst das anstrengende<br />

Heidelbeerpflücken kam ihr jetzt wie ein Vergnügen<br />

vor.<br />

An einem sonnigen, aber schon recht kühlen Tag im<br />

Oktober hatten sich im Hause Oertel fünf junge Frauen<br />

um den großen Tisch im Esszimmer versammelt. Jede<br />

war mit einem Strickzeug beschäftigt und hatte eine<br />

Tasse dampfenden Tee vor sich stehen. Aus den letzten<br />

Mehlvorräten hatte Emmy einfache Kekse gebacken.<br />

Gertrud wollte das alte Kränzchen aus ihrer Schulzeit<br />

wie<strong>der</strong> aufleben lassen und hatte deshalb ihre<br />

Schulfreundinnen eingeladen. Sie beschlossen, sich wie<br />

früher einmal in <strong>der</strong> Woche reihum zu treffen und<br />

warme Sachen für die Frontsoldaten zu stricken. Das<br />

Rote Kreuz hatte zu Spenden aufgerufen und sammelte<br />

vor allen Dingen warme Kleidung. Weil sich die jungen<br />

Frauen längere <strong>Zeit</strong> nicht gesehen hatten, gab es viel zu<br />

erzählen. Das monotone Geräusch <strong>der</strong> klappernden<br />

Stricknadeln begleitete ihr Plau<strong>der</strong>n und Kichern wie<br />

ein Ostinato.<br />

»Wisst ihr übrigens, dass ich mich zum Roten Kreuz<br />

gemeldet habe?«, sagte Olga, ließ den Pulswärmer, an<br />

86


dem sie gerade strickte, in den Schoß sinken und sah die<br />

an<strong>der</strong>en fragend an. Sie hatte rötliches, lockiges Haar<br />

und eine helle Haut. Zu ihrem Kummer hatte sie um die<br />

Nase herum etliche Sommersprossen, doch ihre<br />

hellblauen Augen blickten fröhlich und<br />

unternehmungslustig in die Welt.<br />

»So richtig als Krankenschwester?«, fragte Anni.<br />

»O<strong>der</strong> nur für den Dienst am Bahnhof, Tee ausschenken<br />

und Brote verteilen?«<br />

»Ja, als Krankenschwester.« Olga nahm ihr<br />

Strickzeug wie<strong>der</strong> auf. »Zunächst mache ich eine kurze<br />

Ausbildung, dann werde ich wohl als Hilfsschwester<br />

arbeiten können.«<br />

»An <strong>der</strong> Front?«, fragte Gretchen mit großen Augen.<br />

Sie war etwas naiv und sah ihre Freundin ängstlich an.<br />

Olga lachte. »Ich denke, dass ich in Braunschweig<br />

bleiben werde. Schließlich haben wir hier ja<br />

fünfundzwanzig Lazarette.«<br />

»Haben deine Eltern nichts dagegen? Ich meine, es<br />

sind ja immerhin Männer, die du dann betreust.« Gertrud<br />

dachte an ihren Vater und seine Ansichten darüber, was<br />

sich für eine junge Frau schickt.<br />

»In Notzeiten, wie wir sie jetzt erleben, muss je<strong>der</strong><br />

tun, was er kann«, sagte Olga voller Überzeugung.<br />

»Meine Eltern denken genauso. Wie viele Frauen haben<br />

sogar Männerarbeit übernommen, wenn ihr mal an die<br />

Briefträgerinnen, Straßenbahnschaffnerinnen und die<br />

Frauen in den Fabriken denkt. Und was <strong>ist</strong> schließlich<br />

schon dabei, wenn ich Männer im Bett liegen sehe.« Sie<br />

lachte und machte eine wegwerfende Handbewegung.<br />

»Sie sind doch verwundet.«<br />

87


Eine <strong>Zeit</strong> lang war nur das Klappern <strong>der</strong> Stricknadeln<br />

zu hören. Die Mädchen hingen ihren Gedanken nach.<br />

Dann nahm Helene das Gespräch wie<strong>der</strong> auf. »Willst du<br />

später Krankenschwester bleiben und noch eine richtige<br />

Ausbildung mit Abschlussexamen machen?«, fragte sie.<br />

Olga zuckte mit den Schultern. »Das weiß ich noch<br />

nicht, das wird sich finden«.<br />

Anni, ein groß gewachsenes, schlankes Mädchen mit<br />

blondem Haar, sagte: »Ich werde nach dem Krieg<br />

bestimmt eine Berufsausbildung machen. Am liebsten<br />

würde ich ein Lehrerinnenseminar besuchen.«<br />

»Lehrerin, das passt zu dir!«, rief Gretchen spontan<br />

dazwischen.<br />

Über Annis Gesicht huschte ein kurzes, spöttisches<br />

Lächeln. Sie war intelligent und sehr selbstbewusst.<br />

Schon in <strong>der</strong> Schule war sie aufgefallen, einmal durch<br />

gute Le<strong>ist</strong>ungen, dann aber auch dadurch, dass sie<br />

gelegentlich wagte, an<strong>der</strong>er Meinung zu sein als die<br />

Lehrer und das auch noch offen zum Ausdruck zu<br />

bringen.<br />

»Ich glaube, ich möchte am liebsten heiraten und<br />

Kin<strong>der</strong> haben.« Gretchen blickte mit treuherzigem<br />

Augenaufschlag in die Runde.<br />

»Das passt auch am besten zu dir«, gab Anni <strong>der</strong><br />

Freundin die Bemerkung von vorhin zurück. Ein leicht<br />

ironischer Unterton war dabei nicht zu überhören.<br />

Gertrud war schweigsam geworden. Sie hatte<br />

aufgehört zu stricken, die Nadeln lagen in ihrem Schoß.<br />

Dunkle Gedanken breiteten sich in ihr aus. Hatte sie<br />

eigentlich noch ein Ziel im Leben? Seit Wilhelms Tod<br />

schien ihr die Zukunft leer, ohne irgendeine Perspektive.<br />

88


Sie beneidete Olga und Anni, die so genau wussten, was<br />

sie wollten, und es auch durchsetzen konnten. Aber da<br />

war ihr Vater mit seinen strengen Ansichten.<br />

Er würde es ihr niemals erlauben, einen Beruf zu<br />

erlernen, und sie würde nicht wagen, sich ihm zu<br />

wi<strong>der</strong>setzen.<br />

»Du b<strong>ist</strong> so still geworden, Gertrud.« Helene sah die<br />

Freundin über ihr Strickzeug hinweg forschend an.<br />

Gertrud schrak auf und nahm rasch die Nadeln wie<strong>der</strong><br />

zur Hand. »Ach, weißt du, ich würde auch gern so etwas<br />

machen wie Olga o<strong>der</strong> Anni.«<br />

»Was spricht denn dagegen?«, rief Anni lebhaft<br />

dazwischen.<br />

»Mein Vater. Er würde es mir nie erlauben. Er<br />

möchte, dass ich heirate und bis dahin im Elternhaus<br />

bleibe. Ich hätte es nicht nötig, zu arbeiten und Geld zu<br />

verdienen.«<br />

»Das sind doch veraltete Ansichten«, erregte sich<br />

Anni. »Denk mal daran, wie viele Frauen heutzutage<br />

studieren. Emanzipation und Gleichberechtigung , das<br />

<strong>ist</strong> die Zukunft.«<br />

»Vater <strong>ist</strong> nun mal so.« Gertrud seufzte und ließ das<br />

Strickgarn hastig durch ihre Finger gleiten.<br />

»Du musst dich eben durchsetzen«, sagte Anni<br />

energisch. »Schließlich <strong>ist</strong> es dein Leben.«<br />

Wie<strong>der</strong> war es Dezember geworden, und die zweite<br />

Kriegsweihnacht stand bevor. Doch Vorfreude auf das<br />

nahende Fest wollte in Gertrud nicht aufkommen. Lag<br />

es am trüben, dunklen Wetter, das schon seit Wochen<br />

Regen und kühlen Wind brachte? Oft stand Gertrud am<br />

89


Fenster und schaute hinaus. Sie fühlte sich leer und<br />

irgendwie alt. Selbst das Klavierspielen machte ihr<br />

keine Freude <strong>mehr</strong>. Abends, wenn sie im Bett lag und<br />

<strong>der</strong> Schlaf nicht kommen wollte, überfielen sie quälende<br />

Gedanken an Paul. Wo mochte er jetzt wohl sein? Sie<br />

hatte schon so lange nichts <strong>mehr</strong> von ihm gehört. War<br />

er vielleicht schon ... Gertrud mochte den Gedanken<br />

nicht zu Ende denken. Seufzend stand sie auf. Ich sollte<br />

in die Küche gehen und ein Glas Wasser trinken, dachte<br />

sie.<br />

Als sie aus ihrem Zimmer ging, bemerkte sie, dass im<br />

Erdgeschoß noch Licht brannte. Der Lichtschein fiel<br />

durch die halb geöffnete Küchentür auf den Flur. Wer<br />

war denn jetzt noch auf? Vater arbeitete oft bis spät in<br />

die Nacht, aber dann saß er in seinem Arbeitszimmer.<br />

Leise ging sie die Treppe hinunter und blieb wie<br />

angewurzelt an <strong>der</strong> Tür stehen. Was machte Emmy da?<br />

Was sollten all diese Dinge auf dem Küchentisch, die<br />

eigentlich nicht dahingehörten: <strong>der</strong> Rucksack und die<br />

große Tasche, außerdem eine Garnitur Bettwäsche, ein<br />

silberner Kerzenleuchter und ein dazu passendes<br />

Tablett, eine Zuckerdose aus Meißener Porzellan und –<br />

Gertrud sah es mit einem Gefühl schmerzlicher<br />

Betroffenheit – eine von den Tischdecken, die ihre<br />

Mutter einst so kunstvoll bestickt hatte. Und nun packte<br />

Emmy auch noch den dreiarmigen Leuchter in den<br />

Rucksack! Verwun<strong>der</strong>t sah Gertrud dem seltsamen<br />

Treiben zu. Sollte Emmy etwa ...? Aber nein, sie <strong>ist</strong> ja<br />

schon ein paar Jahre bei uns und war stets ehrlich. Doch<br />

was soll das bedeuten? Was tut sie da? Was hat sie vor?<br />

Schließlich ging Gertrud neugierig ein paar Schritte<br />

näher, da blickte Emmy auf.<br />

90


»Ach, Fräulein Gertrud.« Sie lächelte verlegen,<br />

räusperte sich und strich mit <strong>der</strong> Hand leicht über den<br />

Kissenbezug, <strong>der</strong> vor ihr lag.<br />

»Was machen Sie da, Emmy?« fragte Gertrud. Ihr<br />

Ton war schärfer, als sie beabsichtigt hatte.<br />

Emmy räusperte sich wie<strong>der</strong>. »Ich denke, ich bin<br />

Ihnen eine Erklärung schuldig.« Sie schluckte. »Ich will<br />

morgen auf die Dörfer fahren, wie es so viele tun, um zu<br />

hamstern.« Das letzte Wort betonte sie leicht, und ein<br />

Lächeln huschte dabei über ihr Gesicht. »Ich weiß nicht,<br />

was ich Weihnachten auf den Tisch bringen kann. Es<br />

sollte doch ein bisschen festlich sein, aber alles <strong>ist</strong> knapp<br />

und teuer. Vielleicht habe ich ja Glück und bekomme<br />

bei den Bauern etwas dafür.« Sie deutete auf die<br />

Wäschestücke und die Silbersachen, die auf dem<br />

Küchentisch lagen.<br />

Gertrud machte große Augen. »Weiß Vater davon?«<br />

»Ich musste ihn ja um einen Tag Urlaub bitten. Er<br />

gab mir diese schöne Decke hier.« Sie hielt Gertrud die<br />

fein gestickte Tischdecke entgegen.<br />

»Ich weiß noch, wie Mutter daran gearbeitet hat.«<br />

Gertrud blickte versonnen auf die schöne Stickerei.<br />

Dann warf sie mit einem Ruck den Kopf zurück, als<br />

wolle sie trübe Gedanken verscheuchen, und strich sich<br />

die wi<strong>der</strong>spenstige Haarsträhne aus <strong>der</strong> Stirn. »Darf ich<br />

mitkommen, Emmy?« Ihre Augen blitzten<br />

unternehmungslustig.<br />

»Ach, Fräulein Gertrud, das <strong>ist</strong> doch nichts für Sie,<br />

so von Hof zu Hof zu gehen als Bittstellerin.«<br />

91


»Nehmen Sie mich doch mit, bitte!« Es klang fast wie<br />

das Betteln eines kleinen Kindes. »Ich kann Ihnen doch<br />

tragen helfen.«<br />

Emmy lächelte. »Wenn wir überhaupt etwas<br />

bekommen.« Dann sah sie Gertrud aufmerksam an. Ihre<br />

leuchtenden Augen, <strong>der</strong> schmollende Zug um den<br />

Mund, ihr ganzes Wesen schienen einen sehnlichen<br />

Wunsch auszudrücken.<br />

»Fragen Sie Ihren Vater um Erlaubnis. Wenn er<br />

einverstanden <strong>ist</strong>, können Sie gern mitkommen.« Mit<br />

diesen Worten wandte sie sich erneut <strong>der</strong> Tasche und<br />

dem Rucksack zu. Gertrud verließ die Küche mit dem<br />

Gefühl, dass sie ein Abenteuer erleben würde.<br />

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« Oertel<br />

blickte unwillig von seinen Papieren auf, als Gertrud die<br />

Bitte, Emmy auf ihrer Fahrt begleiten zu dürfen,<br />

ausgesprochen hatte. Sein Ton war so energisch und<br />

bestimmt, dass Gertrud das Gefühl hatte, alles<br />

Bemühen, ihn zu überreden, würde zwecklos sein.<br />

Unentschlossen blieb sie vor dem Schreibtisch stehen.<br />

»Ist noch was?«, sagte Oertel abweisend und wollte<br />

sich wie<strong>der</strong> seiner Arbeit zuwenden.<br />

»Bitte, Vater, lass mich mit Emmy gehen.« Sie rieb<br />

verlegen ihre Hände.<br />

»Meine Tochter als Bettlerin auf fremde Höfe gehen!<br />

Von Tür zu Tür, wie eine Hausiererin! Was hast du dir<br />

denn dabei gedacht?« Er stand auf und schlug mit <strong>der</strong><br />

Faust auf den Tisch.<br />

»Das erlaube ich nicht!«<br />

92


Gertrud biss sich auf die Lippen. Sie hatte sich den<br />

Wünschen des Vaters stets gebeugt. Sein Zorn weckte<br />

in ihr ein unbestimmtes Schuldgefühl. Aber da war auch<br />

noch etwas an<strong>der</strong>es, Neues in ihr; etwas wie Trotz, wie<br />

die Lust, mit dem Vater ihre Kräfte zu messen. Das hatte<br />

sie noch nie empfunden, und sie wurde sich dieser<br />

Regung auch kaum bewusst, doch sie sagte standhaft:<br />

»So viele Leute tun das. Selbst Annis Mutter <strong>ist</strong> sich<br />

nicht zu schade dafür. Vater, ich bin doch kein Kind<br />

<strong>mehr</strong>, und schließlich <strong>ist</strong> Emmy ja bei mir. Wir müssen<br />

doch was zum Essen haben.«<br />

Oertel sah seine Tochter an, ohne ein Wort zu sagen.<br />

Allmählich legte sich sein Zorn, und er spürte auf<br />

einmal, dass irgendetwas sich geän<strong>der</strong>t hatte. Gertrud<br />

wirkte erwachsener, selbstbewusster. War sie schon<br />

länger so? Hatte er gar nicht bemerkt, dass aus seiner<br />

Tochter eine junge Frau geworden war? Gedankenvoll<br />

fuhr er mit <strong>der</strong> Hand über seinen Bart. Schweigen füllte<br />

den Raum. Schließlich brummte er :<br />

»Also meinetwegen, mach, was du willst.« Ohne<br />

Gertrud noch weiter zu beachten, wandte er seine<br />

Aufmerksamkeit wie<strong>der</strong> seiner Arbeit zu.<br />

Leise verließ sie das Zimmer. Eigentlich sollte ich<br />

mich freuen, dass ich meinen Willen durchgesetzt habe,<br />

dachte sie. Aber die rechte Freude wollte sich nicht<br />

einstellen. Sie fühlte, dass sie ihren Vater nicht hatte<br />

überzeugen können, dass er nur wi<strong>der</strong>willig<br />

nachgegeben hatte. Vielleicht wollte er nicht länger<br />

gestört werden? Ein zwiespältiges Gefühl blieb in ihr<br />

zurück.<br />

93


Am nächsten Morgen machten sich die beiden<br />

Frauen schon früh auf den Weg zum Bahnhof. Als<br />

Gertrud Emmy erblickte, die zum Ausgehen fertig<br />

angezogen war, musste sie unwillkürlich lachen. Sie sah<br />

aber auch zu komisch aus in ihrem alten Pelzmantel mit<br />

dem Rucksack auf dem Rücken.<br />

»In diesen <strong>Zeit</strong>en kann man nicht eitel sein. Kommen<br />

Sie, sonst verpassen wir den Zug«, sagte Emmy<br />

energisch.<br />

Gertrud schlüpfte in ihren knöchellangen Mantel aus<br />

hellgrauem Tuch und band einen rosafarbenen<br />

Wollschal um den Hals. Auf dem Kopf trug sie eine<br />

graue Pelzmütze, unter <strong>der</strong> ihre dunkelbraunen Locken<br />

keck hervorguckten.<br />

Es war ein nasskalter, trüber Tag. Die Lokomotive<br />

stand schon unter Dampf, als sie auf den Bahnsteig<br />

kamen. So viele Leute, wun<strong>der</strong>te sich Gertrud. Wo<br />

kommen die nur alle her, so früh am Morgen? Von allen<br />

Seiten strömten Frauen, alte Männer und Jungen, die<br />

nicht älter sein mochten als fünfzehn o<strong>der</strong> sechzehn<br />

Jahre, herbei. Die an<strong>der</strong>en Männer sind alle im Krieg.<br />

Mit einem schneidenden Schmerz musste sie an<br />

Wilhelm denken. Die Menschen hatten die gleiche<br />

Absicht wie sie; man sah es an den Taschen,<br />

Rucksäcken und Milchkannen, die sie mit sich führten.<br />

Sie drängten in die Abteile. Gertrud wurde von hinten<br />

gestoßen und geschoben und fand schließlich mit Mühe<br />

einen Platz neben einer dicken Frau, die einen großen<br />

Korb auf ihrem Schoß hielt. Sie fühlte sich eingeengt<br />

und unbehaglich, aber ihre Nachbarin machte sich<br />

ungeniert breit. Gertrud warf Emmy, die ihr<br />

94


gegenübersaß, einen unglücklichen Blick zu, aber die<br />

zuckte nur mit den Schultern.<br />

Emmy betrachtete die Mitreisenden, die<br />

zusammengedrängt auf den Holzbänken saßen. Wir sind<br />

ein Volk von Bettlern geworden, dachte sie. Aber dann<br />

fielen ihr die Dinge ein, die in <strong>der</strong> großen Tasche waren:<br />

<strong>der</strong> silberne Kerzenleuchter und die mit Hohlsaum<br />

verzierte Garnitur Bettwäsche aus ihrer Aussteuer, die<br />

Zuckerdose aus Meißener Porzellan und die große<br />

Tischdecke, die Leonore Oertel einst gestickt hatte. Der<br />

Professor hatte sie ihr gegeben, nachdem er sie eine<br />

Weile angeschaut und zärtlich mit <strong>der</strong> Hand gestreichelt<br />

hatte. »Nehmen Sie sie, Emmy, davon, dass wir sie<br />

behalten, wird meine Frau auch nicht wie<strong>der</strong> lebendig.<br />

Und so hilft sie uns ein bisschen über die schweren<br />

<strong>Zeit</strong>en hinweg.« Er hatte sich dann schnell umgedreht,<br />

und Emmy meinte, Tränen in seinen Augen gesehen zu<br />

haben. Aber wir haben ja auch etwas zu bieten, dachte<br />

sie, und legte stolz eine Hand auf die Tasche.<br />

Ein Pfiff ertönte, die Lokomotive schnaufte, und <strong>der</strong><br />

Zug setzte sich mit einem Ruck langsam in Bewegung.<br />

Die Wagen waren nicht geheizt, und <strong>der</strong> Atem <strong>der</strong><br />

vielen Passagiere sowie die Ausdünstungen <strong>der</strong><br />

feuchten Kleidung ließen die Fenster bald beschlagen.<br />

Die Luft roch muffig. Gertrud hatte das Gefühl, kaum<br />

noch atmen zu können. Außerdem fror sie. Zitternd zog<br />

sie den Mantel fester um ihren Körper. Sie betrachtete<br />

die Mitreisenden. Alle schienen erschöpft zu sein vor<br />

Hunger und Müdigkeit. Mit blassen Gesichtern starrten<br />

sie vor sich hin. Der alte Mann in <strong>der</strong> Ecke beim Fenster<br />

war eingenickt. Sein leises Schnarchen vermischte sich<br />

mit dem monotonen Geräusch <strong>der</strong> Rä<strong>der</strong>. Bei jedem<br />

95


Halt stiegen einige Passagiere aus, und als <strong>der</strong> Zug<br />

schließlich in Schladen ankam, einem kleinen Dorf auf<br />

halbem Weg nach Harzburg, war er fast leer. Gertrud<br />

und Emmy waren absichtlich so weit gefahren. Emmy<br />

hoffte, dadurch <strong>mehr</strong> Chancen auf den Bauernhöfen zu<br />

haben. Beherzt machten sie sich auf den Weg.<br />

Der erste Hof war ein stattliches Anwesen. Das<br />

Wohnhaus, solide gebaut aus massiven Bruchsteinen,<br />

machte einen wohlhabenden Eindruck. <strong>Im</strong> rechten<br />

Winkel dazu stand links eine große Scheune, <strong>der</strong>en<br />

Dachfirst zwei Pferdeköpfe zierten, und rechts ein<br />

geräumiger Stall, aus dem das sanfte Muhen von Kühen<br />

und das leise Klirren von Ketten drang. Diese drei<br />

Gebäude rahmten einen weitläufigen Platz ein, in dessen<br />

Mitte sich ein dampfen<strong>der</strong> M<strong>ist</strong>haufen befand.<br />

»Puh, wie das stinkt«, sagte Gertrud und hielt sich die<br />

Nase zu. Aber sie war beeindruckt von dem<br />

ansehnlichen Besitz. »Das müssen reiche Bauern sein.<br />

Wie viele Kühe sie wohl haben? Zwanzig? O<strong>der</strong> <strong>mehr</strong>?«<br />

Sie sah sich voller Bewun<strong>der</strong>ung um. Als die beiden<br />

durch das offene Tor über den Hof hinweg auf das Haus<br />

zugehen wollten, schlug ein Hund kläffend an und zerrte<br />

wütend an seiner Kette. Erschrocken wich Gertrud<br />

zurück und fasste nach Emmys Arm. »Der tut uns<br />

nichts.« Sie gingen weiter und sahen die Bäuerin aus <strong>der</strong><br />

Haustür treten. Gertrud betrachtete neugierig die<br />

rundliche, stämmige Gestalt, das rote Gesicht, die straff<br />

nach hinten gekämmten, schon angegrauten Haare, die<br />

blaue Schürze aus grobem Stoff und das Wollkleid von<br />

undefinierbarer Farbe, das die Frau trug. Sie <strong>ist</strong> nicht<br />

groß, dachte sie, aber trotzdem hat sie etwas<br />

96


Gebieterisches, ja, es geht fast etwas Drohendes,<br />

Abweisendes von ihr aus.<br />

»Wir geben nichts. Wir haben selber nicht genug.<br />

Verschwinden Sie!«, rief die Frau jetzt mit keifen<strong>der</strong><br />

Stimme und stemmte die Hände in die Hüften. Ohne ein<br />

weiteres Wort warf sie die Tür zu.<br />

Gertrud sah Emmy an. Ihr Gesicht spiegelte zunächst<br />

Verwun<strong>der</strong>ung, aber bald bekam es einen Ausdruck von<br />

Zorn. Einen Augenblick lang dachte sie daran, die<br />

Bäuerin für ihre beleidigende Art und Weise zur Rede<br />

zu stellen. Das musste sie sich nicht gefallen lassen!<br />

Aber Emmy drehte sich gleichmütig um und ging ruhig<br />

und gelassen dem Ausgang zu.<br />

»Eine Unverschämtheit!«, ereiferte sich Gertrud, als<br />

sie wie<strong>der</strong> auf <strong>der</strong> Straße standen. »Wie kann sie uns nur<br />

so behandeln! Was nimmt diese Frau sich heraus?« Sie<br />

fühlte sich gedemütigt, in den Schmutz gezogen. Noch<br />

nie hatte jemand so zu ihr gesprochen. Als Tochter des<br />

Geheimen Hofrats Professor Dr. Oertel war man ihr<br />

stets mit Höflichkeit, ja sogar mit einer gewissen<br />

Hochachtung begegnet. Und nun wagte es eine einfache<br />

Bäuerin, sie wie Pack vom Hof zu jagen! Tränen traten<br />

ihr in die Augen. Sie fühlte sich wehrlos, ausgeliefert<br />

<strong>der</strong> Gnade o<strong>der</strong> Ungnade frem<strong>der</strong> Menschen. Emmy<br />

streifte Gertrud mit einem Seitenblick und sah ihre<br />

Tränen.<br />

»Kommen Sie, machen Sie sich nichts daraus.<br />

Manche Leute sind so.« Tröstend legte sie einen Arm<br />

um Gertruds Schultern. »Wir lassen uns nicht<br />

entmutigen. Beim nächsten Mal haben wir sicher <strong>mehr</strong><br />

Glück.«<br />

97


Emmy sollte Recht behalten. Als sie weitergingen,<br />

fiel Gertruds Blick auf ein kleines, mit Holz verkleidetes<br />

Bauernhaus. Es sah schmuck und einladend aus mit<br />

seinen grün gestrichenen Fensterläden, die einen<br />

hübschen Kontrast zu den weißen Fensterrahmen<br />

bildeten. Zwei große Obstbäume standen davor und<br />

reckten ihre kahlen Zweige in den Himmel. Hühner<br />

liefen umher, und in einem kleinen Stall hörte Gertrud<br />

ein Schwein grunzen. Neben dem Stall war ein alter<br />

Mann damit beschäftigt, Holz zu hacken. »Hier werden<br />

wir unser Glück noch einmal versuchen, kommen Sie.«<br />

Emmy nahm Gertrud am Arm, ging mit ihr auf die<br />

Haustür zu und klingelte. Eine junge Frau mit einem<br />

Baby auf dem Arm öffnete.<br />

»Ach, Sie kommen sicher aus <strong>der</strong> Stadt«, sagte sie<br />

freundlich, noch ehe Emmy ihre Bitte vorbringen<br />

konnte. »Ich weiß, in den Städten <strong>ist</strong> die Not groß. Uns<br />

geht es noch ein bisschen besser, obwohl es auch hier<br />

nicht <strong>mehr</strong> so <strong>ist</strong> wie früher. Mein Mann und mein<br />

Bru<strong>der</strong> sind an <strong>der</strong> Front. Wenn die Eltern mir nicht<br />

helfen würden, dann wüsste ich gar nicht, wie ich mit<br />

<strong>der</strong> Arbeit fertig werden sollte.« Sie streichelte das<br />

Baby, das anfing, unruhig zu werden. Eine alte Frau<br />

erschien in <strong>der</strong> Tür. »Halte ihn mal einen Augenblick,<br />

Mutter«, sagte die Bäuerin und legte das Kind <strong>der</strong> Frau<br />

in den Arm. »Ich hole für die Damen ein paar Eier und<br />

etwas Speck.« Sie ging ins Haus und kam mit einer Tüte<br />

und einem kleinen Paket wie<strong>der</strong>.<br />

Emmy fing an, ihre Schätze auszupacken.<br />

»Lassen Sie Ihre Sachen in <strong>der</strong> Tasche«, wehrte die<br />

junge Frau ab, »dafür will ich nichts haben.«<br />

98


»Wir danken Ihnen sehr«, sagte Gertrud. Ihre Stimme<br />

schwankte ein bisschen. Sie war gerührt. Nach dem, was<br />

sie gerade erlebt hatte, empfand sie die Freundlichkeit<br />

<strong>der</strong> jungen Bäuerin wie eine Wohltat.<br />

Das nächste Mal klopften sie wie<strong>der</strong> vergeblich an,<br />

aber dann konnten sie Emmys Bettwäsche gegen ein<br />

Pfund Butter eintauschen. Danach hatten sie nicht <strong>mehr</strong><br />

viel Glück. Mutlos stapften sie durch die von Regen und<br />

Schnee aufgeweichten Straßen und versuchten mühsam,<br />

den schlimmsten Schlammlöchern auszuweichen.<br />

Inzwischen war das Wetter noch schlechter geworden.<br />

Ein kalter Ostwind trieb ihnen Schneeregenschauer ins<br />

Gesicht. Emmy gab Gertrud die große Tasche und<br />

spannte ihren Schirm auf. Sie<br />

99


krochen beide darunter, aber das half auch nicht viel.<br />

Der Wind blies unter den Schirm und drohte ihn<br />

umzukippen, sodass Emmy ihn nach einer Weile wie<strong>der</strong><br />

zumachen musste. »So ein Sauwetter«, schimpfte sie.<br />

Plötzlich rutschte Gertrud aus und wäre fast gefallen,<br />

wenn Emmy sie nicht noch im letzten Moment<br />

festgehalten hätte.<br />

»Passen Sie auf!«<br />

»Man geht ja hier wie auf Schmierseife!« Gertrud<br />

lachte, aber es klang ein bisschen gezwungen.<br />

Sehnsüchtig dachte sie an ihr warmes Zimmer. Ach,<br />

wäre ich doch zu Hause! Aber sie nahm sich zusammen<br />

und gab sich einen Ruck. Schließlich hatte sie ja<br />

mitkommen wollen.<br />

»Wie sollen wir die nur wie<strong>der</strong> sauber kriegen«,<br />

meinte sie ratlos und sah unglücklich auf ihre eleganten<br />

schwarzen Stiefel, die nun von einer dicken<br />

Lehmschicht überkrustet waren. Auch <strong>der</strong> Mantel hatte<br />

einige Spritzer abbekommen.<br />

»Das lassen Sie getrost Marthas Sorge sein.« Emmy<br />

legte beruhigend eine Hand auf Gertruds Arm. »Die<br />

kriegt sie bestimmt wie<strong>der</strong> hin.«<br />

Als sie schon fast aufgeben wollten, sah Emmy am<br />

Ende <strong>der</strong> Straße einen Gutshof.<br />

»Vielleicht sollten wir es da noch einmal versuchen,<br />

Fräulein Gertrud, was meinen Sie? Haben Sie noch<br />

Mut?«<br />

»Natürlich«, antwortete Gertrud tapfer, obwohl sie<br />

eigentlich gar keine Lust <strong>mehr</strong> hatte und sich nichts<br />

sehnlicher wünschte, als im Warmen zu sein und endlich<br />

die nassen Sachen ausziehen zu können. Aber sie wollte<br />

100


sich keine Blöße geben. Jetzt hieß es durchhalten und<br />

die Zähne zusammenbeißen. »Wenn das auch ein<br />

Misserfolg wird, dann machen wir Schluss«, tröstete<br />

Emmy sie. Sie spürte, wie dem Mädchen zumute war.<br />

»Nicht, dass Sie sich noch erkälten. Sie sehen richtig<br />

blass und verfroren aus. Der Herr Professor wird mir<br />

Vorwürfe machen, wenn Sie krank werden.« Besorgt<br />

sah sie Gertrud an.<br />

»So empfindlich bin ich nicht.« Es klang fast trotzig.<br />

Dann gingen sie durch eine Lindenallee, die zu einem<br />

vornehm wirkenden weißen Herrenhaus führte. Welche<br />

Gegensätze haben wir erlebt, dachte Gertrud. Sie sah die<br />

Höfe, die sie besucht hatten, als innere Bil<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> vor<br />

sich. Der wohlhabende Bauernhof mit <strong>der</strong> keifenden<br />

Frau, das ärmliche Anwesen mit <strong>der</strong> gutmütigen jungen<br />

Frau ... Hier scheint alles so feudal zu sein, geradezu<br />

hochherrschaftlich, dachte sie. Wie hübsch <strong>der</strong> Portikus<br />

mit seinen zwei Säulen vor <strong>der</strong> Eingangstür. Links vom<br />

Haus <strong>ist</strong> wohl ein großer Park, ich sehe schöne alte<br />

Bäume; und rechts scheinen weiträumige<br />

Wirtschaftsgebäude zu sein. In welch unterschiedlichen<br />

Verhältnissen die Menschen doch leben, und wie<br />

verschieden sie sind!<br />

Emmy klingelte, und eine gut aussehende Frau<br />

öffnete die Tür. Sie war groß und schlank und trug ein<br />

schlichtes graues Hauskleid. Die Gutsherrin mochte<br />

ungefähr in Emmys Alter sein. Sie begrüßte die<br />

Besucherinnen freundlich und betrachtete dann Emmy<br />

mit nachdenklichem Blick. »Kenne ich Sie nicht von<br />

irgendwoher?« Plötzlich erinnerte sie sich und schlug<br />

sich mit <strong>der</strong> Hand vor die Stirn. »Natürlich, wir waren<br />

101


doch damals zusammen auf <strong>der</strong> Haushaltsschule! Wie<br />

schön, Sie wie<strong>der</strong>zusehen.«<br />

»Auch ich hatte gleich das Gefühl, dass ich Sie<br />

kennen müsste«, sagte Emmy lebhaft. »Ich freue mich!<br />

Es <strong>ist</strong> so lange her.«<br />

»Wir haben uns sicher viel zu erzählen.« Die<br />

Gutsherrin führte ihre Gäste in die Wohnstube, und bei<br />

einer Tasse Kaffee tauschten die beiden Frauen<br />

Erinnerungen aus und berichteten von ihrem Leben nach<br />

<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>, in <strong>der</strong> sie sich gekannt hatten. Gertrud genoss<br />

es, in <strong>der</strong> gemütlichen Stube zu sitzen. Zum ersten Mal<br />

an diesem Tag fühlte sie sich richtig wohl. Der heiße<br />

Kaffee wärmte ihre durchgefrorenen Glie<strong>der</strong>, und die<br />

liebenswürdige Gastfreundschaft, mit <strong>der</strong> sie hier<br />

empfangen wurden, ließ sie die unfreundliche<br />

Behandlung und das schlechte Wetter vergessen.<br />

Entspannt lehnte sie sich zurück und sah sich mit<br />

verträumten Augen um. Die schönen alten<br />

Eichenmöbel, die handgewebten Kissen, die überall<br />

liegen, die goldgerahmten Bil<strong>der</strong> an den Wänden ... Hier<br />

herrscht so eine Atmosphäre von Gediegenheit, ja<br />

Vornehmheit ... Das müssen kultivierte Leute sein. Mit<br />

<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> machte die Wärme sie jedoch müde, und sie<br />

musste dagegen ankämpfen, dass ihr die Augen<br />

zufielen. Von dem Gespräch <strong>der</strong> beiden Frauen bekam<br />

sie nur Bruchstücke mit. Nach einer Weile meinte die<br />

Gutsherrin:<br />

»Aber Sie haben sicher einen Grund für Ihren<br />

Besuch.« Sie sah die beiden ernst an. »Ich weiß, dass es<br />

in den Städten nicht genug zu essen gibt. Wir auf dem<br />

Land haben es da doch besser. Wie kann ich Ihnen<br />

helfen?«<br />

102


Sie hat eine angenehme Stimme, dachte Gertrud –<br />

aufmerksam geworden – , dunkel und warm, ein<br />

bisschen wie <strong>der</strong> Klang einer Glocke.<br />

»Alles <strong>ist</strong> willkommen«, antwortete Emmy. »Ich<br />

weiß ja nicht, was ich zu Weihnachten auf den Tisch<br />

bringen soll.« Sie machte ein unglückliches Gesicht und<br />

hob resigniert und ratlos beide Hände. Dann packte sie<br />

die Schätze aus, die noch übrig geblieben waren.<br />

»Diese schöne Tischdecke hat Ihre Mutter selbst<br />

gestickt?«, wandte sich die Gutsherrin an Gertrud und<br />

betrachtete voller Bewun<strong>der</strong>ung die kunstvolle<br />

Lochstickerei und die zarte Spitze, die den Rand <strong>der</strong><br />

Decke zierte. Vorsichtig betastete sie mit den Fingern<br />

das feine Gewebe und sagte: »Das <strong>ist</strong> wirklich ein<br />

kostbares Stück, von so was trennt man sich nicht<br />

leicht.« Sie warf dem Mädchen einen mitleidigen Blick<br />

zu. Auch <strong>der</strong> silberne Kerzenleuchter und die<br />

Zuckerdose gefielen ihr. »Das wird gut auf <strong>der</strong> schönen<br />

Decke aussehen.« Dann meinte sie: »Wir haben ein paar<br />

Gänse geschlachtet, eine davon kann ich Ihnen geben.<br />

Ich suche eine schöne große aus. Und Äpfel für die<br />

Füllung und Kartoffeln sollen Sie auch noch haben.« Sie<br />

ging in ihre Vorratsräume, packte die Gans in Papier<br />

und legte sie in Emmys Tasche. Dann füllte sie den<br />

Rucksack mit Kartoffeln und Äpfeln.<br />

Überglücklich machten Emmy und Gertrud sich auf<br />

den Heimweg. Ein Gänsebraten zu Weihnachten! Damit<br />

hatten sie in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet.<br />

»Aber wir verraten nichts, hören Sie, Fräulein<br />

Gertrud?« Emmy sah das Mädchen mit einem Blick an,<br />

<strong>der</strong> etwas Verschwörerisches hatte. Mit einer<br />

kumpelhaften Bewegung hakte Gertrud sich bei ihr ein<br />

103


und nickte. »Bestimmt nicht. Die Gans bleibt unser<br />

Geheimnis.«<br />

24 . Juni 1916<br />

W<br />

ie die <strong>Zeit</strong> vergeht! Ich kann es kaum glauben,<br />

dass schon wie<strong>der</strong> Juni <strong>ist</strong>. Und immer noch<br />

<strong>ist</strong> Krieg, kein Ende <strong>der</strong> Kämpfe abzusehen!<br />

Von Paul haben wir ein paar Karten bekommen, die<br />

letzte vor vierzehn Tagen. Gott sei Dank <strong>ist</strong> er noch am<br />

Leben! O<strong>der</strong> sollte ich sagen: War er noch am Leben,<br />

als er die Karte schrieb? Diese Ungewissheit <strong>ist</strong><br />

schrecklich! Sie lastet wie ein Druck auf uns allen.<br />

Und dazu kommt, dass wir immer weniger zu essen<br />

haben. Oft stehe ich jetzt hungrig vom Tisch auf,<br />

obwohl Emmy sich so viel Mühe gibt.<br />

Aber trotz allem: Gestern habe ich mich riesig<br />

gefreut! Ich bin einundzwanzig geworden. Vater hat<br />

mich zum Essen ins Parkhotel eingeladen und dann ins<br />

Theater. Einundzwanzig Jahre! Man macht so viel<br />

Wesen um diesen Tag, man gibt ihm eine so große<br />

Bedeutung. Warum eigentlich? Nun gut, ich bin jetzt<br />

›erwachsen‹, ›mündig‹, wie Vater sagt. Aber ich bin<br />

doch dieselbe wie in all den Wochen und Monaten<br />

vorher. Ich fühle mich genauso, denke genauso, ich kann<br />

nicht finden, dass sich viel verän<strong>der</strong>t hat. Jetzt könne ich<br />

tun und lassen, was ich wolle, sagte Vater. Aber er<br />

lächelte dabei, und seine Augen blitzten ein bisschen<br />

spöttisch – ich wusste genau, er meint es nicht ernst.<br />

Wenn ich ihm morgen erklären würde, ich wolle jetzt<br />

Krankenschwester werden wie Olga o<strong>der</strong> Lehrerin wie<br />

Anni – das würde ein schönes Donnerwetter geben.<br />

104


Trotzdem: Gestern war er ein richtiger Kavalier! Wie<br />

habe ich mich an seinem Arm gefühlt! Wie eine große<br />

Dame. Und dann das Menü! Zwar ohne Fleisch, weil<br />

gerade fleischloser Tag war, aber trotzdem köstlich:<br />

Bohnensuppe, Austernragout, Stangenspargel mit<br />

geräuchertem Lachs, eingemachtes Obst, Pudding und<br />

Käse. So kann man also in guten Restaurants noch essen,<br />

und das mitten im Krieg! Eine Flasche Moselwein hat<br />

Vater auch spendiert. »Wir müssen ja schließlich auf<br />

deine Volljährigkeit anstoßen«, meinte er.<br />

Wie habe ich den Abend genossen, auch die<br />

Aufführung von Shakespeares »Sommernachtstraum«.<br />

Hoffentlich wird das Theater nicht geschlossen, wenn<br />

<strong>der</strong> Krieg noch länger dauert.<br />

Nun bin ich also ›mündig‹ und kann tun und lassen,<br />

was ich will. Aber was will ich? Was kann ich überhaupt<br />

wollen? Dieser schreckliche Krieg, den niemand<br />

gewollt hat, <strong>der</strong> so viel Not und Leid über uns alle<br />

gebracht hat ... Wilhelm, dessen Leben zu Ende ging,<br />

ehe es richtig begonnen hatte ... die Pläne, die wir hatten,<br />

und die nun mit ihm gestorben sind ... Sind wir<br />

Menschen wirklich frei, nach unserem eigenen Willen<br />

zu entscheiden o<strong>der</strong> nach unseren Vorstellungen zu<br />

leben?<br />

Gertrud und Emmy saßen im Wohnzimmer und<br />

waren mit Näharbeiten beschäftigt. Zwischen ihnen<br />

stand ein großer Korb mit Wäsche, die noch geflickt<br />

werden musste. Die Nachmittagssonne sandte ihre<br />

Strahlen durch das halb geöffnete Fenster. Ein leichter<br />

Wind bauschte die Gardine und spielte mit ihren<br />

Schatten. Es war still in dem Raum, nur von draußen<br />

105


drangen ab und zu Geräusche herein: Rufe,<br />

Hundegebell, Kin<strong>der</strong>stimmen, das Rumpeln <strong>der</strong><br />

Straßenbahn, die vorüberfuhr. Die beiden Frauen<br />

schwiegen, jede hing ihren Gedanken nach.<br />

Da wurde plötzlich die Tür geöffnet. Gertrud schrak<br />

zusammen und blickte auf. Ihr Vater stand im<br />

Türrahmen. Seine große Gestalt schien die ganze<br />

Öffnung auszufüllen. Er hielt einen Brief in <strong>der</strong> Hand.<br />

»Paul hat geschrieben«, sagte er mit ruhiger Stimme.<br />

»Oh, Vater, wie schön!« Gertrud ließ den Strumpf<br />

fallen, den sie gerade stopfte, und wollte vor Freude<br />

aufspringen, doch ein Blick in das ernste Gesicht des<br />

Vaters hielt sie zurück. »Was <strong>ist</strong>?« Ängstlich sah sie ihn<br />

an.<br />

»Paul <strong>ist</strong> schwer verwundet, aber es geht ihm schon<br />

besser«, sagte Oertel mit belegter Stimme. Dann las er<br />

vor: »Lieber Vater, liebe Gertrud! Ihr habt lange nichts<br />

von mir gehört. Aber ich konnte nicht schreiben, denn<br />

ich bin schwer verwundet. Ich habe einen<br />

Lungendurchschuss. Doch inzwischen geht es mir<br />

besser, und ich hoffe, dass ich in ungefähr zwei Wochen<br />

aus dem Lazarett entlassen werde. Wie freue ich mich<br />

auf zu Hause!«<br />

Oertel ließ den Brief sinken. Sein Gesicht hatte jetzt<br />

einen ungewohnt weichen Ausdruck. Gertrud schien es,<br />

als sei alle Strenge daraus verschwunden. Sie selbst<br />

hatte Tränen in den Augen, Tränen <strong>der</strong> Freude, des<br />

Mitleids und <strong>der</strong> Sorge. »Paul kommt nach Hause, dem<br />

Himmel sei Dank!« rief sie aus. »Er wird wie<strong>der</strong> gesund<br />

werden, Vater. Die Hauptsache <strong>ist</strong> doch, dass er lebt.«<br />

106


Sie stand auf und ging zu ihm hin. Oertel nahm ihre<br />

Hand und drückte sie fest, dann drehte er sich um und<br />

ging wortlos aus dem Zimmer.<br />

Zwei Wochen später stand Gertrud voller Erwartung<br />

mit ihrem Vater auf dem Bahnsteig, um ihren Bru<strong>der</strong><br />

vom Zug abzuholen. Überall drängten sich Menschen.<br />

»Wo kommen all diese Leute her?« Sie blickte sich<br />

überrascht um. »Es kann doch nicht sein, dass alle ihre<br />

verwundeten Angehörigen abholen wollen.«<br />

»Wahrscheinlich kommen auch Frontsoldaten, die<br />

Heimaturlaub haben, mit diesem Zug«, meinte Oertel.<br />

Als die Lokomotive schnaufend in den Bahnhof<br />

einfuhr und schließlich hielt, kam Bewegung in die<br />

Menge. Gertrud wurde von einer dicken Frau beiseite<br />

geschubst, die rufend und winkend versuchte, einem<br />

Soldaten entgegenzulaufen, <strong>der</strong> gerade auf Krücken aus<br />

einem Waggon herauskam. Einige junge Männer in<br />

Uniform winkten lachend, sprangen rasch auf den<br />

Bahnsteig, bahnten sich einen Weg durch das Gedränge<br />

zu einer Gruppe warten<strong>der</strong> Frauen und begrüßten sie<br />

stürmisch.<br />

Ein großer, schlanker, leicht gebeugt gehen<strong>der</strong> junger<br />

Mann kam mit schleppenden Schritten auf Oertel und<br />

Gertrud zu. Das <strong>ist</strong> doch nicht Paul, ging es ihr durch<br />

den Kopf, das kann er nicht sein. Als er dann vor ihnen<br />

stand, war er Gertrud so fremd, dass sie fast Scheu vor<br />

ihm empfand. War er größer geworden? O<strong>der</strong> kam es,<br />

weil er so abgemagert war? Der Uniformmantel schien<br />

ihm gar nicht zu passen. Und wie blass und schmal er<br />

geworden war! Das war nicht <strong>mehr</strong> das vertraute<br />

Gesicht, das sie von früher her kannte. Seine<br />

107


Gesichtszüge waren viel schärfer geworden, die Nase<br />

und die Wangenknochen traten hervor, und von <strong>der</strong><br />

Nasenwurzel abwärts bis zu den Mundwinkeln zogen<br />

sich Linien, die vorher nicht dagewesen waren. Alles<br />

Weiche, alles Kindliche <strong>der</strong> Vergangenheit war aus<br />

diesem Gesicht verschwunden. Es zeigte einen bitteren<br />

Ausdruck, <strong>der</strong> zu seiner Jugend nicht recht passen<br />

wollte. Zögernd, fast ein wenig schüchtern, reichte<br />

Gertrud Paul die Hand. Es gelang ihr nicht, ihn spontan<br />

zu umarmen, wie sie es eigentlich gewollt hatte, wie sie<br />

es auch früher bei manchen Gelegenheiten getan hatte.<br />

Da war etwas Trennendes, wie eine Mauer, das sie<br />

hin<strong>der</strong>te, ihm nahe zu kommen. »Willkommen zu<br />

Hause, Paul«, sagte sie leise. Ihre Stimme bebte. In ihren<br />

Augen lag ein Ausdruck von Betroffenheit, aber auch<br />

von Wärme.<br />

Oertel legte seinem Sohn einen Arm um die Schultern<br />

und drückte ihn leicht an sich. »Gut, dass wir dich jetzt<br />

ein Weilchen zu Hause haben. Du musst dich nun erst<br />

einmal erholen.«<br />

Auf dem Heimweg sprachen die drei kaum. Gertrud<br />

versuchte ein paar Mal, eine Unterhaltung mit Paul<br />

anzufangen. »Schön, dass du wie<strong>der</strong> da b<strong>ist</strong>«, sagte sie,<br />

und »Wie geht es dir?« Aber Paul schien sie nicht zu<br />

hören. Verlegen sah sie zu Boden. Auf einmal kamen<br />

ihr ihre Worte unaufrichtig und belanglos vor. Paul<br />

war in den nächsten Tagen sehr still und in sich gekehrt.<br />

Es war so, als sei er noch nicht richtig nach Hause<br />

gekommen. Von <strong>der</strong> Front erzählte er gar nichts. Als <strong>der</strong><br />

Vater ihn nach seiner Verwundung fragte, gab er nur<br />

eine knappe Auskunft.<br />

108


Emmy schienen die Verän<strong>der</strong>ungen in Pauls Wesen<br />

am wenigsten aufzufallen. O<strong>der</strong> sie ließ sich nichts<br />

anmerken. »Schmal sind Sie geworden, Herr Paul«,<br />

stellte sie in ihrer mütterlich-resoluten Art lächelnd fest.<br />

Dann sah sie ihn aufmunternd an und legte wie<br />

bekräftigend ihre Hand auf seinen Arm: »Das kriegen<br />

wir schon wie<strong>der</strong> hin. Wir werden Sie richtig<br />

aufpäppeln.« Ein dankbares Lächeln glitt über Pauls<br />

Gesicht.<br />

Was war das für ein Schrei? Gertrud fuhr aus<br />

tiefstem Schlaf hoch. Da hat doch jemand geschrien,<br />

o<strong>der</strong> habe ich geträumt? Verstört rieb sie sich die Augen<br />

und horchte angespannt. Da, da <strong>ist</strong> es wie<strong>der</strong>! Ein<br />

Schrei, als sei jemand in Todesnot! Und dann dieses<br />

Stöhnen, so qualvoll ... dieses Wimmern ... Ein Schauer<br />

lief ihr über den Rücken. Es klingt, als sei alles Leid <strong>der</strong><br />

Welt in diesen schmerzerfüllten Lauten eingefangen<br />

und suche verzweifelt nach einem Ausweg. Das kommt<br />

ja aus Pauls Zimmer! Einen Herzschlag lang war sie<br />

starr vor Schreck. Dann fasste sie sich und zog<br />

entschlossen den Morgenrock über. Was war los? Sie<br />

musste zu ihm.<br />

Paul warf sich unruhig im Bett hin und her. Er war<br />

schweißüberströmt, die Haare hingen ihm wirr ins<br />

Gesicht, seine Augen waren halb geöffnet. Gertrud<br />

wusste nicht, ob er wach war o<strong>der</strong> schlief. Voller Angst<br />

betrachtete sie ihn. Er muss etwas Furchtbares träumen.<br />

<strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> dieses klägliche Wimmern und Stöhnen<br />

... Jetzt sagt er etwas ... aber ich kann ihn kaum<br />

verstehen ... Seine Stimme <strong>ist</strong> so verän<strong>der</strong>t. Sie<br />

versuchte, genau hinzuhören, und konnte schließlich<br />

109


einige Wortfetzen aufschnappen. »Dieser ewige Regen<br />

... Mir <strong>ist</strong> so kalt ... alles nass ... und <strong>der</strong> Schlamm ... Ich<br />

kann mich nicht bewegen ...« Es war wie ein Klagen,<br />

das immer erregter wurde. »Läuse ... überall ... am<br />

ganzen Körper ... jetzt auch noch Ratten ... weg ... weg<br />

...« Er schlug wie wild mit den Händen um sich.<br />

Gertrud wollte zu ihm gehen, seine Hände festhalten,<br />

ihn in den Arm nehmen, aber sie stand da wie gelähmt.<br />

Sie konnte sich nicht von <strong>der</strong> Stelle rühren. Dann schien<br />

ihr, als würde Paul sich beruhigen. Aber plötzlich wurde<br />

seine Stimme wie<strong>der</strong> lauter, die Erregung nahm zu.<br />

»Meine Augen ... tun so weh ... blenden so ... diese<br />

Leuchtkugeln ...« Er schlug die Hände vor das Gesicht.<br />

»Dieses Heulen ... dieses grauenhafte Pfeifen ... da, eine<br />

Explosion ... nicht hier ... bitte, nicht hier ... Ich will<br />

nicht sterben ...« Seine Worte gingen unter in einem<br />

markerschütternden Schrei. Dieser Schrei riss Gertrud<br />

aus ihrer Erstarrung. Sie spürte, wie ihre Kräfte<br />

zurückkehrten, ging zum Bett ihres Bru<strong>der</strong>s und rüttelte<br />

ihn, so fest sie konnte.<br />

»Wach auf, Paul, wach auf! Du hast einen<br />

Albtraum!«, rief sie verzweifelt. Mit einem Ruck fuhr<br />

Paul in die Höhe, saß kerzengerade, seine weit<br />

aufgerissenen Augen starrten mit leerem Blick ins<br />

Zimmer. Er sah Gertrud nicht, schien noch nicht wach<br />

zu sein. »Blut ... überall Blut ...« Er sprach mit<br />

ersterben<strong>der</strong> Stimme. »... und die vielen Toten ... überall<br />

Tote ... diese Schmerzen ...« Dann war es nur noch ein<br />

hilfloses Schluchzen, das Gertrud Tränen in die Augen<br />

trieb. Sie rüttelte ihren Bru<strong>der</strong> wie<strong>der</strong> mit verzweifelter<br />

Heftigkeit. »Wach auf, wach doch endlich auf, Paul!<br />

Quäl dich doch nicht so!«<br />

110


Paul schien nun endlich wach zu sein. Er blickte seine<br />

Schwester an, und sie sah in seinen Augen, in seinem<br />

ganzen Gesicht das Entsetzen gespiegelt, das furchtbare<br />

Grauen, das er erlebt haben musste. Still nahm sie seine<br />

Hand und lehnte seinen Kopf an ihre Schulter. So saßen<br />

die Geschw<strong>ist</strong>er eine Weile beieinan<strong>der</strong>, keines sagte ein<br />

Wort. Paul lehnte sich erschöpft an Gertrud, und sie<br />

strich von <strong>Zeit</strong> zu <strong>Zeit</strong> über sein wirres Haar, so wie man<br />

ein Kind beruhigt, das schlecht geträumt hat. Es war eine<br />

fast scheue Berührung, eine liebevolle, aber hilflose<br />

Geste. Schließlich schob Paul seine Schwester sanft von<br />

sich.<br />

»Geh wie<strong>der</strong> schlafen, Gertrud. Es tut mir leid, dass<br />

ich dich geweckt habe.«<br />

Das <strong>ist</strong> seine normale Stimme, dachte sie erleichtert.<br />

In all ihrer Betroffenheit hatte dieser Gedanke etwas<br />

Tröstliches.<br />

»Paul ...«, sagte sie leise, fasste seinen Arm und sah<br />

ihm forschend ins Gesicht. Aber er schüttelte den Kopf,<br />

legte sich zurück in seine Kissen und drehte sich auf die<br />

Seite, ihr den Rücken zuwendend. Sie verstand. Er<br />

wollte nicht darüber reden, er konnte nicht darüber<br />

reden. Die Schrecken, die er erlebt hatte, saßen zu tief.<br />

Wie böse Ge<strong>ist</strong>er hatten sie sich in seiner Seele<br />

festgekrallt. Mit eisernem Griff hielten sie ihn<br />

umklammert, und er kämpfte mit aller Kraft, dass sie ihn<br />

nicht ganz zerstörten. Wenn es an <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> <strong>ist</strong>, wird er<br />

darüber reden, dachte Gertrud. Er muss darüber reden,<br />

sonst zerbricht er daran. Aber jetzt <strong>ist</strong> es noch zu früh.<br />

Leise ging sie aus dem Zimmer.<br />

In dieser Nacht fand Gertrud keinen Schlaf <strong>mehr</strong>. Zu<br />

tief war sie erschüttert von dem, was sie gerade erlebt<br />

111


hatte. Sie konnte das Bild ihres von Albträumen<br />

gepeinigten Bru<strong>der</strong>s nicht aus ihrer Seele verbannen.<br />

Seine angstvollen, gequälten Worte, hervorgestoßen<br />

wie in größter Not, hallten in ihren Ohren wi<strong>der</strong>. Er<br />

fantasiert! Er redet im Fieber! Er <strong>ist</strong> noch nicht gesund.<br />

Hoffentlich muss er nicht zurück ins Lazarett.<br />

Sorgenvoll starrte sie in die Dunkelheit. Wie wird es<br />

weitergehen, fragte sie sich. Wie lange wird er zu Hause<br />

bleiben können? Ob er wie<strong>der</strong> an die Front muss, wenn<br />

seine Verletzung ausgeheilt <strong>ist</strong>? Er hat eine schwere<br />

Verwundung. Vielleicht muss er gar nicht <strong>mehr</strong> in den<br />

Krieg? Oh lieber Gott, lass den Krieg aus sein, ehe er<br />

wie<strong>der</strong> gesund <strong>ist</strong>. Lass mich nicht auch noch meinen<br />

Bru<strong>der</strong> verlieren. Unruhig wälzte Gertrud sich von einer<br />

Seite auf die an<strong>der</strong>e. Als es draußen schon hell wurde,<br />

fiel sie in einen kurzen, traumlosen Schlaf.<br />

»Ich habe dich heute Nacht gestört, entschuldige.«<br />

Ein scheues Lächeln, das wie gebrochen war, spielte um<br />

seine Lippen.<br />

»Schon gut, ich bin sofort wie<strong>der</strong> eingeschlafen«, log<br />

sie. Ein inniger Blick streifte ihren Bru<strong>der</strong>. Sie saßen am<br />

Frühstückstisch. Die Geschw<strong>ist</strong>er waren heute später<br />

aufgestanden als sonst. Oertel war schon zu seiner<br />

Vorlesung gegangen und Emmy mit Martha zum<br />

Einkaufen, um überhaupt noch etwas zu bekommen.<br />

Den Kaffee hatte sie unter einer Haube warm gehalten<br />

und Zucker und Sahne für Paul bereitgestellt. Sie<br />

versuchte, ihn immer ein bisschen zu verwöhnen, indem<br />

sie ihm etwas Beson<strong>der</strong>es zukommen ließ. Die übrige<br />

Familie trank den Kaffee schwarz o<strong>der</strong> mit ein bisschen<br />

dünner Milch.<br />

112


»Weißt du«, Paul sah Gertrud offen an, »diese<br />

Träume kommen immer wie<strong>der</strong>, fast jede Nacht ...« Er<br />

senkte den Blick. »Es <strong>ist</strong> schrecklich.«<br />

Gertrud schenkte ihrem Bru<strong>der</strong> eine zweite Tasse<br />

Malzkaffee ein. »Wenn dir danach <strong>ist</strong>, dann erzählst du<br />

mir einmal alles, ja? Wenn du willst.«<br />

Eine <strong>Zeit</strong> lang sprach keiner <strong>der</strong> beiden ein Wort.<br />

Stumm kauten sie an ihren Marmeladebroten. Dann<br />

sagte Paul in die Stille hinein: »Die me<strong>ist</strong>en von uns<br />

haben solche Albträume.« Er schwieg wie<strong>der</strong>. Gertrud<br />

schien es, als wolle er seine Gedanken sammeln. Sie<br />

wartete und sagte nichts.<br />

»<strong>Im</strong> Lazarett ...«, begann er stockend von Neuem, »...<br />

du kannst es dir nicht vorstellen ... in je<strong>der</strong> Ecke und auf<br />

den Fluren Metallbetten, und Matratzen und Strohsäcke<br />

auf dem Boden. Eine Luft zum Schneiden, heiß und<br />

stickig. Und überall Fliegen, angelockt von dem vielen<br />

Blut.« Gertrud sah den Ekel, den er jetzt noch empfand,<br />

auf seinem Gesicht. »Und das Stöhnen ... und die<br />

Schreie ... Ich weiß, auch ich habe geschrien, wenn die<br />

Albträume kamen ...« Er brach ab. Sein Gesicht<br />

verschloss sich wie<strong>der</strong>, als wolle er niemandem Zugang<br />

gewähren zu dieser Hölle, die er durchlebt hatte, auch<br />

seiner Schwester nicht. Gertrud blieb noch einen<br />

Augenblick sitzen, dann stand sie wortlos auf, räumte<br />

das Geschirr ab und trug es in die Küche. In <strong>der</strong><br />

nächsten <strong>Zeit</strong> setzte sie sich immer wie<strong>der</strong> einmal an den<br />

Flügel und spielte ihre Sonaten und Chopin-Etüden,<br />

aber auch Stücke, die sie einst mit Paul zusammen<br />

gespielt hatte. Sie hoffte, dadurch sein Interesse an <strong>der</strong><br />

Musik wie<strong>der</strong> zu wecken. Tagelang hörte er ihr nur zu.<br />

113


Aber schließlich holte er doch seine Geige und<br />

versuchte ein paar Passagen.<br />

»Es geht nicht <strong>mehr</strong>!« Traurig legte er das Instrument<br />

beiseite.<br />

»Es geht!« Gertrud sah ihm fest in die Augen. »Du<br />

musst dich nur nicht entmutigen lassen. Was man<br />

einmal gekonnt hat, das verlernt man nicht wie<strong>der</strong>.« Sie<br />

blickte in seine Noten und sah, dass er eine Bach-Sonate<br />

aufgeschlagen hatte. »Warum auch gleich mit dem<br />

Schwierigsten anfangen! Komm, lass es uns mit Mozart<br />

o<strong>der</strong> Haydn versuchen. Nein, besser noch mit Vivaldi!<br />

Seine Musik <strong>ist</strong> so voller Heiterkeit, voller Leichtigkeit,<br />

sie vertreibt alle schwermütigen Gedanken.«<br />

Sie bückte sich und suchte aus dem Stapel Noten, <strong>der</strong><br />

unten im Bücherregal lag, den Band mit den<br />

Violinsonaten von Vivaldi heraus. Dann setzte sie sich<br />

an den Flügel, und Paul stimmte seine Geige noch<br />

einmal. Als er fertig war, gab er ihr wie früher mit einem<br />

Kopfnicken zu verstehen, dass sie anfangen könnten.<br />

Zunächst klang die Geigenmelodie etwas zaghaft und<br />

zögerte immer wie<strong>der</strong> einmal. Gertrud, für die <strong>der</strong><br />

Klavierpart nicht schwierig war, stellte sich ganz auf<br />

Paul ein. Sie nahm das Tempo zurück, wenn sie merkte,<br />

dass ihm eine Stelle schwerfiel o<strong>der</strong> ein Lauf nicht recht<br />

glücken wollte, und sie passte auch die Lautstärke ihres<br />

Spiels dem etwas unsicheren, zarten Bogenstrich des<br />

Bru<strong>der</strong>s an. Den langsamen Satz <strong>der</strong> Sonate spielten sie<br />

ohne Unterbrechung durch. Dann ließ Paul den Bogen<br />

sinken.<br />

»Ich werde viel üben müssen.« Es klang resigniert,<br />

aber seine Augen glänzten.<br />

114


Es hat ihm Freude gemacht, dachte Gertrud beglückt.<br />

»Du siehst, es geht! Und es wird von Tag zu Tag besser<br />

werden, wenn wir wie<strong>der</strong> miteinan<strong>der</strong> spielen und du<br />

auch ein bisschen übst.«<br />

»Ich werde meine Violinschule und auch die Etüden<br />

wie<strong>der</strong> hervorholen.« Er sah seine Schwester liebevoll<br />

an, dann fasste er sie leicht am Arm. »Danke, Gertrud«,<br />

sagte er leise. Von da an musizierten sie fast täglich<br />

zusammen. Anfangs geschah es noch öfter, dass Paul<br />

aufgeben wollte. Aber Gertrud redete ihm gut zu. Sie<br />

suchte die leichtesten Stücke heraus und übte geduldig<br />

mit ihm schwierigere Stellen. Allmählich gewann Paul<br />

wie<strong>der</strong> Selbstvertrauen, und sein Spiel wurde sicherer<br />

und selbstbewusster.<br />

Nach dem gemeinsamen Musizieren saßen sie oft<br />

noch eine Weile beisammen, und Paul fing an, von sich<br />

zu erzählen; tastend und zögernd, in Bruchstücken<br />

zuerst, aber Gertrud bekam einen Eindruck von den<br />

Schrecknissen des Krieges, die er erlebt hatte, und von<br />

<strong>der</strong> übermenschlichen, schweren Last, die auf seiner<br />

Seele lag und die er kaum tragen konnte.<br />

»Weißt du ... es war schrecklich ... dieses<br />

Trommelfeuer ... wochenlang. Um dich herum sterben<br />

deine Kameraden ... und du kannst nicht helfen ... kannst<br />

nicht heraus aus deinem Erdloch ... willst auch gar nicht!<br />

Dein einziger Gedanke <strong>ist</strong>: Hoffentlich trifft es mich<br />

nicht, hoffentlich bleibe ich am Leben! Du b<strong>ist</strong> nur noch<br />

auf dein Überleben konzentriert.« Er machte eine Pause<br />

und holte tief Luft, dann erschien ein schiefes Lächeln<br />

auf seinem Gesicht. »Aber es hat mich doch getroffen.«<br />

Müde Lehnte er sich im Sessel zurück.<br />

115


»Du b<strong>ist</strong> am Leben«, sagte Gertrud mit Wärme und<br />

umarmte ihren Bru<strong>der</strong>.<br />

»Am Leben. « Monoton sprach Paul ihre letzten<br />

Worte nach, dann blickte er grübelnd vor sich hin.<br />

Schweigen breitete sich zwischen ihnen aus. Gertrud<br />

hatte das Gefühl, als ob er etwas sagen wolle, etwas, was<br />

ihm sehr wichtig zu sein schien, aber sie drängte ihn<br />

nicht. Still saß sie da und wartete. Wenn er wollte, würde<br />

er reden.<br />

»Am Leben«, wie<strong>der</strong>holte er noch einmal<br />

ge<strong>ist</strong>esabwesend. Dann sah er seine Schwester mit<br />

einem Blick an, <strong>der</strong> eine Reife und einen tiefen Ernst<br />

wi<strong>der</strong>spiegelte, die sie vorher nicht an ihm gekannt<br />

hatte. Er <strong>ist</strong> mit Gewalt vom Kind zum Mann gemacht<br />

worden, dachte sie, aber es ging über seine Kräfte.<br />

»Ich habe das Gefühl, als müsste ich ganz neu<br />

anfangen zu leben. Alles, was früher war, <strong>ist</strong> so weit weg<br />

von mir. Ich bin nicht <strong>mehr</strong> <strong>der</strong>selbe, <strong>der</strong> ich war, als ich<br />

mich freiwillig gemeldet habe, voller Bege<strong>ist</strong>erung, das<br />

Vaterland zu verteidigen. Mein Gott, was haben sie uns<br />

erzählt von Vaterlandsliebe und nationaler Größe, von<br />

Mannespflicht und Heldentum. Wir waren Kin<strong>der</strong>, wir<br />

haben ihnen geglaubt. Ob sie wohl wussten, wohin sie<br />

uns schickten?«<br />

Die Bitterkeit, die aus seinen Worten klang,<br />

erschreckte Gertrud.<br />

Paul sprach jetzt leise, nur zu sich selbst. »Aber wer<br />

bin ich? Wer will ich sein? Alles <strong>ist</strong> ins Wanken geraten,<br />

ich habe keinen festen Grund <strong>mehr</strong>, auf dem ich stehen<br />

kann. Ich muss mich neu zurechtfinden, einen<br />

Mittelpunkt für mein Leben suchen, damit ich nicht ins<br />

Bodenlose falle.«<br />

116


Er blieb noch einen Augenblick sitzen, dann stand er<br />

plötzlich auf und ging schweigend aus dem Zimmer.<br />

Was muss er durchgemacht haben, was muss er immer<br />

noch mit sich herumtragen! Nachdenklich räumte<br />

Gertrud die Noten zusammen und klappte den Flügel zu.<br />

Auch ich habe keinen Mittelpunkt in meinem Leben,<br />

ging es ihr durch den Sinn. Auch ich muss mich neu<br />

zurechtfinden. Seit Wilhelms Tod lebe ich ohne Ziel nur<br />

so dahin. Ich habe zwar meine Aufgaben hier im Haus,<br />

aber Emmy und Vater kämen auch ganz gut ohne mich<br />

zurecht. Soll es immer so weitergehen? Soll ich unter<br />

Vaters Fittichen als höhere Tochter auf einen Mann<br />

warten, <strong>der</strong> vielleicht nie kommen wird? Nach<br />

Wilhelms Tod steht mir auch <strong>der</strong> Sinn gar nicht nach<br />

einem an<strong>der</strong>en Mann. Sie setzte sich in den Sessel am<br />

Fenster. Gedankenverloren starrte sie hinaus, ohne<br />

etwas zu sehen. Wenn ich einen Beruf hätte ... Ich<br />

möchte ein eigenes Leben führen, unabhängig sein. Ein<br />

leidenschaftlicher Wunsch nach einem<br />

selbstbestimmten Leben erfüllte sie plötzlich. Er<br />

durchdrang ihr ganzes Sein. Ihr war fast schwindlig. Ja,<br />

wenn ich einen Beruf hätte ... Wenn ich Lehrerin würde<br />

wie Anni ... Aber nein, das könnte ich, glaube ich, nicht.<br />

Kin<strong>der</strong> unterrichten ... eine verantwortungsvolle<br />

Aufgabe ... Aber man muss sich auch durchsetzen<br />

können. Ob ich dem gewachsen wäre? Sie sann eine<br />

Weile vor sich hin. Krankenschwester ... ein schöner,<br />

doch auch schwieriger Beruf, wenn ich daran denke,<br />

was Paul aus dem Lazarett erzählt hat. Sie stützte den<br />

Kopf in beide Hände und blieb eine Weile so sitzen. Ihr<br />

Inneres war erfüllt von wi<strong>der</strong>streitenden Gefühlen. Ein<br />

sehnsüchtiges Suchen nach dem Sinn und dem Ziel ihres<br />

117


Lebens war in ihr, aber gleichzeitig auch ein ängstliches<br />

Zurückweichen vor einer Entscheidung, mit <strong>der</strong> sie dann<br />

allein gelassen sein würde; Furcht vor dem Vater, und<br />

dann wie<strong>der</strong> ein Aufbegehren gegen die Zwänge in<br />

ihrem Leben.<br />

Verwirrt hob sie den Kopf. Ihr Blick fiel auf die Post,<br />

die ihr Vater auf dem Tisch hatte liegen lassen. Und<br />

wenn ich Stenografie und Maschinenschreiben lernen<br />

würde? Wie ein Blitz durchzuckte sie dieser Gedanke.<br />

Damit könnte ich viel anfangen. Ich könnte in einem<br />

Büro arbeiten, Sekretärin werden und noch vieles <strong>mehr</strong>.<br />

Es gibt doch Kurse, in denen man das lernen kann. Und<br />

das traue ich mir zu. Ja, ich glaube, das würde ich<br />

können. Mit einem Ruck stand sie auf. Sie hatte einen<br />

Entschluss gefasst. Bei einer günstigen Gelegenheit<br />

wollte sie ihren Vater fragen. Diese Gelegenheit ergab<br />

sich ein paar Tage später. Oertel war nach dem<br />

Mittagessen noch am Tisch sitzen geblieben und hatte<br />

seine beiden Kin<strong>der</strong> gut gelaunt nach ihren<br />

musikalischen Fortschritten gefragt. Ein unsicheres<br />

Lächeln glitt über Pauls Züge. »Es geht schon ein<br />

bisschen besser, aber ich muss noch viel üben.«<br />

»Üben muss man sein Leben lang«, sagte Oertel.<br />

Dabei lachte er und zwinkerte Paul aufmunternd zu.<br />

»Vater, darf ich dich etwas fragen?« Gertruds<br />

Stimme zitterte ein wenig. Ihr Herz klopfte. Sie hatte<br />

Angst, dass <strong>der</strong> Vater ihre innere Erregung bemerken<br />

würde.<br />

Aber Oertel sagte aufgeräumt: »Nur zu! Was hast du<br />

denn auf dem Herzen?«<br />

118


Gertrud druckste ein bisschen herum, aber dann gab<br />

sie sich einen Ruck und nahm sich zusammen. Sicher<br />

und selbstbewusst kam es von ihren Lippen: »Ich<br />

möchte einen Kursus in Stenografie und<br />

Maschinenschreiben machen. Hast du etwas dagegen,<br />

Vater?«<br />

Oertels Miene verdüsterte sich jäh. »Wie kommst<br />

du denn auf so eine unsinnige Idee?« Ungläubig sah er<br />

seine Tochter an.<br />

»Ich kann doch nicht immer nur zu Hause sitzen.« In<br />

Gertruds Stimme lag etwas Flehendes. »Ich werde auch<br />

älter. Was soll aus mir werden? Wenn ich einen Beruf<br />

hätte ...«<br />

»Schlag dir das aus dem Kopf«, unterbrach Oertel sie<br />

barsch. »Du wirst eines Tages heiraten, und bis dahin <strong>ist</strong><br />

dein Platz hier in <strong>der</strong> Familie.« Er stand auf und schob<br />

den Stuhl heftiger zurück, als es notwendig gewesen<br />

wäre. Seine gute Laune war verflogen. Ohne noch ein<br />

Wort zu sagen, ging er aus dem Zimmer.<br />

Paul hatte die ganze <strong>Zeit</strong> stumm dabei gesessen. Nun<br />

nahm er Gertruds Hand und streichelte sie. »Er <strong>ist</strong> nun<br />

einmal so, nimm es nicht so schwer. Eines Tages<br />

vielleicht än<strong>der</strong>t er seine Meinung.«<br />

»Das glaube ich nicht.« Mutlos und enttäuscht zog<br />

Gertrud ihre Hand zurück.<br />

»Genug für heute, hören wir auf.« Erschöpft legte<br />

Paul die Geige beiseite und ließ sich in einen Sessel<br />

sinken. Gertrud sah ihn besorgt an. Sie verstand, dass<br />

seine Kräfte begrenzt waren. Die Geschw<strong>ist</strong>er hatten<br />

eine Stunde lang an einer Mozart-Sonate geübt, die sie<br />

119


neu in ihr Repertoire aufgenommen hatten. Das<br />

Musizieren war ihnen inzwischen zu einer lieben<br />

Gewohnheit geworden. Wie üblich würden sie<br />

anschließend noch ein bisschen zusammen reden. Es<br />

half Paul, seine schrecklichen Erlebnisse zu bewältigen.<br />

»Ich muss so oft an einen Kameraden denken ...<br />

Ludwig Schreiber ... Ich habe ihn im Heimatlazarett<br />

kennengelernt.« Gedankenverloren blickte er vor sich<br />

hin. Gertrud sagte nichts. Wenn er wollte, würde er<br />

weitererzählen, aber sie mochte ihn nicht drängen.<br />

Einige Minuten herrschte Schweigen zwischen<br />

ihnen, dann begann Paul wie<strong>der</strong> zu sprechen: »Er <strong>ist</strong><br />

älter als ich und wurde auch vor Verdun verwundet,<br />

genau wie ich, hat ein Bein verloren ... Wie oft haben<br />

wir auf <strong>der</strong> Bank unter <strong>der</strong> großen Kastanie gesessen, es<br />

war ja noch warm im September. Me<strong>ist</strong>ens haben wir<br />

über unsere Kriegserlebnisse gesprochen, aber eines<br />

Tages hat Ludwig gesagt: ›Ich werde mein Studium<br />

aufgeben.‹ Als ich ihn fragte, was er denn studiert habe,<br />

antwortete er: ›Theologie‹«. In sich gekehrt sah Paul<br />

zum Fenster hinaus. Er schien ganz in seinen<br />

Erinnerungen zu verweilen. Gertrud erschrak fast, als er<br />

die Stille unterbrach und in seinem Bericht fortfuhr.<br />

»Eine Weile sagte Ludwig nichts. Schließlich sprach er<br />

weiter, und er war sehr erregt: ›Wie kann ich, nach dem<br />

Grauen, das wir erlebt haben, zu den Menschen von <strong>der</strong><br />

Liebe Gottes sprechen? Wie kann ich ihnen sagen, dass<br />

ER sie wie ein guter Vater beschützt, nachdem ich mit<br />

angesehen habe, wie Hun<strong>der</strong>te auf den Schlachtfel<strong>der</strong>n<br />

elend verreckt sind? Und warum? Wofür? Kann das<br />

SEIN Wille sein? Und wenn nicht, warum lässt er das<br />

zu? Das Donnern <strong>der</strong> Geschütze, die Schreie <strong>der</strong><br />

120


Verwundeten, das Röcheln <strong>der</strong> Sterbenden wird für<br />

immer zwischen IHM und mir stehen. Ich habe die<br />

Unschuld meines Glaubens verloren. Die Lehren <strong>der</strong><br />

Bibel haben keinen Sinn <strong>mehr</strong> für mich, sie klingen<br />

falsch und hohl. Wie kann ich SEIN Wort verkünden?‹<br />

Nie werde ich diese Worte vergessen, nie die<br />

aufgewühlte, zutiefst bewegte Gemütsverfassung<br />

meines Freundes, während er sprach. Ich wusste nicht,<br />

was ich sagen sollte. Ich fühlte mich irgendwie hilflos,<br />

ratlos. Noch nie war ich einem Menschen begegnet, <strong>der</strong><br />

so tief gläubig <strong>ist</strong>, aus dem innersten Kern seines<br />

Wesens heraus. Religion, das sind für uns doch stets nur<br />

die traditionellen chr<strong>ist</strong>lichen Feste gewesen –<br />

Weihnachten, Ostern und Pfingsten – , gelegentliche<br />

Sonntagsgottesdienste, und dann <strong>der</strong> Schulunterricht<br />

mit Auswendiglernen von Gesangbuchversen,<br />

Bibelsprüchen, den Zehn Geboten und so weiter. Ich<br />

habe das alles mitgemacht, wie es sich für einen<br />

wohlerzogenen Jungen gehört, aber es <strong>ist</strong> mir nie zu<br />

Herzen gegangen. Und da steht plötzlich ein Mensch vor<br />

mir, zutiefst verstört und verzweifelt, weil er nicht <strong>mehr</strong><br />

an das glauben kann, was sein Leben bis jetzt<br />

ausgemacht hat.«<br />

Seine Stimme war plötzlich belegt, und es dauerte<br />

eine Weile, bis er weitersprechen konnte. »›Man kann<br />

diese Schreckensbil<strong>der</strong> nicht einfach abstreifen wie ein<br />

Hemd o<strong>der</strong> ausziehen wie die Socken o<strong>der</strong> die Schuhe‹,<br />

hat Ludwig dann etwas ruhiger gesagt. ›Wir sind nicht<br />

<strong>mehr</strong> dieselben, die wir waren, wenn wir diese Hölle<br />

durchlebt haben.‹ Die Liebe Gottes ... die Liebe ...<br />

Darüber musste ich nachdenken. Man müsste dem Hass<br />

die Liebe entgegensetzen, meinte ich. ›Der Hass wird<br />

121


stets <strong>der</strong> Sieger sein‹, hat Ludwig daraufhin verbittert<br />

gesagt. Ich dachte, man müsste es versuchen, immer<br />

wie<strong>der</strong> aufs Neue. Als könne er meine Gedanken lesen,<br />

sagte er: ›Nach allem, was geschehen <strong>ist</strong>, habe ich nicht<br />

<strong>mehr</strong> die Kraft dazu‹. Dieses Gespräch hat mich seitdem<br />

nicht <strong>mehr</strong> losgelassen. Ich will <strong>mehr</strong> erfahren, <strong>mehr</strong><br />

wissen über die Kräfte, die in unserem Leben wirken:<br />

Liebe und Hass, Leben und Tod, Glaube und Zweifel.<br />

Ich will diesen Gott kennenlernen, diesen<br />

unbegreiflichen Gott, <strong>der</strong> die Liebe sein soll und<br />

Millionen von Menschen durch den Hass sterben lässt.<br />

Der für seinen Sohn den Tod am Kreuz beschloss und<br />

dadurch Erlösung versprach. Von dem gesagt wird, dass<br />

sein Wesen Erbarmen sei, und <strong>der</strong> gleichzeitig seine<br />

Augen vor dem Leiden <strong>der</strong> Welt verschließt. Der sich<br />

hinter Rätseln verbirgt und dem man nicht entrinnen<br />

kann. Gertrud, ich habe beschlossen, Theologie zu<br />

studieren.«<br />

Er nahm ihre Hände, und sie fühlte, wie er innerlich<br />

bebte. Sie spürte, dass dieses Erlebnis ihn bis in die<br />

tiefsten Tiefen seines Wesens erschüttert haben musste.<br />

In seinen Augen spiegelte sich seine Betroffenheit.<br />

Bewegt sah sie ihn an. »Aber Vater ...«, wandte sie<br />

zaghaft ein.<br />

Er ließ sie los, stand auf und machte ein paar Schritte<br />

durch das Zimmer. Dann setzte er sich wie<strong>der</strong>. »Ich<br />

werde es ihm erklären müssen«, antwortete er mit einer<br />

Sicherheit, die Gertrud an ihm nicht kannte. »Ich habe<br />

neulich gesagt, dass ich keinen festen Grund <strong>mehr</strong> habe,<br />

auf dem ich stehen kann, und dass ich einen Mittelpunkt<br />

für mein Leben suchen muss. Vielleicht finde ich ihn auf<br />

diesem Weg.«<br />

122


Seit diesem Gespräch wartete Gertrud voller Angst<br />

auf die drohende Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen Vater<br />

und Sohn. Sie wusste, dass sie eines Tages kommen<br />

würde, sie war unvermeidlich. Jedes Zusammensein mit<br />

den beiden war für sie begleitet von einer inneren<br />

Spannung. Sie hatte das Gefühl, dass sie in bei<strong>der</strong><br />

Gegenwart nicht <strong>mehr</strong> unbefangen sein konnte, aber<br />

niemand schien es zu bemerken.<br />

So war es auch an diesem Tag, nach dem<br />

Abendessen. Emmy und Martha hatten den Tisch schon<br />

abgeräumt, aber ganz gegen seine Gewohnheit blieb<br />

Oertel noch sitzen. Gertrud und Paul warteten, dass er<br />

sich erhob, damit auch sie aufstehen konnten. Es<br />

entstand eine beklemmende Stille. Nur das Ticken <strong>der</strong><br />

großen Standuhr in <strong>der</strong> Ecke und das Kn<strong>ist</strong>ern des<br />

spärlichen Feuers im Ofen waren zu hören. Der<br />

Herbstwind trieb Regenböen vor sich her, die gegen die<br />

Fensterscheiben prasselten. Schließlich blickte Oertel zu<br />

seinem Sohn hinüber.<br />

»Du hast dich inzwischen doch ganz gut erholt. Ich<br />

denke, du solltest mit dem Studium anfangen, solange<br />

du noch zurückgestellt b<strong>ist</strong>.«<br />

Gertruds innere Anspannung wuchs. Nun wird es<br />

Streit geben, dachte sie beklommen. Sie fühlte sich hin<br />

und her gerissen zwischen dem Wunsch, das Zimmer zu<br />

verlassen, und dem Bedürfnis, ihrem Bru<strong>der</strong><br />

beizustehen. Gegen den Vater konnte sie zwar nichts<br />

ausrichten, aber ihre Nähe würde Paul vielleicht ein<br />

bisschen unterstützen können. Also blieb sie.<br />

Als Paul nicht antwortete, fuhr Oertel fort: »Du wirst<br />

sicher an <strong>der</strong> Carolo-Wilhelmina studieren wollen. Ich<br />

123


auche dir nicht zu sagen, dass ich es begrüßen würde,<br />

wenn du Mathematik als Studienfach wählen würdest.<br />

Du könntest einmal mein Nachfolger werden. Aber es<br />

gibt ja auch noch an<strong>der</strong>e interessante Möglichkeiten im<br />

technisch-naturwissenschaftlichen Bereich.«<br />

Paul wusste, dass er einer Antwort nun nicht <strong>mehr</strong><br />

ausweichen konnte. Er blickte dem Vater gerade ins<br />

Gesicht. »Ich möchte Theologie studieren.«<br />

In seiner Stimme liegt eine Festigkeit, die sie früher<br />

nicht gehabt hat, musste Gertrud denken. Über den Tisch<br />

hinweg sah sie ihren Vater an. Er sitzt wie versteinert da,<br />

als hätte er eben etwas gehört, das es nicht geben könne,<br />

nicht geben dürfe. Als sei es ein Irrtum, <strong>der</strong> sich gleich<br />

aufklären würde. Was wird er sagen?<br />

Doch Oertel blieb stumm. Ge<strong>ist</strong>esabwesend strich er<br />

über seinen Bart.<br />

Da sagte Paul in die Stille hinein: »Die Verwundeten,<br />

die Sterbenden auf den Schlachtfel<strong>der</strong>n, in all ihren<br />

Leiden und Qualen, ich habe es gehört, wie sie nach<br />

Gott gerufen haben. Sie haben um Erlösung gebetet, sie<br />

haben ihn angefleht, ihre Schmerzen zu lin<strong>der</strong>n o<strong>der</strong><br />

ihnen den Tod zu schicken. Manche haben ihn auch<br />

verflucht um all des Elends, <strong>der</strong> Verzweiflung willen,<br />

die sie mit ansehen o<strong>der</strong> selbst durchmachen mussten.<br />

Gott war es, Gott allein, <strong>der</strong> ihnen wichtig war in diesen<br />

Stunden, keine mathematische Gleichung, keine<br />

physikalische Formel. Was nützen dem Menschen die<br />

Naturwissenschaften, wenn er sie doch nur dazu<br />

braucht, alles zu zerstören und seine Mitmenschen und<br />

schließlich auch sich selbst zu töten.«<br />

Erregt hielt er inne. Mit einem tiefen Atemzug<br />

versuchte er sich zu beruhigen.<br />

124


Oertel sagte lange nichts. Er ließ seinen Blick<br />

unverwandt auf seinem Sohn ruhen, aber das<br />

Unverständnis und die Strenge, die Gertrud eben noch<br />

in seinen Augen hatte lesen können, waren daraus<br />

gewichen. Sie hatten jetzt einen forschenden Ausdruck,<br />

und es schien ihr, als sehe sie auch ein wenig Wärme<br />

darin. Nach einer langen Pause begann ihr Vater zu<br />

sprechen. Seine Stimme klang ungewohnt weich.<br />

Gertrud spürte das Mitgefühl, das Pauls Worte in ihm<br />

geweckt haben mussten.<br />

»Du hast viel durchgemacht, und ich verstehe, dass<br />

du dich erst wie<strong>der</strong> im Leben zurechtfinden musst. Aber<br />

übereile nichts. Triff in einer solchen Verfassung keine<br />

Entscheidungen fürs Leben, die du später vielleicht<br />

einmal bereust. Wenn du <strong>mehr</strong> Abstand zu deinen<br />

Kriegserlebnissen gewonnen hast, wirst du die<br />

Wissenschaften ohne Emotionen und mit klarem<br />

Verstand betrachten, wirst zu logischem Denken und<br />

ge<strong>ist</strong>iger Einsicht fähig sein. Du lässt dich noch zu stark<br />

von jugendlicher Schwärmerei leiten.«<br />

Paul hatte ruhig zugehört. Er empfand die Autorität<br />

des Vaters und des Lehrers, aber er fühlte in sich auch<br />

die Kraft zum Wi<strong>der</strong>stand.<br />

»Die Sinnfragen sind es doch, Vater, die den<br />

Menschen umtreiben. Die Fragen: Warum bin ich hier?<br />

Warum muss ich so viel leiden? Was <strong>ist</strong> <strong>der</strong> Sinn von<br />

alledem, was hier auf Erden geschieht? Darauf können<br />

die Naturwissenschaften keine Antwort geben. Ich<br />

weiß, welchen Weg ich gehen muss. Ich möchte dem<br />

Hass, <strong>der</strong> die Welt beherrscht, die Liebe<br />

entgegenstellen.«<br />

125


»Das <strong>ist</strong> ja sehr edel gedacht.« Die Worte hatten<br />

einen spöttischen Unterton, und Gertrud sah ein<br />

ironisches Lächeln um die Mundwinkel des Vaters<br />

spielen. Sie fühlte sich für ihren Bru<strong>der</strong> verletzt. Wollte<br />

er seinen Sohn kränken, fragte sie sich. Paul hat doch<br />

sehr gute Argumente für seine Ansichten. Sie sind es<br />

wert, bedacht zu werden.<br />

Aber dann sprach Oertel in väterlichem Ton weiter:<br />

»Du sagst, die Naturwissenschaften könnten dem<br />

Menschen keine Antworten auf seine Fragen geben.<br />

Siehst du denn nicht, dass es ihr einziges Anliegen <strong>ist</strong>,<br />

die Welt um uns herum zu erklären? Seit es Menschen<br />

auf dieser Erde gibt, haben sie Fragen gestellt. Sie haben<br />

die Sonne, den Mond und die Sterne beobachtet, die<br />

Jahreszeiten, das Leben <strong>der</strong> Tiere und das Werden und<br />

Vergehen in <strong>der</strong> Natur. Sie haben ihre Schlüsse daraus<br />

gezogen. Die großen Denker aller <strong>Zeit</strong>en haben<br />

Erklärungsmodelle beschrieben, die durch die<br />

Forschungen späterer Generationen verworfen o<strong>der</strong><br />

weitergeführt worden sind, je nach dem jeweiligen<br />

Erkenntnisstand. Durch unermüdliche menschliche<br />

Denkprozesse <strong>ist</strong> man im Laufe von Jahrtausenden <strong>der</strong><br />

Wahrheit immer wie<strong>der</strong> ein Stück näher gekommen.<br />

Wenn du dich einmal mit <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong><br />

naturwissenschaftlichen Forschung beschäftigst, wirst<br />

du selbst sehen, dass das ein faszinierendes Geschehen<br />

<strong>ist</strong>. Und es gibt noch so vieles, was wir nicht erklären<br />

können, so viele Rätsel. Meinst du denn nicht, dass es<br />

für einen jungen, intelligenten Menschen wie dich eine<br />

interessante, lohnende Aufgabe, ja vielleicht die<br />

Erfüllung des Lebens sein könnte, an diesem Prozess<br />

mitzuwirken? Ein Bindeglied zu sein zwischen<br />

126


vergangenen und künftigen Generationen von<br />

Wissenschaftlern und mit deinen Kräften und<br />

Fähigkeiten dazu beizutragen, den noch fehlenden<br />

Antworten auf die Spur zu kommen?« Gertrud hatte<br />

fasziniert zugehört. So hatte sie ihren Vater noch nie<br />

erlebt. Mit welcher Bege<strong>ist</strong>erung, ja Leidenschaft er von<br />

seiner wissenschaftlichen Arbeit spricht, dachte sie. Sie<br />

<strong>ist</strong> ihm Erfüllung, Lebenssinn, alles, was sein Wesen<br />

ausmacht! Auch Paul scheint so zu empfinden. Welchen<br />

Eindruck werden Vaters Worte auf ihn gemacht haben?<br />

Wird er sein Vorhaben aufgeben?<br />

»Und was <strong>ist</strong> mit den vielen unbegreiflichen<br />

Schicksalen, was <strong>ist</strong> mit <strong>der</strong> menschlichen Seele, wer<br />

kann die erklären?«, fragte Paul.<br />

Sein Vater hob die Hand, doch Paul winkte ab. »Ich<br />

weiß, du denkst an die Psychologie. Aber auch die<br />

Psychologen haben ja erkannt, dass man nicht alles<br />

durch exakte Messungen beweisen kann. Es bleibt<br />

immer ein Rest, <strong>der</strong> sich dem Zugriff menschlicher<br />

Forschung entzieht. Und so <strong>ist</strong> es auch in den<br />

naturwissenschaftlichen Disziplinen. Du sprichst von<br />

fehlenden Antworten. Ich glaube, dass <strong>der</strong> Mensch<br />

niemals alle Rätsel lösen wird. Vielleicht soll er es auch<br />

gar nicht. Denke an das, was in <strong>der</strong> Bibel vom Baum <strong>der</strong><br />

Erkenntnis und vom Sündenfall steht. Ich sehe meine<br />

Aufgabe darin, für meine Mitmenschen da zu sein, zu<br />

versuchen, sie zu verstehen und ihnen zu helfen, wenn<br />

ich es kann. Wir sollten einan<strong>der</strong> das Leben hier auf<br />

Erden erträglicher machen. Die Bahnen <strong>der</strong> Gestirne am<br />

Himmel, die Entstehung des Lebens auf <strong>der</strong> Erde, die<br />

Ordnung und die Gesetzmäßigkeiten, die im Kosmos<br />

herrschen ... Das sind sicher Phänomene von<br />

127


fundamentaler Bedeutung, und ich verstehe, dass <strong>der</strong><br />

menschliche Ge<strong>ist</strong> dafür nach Erklärungen sucht, dass<br />

dich diese Fragen bewegen. Doch <strong>der</strong> Kranke, <strong>der</strong><br />

Schmerzen hat, <strong>der</strong> Unglückliche, <strong>der</strong> leidet, hat an<strong>der</strong>e<br />

Probleme, sucht Antworten auf an<strong>der</strong>e Fragen. Die<br />

Rätsel des Weltalls liegen außerhalb seiner zentralen<br />

Lebensproblematik in einer abstrakten Ferne. Ich denke<br />

darüber nach, wie Hass, Feindschaft, Grausamkeit in die<br />

Welt und in die Seelen <strong>der</strong> Menschen gekommen sind,<br />

in denen es doch auch aufopferungsvolle Liebe und<br />

Selbstverleugnung geben kann. Welche Kräfte sind hier<br />

am Werk?<br />

Das sind die Fragen, auf die ich Antworten suche.«<br />

»Mit deinen Ideen begibst du dich auf das Gebiet <strong>der</strong><br />

Spekulation!«, fuhr Oertel auf.<br />

»Vater ...«, wandte Gertrud schüchtern ein, »Vater,<br />

weise Paul doch nicht gleich ab. Denk doch erst einmal<br />

über seine Argumente . . . «<br />

Ihr Vater unterbrach sie verärgert. »Misch du dich<br />

nicht ein in Dinge, von denen du nichts verstehst«, wies<br />

er sie in scharfem Ton zurecht. Aber ich verstehe etwas<br />

von <strong>der</strong> Seele meines Bru<strong>der</strong>s, von seinem Fühlen und<br />

Denken, <strong>ist</strong> das nicht auch wichtig, dachte sie.<br />

Oertel wandte sich wie<strong>der</strong> seinem Sohn zu: »Wenn<br />

du schon meinst, dass mit wissenschaftlichen Methoden<br />

die Rätsel <strong>der</strong> Welt nicht zu lösen sind – spekulative<br />

Ansätze führen zu Unsicherheit, ja unter Umständen zu<br />

einem wilden, nicht <strong>mehr</strong> kontrollierbaren Spiel <strong>der</strong><br />

Fantasie. Dieser Weg führt in die Irre.«<br />

»Es bleibt noch <strong>der</strong> Weg des Glaubens«, sagte Paul<br />

schlicht.<br />

128


Der Vater warf ihm einen Blick zu, <strong>der</strong> seine<br />

Enttäuschung verriet. »Du wirst noch einmal an<strong>der</strong>s<br />

denken, wenn du reifer und einsichtiger geworden b<strong>ist</strong>.«<br />

»Versuche doch, mich zu verstehen«, sagte Paul nun<br />

in bittendem Ton. »Lass mich doch erst einmal<br />

anfangen. Vielleicht komme ich ja nach einiger <strong>Zeit</strong> ›zur<br />

Vernunft‹, wie du es nennst. Aber lass es mich<br />

wenigstens probieren.«<br />

Oertel strich einige Male über seinen Bart, rückte<br />

seine randlose Brille zurecht und räusperte sich. Mit<br />

belegter Stimme sagte er: »Ich werde es mir überlegen.«<br />

Dann verließ er das Zimmer, ohne seine Kin<strong>der</strong> noch<br />

einmal anzublicken.<br />

Gertrud stand auf, ging zu Paul und legte ihm den<br />

Arm um die Schultern. Sie wollte ihn trösten, aber er<br />

schien gar keinen Trost zu brauchen.<br />

»Du scheinst sehr genau zu wissen, was du willst«,<br />

meinte sie.<br />

»Ja. « Paul lächelte. »Und ich gehe meinen Weg.<br />

Wenn ich Vater Kummer mache, dann tut es mir sehr<br />

leid, glaube mir. Aber ich kann nicht an<strong>der</strong>s.«<br />

129


Freitag, den 15. November 1918,<br />

spätnachmittags<br />

E<br />

s <strong>ist</strong> so lange her, dass ich etwas in mein<br />

Tagebuch geschrieben habe. Aber worüber hätte ich<br />

auch schreiben sollen? Über den Hunger? Die<br />

Steckrüben, die es täglich als Gemüse, Suppe o<strong>der</strong><br />

Fleischersatz gab? Über die Kälte im Winter, weil wir<br />

nicht genug zum Heizen hatten? Über die sich ständig<br />

wie<strong>der</strong>holende alltägliche Misere? Dazu hat mir jede<br />

Lust gefehlt. Wir hatten alle nur noch die Kraft, das<br />

unbedingt Notwendige zu tun. Es war ein mühsames<br />

Sichhinschleppen von Tag zu Tag.<br />

Vater <strong>ist</strong> alt geworden. Sein Haar und sein Bart sind<br />

ganz grau, und er <strong>ist</strong> abgemagert. Seit Mutters Tod hat<br />

er schon nicht viel gelacht, jetzt lacht er überhaupt nicht<br />

<strong>mehr</strong>.<br />

Paul <strong>ist</strong> nach Göttingen gegangen, um Theologie zu<br />

studieren. Ich glaube, das bedrückt ihn noch zusätzlich.<br />

Er hofft wohl immer noch, dass sein Sohn sich eines<br />

Tages besinnt und doch ein naturwissenschaftliches<br />

Studium aufnimmt.<br />

Vaters schwermütige Stimmung hat auch mich<br />

traurig gemacht, sodass ich mich oft zu gar nichts<br />

aufraffen konnte, noch nicht einmal zum Klavierspielen.<br />

Aber heute musste ich mein Tagebuch wie<strong>der</strong><br />

hervorholen. In den letzten Tagen <strong>ist</strong> so viel passiert.<br />

Der Krieg <strong>ist</strong> aus! Endlich!! Ich sollte mich freuen. Wir<br />

sollten uns alle freuen und jubeln! Dennoch <strong>ist</strong> die<br />

Stimmung überall gedämpft. Je<strong>der</strong> <strong>ist</strong> zwar glücklich,<br />

dass nicht <strong>mehr</strong> geschossen wird und dass die Soldaten<br />

– die, die noch am Leben sind – wie<strong>der</strong> nach Hause<br />

kommen. Aber wie sieht es hier aus?<br />

130


Alles geht drunter und drüber, seit <strong>der</strong> Arbeiter- und<br />

Soldatenrat den Herzog gezwungen hat abzudanken.<br />

Den ganzen Tag sausen Autos mit bewaffneten Soldaten<br />

durch die Stadt, rote Fahnen am Kühler. Bei dem<br />

dauernden Gehupe muss man sich die Ohren zuhalten,<br />

wenn man auf die Straße geht. Aus <strong>der</strong> Villa des Prinzen<br />

wurden das ganze Bargeld, die Orden und alle<br />

wertvollen Gegenstände gestohlen. Und auch sonst:<br />

Einbruch und Diebstahl sind an <strong>der</strong> Tagesordnung.<br />

Vater <strong>ist</strong> ganz deprimiert. Er sagt: »Jetzt haben wir<br />

Zustände wie in Russland. Das <strong>ist</strong> Anarchie! Die<br />

Proleten, die jetzt unser Land regieren, sind doch gar<br />

nicht fähig, die Ordnung wie<strong>der</strong> herzustellen.« Wenn ich<br />

daran denke, dass die sich heute im Schloss<br />

breitmachen, wo meine Eltern in früheren Jahren so oft<br />

Gäste waren, wo ich als Debütantin stolz meinen ersten<br />

Ball erlebt habe – ich könnte heulen. Wie wird es<br />

weitergehen? Man traut sich ja kaum noch auf die<br />

Straße. Werden wir noch einmal ruhige, ganz normale<br />

<strong>Zeit</strong>en erleben, wie es früher war?<br />

Weiches Spätnachmittagslicht fiel in das kleine<br />

Ankleidezimmer und verlieh <strong>der</strong> Elfenbeinfarbe, in <strong>der</strong><br />

die Seidentapete und die zierlichen Möbel gehalten<br />

waren, einen warmen und intensiven Ton. Die weiße<br />

Gardine blähte sich ein wenig im Luftzug des halb<br />

geöffneten Fensters. Gertrud saß auf dem Hocker vor<br />

ihrer Frisierkommode und betrachtete ihr Gesicht im<br />

Spiegel: das dunkelbraune, leicht gewellte Haar, das im<br />

Gegenlicht schimmerte, das ovale Gesicht, dem die<br />

großen braunen Augen mit ihrem träumerischen Glanz<br />

einen charakter<strong>ist</strong>ischen Ausdruck verliehen, den<br />

Mund, <strong>der</strong> mit seinen schmalen Lippen Empfindsamkeit<br />

131


verriet, aber gleichzeitig auch Festigkeit und<br />

Entschlossenheit, die zarte weiße Haut ... Heute nimmt<br />

man Rouge, um etwas Farbe auf die Wangen zu<br />

zaubern, auch Wimperntusche, Pu<strong>der</strong> und Lippenrot<br />

sind durchaus nicht verpönt, dachte sie, ich werde mir<br />

so etwas kaufen. Ihr Blick fiel auf die Ablage <strong>der</strong><br />

Frisierkommode. Neben Kamm und Bürste und dem<br />

einen Cremetopf war noch viel Platz dafür. Indem sie<br />

ihr Spiegelbild betrachtete, wurde Gertrud sich bewusst,<br />

dass sie gut aussah, dass sie sogar hübsch war. Der<br />

Wunsch aller Frauen erwachte in ihr, dieses Äußere<br />

noch besser zur Geltung zu bringen. Sie wollte gefallen.<br />

Dabei dachte sie an niemand Bestimmten, sie wollte<br />

einfach das Gefühl haben, dass sie eine attraktive junge<br />

Frau war, die man gern ansieht.<br />

Langsam stand sie auf und begann sich umzukleiden.<br />

Sie zog das Straßenkostüm aus, das sie bei ihren<br />

Einkäufen getragen hatte, um es gegen ein bequemeres<br />

Hauskleid zu vertauschen. Einem plötzlichen <strong>Im</strong>puls<br />

folgend, begann sie, auch die Unterwäsche abzulegen.<br />

Sie zog den Unterrock aus und legte ihn zurseite, löste<br />

die Strumpfbän<strong>der</strong> und das Korsett, streifte die seidene<br />

Untertaille ab und, etwas zögernd, die spitzenbesetzte<br />

Unterhose. Nun stand sie nackt vor ihrem Spiegel. Sie<br />

betrachtete ihren Körper mit <strong>der</strong>selben Aufmerksamkeit<br />

und kritischen Neugier, wie sie vorhin ihr Gesicht<br />

angesehen hatte. Es war ihr, als nähme sie ihn zum<br />

ersten Mal bewusst wahr. Sie war klein, von zartem<br />

Knochenbau, schlank, aber nicht mager. Langsam ließ<br />

sie ihre Hände über die sanften Rundungen ihrer Brüste<br />

gleiten. Dann ertastete sie die leichte Wölbung des<br />

Bauches. Ihre Haut fühlte sich glatt an und kühl wie<br />

132


Seide. Eine innere Unruhe erfüllte sie, eine unbestimmte<br />

Sehnsucht, die sie verwirrte. Sie wehrte sich dagegen,<br />

schob sie von sich weg, unterdrückte sie. Sie zog ein<br />

Negligé über und setzte sich wie<strong>der</strong> auf den Hocker vor<br />

den Frisiertisch. Gedankenverloren sah sie ihr<br />

Spiegelbild an. Vierundzwanzig Jahre war sie nun alt.<br />

Was war ihr Leben bisher gewesen? Eine glückliche,<br />

behütete Kindheit, eine sorglose Jugend. Die<br />

Erinnerung daran zauberte ein Lächeln auf ihre Züge,<br />

das bei dem Gedanken an den Tod <strong>der</strong> Mutter jäh<br />

verschwand. Dieser Schicksalsschlag hatte sie wie eine<br />

Katastrophe getroffen. Wenn Mutter noch leben würde,<br />

wie an<strong>der</strong>s wäre alles, dachte sie. Ich hätte eine<br />

Vertraute, einen Menschen, <strong>der</strong> mich versteht, dem ich<br />

alles sagen könnte, was mich bewegt. Ich liebe Vater, ja,<br />

aber er <strong>ist</strong> oft so fern und unnahbar. Wie habe ich mich<br />

bemüht, ihm zur Seite zu stehen in jenen schweren<br />

Tagen, obwohl ich manchmal selbst keine Kraft <strong>mehr</strong><br />

hatte. Niemand, auch Vater nicht, hat bemerkt, wie es in<br />

mir aussah, denn ich versuchte, nach außen hin ruhig<br />

und gelassen zu erscheinen. Dabei hatte ich oft das<br />

Gefühl, dass alles um mich herum zusammenbrechen<br />

würde. Wie abwesend strich sie eine Haarsträhne<br />

zurück, die ihr in die Stirn gefallen war.<br />

Die Gedanken an den Verlust <strong>der</strong> Mutter ließen die<br />

Erinnerung an Wilhelms Tod lebendig werden, wühlten<br />

die Gefühle von Schmerz und Trauer wie<strong>der</strong> auf. Es war<br />

wie ein Abgrund, <strong>der</strong> sich vor mir auftat. Ich hatte Angst<br />

hineinzustürzen. Monatelang hatte ich immer wie<strong>der</strong><br />

das Gefühl, als schwanke <strong>der</strong> Boden unter meinen<br />

Füßen, dachte sie. Ich war ohne Richtung in meinem<br />

Leben, ohne Ziel, hilflos ausgeliefert an ein Geschehen,<br />

133


das ich nicht begreifen konnte, nicht begreifen wollte.<br />

Wäre Mutter doch bei mir gewesen, sie hat mir so<br />

gefehlt! Dann die Kriegsjahre voller Hunger und<br />

Entbehrungen, freudlos und tr<strong>ist</strong>. Das war das Leben,<br />

das war mein Leben! Wie wird es weitergehen? Ein<br />

heißes Aufbegehren erfüllte sie plötzlich, ein nie<br />

gekannter Hunger nach Leben. Ihre Wangen glühten,<br />

die Augen waren feucht, <strong>der</strong> Mund trocken. Sie fühlte<br />

sich, als ob sie Fieber hätte. Ein leidenschaftliches<br />

Verlangen danach, <strong>der</strong> Enge des Alltags zu entfliehen,<br />

die Grenzen zu sprengen, ließ sie erschauern. Lange<br />

unterdrückte Gefühle stiegen in ihr auf, <strong>der</strong>en Intensität<br />

sie verwirrte. Die Gedanken überstürzten sich. Ich bin<br />

doch noch jung. Das Leben liegt noch vor mir, ich will<br />

seine Schönheit auskosten, will meine Kräfte<br />

verschwenden, will etwas schaffen, will es genießen, ich<br />

will lieben und geliebt werden, ich will leben, aus vollen<br />

Zügen leben! Die Jahre gehen vorbei, eines Tages werde<br />

ich alt sein, jetzt will ich leben!<br />

In ihre Gedanken drangen Geräusche von <strong>der</strong> Straße<br />

herauf: laute Stimmen, Gröhlen, Schreien, dazu <strong>der</strong> Tritt<br />

schwerer Stiefel. Sie hatte es schon öfter gehört. Der<br />

Krieg <strong>ist</strong> zwar vorbei, aber Frieden haben wir noch<br />

lange nicht, dachte sie bitter. Diese randalierenden<br />

Gruppen, die durch die Stadt ziehen ... verfeindete<br />

politische Cliquen ... Schlägereien und<br />

Messerstechereien sind an <strong>der</strong> Tagesordnung ... Es gab<br />

sogar politische Morde! Neulich hat die Regierung<br />

Truppen nach Braunschweig geschickt, um einen<br />

Aufstand nie<strong>der</strong>zuschlagen. Was für eine <strong>Zeit</strong>! Wann<br />

werden wir endlich wirklichen Frieden haben?<br />

134


Ein Knall drang von <strong>der</strong> Straße her in die Stille ihres<br />

Ankleidezimmers. Gertrud schreckte auf. Was war das,<br />

ein Schuss? Verwirrt legte sie das Gesicht in beide<br />

Hände. So blieb sie eine Weile sitzen, als wolle sie sich<br />

sammeln, aus dem Sturm ihrer Gefühle wie<strong>der</strong><br />

zurückfinden in die Wirklichkeit. Langsam klang ihre<br />

innere Erregung ab. Schließlich stand sie auf und<br />

begann, sich anzukleiden. Als sie die Tür ihres<br />

Klei<strong>der</strong>schranks öffnete, um ein Hauskleid<br />

herauszunehmen, hielt sie plötzlich inne. Diese alten<br />

Sachen, immer wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Hausschnei<strong>der</strong>in<br />

umgeän<strong>der</strong>t – wie lange trage ich sie eigentlich schon?<br />

In all den Kriegsjahren hat man ja nichts kaufen können.<br />

Und mir stand auch <strong>der</strong> Sinn nicht danach, mich hübsch<br />

anzuziehen. Aber jetzt ... Ich werde mir ein neues Kleid<br />

kaufen, so ein schickes, modisches, eines von denen, die<br />

ich neulich am Kohlmarkt im Schaufenster gesehen<br />

habe. Vielleicht das Rote mit <strong>der</strong> weißen Stickerei? Das<br />

gefiel mir beson<strong>der</strong>s gut. Aber auch das Grüne mit dem<br />

Spitzenbesatz, das so einfach geschnitten war und<br />

gerade dadurch sehr elegant wirkte, war hübsch. Sie<br />

nahm sich fest vor, in den nächsten Tagen in die Stadt<br />

zu gehen und sich eines von den mo<strong>der</strong>nen Klei<strong>der</strong>n zu<br />

kaufen, die ihr so gut gefielen.<br />

Gertruds Gedanken kre<strong>ist</strong>en nach wie vor um ihren<br />

Wunsch, einen Beruf zu erlernen. Schließlich bat sie<br />

ihren Vater um eine Unterredung. Nun saßen sie sich im<br />

Studierzimmer gegenüber, <strong>der</strong> Vater hinter dem<br />

Schreibtisch, die Arme verschränkt auf <strong>der</strong> Tischplatte,<br />

mit angespanntem Gesicht darauf wartend, dass sie das<br />

Gespräch beginnen würde. Eine o<strong>der</strong> zwei Minuten lang<br />

135


hatten sie geschwiegen, dann war Gertrud klar<br />

geworden, dass sie den ersten Schritt würde tun müssen.<br />

Tapfer fing sie an:<br />

»Vater, du weißt, dass ich gern einen Kursus in<br />

Maschinenschreiben und Stenografie besuchen würde.<br />

Ich habe schon ein paar Mal davon gesprochen, denn<br />

mir liegt sehr viel daran. Wirst du es mir erlauben?« In<br />

ihrem Ton lag fast etwas Flehendes. »Du würdest mir<br />

eine große Freude damit machen. Ich bitte dich sehr<br />

darum.«<br />

Oertel strich schweigend über seinen Bart, eine<br />

Geste, die er häufig machte, wenn er über irgendetwas<br />

nachdachte. Schließlich fragte er seine Tochter in<br />

ruhigem Ton: »Was willst du damit erreichen?«<br />

»Ich könnte in einem Büro arbeiten. Ich könnte<br />

Sekretärin werden, eine verantwortungsvolle Position,<br />

eine Vertrauensstellung bekleiden«, erwi<strong>der</strong>te sie<br />

lebhaft, in <strong>der</strong> Hoffnung, den Vater für sich zu<br />

gewinnen. »Zu Hause langweile ich mich nur.«<br />

»In einem Büro willst du arbeiten? Zu Hause<br />

langweilst du dich?« Oertels Ton wurde schärfer. »Du<br />

b<strong>ist</strong> schließlich meine Tochter, du b<strong>ist</strong> eine Oertel. Du<br />

hast es nicht nötig, zu arbeiten und Geld zu verdienen.<br />

Hier gibt es genug für dich zu tun. Du kannst Emmy zur<br />

Hand gehen und den Haushalt lernen. Du kannst Klavier<br />

spielen und schöne Handarbeiten machen wie deine<br />

Mutter in früheren <strong>Zeit</strong>en.« Ein Schatten glitt kurz über<br />

sein Gesicht, aber dann sprach er mit unvermin<strong>der</strong>ter<br />

Schärfe weiter: «Büroarbeit, Sekretärin spielen, das <strong>ist</strong><br />

keine Beschäftigung für meine Tochter. Wer weiß, mit<br />

was für Leuten du da zusammenkommst, in was für<br />

136


Kreise du gerätst. Du b<strong>ist</strong> leicht beeinflussbar, und das<br />

<strong>ist</strong> nicht immer nur zu deinem Vorteil.«<br />

»Ich stelle es mir aber interessant vor, die<br />

Korrespondenz einer Firma zu erledigen und vielleicht<br />

die rechte Hand des Chefs zu werden. <strong>Im</strong> Übrigen finde<br />

ich darüber hinaus neue menschliche Kontakte sehr<br />

anregend. Warum soll ich nicht nette Leute<br />

kennenlernen?«<br />

Gertrud hoffte noch immer, den Vater umstimmen zu<br />

können. Als sie jedoch an seinem abweisenden Gesicht<br />

sah, dass ihr das nicht gelingen würde, erwachte <strong>der</strong><br />

Trotz in ihr. Sie wollte sich nicht <strong>mehr</strong> bevormunden<br />

und ihr Leben von an<strong>der</strong>en bestimmen lassen. Bald<br />

würde sie ihren fünfundzwanzigsten Geburtstag feiern.<br />

»Ich halte es auf die Dauer zu Hause nicht aus. Ich<br />

will das Leben kennenlernen. Es gibt so viele Frauen,<br />

die heutzutage einen Beruf erlernen, eine Ausbildung<br />

machen o<strong>der</strong> sogar studieren. Warum ich nicht? Warum<br />

willst du es durchaus nicht? Warum machst du mir<br />

solche Schwierigkeiten?«<br />

Oertel reagierte verärgert: »Es wird <strong>Zeit</strong>, dass du<br />

heiratest. Dann vergehen dir diese Flausen. Ein<br />

standesgemäßer Ehemann für dich wird sich über kurz<br />

o<strong>der</strong> lang schon finden lassen.«<br />

Mit einer knappen Handbewegung deutete er an, dass<br />

die Unterredung beendet war.<br />

Gertrud stand auf und verließ das Zimmer in<br />

namenloser Enttäuschung. Hatte sie vor dem Gespräch<br />

noch gehofft, den Vater überzeugen zu können o<strong>der</strong><br />

wenigstens seine Einwilligung für die Teilnahme an<br />

dem Kursus zu bekommen, so musste sie jetzt einsehen,<br />

137


dass er in diesem Punkt nie würde mit sich reden lassen.<br />

In jener knappen Geste am Schluss <strong>der</strong><br />

Auseinan<strong>der</strong>setzung lag Endgültigkeit. Sie besagte:<br />

Komm mir nie wie<strong>der</strong> damit. Ich lasse darüber nicht mit<br />

mir reden.<br />

Als Gertrud den Schatten <strong>der</strong> Bäume, die ihren Weg<br />

durch die Kaiser-Wilhelm-Straße säumten und sie vor<br />

<strong>der</strong> erbarmungslosen Sonne schützten, verließ, sprang<br />

die Hitze sie an wie ein wildes Tier. Vom Himmel<br />

herab, aus den Mauern <strong>der</strong> Häuser, aus den Steinen des<br />

Straßenpflasters griff sie nach ihr. Doch Gertrud schien<br />

es nicht zu empfinden. Mit leichten, beschwingten<br />

Schritten bahnte sie sich ihren Weg durch die<br />

Menschenmenge; denn trotz <strong>der</strong> hochsommerlichen<br />

Temperaturen waren die Straßen belebt.<br />

Menschentrauben drängten sich an den Haltestellen <strong>der</strong><br />

»Elektrischen«, <strong>der</strong>en Kommen man schon von Weitem<br />

an ihrem charakter<strong>ist</strong>ischen Rattern und Klingeln und<br />

am Kreischen <strong>der</strong> Bremsen hören konnte. Kleine<br />

Büromädchen in billigen bunten Sommerkleidchen und<br />

Herren mit Hüten, großen Aktentaschen und wichtigen<br />

Mienen strebten eilig nach Hause, in ein Restaurant, zur<br />

Kegelbahn, zu ihrer Geliebten o<strong>der</strong> wo sie sonst ihren<br />

Feierabend zu verbringen gedachten. Elegant<br />

angezogene Damen promenierten gemessenen Schrittes<br />

die Straße entlang, sich gelegentlich umblickend, ob sie<br />

auch bemerkt würden.<br />

Gertrud konnte sich nicht sattsehen an dem Betrieb,<br />

an dem bunten Gewimmel, das sie umgab. Sie fühlte<br />

sich wie trunken, mit hineingenommen in diese<br />

Lebensfülle, fortgerissen von dem Sog <strong>der</strong> alles<br />

138


durchdringenden Vitalität. Dienstmädchen und<br />

Arbeiterfrauen mit Einkaufstaschen drängten sich durch<br />

das Gewühl, junge Frauen schoben Kin<strong>der</strong>wagen, und<br />

halbwüchsige Jungen versuchten, inmitten <strong>der</strong><br />

Menschenmenge Fangen o<strong>der</strong> Fußball zu spielen. Das<br />

Leben pulsiert wie<strong>der</strong>, endlich, dachte Gertrud. In den<br />

Kriegsjahren war es so ruhig hier. Nun atmen die<br />

Menschen wie<strong>der</strong> auf. Wie einen belebenden Cocktail<br />

sog sie dieses Gemisch aus Farben, Bil<strong>der</strong>n, Geräuschen<br />

und Gerüchen in sich ein: hupende Autos und<br />

knatternde Motorrä<strong>der</strong>, die seit Kriegsende immer<br />

zahlreicher geworden waren, lachende und schwatzende<br />

Menschen auf dem Gehsteig, Musik aus einer<br />

Tanzdiele, <strong>der</strong>en Türen zur Straße hin geöffnet waren,<br />

Gedränge vor <strong>der</strong> Kinokasse, Eis schleckende Kin<strong>der</strong>,<br />

<strong>der</strong> Geruch nach Benzin und Autoabgasen, die Luft,<br />

heiß und staubig. Das <strong>ist</strong> Großstadtluft, das <strong>ist</strong> Leben!<br />

Sie genoss das brodelnde Durcheinan<strong>der</strong> um sich<br />

herum. Inmitten des bunten Treibens fühlte sie sich auf<br />

eine intensivere Art und Weise lebendig, voller<br />

Unternehmungslust, bereit, <strong>der</strong> Zukunft<br />

entgegenzugehen und sie mit offenen Armen zu<br />

empfangen, voller Hunger nach neuen Eindrücken und<br />

Erfahrungen, erfüllt von einer Sehnsucht, die fast<br />

schmerzhaft war, nach irgendetwas, das sie nicht<br />

kannte. Den ärmlich aussehenden Mann, <strong>der</strong> an eine<br />

Hauswand gelehnt dasaß, ein Schild mit <strong>der</strong> Aufschrift<br />

»Ich bin arbeitslos« und eine Pappschachtel vor sich,<br />

beachtete sie nicht weiter.<br />

Ein paar junge Burschen drehten sich nach ihr um,<br />

riefen: «Olala« und pfiffen. Sie reg<strong>ist</strong>rierte ihre<br />

bewun<strong>der</strong>nden Blicke mit einem Anflug von<br />

139


Selbstgefälligkeit. Ihr bastseidenes, erdbeerrotes Kleid<br />

mit <strong>der</strong> weißen Stickerei war unterhalb <strong>der</strong> Taille leicht<br />

gerafft und ließ sie sehr schlank erscheinen. Der Mode<br />

entsprechend war es nur wadenlang, sodass die Beine,<br />

die in durchsichtigen Strümpfen steckten, zu sehen<br />

waren. Sie hatte den Schmuck, den sie von ihrer Mutter<br />

geerbt hatte, angelegt: die Perlenkette, den Brillantring<br />

und das dazu passende Armband. Auch ihre Frisur hatte<br />

sie zeitgemäß verän<strong>der</strong>t: Sie trug einen Pagenkopf, »le<br />

<strong>der</strong>nier cri« <strong>der</strong> Friseurkunst. Ihr Gesicht hatte sie ein<br />

wenig geschminkt: ganz hell gepu<strong>der</strong>t, die Wangen<br />

leicht mit Rouge betupft und den Mund mit einem<br />

leuchtenden Rot nachgezogen, das zur Farbe des<br />

Kleides passte. Die Augen waren durch zwei kaum<br />

sichtbare schwarze Striche in den Augenwinkeln betont.<br />

Sie hatte viel <strong>Zeit</strong> auf ihre Aufmachung verwendet, und<br />

als sie zum Schluss ihr Spiegelbild betrachtete, gefiel<br />

ihr, was sie sah.<br />

Ihr Ziel war das Tanzcafé Wagner. Ihre Freundin<br />

Anni war bereits da, als Gertrud das Lokal betrat. Sie<br />

entdeckte sie an einem <strong>der</strong> kleinen runden<br />

Marmortischchen. Vor ihr stand eine Tasse Kaffee.<br />

Gertruds Blick fiel auf die lange Zigarettenspitze aus<br />

Elfenbein in <strong>der</strong> Hand ihrer Freundin. Natürlich, dachte<br />

sie belustigt, ohne ihre türkischen Zigaretten kann Anni<br />

nicht sein. Aber das schlichte graugrüne<br />

Sommerkostüm steht ihr gut. Sie kann solche matten<br />

Farben tragen. Der einfache, ein bisschen strenge<br />

Schnitt <strong>der</strong> Jacke, die kleine goldene Nadel am Revers<br />

als einziger Schmuck, die glatte Frisur mit dem Knoten<br />

im Nacken ... Das alles passt zu ihr, zu ihrer etwas<br />

herben, intellektuellen Persönlichkeit.<br />

140


»B<strong>ist</strong> du schick«, rief Anni <strong>der</strong> Freundin entgegen,<br />

»ein bisschen auffallend zwar, ein bisschen extravagant,<br />

aber warum nicht? Gut siehst du aus!« Sie nickte ihr mit<br />

einem anerkennenden Lächeln zu. Gertrud fühlte sich<br />

geschmeichelt und setzte sich.<br />

»Wo hast du das Kleid arbeiten lassen?«<br />

»Ich habe es von <strong>der</strong> Stange gekauft. Das <strong>ist</strong> viel<br />

praktischer als die ewigen Anproben bei <strong>der</strong><br />

Schnei<strong>der</strong>in. Du glaubst ja nicht, wie gut man sich fühlt<br />

in einem modischen, schicken Kleid!« Gertruds Augen<br />

leuchteten.<br />

Die Serviererin kam, und sie bestellte Schokolade<br />

und ein Stückchen Baumkuchen. Dann blickte sie sich<br />

im Café um. Sonnenlicht, das durch die gerafften<br />

Gardinen und die roten Samtvorhänge leicht gedämpft<br />

wurde, ließ die Goldrahmen <strong>der</strong> Bil<strong>der</strong> und Spiegel und<br />

den vergoldeten Stuckzierrat aufglänzen wie kleine<br />

Lichtpünktchen. Überall im Raum verteilt standen<br />

kleine, runde Marmortischchen mit zierlichen Stühlen,<br />

wie <strong>der</strong>, an dem sie mit Anni saß. In <strong>der</strong> Mitte hatte man<br />

einen freien Platz gelassen. Das <strong>ist</strong> sicher die<br />

Tanzfläche, dachte Gertrud, und schaute auf das<br />

spiegelblanke Parkett. Sie beobachtete die<br />

Serviererinnen in ihren schwarzen Klei<strong>der</strong>n mit den<br />

weißen Schürzen und den weißen Häubchen auf dem<br />

Kopf. Wie geschickt sie sich mit ihren Tabletts<br />

zwischen den Tischen bewegen, ich glaube, ich könnte<br />

das nicht. Ich würde bestimmt das Tablett fallen lassen.<br />

Ihr Blick wan<strong>der</strong>te weiter durch den Raum. Auf dem<br />

roten Plüschsofa in dem Erker beim Fenster saß ein<br />

junges Paar eng beieinan<strong>der</strong>. Sie lächelte. Ein<br />

141


Liebespaar – so wie sie sich ansehen und bei den<br />

Händen halten.<br />

»Hattest du Schwierigkeiten, von zu Hause<br />

wegzukommen?« Annis Stimme riss sie aus ihren<br />

Gedanken. Sie sah Gertrud mit einem ernsten, fast ein<br />

wenig mitleidigen Ausdruck an.<br />

»Ich lasse mich doch nicht einsperren!« Gertrud warf<br />

den Kopf in den Nacken. In ihren Augen blitzte es auf.<br />

»Du lernst es noch.« Anni schmunzelte.<br />

Gertrud sah sie verständnislos und fragend an.<br />

»Dich durchzusetzen«, sagte Anni lachend. »Du hast<br />

ja schon damit angefangen.«<br />

Sie zog an ihrer Zigarettenspitze und blies die<br />

Rauchwölkchen genüsslich in die Luft. Gertrud nippte<br />

an ihrer Schokolade und steckte ein Stückchen<br />

Baumkuchen in den Mund. Leises Stimmengewirr<br />

erfüllte den Raum. Der Rauch von Zigaretten und<br />

Zigarren legte sich wie ein feiner Dunst über alles.<br />

Gedämpft drangen Geräusche von <strong>der</strong> Straße herein.<br />

Alles <strong>ist</strong> hier gedämpft, dachte Gertrud. Vorhin auf <strong>der</strong><br />

Straße, da war Leben, brandendes, quirliges Leben. Man<br />

konnte es spüren mit allen Sinnen. Hier geht es ruhig<br />

und gesetzt zu. Sie fühlte sich, als wäre sie eingehüllt in<br />

einen Schleier, <strong>der</strong> das ursprüngliche Leben nur gefiltert<br />

hindurchlässt. Die me<strong>ist</strong>en Tische waren besetzt.<br />

Gertrud wun<strong>der</strong>te sich, dass auch ältere Leute hier<br />

waren. »Die Dame da drüben, zum Beispiel, mit dem<br />

aus <strong>der</strong> Mode gekommenen Hut, die <strong>ist</strong> doch sicher<br />

schon fünfzig. Ob sie wohl damit rechnet, zum Tanzen<br />

aufgefor<strong>der</strong>t zu werden?« meinte sie lachend zu Anni.<br />

142


Die Freundin zuckte mit den Schultern. »Vielleicht<br />

will sie auch nur Kaffee trinken. Hier gibt es guten<br />

Kuchen.«<br />

Die Tanzmusik begann wie<strong>der</strong>. Offensichtlich hatten<br />

die Musiker eine Pause eingelegt. Ein zierliches, kleines<br />

Männchen mit einer gewaltigen weißen Mähne setzte<br />

sich mit pathetischem Gehabe ans Klavier und stellte<br />

umständlich seine Noten auf.<br />

Gertrud beugte sich zu Anni hinüber und flüsterte:<br />

»Er hält sich wohl für Beethoven!«<br />

Beide Mädchen glucksten und kicherten hinter<br />

vorgehaltener Hand.<br />

Anni fasste Gertrud leicht am Arm: »Guck dir den<br />

Dicken an, den Stehgeiger neben dem Klavier, hat <strong>der</strong><br />

einen Bauch! Und wie <strong>der</strong> schwitzt, dauernd wischt er<br />

sich mit seinem Taschentuch über die Stirn.« Lachend<br />

wandten sie ihre Gesichter ab.<br />

Es wurde ein langsamer Foxtrott gespielt, und nach<br />

und nach begaben sich die Paare zur Tanzfläche. Ein<br />

blon<strong>der</strong> junger Mann for<strong>der</strong>te Gertrud zum Tanzen auf.<br />

»Sie sind mir sofort aufgefallen, als Sie hereinkamen,<br />

gnädiges Fräulein«, sagte er, während sie mit ruhigen,<br />

gemessenen Schritten über die Tanzfläche glitten. »Darf<br />

ich Ihnen ein Kompliment machen über Ihr Aussehen?<br />

Sehr elegant, dieses Kleid, sehr geschmackvoll. Und die<br />

mo<strong>der</strong>ne Pagenkopffrisur steht Ihnen ausgezeichnet.«<br />

Gertrud wehrte ab. Diese aufdringliche Schmeichelei<br />

war ihr unangenehm, sie empfand sie als plumpe<br />

Anbie<strong>der</strong>ung und war froh, als <strong>der</strong> Tanz endlich zu Ende<br />

war.<br />

143


»Ich muss dir vom Lehrerinnenseminar erzählen«,<br />

sagte Anni, als sie wie<strong>der</strong> am Tisch saßen. »Es <strong>ist</strong><br />

hochinteressant!« Sie zog an ihrer Zigarette, atmete den<br />

Rauch tief ein und sprach dann lebhaft weiter. »In<br />

unserer <strong>Zeit</strong> gibt es ja so viele Reformgedanken, so viele<br />

neue Ideen auf pädagogischem Gebiet. Du solltest die<br />

lebhaften Diskussionen hören, die wir führen:<br />

Autoritätsschule, wie sie bisher üblich war, o<strong>der</strong> eine<br />

Pädagogik vom Kinde aus, wie Berthold Otto und einige<br />

an<strong>der</strong>e sie for<strong>der</strong>n? Soll die Schule nur Wissen<br />

vermitteln? Sehen wir im Kinde ausschließlich das<br />

spätere nützliche und angepasste Mitglied <strong>der</strong><br />

Gesellschaft? O<strong>der</strong> haben wir die Aufgabe, die<br />

individuelle Persönlichkeit des jungen Menschen<br />

heranzubilden und zu för<strong>der</strong>n? Führen o<strong>der</strong> wachsen<br />

lassen? Das <strong>ist</strong> die Frage. Es gibt für alles Argumente,<br />

und es geht manchmal heiß her in den Seminaren.«<br />

Gertrud hatte ihr mit wachsendem Interesse zugehört.<br />

Sie vergaß das Stückchen Baumkuchen auf ihrer<br />

Kuchengabel. Es blieb auf dem Teller liegen. »Hast du<br />

auch schon einmal unterrichtet?«<br />

Anni schüttelte den Kopf. »Richtig unterrichtet, so in<br />

eigener Verantwortung, nein. So weit bin ich noch nicht.<br />

Aber wir hospitieren regelmäßig im Unterricht, und ich<br />

durfte auch schon einmal unter <strong>der</strong> Aufsicht einer<br />

Lehrerin mit den Schülern ein Lesestück üben und<br />

Aufgaben an <strong>der</strong> Tafel rechnen. Ich glaube, ich werde<br />

gut mit den Klassen zurechtkommen. Ich finde schnell<br />

Kontakt zu Kin<strong>der</strong>n.«<br />

Gertrud sagte nichts. Sie beneidete Anni, die sich<br />

durchgesetzt hatte mit ihrem Berufswunsch.<br />

144


»Wie <strong>ist</strong> es mit dir? Hast du inzwischen den Kursus<br />

in Stenografie und Schreibmaschine angefangen?«<br />

Gertruds Gesicht bekam einen harten Ausdruck. Die<br />

Erinnerung an die Auseinan<strong>der</strong>setzung, die es mit dem<br />

Vater über diesen Punkt gegeben hatte, wurde wie<strong>der</strong><br />

lebendig in ihr. Als sie jetzt <strong>der</strong> Freundin von diesem<br />

Gespräch berichtete, hatte sie Tränen in den Augen.<br />

»Es geht doch nicht nur um Geld und Versorgung!<br />

Ich möchte so leben, wie es mir gefällt, nach meinen<br />

Vorstellungen! Ich möchte frei und unabhängig sein<br />

und nicht die Rolle <strong>der</strong> abhängigen Tochter mit <strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

abhängigen Ehefrau vertauschen. So viele Frauen üben<br />

heute einen Beruf aus, und das nicht nur, weil sie Geld<br />

verdienen müssen. Es macht ihnen Spaß, es erfüllt sie,<br />

es <strong>ist</strong> für sie eine Lebensaufgabe. Warum <strong>ist</strong> Vater so<br />

dagegen?«<br />

»Du b<strong>ist</strong> doch mündig.« Anni hob beide Hände und<br />

ließ sie wie<strong>der</strong> sinken. »Verlass das Elternhaus, o<strong>der</strong><br />

mach es hinter seinem Rücken.«<br />

Gertrud schwieg einen Augenblick lang, dann sagte<br />

sie leise: »Das kann ich nicht, er <strong>ist</strong> doch mein Vater, ich<br />

habe ihn lieb. Es würde ihn umbringen, nachdem Paul<br />

sich ihm schon wi<strong>der</strong>setzt hat. Er nimmt alles so<br />

schwer.«<br />

Gertrud sah das Mitleid in Annis Augen. Sie kann<br />

nicht verstehen, dass ich mich immer wie<strong>der</strong> dem Vater<br />

füge, dachte sie. Anni hätte es nicht getan. Wenn ihre<br />

Eltern nicht mit ihren Plänen einverstanden gewesen<br />

wären, dann hätte sie die Konsequenzen gezogen und<br />

wäre aus dem Haus gegangen. Wir sind nicht alle aus<br />

dem gleichen Holz geschnitzt. Ich bin weicher und<br />

gefühlvoller veranlagt als Anni, das macht das Leben<br />

145


nicht gerade leichter. Mit einem leisen Seufzer lehnte sie<br />

sich in ihrem Stuhl zurück.<br />

»Was hat er denn zu deiner Frisur gesagt? Und zu<br />

deinen modischen Klei<strong>der</strong>n?«, fragte Anni.<br />

»Nichts, er hat nur geguckt. Aber zu Emmy hat er<br />

gesagt, das sei eine Laune, das gehe vorbei.«<br />

»Und dass du dich schminkst, wie nimmt er das auf?«<br />

»Das sieht er nicht. Ich mache es immer erst, wenn<br />

ich gehe, unten im Hausflur.« Gertrud lachte. Es war ein<br />

kurzes Auflachen, in dem so etwas wie Schadenfreude<br />

mitschwang.<br />

Die Musik begann wie<strong>der</strong>.<br />

»Man könnte meinen, sie spielen immer dasselbe<br />

Stück«, sagte Gertrud.<br />

Anni verdrehte die Augen. »Ja, es <strong>ist</strong> langweilig,<br />

<strong>mehr</strong> etwas für die älteren Herrschaften. Sie haben<br />

wirklich nicht viel zu bieten. Da sind unsere Atelierfeste<br />

etwas ganz an<strong>der</strong>es.«<br />

»Atelierfeste?«<br />

»Weißt du, ich bin befreundet mit ein paar Malern<br />

und Literaten. Es <strong>ist</strong> eine nette Clique. Einige junge<br />

Schauspielerinnen vom Theater gehören auch dazu. Sie<br />

sind noch nichts Großartiges, stehen erst am Anfang<br />

ihrer Karriere, wenn es denn eine geben sollte. Aber alle<br />

sind jung und für jeden Spaß zu haben. In Marcels<br />

Atelier kann man wun<strong>der</strong>volle Feste feiern. Da kannst<br />

du dich wirklich amüsieren. Aber es geht manchmal<br />

recht ausgelassen zu, bürgerliche Moralvorstellungen<br />

musst du zu Hause lassen.«<br />

Gertrud spürte prickelnde Neugier. Sie stellte sich<br />

diese Welt bunt und aufregend vor, wie einen farbigen<br />

146


Kontrast zu ihrem Alltag. Diese Menschen wollte sie<br />

kennenlernen. Sie wollte etwas erleben, sich jung<br />

fühlen, zusammen mit an<strong>der</strong>en jungen Menschen<br />

einfach unbeschwert fröhlich sein.<br />

»Kannst du mich einmal mitnehmen?«, bat sie und<br />

sah Anni mit leuchtenden Augen an.<br />

»In vierzehn Tagen <strong>ist</strong> wie<strong>der</strong> was los. Marcel hat<br />

ein Bild verkauft, das erste! Das muss gefeiert<br />

werden. Gäste sind immer willkommen, zumal,<br />

wenn sie so hübsch sind wie du.« Anni lächelte.<br />

»Aber was wird dein Vater dazu sagen? Wird er es<br />

erlauben?«<br />

»Ich brauche ihm ja nichts zu erzählen. Mir wird<br />

schon eine Ausrede einfallen«, sagte Gertrud leichthin<br />

mit einer wegwerfenden Handbewegung.<br />

Arm in Arm schlen<strong>der</strong>ten Anni und Gertrud die<br />

stille Nebenstraße entlang, in <strong>der</strong> Marcels Atelier lag.<br />

Sie genossen den lauen Sommerabend. Tagsüber hatte<br />

es geregnet, aber jetzt war <strong>der</strong> Himmel wie<strong>der</strong> klar.<br />

Gertrud atmete tief den würzigen Duft ein, <strong>der</strong> die Luft<br />

erfüllte. Sie betrachtete im Vorbeigehen die Fassaden<br />

<strong>der</strong> alten Patrizierhäuser. Manche waren mit Efeu o<strong>der</strong><br />

Weinlaub bewachsen. In den kleinen Vorgärten blühten<br />

Rosen. Wie ruhig es hier war. Da blieb Anni stehen und<br />

deutete auf eines <strong>der</strong> alten Häuser: »Wir sind da.« Die<br />

innere Spannung, die Gertrud schon den ganzen Tag<br />

über gespürt hatte, wurde stärker, als sie die drei Stufen<br />

zur Haustür hinaufgingen und dann in den kühlen,<br />

dämmrigen Flur eintraten. »Wir müssen ganz nach<br />

oben, vier Treppen rauf. Marcels Atelier <strong>ist</strong> unter dem<br />

Dach«, sagte Anni.<br />

147


Mit einem Gefühl gesteigerter Erwartung, in das sich<br />

Neugier, aber gleichzeitig auch Unsicherheit und ein<br />

bisschen Angst vor dem Unbekannten mischte, folgte<br />

Gertrud <strong>der</strong> Freundin. Sie waren noch nicht ganz oben,<br />

da schallte ihnen laute Jazzmusik entgegen. Anni drehte<br />

sich zu Gertrud um: »Das Fest <strong>ist</strong> schon in vollem<br />

Gange, aber wir haben noch nichts versäumt. Komm.«<br />

Sie öffnete die Tür – und Gertrud blieb überrascht auf<br />

<strong>der</strong> Türschwelle stehen. Verwirrt starrte sie in den<br />

riesigen Raum mit vier großen Dachfenstern, durch die<br />

man geradewegs in den Himmel blicken konnte. Was<br />

für ein Chaos, was für ein Durcheinan<strong>der</strong>! Welch ein<br />

Gegensatz zu <strong>der</strong> stillen Straße! Sie bemühte sich,<br />

Einzelheiten zu erfassen. Verwun<strong>der</strong>t sah sie, wie einige<br />

<strong>der</strong> Gäste auf <strong>der</strong> freien Fläche in <strong>der</strong> Mitte ihre Glie<strong>der</strong><br />

verrenkten. So kann man also auch tanzen, dachte sie.<br />

Na ja, zu <strong>der</strong> schrillen Musik passt das. Ihr Blick<br />

wan<strong>der</strong>te weiter über die Kissen und Polster, die<br />

rundherum auf dem Boden verteilt waren, über die<br />

Mädchen und die jungen Männer, die es sich darauf<br />

bequem gemacht hatten, rauchend, trinkend,<br />

miteinan<strong>der</strong> schwatzend. Die Luft war dunstig von<br />

Zigarettenqualm, und die Jazzmusik hämmerte in ihren<br />

Ohren. Das <strong>ist</strong> nichts für mich, hier gehöre ich nicht hin!<br />

Sie wollte am liebsten davonlaufen. Da gab Anni ihr<br />

einen leichten Klaps auf den Rücken. »Komm, o<strong>der</strong><br />

willst du ewig hier stehen bleiben?«<br />

»Hallo, da kommt ja unsere Lehrerin«, rief ein junger<br />

Mann Anni entgegen.<br />

»Pädagogin, bitte, Raoul. Sie studiert doch<br />

Pädagogik«, sagte eine große, schlanke Blondine mit<br />

einem vielsagenden Augenaufschlag.<br />

148


»Was für einen Paradiesvogel hast du denn da<br />

mitgebracht? Komm, Kleine, lass dich mal ansehen. Süß<br />

siehst du aus.« Er legte Gertrud seine Hände auf die<br />

Schultern und drehte sie zu sich hin. Gertrud fühlte, wie<br />

sie errötete, und senkte für einen Moment scheu ihren<br />

Blick. Aber dann sah sie ihr Gegenüber neugierig an und<br />

schaute in zwei übermütig blitzende blaue Augen unter<br />

einem wuscheligen blonden Haarschopf. Halb<br />

schüchtern, halb kokett lächelte sie ihm zu. Mit einem<br />

aufmunternden Blinzeln fasste <strong>der</strong> junge Mann Gertruds<br />

Arm und wollte sie mit sich fortziehen.<br />

»Finger weg, Raoul! Die <strong>ist</strong> nichts für dich.« Anni<br />

gab ihm lachend einen Klaps auf die Hand.<br />

»Na, na, nicht so streng, Frau Oberlehrerin. Aber<br />

nachher tanzen wir zusammen, ja, schöne Goldmarie?«<br />

Das <strong>ist</strong> wohl eine Anspielung auf mein Kleid, dachte<br />

Gertrud. Sie sah an sich herunter und stellte fest, dass ihr<br />

gelbes Kunstseidenkleid in <strong>der</strong> schummrigen<br />

Beleuchtung einen matten Goldglanz bekommen hatte.<br />

»Holen wir uns was zu trinken, hier bedient sich je<strong>der</strong><br />

selbst.« Anni nahm Gertrud mit sich fort zu einem<br />

langen, schmalen Tisch, <strong>der</strong> an <strong>der</strong> Wand aufgestellt<br />

war. »Das <strong>ist</strong> eigentlich ein Arbeitstisch, aber heute wird<br />

er zweckentfremdet als Bar benutzt.« Sie deutete auf die<br />

vielen Flaschen. Zwischen Wein-, Sekt- und<br />

Bierflaschen sah Gertrud auch an<strong>der</strong>e, die sie nicht<br />

kannte. Neugierig griff sie nach einer solchen Flasche<br />

und wollte sich ein Glas einschütten, doch Anni hielt sie<br />

zurück: »Damit würde ich nicht gerade anfangen. Trink<br />

ein Glas Moselwein, <strong>der</strong> <strong>ist</strong> süffig. Marcel bekommt ihn<br />

von seinem Onkel, <strong>der</strong> hat ein Weingut.« Die beiden<br />

149


Mädchen schenkten sich Wein ein und nahmen auch<br />

von den Häppchen, die auf dem Tisch standen.<br />

»Hallo, Anni, kommt zu uns!« Ein Mädchen mit<br />

einem lustigen Gesicht, dem die braunen Locken keck<br />

in die Stirn fielen, winkte ihnen zu. Der blonde Junge an<br />

ihrer Seite wirkt ein bisschen schüchtern, dachte<br />

Gertrud, und fühlte Sympathie für ihn. Er scheint sich<br />

hier auch nicht ganz wohl zu fühlen. Ihr war zumute, als<br />

sei sie ohne Übergang, von einem Augenblick zum<br />

an<strong>der</strong>en, in eine fremde, schillernde Welt versetzt<br />

worden. Diese Welt faszinierte sie, aber sie fürchtete<br />

sich auch ein bisschen davor. Sie fühlte sich unsicher<br />

und sehnte sich nach ihrem geordneten Zuhause, nach<br />

dem Schutz ihrer bürgerlichen Familie. Gleichzeitig<br />

spürte sie jedoch in sich einen Hunger nach neuen<br />

Erlebnissen, nach Abenteuern und die Bereitschaft, sich<br />

auf das Ungewöhnliche einzulassen, auch wenn es mit<br />

Risiken verbunden war. Wenn sie die ausgelassenen<br />

Tänzer ansah, dann erfüllte sie eine prickelnde Lust, sich<br />

unter sie zu mischen und es ihnen gleichzutun. Doch<br />

irgendetwas in ihrem Innern hielt sie auf ihrem Sitz fest.<br />

Sie nippte an ihrem Wein und sah zu dem Paar hinüber,<br />

das sich in einer Ecke eng umschlungen hielt. Das<br />

Mädchen hatte sein Kleid halb heruntergestreift, sodass<br />

<strong>der</strong> Busen zu sehen war. Dass sie sich nicht geniert!!<br />

Empörung stieg in Gertrud auf. Sie runzelte die Stirn<br />

und zog die Mundwinkel verächtlich nach unten, sodass<br />

ihr Gesicht einen abweisenden Ausdruck bekam. Doch<br />

dann glätteten sich ihre Züge wie<strong>der</strong>, und ein Lächeln<br />

spielte um ihre Lippen. Das <strong>ist</strong> ein völlig an<strong>der</strong>es Leben!<br />

So frei, so ohne Zwang! Je<strong>der</strong> gibt sich, wie er <strong>ist</strong>, keiner<br />

verstellt sich, alle sind fröhlich, genießen das Leben.<br />

Warum muss man es sich immer so schwer machen wie<br />

150


Vater? Es lebt sich doch viel leichter mit ein bisschen<br />

Lustigsein, ein bisschen Spaß. »Bohème-Milieu« würde<br />

Vater sagen, und <strong>der</strong> Ausdruck seiner Augen und <strong>der</strong><br />

Tonfall seiner Stimme würden voller Verachtung sein.<br />

Wenn er gewusst hätte, wohin ich gehe, dann hätte er es<br />

mir bestimmt verboten. Aber warum? Hat man nicht<br />

auch ein Recht darauf, einmal zu lachen, zu tanzen,<br />

Wein zu trinken und fröhlich zu sein? Sie betrachtete das<br />

Mädchen, das<br />

151


ihr gegenüber saß. Es trug ein grellbuntes Kleid mit<br />

einem tiefen Dekolleté. Ziemlich gewagt, ich würde so<br />

etwas nicht anziehen. Aber sie hat eine gute Figur, und<br />

mit dem schwarzen Haar und dem dunklen Teint sieht<br />

sie wie eine Zigeunerin aus.<br />

Eine neue Platte wurde aufgelegt. »Komm, kleine<br />

Mimi, jetzt tanzen wir Shimmy.« Raoul zog Gertrud am<br />

Arm mit sich fort, ehe Anni protestieren konnte. Gertrud<br />

kannte diesen Tanz nicht. Raoul erklärte ihr, dass er aus<br />

Amerika stamme. »Ein ganz neuer Tanz!« Wie<strong>der</strong><br />

dieses Blitzen in seinen Augen, das ihr so ein<br />

merkwürdiges Kribbeln verursachte. Mit festem Griff<br />

wirbelte er sie herum, sodass sie Angst hatte, den Boden<br />

unter den Füßen zu verlieren.<br />

Anni rief ihr im Vorbeitanzen zu: »Das <strong>ist</strong> was<br />

an<strong>der</strong>es als das langweilige Gedudel beim Tanztee,<br />

findest du nicht auch?« Die letzten Worte gingen in<br />

einer rasanten Drehung unter. Gertrud fühlte sich wie<br />

berauscht.<br />

Plötzlich ließ Raoul Gertrud los. Sie blieb<br />

erschrocken mitten auf <strong>der</strong> Tanzfläche stehen und sah<br />

ihm verwun<strong>der</strong>t nach. Er stellte das Grammophon ab,<br />

stieg auf einen Stuhl und fing an zu deklamieren:<br />

jolifanta bambla<br />

o falli bambla<br />

grossige m'pfa babla horem<br />

egiga goramen<br />

Mit großen Gesten unterstrich er seine Worte, so, als<br />

hätte er etwas äußerst Bedeutungsvolles zu sagen.<br />

Inzwischen waren alle aufmerksam geworden. Ein paar<br />

152


Mädchen riefen lachend »Aufhören, Raoul!«, an <strong>der</strong>e<br />

klatschten bege<strong>ist</strong>ert Beifall.<br />

»Er heißt eigentlich Otto, aber er nennt sich Raoul<br />

nach seinem großen Vorbild Raoul Hausmann«, erklärte<br />

Anni Gertrud mit einem spöttischen Lächeln.<br />

Inzwischen hatte sich eine kleine Gruppe um Raoul<br />

versammelt, <strong>der</strong> immer noch auf seinem Stuhl stand.<br />

Alle redeten gleichzeitig auf ihn ein.<br />

»Dada <strong>ist</strong> doch Unsinn, schon <strong>der</strong> Name bedeutet<br />

nichts, ein Zufall!« Eine laute Stimme übertönte die<br />

an<strong>der</strong>en. Gertrud blickte in die Richtung, aus <strong>der</strong> sie<br />

kam, und entdeckte einen dicken Mann, dessen<br />

gewaltiger Bauch über <strong>der</strong> Hose hing. Sein Hemd war<br />

aus dem Hosenbund herausgerutscht. Angewi<strong>der</strong>t<br />

dachte sie: Wie nachlässig! Aber es scheint ihn nicht zu<br />

stören.<br />

»<strong>Im</strong> Französischen heißt es immerhin<br />

›Steckenpferd‹, Guido«, konterte Raoul und unterstrich<br />

seine Worte mit ausgestrecktem Zeigefinger, »im<br />

Rumänischen heißt es ›Jawohl, wirklich, so machen<br />

wir's‹, im<br />

Deutschen ...«<br />

»Babysprache«, unterbrach ihn lachend ein<br />

rothaariges Mädchen in einem engen schwarzen Kleid.<br />

»Babysprache <strong>ist</strong> es im Deutschen, nichts an<strong>der</strong>es.« Sie<br />

schien sich über Raoul lustig zu machen.<br />

»Es heißt ›Ich pfeif drauf, rutsch mir den Buckel<br />

runter‹«, rief jemand aus einer an<strong>der</strong>en Ecke herüber.<br />

Künstlervolk, ging es Gertrud durch den Kopf,<br />

Künstlervolk würde Vater missbilligend sagen.<br />

153


»Dada <strong>ist</strong> die einzig mögliche Lebensform ... sich<br />

von den Dingen werfen lassen ... nein sagen und lachen<br />

... lachen über den gewaltigen Hokuspokus des Daseins<br />

...«, hörte sie jetzt einen schlanken, blassen jungen<br />

Mann mit dunkler Hornbrille sagen, den sie bisher noch<br />

nicht beachtet hatte.<br />

»Über die Wirklichkeit kann man nicht lachen ...«<br />

»Der Künstler muss politisch denken und sich<br />

engagieren ...«<br />

Wie kann jemand diesen Quatsch überhaupt ernst<br />

nehmen, dachte Gertrud, hörte aber doch interessiert<br />

weiter zu.<br />

»Ha, sich totschießen lassen für eine fragwürdige<br />

Nation ... für das Vaterland ... Was <strong>ist</strong> denn das, das<br />

Vaterland? Wie können wir es lieben, wenn es unsere<br />

Arme und Beine, unser Leben verlangt in einem<br />

unsinnigen Krieg?« Das war Raoul mit seinem<br />

ungestümen Temperament. Er war inzwischen von<br />

seinem Stuhl heruntergekommen und hatte sich unter<br />

die an<strong>der</strong>en gemischt.<br />

»Damit das nicht wie<strong>der</strong> passiert, müssen wir uns<br />

engagieren. Wie, das haben uns Max Beckmann und<br />

George Grosz gezeigt mit ihren Bil<strong>der</strong>n. Sie malten den<br />

Krieg, wie er wirklich <strong>ist</strong>.« Gertrud horchte auf. Welch<br />

sympathische Stimme!<br />

»Und es wird wie<strong>der</strong> so kommen, Marcel, wenn wir<br />

das Bürgertum nicht endlich aus seinem sanften<br />

Schlummer aufwecken, mit Posaunengedröhn:<br />

Zumba, zamba<br />

Buliamba<br />

154


Ein Mädchen hielt ihm den Mund zu. »Lasst uns<br />

lieber tanzen, Raoul, ver<strong>der</strong>bt uns nicht die Stimmung!«<br />

Aber ihr Einwand ging in dem allgemeinen Gerede un<br />

ter.<br />

»Nachdem die bürgerliche Ordnung ins Chaos<br />

geführt hat, wollen wir Chaos in die Ordnung bringen.<br />

Die Gesellschaft <strong>ist</strong> krank. Ein neuer Mensch muss<br />

geschaffen werden ...«<br />

Gertrud war erstaunt. Wie kann jemand im Ernst<br />

wünschen, Chaos in die bürgerliche Ordnung zu<br />

bringen, und sich dann auch noch einbilden, so könne<br />

ein neuer Mensch entstehen? Aber sie schien nicht allein<br />

so zu denken.<br />

»Wie wollt ihr mit Chaos einen neuen Menschen<br />

schaffen? Man lacht doch nur über euch, nimmt euch<br />

nicht ernst ...«, rief das rothaarige Mädchen dazwischen,<br />

das sich vorhin über Raoul lustig gemacht hatte.<br />

»Die Menschen werden uns noch ernst nehmen,<br />

wenn sie anfangen zu denken«, sagte Raoul mit<br />

Überzeugung.<br />

Aber das tun sie doch, die Menschen machen sich<br />

Gedanken. Gertrud erinnerte sich an ihren Vater und<br />

ihren Bru<strong>der</strong> und an die Auseinan<strong>der</strong>setzungen, die es<br />

gegeben hatte. Sie machen es sich wirklich nicht leicht.<br />

»Die Menschen werden euch als Provokateure<br />

einsperren!«, rief wie<strong>der</strong> jemand von hinten.<br />

»Dada <strong>ist</strong> die einzig wirkliche Kunstform ... getragen<br />

vom spontanen Einfall ... Es lebe die Spontaneität ...<br />

nicht gegängelt und verstümmelt von Regeln,<br />

Vorschriften und Prinzipien ...«<br />

155


Raoul redet sich ja richtig in Bege<strong>ist</strong>erung, dachte<br />

Gertrud. Ihr schwirrte <strong>der</strong> Kopf. Sie verstand nicht recht,<br />

dass alle sich <strong>der</strong>artig ereiferten. Diese Gedanken, diese<br />

Ideen ... Sie waren so fremd und ungewohnt für sie.<br />

Müssen nicht Regeln und Vorschriften sein? Aber wie<br />

oft habe ich mich selbst innerlich aufgelehnt gegen<br />

Vaters strenge Prinzipien. Wie eingeengt fühlte ich<br />

mich dadurch. Es <strong>ist</strong> vielleicht etwas Wahres dran an<br />

dem, was sie sagen. Ihr geordnetes Dasein wurde ihr auf<br />

einmal fragwürdig. Fasziniert hörte sie weiter zu.<br />

»Dada <strong>ist</strong> <strong>mehr</strong> ... es <strong>ist</strong> ein Ge<strong>ist</strong>eszustand ... <strong>der</strong><br />

einzige, mit dem es sich leben lässt ... Weg mit<br />

Begriffen wie Moral, Ehre, Freiheit, Brü<strong>der</strong>lichkeit ...<br />

Wohin haben sie uns geführt? Nach <strong>der</strong> Wirklichkeit des<br />

Krieges sind sie nur noch ein Skelett von<br />

Konventionen.«<br />

»Aber was wollt ihr an die Stelle setzen? Etwa euer<br />

Dada-Gestammel? Hört doch auf!«<br />

»Wovon wollt ihr denn leben? Nur von Spontaneität,<br />

von <strong>der</strong> ›einzig wirklichen Kunstform‹, von einem<br />

›Ge<strong>ist</strong>eszustand‹ kann man nicht ex<strong>ist</strong>ieren. Ihr könnt ja<br />

noch nicht mal das Papier für eure sogenannten<br />

›Gedichte‹ und Farben, Pinsel und Leinwand bezahlen.«<br />

»Wir leben, das <strong>ist</strong> uns genug. Und es hat sich noch<br />

immer jemand gefunden, <strong>der</strong> für uns bezahlt hat. Sonst<br />

leben wir eben auf Pump.«<br />

Auf Pump leben! Gertrud war schockiert.<br />

»Ihr macht es euch leicht ...«<br />

»Legt doch eine neue Platte auf, Schluss mit dem<br />

Gequassel. Lasst uns wie<strong>der</strong> tanzen.«<br />

156


Ein paar Mädchen gingen zum Grammophon, aber<br />

plötzlich standen drei <strong>der</strong> eifrigsten Dada-Verfechter<br />

auf Stühlen und fingen gleichzeitig an zu deklamieren.<br />

Mit einer würdevollen Haltung und ernstem<br />

Gesichtsausdruck gaben sie sich den Anschein, als<br />

hätten sie et was Bedeutendes zu sagen. Gertrud konnte<br />

kein Wort verstehen.<br />

»Das nennen sie ein ›simultan<strong>ist</strong>isches Gedicht‹. Sie<br />

wollen damit zeigen, das auch im Leben das me<strong>ist</strong>e<br />

nebeneinan<strong>der</strong> und nicht nacheinan<strong>der</strong> geschieht«,<br />

erklärte Anni <strong>der</strong> verwun<strong>der</strong>ten Gertrud, die die drei mit<br />

offenem Mund anstarrte. »Aber man versteht natürlich<br />

nichts. Sie sind alle ein bisschen verrückt.«<br />

Doch dann schlug die Stimmung um, und es wurde<br />

wie<strong>der</strong> getanzt.<br />

Marcel näherte sich Gertrud. »Nun wird es aber <strong>Zeit</strong>,<br />

dass ich auch einmal mit unserem schönen neuen<br />

Gast tanze.«<br />

Galant nahm er ihren Arm und führte sie zur<br />

Tanzfläche. Er hatte weiches, leicht gewelltes<br />

schwarzes Haar, sehr dunkle Augen und einen<br />

bräunlichen Teint. Über <strong>der</strong> Oberlippe trug er ein<br />

kleines Bärtchen, das ihn verführerisch erscheinen ließ.<br />

Marcel tanzte gut, nicht so wild wie die me<strong>ist</strong>en<br />

an<strong>der</strong>en. Er führte sie mit sicheren Schritten. Hautnah<br />

spürte sie seinen geschmeidigen, biegsamen Körper, <strong>der</strong><br />

sich je<strong>der</strong> Schwingung <strong>der</strong> Musik anzupassen schien.<br />

Sie fühlte sich geborgen in seinen Armen, gleichzeitig<br />

erregte sie seine Nähe. Es wurde ein Tango gespielt, und<br />

sie wünschte, dass dieser Tanz nie zu Ende gehen möge.<br />

157


Aber er ging zu Ende, und Marcel wurde zu einer<br />

an<strong>der</strong>en Gruppe gerufen.<br />

Gertrud setzte sich zu Anni und sah ihrem Tänzer<br />

nach. Anni bemerkte es. »Seine Mutter stammt aus<br />

Südfrankreich, daher <strong>der</strong> französische Name und auch<br />

sein südländisches Aussehen«, erklärte sie Gertrud und<br />

zündete sich eine Zigarette an.<br />

158


»Möchtest du auch eine?« Mit einem anzüglichen<br />

Lächeln hielt ihr ein junger Mann in einem fantasievoll<br />

bestickten Umhang, <strong>der</strong> wie ein japanischer Kimono<br />

aussah, sein Etui hin.<br />

»Danke. Ich rauche zwar nicht, aber warum soll ich<br />

es nicht einmal probieren?« Sie griff nach einer<br />

Zigarette.<br />

»Probier eine an<strong>der</strong>e«, Anni hielt Gertruds Hand<br />

zurück, »für den Anfang sind diese ein bisschen stark.«<br />

Eine dickliche Brünette in einem schulterfreien Kleid<br />

mit langen Fransen am Rock lachte.<br />

»Es <strong>ist</strong> etwas drin ... Wenn du das nicht gewöhnt b<strong>ist</strong>,<br />

kann es dich umwerfen. Aber ich fühle mich gut, wenn<br />

ich ein paar Züge intus habe.«<br />

Sie streckte sich und verdrehte genießerisch die<br />

Augen. Gertrud zog unsicher ihre Hand zurück.<br />

Plötzlich war Marcel wie<strong>der</strong> da und lächelte ihr zu.<br />

»Komm, ich zeige dir meine Bil<strong>der</strong>.« Er führte sie zu<br />

<strong>der</strong> Staffelei, die hinten im Raum stand, und nahm das<br />

Tuch weg. Das Bild zeigte eine Straßenszene. Zwei<br />

grellbunt angezogene Mädchen mit gewöhnlichen,<br />

maskenhaft geschminkten Gesichtern boten sich in<br />

eindeutiger Weise einem eleganten korpulenten Herrn<br />

an, offensichtlich ein Kriegsgewinnler o<strong>der</strong> Schieber.<br />

<strong>Im</strong> Hintergrund war ein Krüppel zu sehen, ein Mann in<br />

abgerissener Soldatenuniform, <strong>der</strong> auf Krücken ging,<br />

weil ihm ein Bein fehlte. Gertrud war betroffen. Sie<br />

konnte nichts sagen. Die Brutalität, mit <strong>der</strong> Marcel ohne<br />

jede Beschönigung die Wirklichkeit dargestellt hatte,<br />

ließ sie erschauern. Sie verstand auf einmal, warum die<br />

Dada<strong>ist</strong>en die Welt verän<strong>der</strong>n wollten. Die Armseligkeit<br />

159


<strong>der</strong> Huren und die selbstgerechte Arroganz des<br />

Schiebertyps auf dem Bild rissen ein Fenster auf, das<br />

bisher für sie verschlossen gewesen war und durch das<br />

sie das Leben noch nicht betrachtet hatte. Sie fühlte sich<br />

elend, wenn sie an ihr behütetes Dasein dachte. Marcel<br />

bemerkte ihre Bestürzung. In sanftem Ton erklärte er:<br />

«Ich will damit auf das Elend aufmerksam machen, das<br />

<strong>der</strong> Krieg angerichtet hat. Früher habe ich an<strong>der</strong>s<br />

gemalt. Aber das rein Ästhetische hat für mich seinen<br />

Sinn verloren. Wir haben als Künstler auch eine<br />

politische Aufgabe. Wir können uns nicht in einen<br />

Elfenbeinturm zurückziehen und alles, was um uns<br />

herum geschieht, nicht zur Kenntnis nehmen. Willst du<br />

meine an<strong>der</strong>en Bil<strong>der</strong> ansehen?«<br />

Gertrud nickte. Sie war beeindruckt, wie ernst und<br />

verantwortungsbewusst Marcel seine Kunst auffasste,<br />

und folgte ihm ins Nebenzimmer. Er zeigte ihr einige<br />

seiner Blätter. Sie waren völlig an<strong>der</strong>s. Gertrud hatte so<br />

etwas noch nie gesehen. Sie hatte nur einmal von<br />

Kubismus gehört im Zusammenhang mit einer<br />

Ausstellung sogenannter »mo<strong>der</strong>ner Maler«, <strong>der</strong>en<br />

Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vater aber skeptisch beurteilte. Er war <strong>der</strong><br />

Ansicht, dass die jungen Künstler sich an den großen<br />

Vorbil<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Vergangenheit orientieren sollten. Ist<br />

das Kubismus, fragte sie sich, als sie Marcels Bil<strong>der</strong><br />

betrachtete.<br />

»Eine an<strong>der</strong>e Art des Sehens«, erklärte er ihr, »sie<br />

dürfte dir fremd sein. Hast du die Namen Pablo Picasso<br />

o<strong>der</strong> George Braque schon einmal gehört? Diese Art zu<br />

malen reduziert das Sichtbare auf geometrische Formen.<br />

Eine künstlerisch sehr interessante Abstraktion. Aber<br />

kann ich damit die Menschen aufrütteln?<br />

160


Gesellschaftlich etwas verän<strong>der</strong>n? Ich zweifle daran.<br />

Darum werde ich zumindest in <strong>der</strong> nächsten <strong>Zeit</strong> an<strong>der</strong>e<br />

Bil<strong>der</strong> malen.«<br />

»Sie sind hübsch«, sagte Gertrud aus ihren Gedanken<br />

heraus. »Wenn man sich eingesehen hat, an die an<strong>der</strong>e<br />

Sehweise gewöhnt hat, gefallen sie. Die Farben, die<br />

Formen, eine harmonische Komposition. Es <strong>ist</strong> Musik<br />

darin.«<br />

Plötzlich drehte Marcel Gertrud mit einem festen<br />

Griff zu sich herum und drückte sie leidenschaftlich an<br />

sich. »Das hast du schön gesagt, das von <strong>der</strong> Musik. Du<br />

selbst b<strong>ist</strong> Musik, du, wie du dich bewegst, wie du gehst,<br />

wie du tanzt, wie du sprichst, alles an dir <strong>ist</strong> Musik, dein<br />

schönes Gesicht, dein Haar, dein Körper. « Ehe sie<br />

etwas sagen konnte, verschloss er ihren Mund mit einem<br />

glühenden Kuss. Sie hatte ein Gefühl, als würden ihre<br />

Lippen versengt. Seine Hand glitt über ihre Schulter,<br />

den nackten Arm entlang, über den Rücken bis hinunter<br />

zur Taille. Sie war überrascht, verwirrt, gleichzeitig aber<br />

erwachte eine Sehnsucht in ihr, nachzugeben, sich<br />

diesen heftigen Gefühlen zu überlassen, sich dem<br />

Augenblick hinzugeben, ohne an etwas an<strong>der</strong>es zu<br />

denken. Aber als Marcel nach ihrem Busen griff und<br />

versuchte, ihr Kleid zu öffnen, gewann sie ihre<br />

Beherrschung wie<strong>der</strong>. So weit wollte sie das Spiel nicht<br />

treiben. Mit einer entschiedenen Bewegung befreite sie<br />

sich aus seiner Umarmung. Halb verlegen, halb kokett<br />

sagte sie: »Sie sind aber stürmisch.« Dabei sah sie ihn<br />

mit einem unbewusst verführerischen Lächeln an.<br />

»Verzeih mir, aber du gefällst mir so sehr.« Er küsste<br />

ihre Hand und sah ihr in die Augen.<br />

161


»Lassen Sie uns tanzen, es wird gerade eine neue<br />

Platte aufgelegt.« Mit diesen leicht hingeworfenen<br />

Worten ging Gertrud aus dem Zimmer.<br />

Als sie nach Hause kam, war es schon lange nach<br />

Mitternacht. Sie hoffte inständig, dass niemand<br />

aufwachte. Dem Vater hatte sie gesagt, sie sei von Anni<br />

zum Geburtstag eingeladen worden. Wie sollte sie<br />

erklären, dass eine Geburtstagsfeier mit einer<br />

ehemaligen Schulfreundin bis in die frühen<br />

Morgenstunden hinein gedauert hatte? Leise schloss sie<br />

die Tür auf und zog die Schuhe aus. Es war ruhig im<br />

Haus, alles schien zu schlafen. Schnell wischte sie sich<br />

die Schminke vom Gesicht, falls sie doch jemandem<br />

begegnen sollte. Sie huschte in ihr Zimmer und zog<br />

geräuschlos die Tür hinter sich zu. Gott sei Dank,<br />

niemand hat mich bemerkt! Aufatmend begann sie sich<br />

auszuziehen.<br />

Sie konnte lange nicht einschlafen. Ihr war ganz<br />

benommen und schwindlig zumute. Sie fühlte sich wie<br />

berauscht, obwohl sie nur drei Gläser Wein getrunken<br />

hatte. <strong>Im</strong>mer wie<strong>der</strong> erlebte sie in ihrer Fantasie den<br />

Abend, sah die unbeschwerte, bunte Gesellschaft vor<br />

sich, hörte die Jazzmusik und das Dada-Gerede, sah<br />

Marcels Bil<strong>der</strong>, spürte seine Arme und Hände auf ihrer<br />

Haut und seinen Kuss auf ihren Lippen. Eine Welle <strong>der</strong><br />

Erregung überflutete ihren Körper. Ich habe es selbst so<br />

weit kommen lassen, weil ich mit ihm allein ins<br />

Nebenzimmer gegangen bin, dachte sie. Aber wollte ich<br />

es vielleicht sogar? War ich neugierig darauf, was<br />

geschehen könnte? Am liebsten würde ich die ganze<br />

sogenannte »gute Erziehung« über Bord werfen und nur<br />

162


meinem Gefühl folgen. Mit diesem Gedanken und<br />

einem glücklichen Lächeln auf den Lippen schlief sie<br />

schließlich ein.<br />

Als sie am nächsten Morgen später als sonst am<br />

Frühstückstisch erschien, war ihr Vater schon<br />

gegangen. Emmy empfing sie mit ernstem Gesicht.<br />

»Sie sind sehr spät nach Hause gekommen«, sagte<br />

sie. »Der Herr Geheimrat hat Sie gehört, er konnte nicht<br />

schlafen.« In ihrem Ton lag eine Spur von<br />

Zurechtweisung. Was nimmt sie sich heraus, dachte<br />

Gertrud unwillig, aber sie schwieg. Fast bittend setzte<br />

Emmy jetzt hinzu: »Sie sollten Ihren Vater nicht<br />

verärgern, Fräulein Gertrud, er hat sich Sorgen um Sie<br />

gemacht.«<br />

Am liebsten hätte sie geantwortet: »Ich bin alt<br />

genug« o<strong>der</strong> »ich weiß, was ich tue« o<strong>der</strong> »ich bin<br />

volljährig, ich muss mir von Vater nichts sagen lassen«,<br />

doch sie schluckte die Worte hinunter. Emmy meinte es<br />

ja gut. Trotzdem! Wie sie diese Bevormundung hasste!<br />

Lustlos begann sie, Honig auf ihr Brötchen zu streichen.<br />

10. November<br />

1919,<br />

vormittag<br />

s<br />

G<br />

estern war wie<strong>der</strong> ein Atelierfest bei<br />

Marcel.<br />

Wie bin ich Anni dankbar, dass<br />

sie mich in ihre Clique aufgenommen hat. So viel Spaß<br />

wie in den letzten Wochen und Monaten habe ich noch<br />

163


nie gehabt! Raoul hat wie<strong>der</strong> eines seiner Dada-<br />

Gedichte vorgetragen, die Gäste im »Fanny« waren<br />

verblüfft und schockiert. Die Gesichter, die sie gemacht<br />

haben! Zum Schreien! Dabei <strong>ist</strong> »Fanny« eine<br />

Weinstube, in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>ne und aufgeschlossene<br />

Menschen verkehren! Aber dieses scheinbar sinnlose<br />

Spielen mit Lauten und Silben <strong>ist</strong> nichts für jeden.<br />

Und dann neulich im »Künstlerkeller«. War ich<br />

anschließend beschwipst! Der Wein schmeckte aber<br />

auch zu gut. Ein Glück, dass Marcel mich nach Hause<br />

gebracht hat. Er war wie<strong>der</strong> sehr zärtlich. Ich habe es<br />

gern, wenn er mich streichelt. Seine Hände auf meiner<br />

Haut ... ein wun<strong>der</strong>bares Gefühl! Liebe ich ihn? Liebt er<br />

mich? Ich weiß es nicht.<br />

Mein Leben hat sich völlig verän<strong>der</strong>t. So viel gelacht<br />

wie in den letzten Wochen habe ich in all den Jahren<br />

vorher nicht. Die schreckliche Kriegszeit ... die Trauer<br />

um Mutter und Wilhelm ...<br />

Ich mag gar nicht daran denken. Das Leben war so<br />

voller Schwere, die mich fast zu Boden drückte. Auf<br />

einmal <strong>ist</strong> es heiter und beschwingt, manchmal fühle ich<br />

mich wie berauscht!<br />

<strong>Im</strong> Atelier finde ich es immer am schönsten. Alle<br />

sind<br />

so frei und ungezwungen, so offen, keiner verstellt sich.<br />

Die schöne Rita zum Beispiel trug gestern ein schwarzes<br />

Kleid mit einem Rückenausschnitt, <strong>der</strong> bis zur Taille<br />

reichte! Sie war ganz weiß gepu<strong>der</strong>t, hatte sich den<br />

Mund knallrot geschminkt und die Augen schwarz<br />

umrandet. An ihrem Busen steckte eine rote Rose.<br />

Richtig verführerisch sah sie aus! Raoul ließ sie den<br />

164


ganzen Abend nicht aus den Augen. Schließlich<br />

verschwanden die beiden im Nebenzimmer.<br />

Ich finde, in einem Lokal wird man von an<strong>der</strong>en<br />

Leuten gesehen, und daher muss man Rücksichten<br />

nehmen. Aber einige aus <strong>der</strong> Clique, zum Beispiel Raoul<br />

und Kurt, setzen sich darüber hinweg. Es scheint ihnen<br />

Spaß zu machen, bei den übrigen Gästen Anstoß zu<br />

erregen.<br />

Woher sie nur immer Geld haben für ihre Feste? Die<br />

me<strong>ist</strong>en verdienen nichts. Manchmal verkauft einer ein<br />

Bild o<strong>der</strong> veröffentlicht etwas in einer <strong>Zeit</strong>ung, aber das<br />

bringt nicht viel. Marcel wird wohl von seinem Onkel an<br />

<strong>der</strong> Mosel unterstützt, und einige an<strong>der</strong>e haben<br />

vielleicht auch ihre Gönner. Sie müssen es wissen, ich<br />

frage nicht.<br />

Dieses Mal habe ich Vater gesagt, wohin ich gehe.<br />

Was soll's! Ich bin erwachsen, und er glaubt mir meine<br />

Ausreden sowieso nicht <strong>mehr</strong>. Er hat zwar geschimpft,<br />

aber er hat mir nicht verboten auszugehen. Habe ich<br />

nicht ein Recht darauf, fröhlich zu sein und Spaß zu<br />

haben, nach allem, was hinter mir liegt? Ich bin doch<br />

noch jung! Wenn er doch endlich etwas sagen würde,<br />

dachte Gertrud beklommen. Lange halte ich dieses<br />

Schweigen nicht <strong>mehr</strong> aus. Mit klopfendem Herzen saß<br />

sie ihrem Vater an seinem großen Schreibtisch<br />

gegenüber. Ihr Gesicht war blass. Sie hatte das Gefühl,<br />

nicht atmen zu können, als würde sich eine Klammer um<br />

ihre Brust legen, die ihr die Luft abdrückte. Wie stickig<br />

es hier <strong>ist</strong>, ich sollte ein Fenster aufmachen. Sie warf<br />

ihrem Vater einen scheuen Blick zu, wandte die Augen<br />

aber schnell wie<strong>der</strong> ab von seiner undurchdringlichen<br />

Miene. Er sitzt da wie ein Richter. Was habe ich denn<br />

165


getan? Nur, weil ich das Leben ein bisschen genießen<br />

wollte, weil ich mit an<strong>der</strong>en zusammen fröhlich war, soll<br />

ich jetzt eine Strafpredigt bekommen? Was <strong>ist</strong> denn so<br />

schlimm daran? Ihr Blick fiel auf die Adventskerze, die<br />

Emmy fürsorglich auf den Schreibtisch gestellt hatte.<br />

Die Flamme flackerte ein wenig, es folgte ein leises<br />

Kn<strong>ist</strong>ern – das einzige Geräusch in dieser bedrückenden<br />

Stille – , dann stoben zwei o<strong>der</strong> drei kleine Funken zur<br />

Seite, eine zarte blaue Rauchfahne stieg auf, und die<br />

Kerze brannte wie<strong>der</strong> ruhig.<br />

Oertel strich einige Male über seinen Bart und<br />

begann schließlich mit leiser Stimme zu sprechen, in <strong>der</strong><br />

jedoch ein gefährlich drohen<strong>der</strong> Unterton mitschwang.<br />

Gertrud spürte es genau.<br />

»Was Werner mir da heute Morgen erzählt hat, meine<br />

liebe Gertrud, hat mich wahrlich schockiert. Du treibst<br />

dich mit völlig indiskutablen Leuten in zweifelhaften<br />

Lokalen herum. Ein Mädchen aus guter Familie! Was<br />

denkst du dir eigentlich dabei? Weißt du gar nicht, was<br />

sich schickt? Was du unserem guten Ruf schuldig b<strong>ist</strong>?«<br />

Gertrud blickte auf und sah in zwei eisige blaue<br />

Augen. Flüchtig ging ihr durch den Sinn, dass dieselben<br />

Augen sie auch liebevoll ansehen konnten. <strong>Im</strong><br />

Augenblick aber konnte sie das kaum glauben.<br />

»Vater«, begann sie unsicher, »das sind keine<br />

indiskutablen Leute, wie du sie nennst. Es sind<br />

Freunde von Anni, fröhliche, junge Menschen,<br />

Künstler ...«<br />

»Künstler«, unterbrach er sie mit einer ungeduldigen<br />

Handbewegung. Seine Stimme wurde lauter. »Künstler<br />

nennst du das? Wenn ein junger Mann in aller<br />

Öffentlichkeit eine Rede hält zum Thema ›Jesus <strong>ist</strong> uns<br />

166


wurscht‹, nach dem Vorbild dieses obskuren Johannes<br />

Baa<strong>der</strong>? Und das auch noch in <strong>der</strong> Adventszeit? Wenn<br />

deine Freundin Anni die Gesellschaft solcher<br />

Individuen bevorzugt, dann <strong>ist</strong> das ihre Sache. Für<br />

meine Tochter <strong>ist</strong> das kein Umgang, und Anni <strong>ist</strong> sicher<br />

nicht die richtige Freundin für dich.«<br />

»Das war doch nur ein Ausrutscher«, versuchte<br />

Gertrud ihren Vater zu beschwichtigen, »Raoul hatte zu<br />

viel getrunken...«<br />

»Zu viel getrunken!« Empört ließ Oertel seine Hand<br />

auf die Schreibtischplatte fallen. »Ich wünsche nicht,<br />

dass du mit Leuten verkehrst, die zu viel trinken!«,<br />

herrschte er seine Tochter an.<br />

In Gertrud regte sich Wi<strong>der</strong>stand. Er springt mit mir<br />

um, als sei ich immer noch ein Kind, dabei bin ich schon<br />

seit drei Jahren volljährig. Ich habe es nicht nötig, mich<br />

so behandeln zu lassen. Viele Frauen in meinem Alter<br />

sind berufstätig o<strong>der</strong> verheiratet, bestimmen ihr Leben<br />

selbst, und er hält mich immer noch zu Hause fest und<br />

verfügt über mich. Trotz klang mit in ihren Worten, als<br />

sie dem Vater entgegenhielt: »Und übrigens, diese so<br />

genannten ›zweifelhaften Lokale‹, die kennst du ja gar<br />

nicht, darum kannst du sie auch nicht beurteilen. Es <strong>ist</strong><br />

sehr nett da.« Mit herausfor<strong>der</strong>ndem Lächeln und einem<br />

leicht ironischen Unterton in <strong>der</strong> Stimme setzte sie<br />

hinzu: »Außerdem gibt es dort einen hervorragenden<br />

Wein.«<br />

Sie lehnte sich zurück und schlug die Beine<br />

übereinan<strong>der</strong>, eine aufreizende Bewegung, die ihr aber<br />

nur halb bewusst war.<br />

»Ich bitte mir <strong>mehr</strong> Respekt aus!« Oertel schlug mit<br />

<strong>der</strong> Faust auf den Tisch und sah seine Tochter wütend<br />

167


an. Für einen Moment glaubte er, in ihren Augen ein<br />

triumphierendes Aufblitzen zu erkennen.<br />

Wie<strong>der</strong> schwiegen beide. Oertel starrte vor sich hin<br />

auf die mit Schriftstücken bedeckte Schreibtischplatte,<br />

ohne etwas davon wahrzunehmen. Gertrud hatte die<br />

Augen gesenkt. Sie verkrampfte die Hände in ihrem<br />

Schoß und presste die Finger aneinan<strong>der</strong>, sodass die<br />

Knöchel weiß wurden. Keiner von beiden sah zu dem<br />

an<strong>der</strong>en hin. Schließlich hielt Gertrud die gespannte<br />

Atmosphäre nicht <strong>mehr</strong> aus. In einem versöhnlicheren<br />

Ton wandte sie sich an den Vater: »Unsere Freunde sind<br />

aufgeschlossene junge Leute, an allen aktuellen<br />

Problemen interessiert, sie sind ge<strong>ist</strong>reich, witzig,<br />

amüsant, man kann mit ihnen unbeschwert fröhlich sein.<br />

Es sind eben mo<strong>der</strong>n denkende Menschen.«<br />

»Das kennt man ja«, sagte Oertel bissig. »Mo<strong>der</strong>ne<br />

Ansichten! Kommun<strong>ist</strong>isches Gedankengut, lockere<br />

Moralvorstellungen – das alles bezeichnet man heute als<br />

mo<strong>der</strong>n. Künstler sind da beson<strong>der</strong>s anfällig. Such dir<br />

deine Freunde in unseren Kreisen, ehe du völlig auf die<br />

schiefe Bahn gerätst. Du wirst dir dein ganzes späteres<br />

Leben ruinieren, wenn du so weitermachst wie bisher.«<br />

Was ich mit meinem Leben anfange, <strong>ist</strong> einzig und<br />

allein meine Angelegenheit, wollte sie aufbegehren.<br />

Doch sie beherrschte sich und hielt den Mund, um den<br />

Vater nicht noch <strong>mehr</strong> zu reizen. Bil<strong>der</strong> stiegen vor<br />

ihrem inneren Auge auf. Diese Söhne und Töchter aus<br />

›unseren Kreisen‹, wie langweilig sind sie doch! Und<br />

die Diners, zu denen ich manchmal eingeladen werde ...<br />

Die ganze <strong>Zeit</strong> muss ich steif auf einem Stuhl sitzen und<br />

mir anhören, wie die Damen über Dienstbotenprobleme,<br />

Kochrezepte und Kin<strong>der</strong>erziehung schwatzen. Und die<br />

168


Herren fachsimpeln über Politik. Wir jungen Leute<br />

dürfen nur brav zuhören und gelegentlich ein paar<br />

belanglose Nettigkeiten von uns geben. Wie an<strong>der</strong>s <strong>ist</strong><br />

doch die lebensprühende Clique um Anni! <strong>Im</strong><br />

Gegensatz dazu kommt mir diese Gesellschaft vor wie<br />

hölzerne Marionettenpuppen.<br />

Oertel sah seine Tochter eine <strong>Zeit</strong> lang ernst an, dann<br />

sagt er ruhig: »Es wird höchste <strong>Zeit</strong>, dass du heiratest<br />

und ein standesgemäßes Leben führst.«<br />

Erschrocken hob Gertrud den Kopf. »Wen soll ich<br />

denn heiraten?«, fragte sie fassungslos.<br />

Plötzlich bekamen die eisigen blauen Augen einen<br />

liebevollen Ausdruck. »Wenn du erst einmal eine<br />

Familie hast, einen Mann und Kin<strong>der</strong>, dann wirst du<br />

glücklich sein. Dann denkst du nicht <strong>mehr</strong> daran, dir<br />

Zerstreuung und Vergnügungen in Künstlerkreisen zu<br />

suchen, die es mit <strong>der</strong> Moral nicht so genau nehmen.«<br />

»Aber ich kann doch nicht irgendjemanden heiraten,<br />

bloß um versorgt zu sein und ein bürgerliches Leben zu<br />

führen!« Ungläubig starrte sie ihren Vater an. Der Klang<br />

ihrer Stimme war voller Protest, aber im Ausdruck ihrer<br />

Augen lag die unausgesprochene Frage: Ist das dein<br />

Ernst? Verlangst du das wirklich von mir?<br />

Oertel stand auf und ging um den Schreibtisch<br />

herum zu seiner Tochter. Er strich ihr zärtlich über<br />

das Haar. Gertrud war ganz verwirrt über diesen<br />

plötzlichen Sinneswandel. Eben hatte <strong>der</strong> Vater ihr<br />

noch die heftigsten Vorwürfe gemacht, und auf<br />

einmal war er so freundlich zu ihr, als sei gar nichts<br />

gewesen. Erstaunt sah sie zu ihm auf. Manchmal <strong>ist</strong><br />

er wirklich schwer zu verstehen, dachte sie.<br />

169


»Wir werden einen Mann finden, mit dem du eine<br />

glückliche Ehe führen kannst.« Damit war die<br />

Unterredung für ihn beendet.<br />

Die letzten Worte ihres Vaters klangen in ihren<br />

Ohren nach, als sie das Studierzimmer verließ. Wen soll<br />

ich denn heiraten? Es gibt niemanden, den ich so liebe,<br />

dass ich mit ihm ein Leben lang zusammen sein möchte<br />

– vielleicht Marcel, aber <strong>der</strong> <strong>ist</strong> nichts zum Heiraten. Er<br />

führt ein unruhiges Dasein und verdient nicht viel. Eine<br />

Familie muss doch auch eine Ex<strong>ist</strong>enzgrundlage haben.<br />

Ihre Augen bekamen einen nachdenklichen Ausdruck.<br />

Ist die Ehe wirklich das höchste Glück für eine Frau, wie<br />

immer gesagt wird? Wäre ich da nicht genauso abhängig<br />

von meinem Mann, wie jetzt von Vater? Warum <strong>ist</strong> das<br />

Leben nur so kompliziert. »Willkommen in meinem<br />

bescheidenen Heim!«<br />

Josua Goltstein streckte mit <strong>der</strong> ihm eigenen offenen<br />

Herzlichkeit seinen Gästen beide Hände entgegen, um<br />

sie zu begrüßen, nachdem das Hausmädchen ihnen die<br />

Mäntel abgenommen hatte.<br />

»Ich danke Ihnen, dass Sie mir einen Blick in Ihr<br />

Allerheiligstes gestatten«, sagte Oertel schmunzelnd.<br />

»Nicht <strong>der</strong> Rede wert«, meinte Goltstein mit einem<br />

abwehrenden Lächeln. »Sie werden sehen, dass mein<br />

kleines Labor im Keller in keiner Weise mit<br />

entsprechenden Einrichtungen an <strong>der</strong> Hochschule<br />

konkurrieren kann.«<br />

»Nein, nein, seien Sie nicht zu bescheiden.« Oertel<br />

sah seinen Gastgeber mit einem Blick an, in dem<br />

aufrichtige Bewun<strong>der</strong>ung lag. »Dass ein Kaufmann wie<br />

Sie sich mit chemischen Experimenten beschäftigt, das<br />

170


<strong>ist</strong> schon etwas Beson<strong>der</strong>es. Und dann noch<br />

wissenschaftlich so fundiert! Ich habe mit großem<br />

Interesse Ihre Veröffentlichungen gelesen, und Ihr<br />

Vortrag neulich hat mich sehr beeindruckt.<br />

Kompliment!«<br />

»Mein kleines Hobby. Sonst wäre die Tätigkeit eines<br />

Kaufmanns doch zu eintönig.« Goltstein schien über das<br />

Lob aus dem Munde von Oertel, <strong>der</strong> zurzeit Rektor <strong>der</strong><br />

Hochschule war und als Wissenschaftler einen<br />

ausgezeichneten Ruf besaß, fast ein wenig verlegen.<br />

Dann machte er eine einladende Handbewegung hin zur<br />

offenen Tür des Salons.<br />

Oertel und Gertrud waren zum Tee bei Goltsteins<br />

eingeladen, doch Gertrud war dieser Einladung mit<br />

gemischten Gefühlen gefolgt. Sie vermutete, dass ihr<br />

Vater zwischen ihr und Philipp, dem ältesten Sohn <strong>der</strong><br />

Goltsteins, eine Beziehung anbahnen wollte. Ich kenne<br />

ihn ja, dachte sie. Wir waren zufällig ein paar Mal<br />

zusammen bei gemeinsamen Bekannten eingeladen, da<br />

habe ich ihn getroffen. Er sieht ganz gut aus, groß<br />

gewachsen und blond, und er <strong>ist</strong> nicht unsympathisch,<br />

aber so langweilig, so korrekt und von ›untadeligem<br />

Benehmen‹. Das schätzt Vater sicher an ihm. Doch<br />

wenn ich ihn mit meinen Freunden aus <strong>der</strong><br />

Künstlerclique vergleiche ... Er <strong>ist</strong> völlig ohne Fantasie<br />

und besitzt kein bisschen Originalität. Man bemerkt es<br />

nicht, ob er in einem Raum anwesend <strong>ist</strong> o<strong>der</strong> ob er ihn<br />

gerade verlassen hat. Es geht nichts von ihm aus, was<br />

Aufmerksamkeit erregt. Still und unauffällig hält er sich<br />

me<strong>ist</strong>ens im Hintergrund.<br />

»Ich freue mich, Sie bei uns zu sehen.« Warmherzig<br />

und mit dem Charme <strong>der</strong> weltgewandten Dame begrüßte<br />

171


nun auch Rebecca Goltstein Vater und Tochter. Wie sie<br />

sich kleidet, so elegant und doch dezent, ihr ganzes<br />

Auftreten, das hat etwas, dachte Gertrud. Ihr Blick<br />

streifte den Teetisch, den eine Kr<strong>ist</strong>allvase mit<br />

Orchideen schmückte, und ging dann weiter zu den<br />

antiken Möbeln, den Ölgemälden und den<br />

Orientteppichen, die dem Salon seine beson<strong>der</strong>e Note<br />

verliehen. Sie versteht es, eine kultivierte Atmosphäre<br />

zu schaffen.<br />

Rebecca Goltstein war die Tochter eines<br />

Düsseldorfer Bankiers, und etwas von <strong>der</strong><br />

Weltläufigkeit, <strong>der</strong> Heiterkeit und Eleganz dieser<br />

liebenswürdigen Stadt am Rhein ging auch von ihrer<br />

Persönlichkeit aus. Sie war vollschlank und nicht sehr<br />

groß, aber sie verstand es, sich so geschickt anzuziehen,<br />

dass niemand die kleinen Mängel ihrer Figur bemerkte.<br />

In ihrem grauen Seidenkleid mit dem nur leicht<br />

angedeuteten modischen Tütenrock und einer langen<br />

Perlenkette als einzigem Schmuck war sie eine aparte<br />

Erscheinung. Und wer mit ihr zu tun hatte, in welcher<br />

Angelegenheit auch immer, <strong>der</strong> fühlte sich wohl in ihrer<br />

Gegenwart. Ihre freundliche, offene Art flößte<br />

Vertrauen ein. Sie hatte für jeden einen guten Rat, für<br />

vieles Verständnis, sie ging Meinungsverschiedenheiten<br />

nicht aus dem Weg, aber sie verstand es, sie<br />

diplomatisch beizulegen, ohne dass <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sich<br />

unterlegen fühlen musste.<br />

Philipp kam herein. Er begrüßte Gertrud und ihren<br />

Vater etwas verlegen, dann setzten sich alle an den<br />

Tisch, und Frau Goltstein entließ das Mädchen, das den<br />

Tee gebracht hatte. Sie wollte ihre Gäste selbst<br />

bedienen. Während sie die hauchdünnen<br />

172


Porzellantassen mit dem aromatisch duftenden<br />

englischen Tee füllte, begann Goltstein zu erzählen:<br />

»Als wir neulich in Berlin waren – ich hatte dort<br />

geschäftlich zu tun – , haben wir einen außerordentlich<br />

bemerkenswerten Film gesehen, nicht wahr, Rebecca?«<br />

»Ja, 'Das Cabinet des Dr. Caligari'.« Frau Goltstein<br />

blickte auf und sprach lebhaft weiter: »Er hat großes<br />

Aufsehen erregt. Diese skurrilen, geradezu<br />

albtraumhaften Bil<strong>der</strong>! Nie zuvor habe ich etwas<br />

Derartiges gesehen. Es <strong>ist</strong> eine Fantasiewelt, aber sie<br />

kann einem Angst machen. Werner Krauss als Dr.<br />

Caligari war großartig, aber das Ganze <strong>ist</strong> eine<br />

unheimliche Geschichte. In New York soll man gesagt<br />

haben, die Deutschen sind wegen des verlorenen<br />

Krieges verrückt geworden.«<br />

»Ein Horrorfilm, ich habe davon gehört«, sagte<br />

Oertel und nahm einen Schluck aus seiner Teetasse.<br />

»Ich weiß nicht, ob die Aufhebung <strong>der</strong> Zensur eine<br />

glückliche Entscheidung war. Früher wurde sicher zu<br />

streng zensiert, aber was heute alles erlaubt <strong>ist</strong> – man<br />

denke nur an das Theater, das ›klassenkämpferisch<br />

orientiertes Tribunal‹ sein will, wie Piscator zu<br />

verstehen gab, mit dem Ziel, die Gesellschaft zu<br />

erneuern. O<strong>der</strong> an sogenannte ›Dramatiker‹ wie Ernst<br />

Toller, <strong>der</strong> seine Stücke den Proletariern widmet, ein<br />

Kommun<strong>ist</strong>! Und dann diese ›Dada<strong>ist</strong>en‹!« Er blickte<br />

kurz mit einem strengen Ausdruck in den Augen zu<br />

Gertrud hinüber, die daraufhin errötend den Kopf<br />

senkte. »Dieses sinnlose Silbengestammel ... diese<br />

Ideen vom Chaos, das sie in die Gesellschaft bringen<br />

wollen, um angeblich damit die Welt zu verbessern ...«<br />

173


»Die Jugend.« Ein nachsichtiges Lächeln spielte um<br />

Frau Goltsteins Lippen. »Zu allen <strong>Zeit</strong>en hat die jüngere<br />

Generation gegen die ältere rebelliert, auf die eine o<strong>der</strong><br />

an<strong>der</strong>e Art und Weise. Und wenn sie auch über das Ziel<br />

hinausschießen, indem sie alles in Frage stellen ... Sie<br />

sind so voller Lebendigkeit, ein gutes Gegengewicht zu<br />

erstarrten Traditionen. Das ge<strong>ist</strong>ige Leben bleibt in<br />

Bewegung, wenn man sich immer wie<strong>der</strong> mit ihnen<br />

auseinan<strong>der</strong>setzt.«<br />

Oertel sah sie zweifelnd an und zuckte mit den<br />

Schultern. »Ich weiß nicht, ob das die richtige Art und<br />

Weise <strong>ist</strong>, das ge<strong>ist</strong>ige Leben in Bewegung zu halten.«<br />

»Warten wir es doch erst einmal ab.« Goltstein hob<br />

leicht die Hände und ließ sie wie<strong>der</strong> sinken. Seine<br />

klugen, verständnisvollen Augen blickten Oertel offen<br />

an. »Noch gärt es überall. Der Krieg, die Revolution, das<br />

sind Ereignisse gewesen, die unsere bisherige Welt auf<br />

den Kopf gestellt haben. Was wir jetzt erleben, <strong>ist</strong> die<br />

Reaktion darauf. Mit <strong>der</strong> <strong>Zeit</strong> wird sich alles klären und<br />

glätten. Viele extreme Tendenzen, die uns heute<br />

beunruhigen, werden wie<strong>der</strong> verschwinden. Und<br />

außerdem: Warum soll nicht aus manchem, was uns<br />

heute fremdartig und manchmal sogar beängstigend<br />

erscheint, ein positiver Anstoß für eine künftige<br />

Entwicklung kommen?«<br />

»Wenn ich an die mo<strong>der</strong>nen Maler denke, die sich<br />

völlig abwenden von <strong>der</strong> traditionellen<br />

Kunstauffassung, wie zum Beispiel Picasso, Gris o<strong>der</strong><br />

Braque ...<br />

Kub<strong>ist</strong>en nennen sie sich ... Der Gegenstand, den sie<br />

darstellen wollen, <strong>ist</strong> ja gar nicht <strong>mehr</strong> zu erkennen ...<br />

174


aufgelöst in geometrische Formen ... Woher soll da ein<br />

positiver Anstoß für künftige Entwicklung kommen?«<br />

»Seien Sie nicht so streng, Herr Oertel.« Frau<br />

Goltstein lächelte ihm zu, und Goltstein meinte: »Ich für<br />

meine Person finde es interessant, auch einmal die<br />

Entwicklung solcher Experimente zu beobachten.<br />

Vielleicht führen sie ja in eine Sackgasse, aber wer kann<br />

das heute schon sagen?«<br />

Goltstein war ein liberal denken<strong>der</strong> Mann. Er fühlte<br />

sich als Deutscher, obwohl er Jude war. Seine Familie<br />

lebte schon seit etwa sechshun<strong>der</strong>t Jahren in<br />

Deutschland. Goltsteins feierten die chr<strong>ist</strong>lichen Feste<br />

wie Weihnachten und Ostern genauso wie alle<br />

Deutschen, obwohl sie dem israelitischen Bekenntnis<br />

angehörten. Beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Weihnachtsbaum, <strong>der</strong> mit<br />

zierlichen Glöckchen, Sternen und Engeln aus<br />

mundgeblasenem Glas geschmückt war und an dem<br />

außerdem bunte Zuckerringe und Schokoladenkringel<br />

hingen, rief jedes Jahr das Entzücken aller<br />

Familienmitglie<strong>der</strong> hervor, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>.<br />

Goltsteins nahmen teil an <strong>der</strong> deutschen Kultur, liebten<br />

die großen Dichter wie Goethe, Schiller, Lessing o<strong>der</strong><br />

Kle<strong>ist</strong>, verehrten Beethoven, Mozart und an<strong>der</strong>e<br />

bedeutende Kompon<strong>ist</strong>en. Josua Goltstein selbst und<br />

seine Kin<strong>der</strong> hatten eine human<strong>ist</strong>ische Bildung<br />

genossen. Hätte man ihm o<strong>der</strong> einem an<strong>der</strong>en Mitglied<br />

<strong>der</strong> Familie gesagt, sie seien keine Deutschen, seien<br />

Fremdkörper und hätten in Deutschland nichts verloren,<br />

so hätte er nur verwun<strong>der</strong>t den Kopf geschüttelt und den<br />

Sprecher für verrückt gehalten.<br />

Philipp hatte sich nicht an <strong>der</strong> Unterhaltung beteiligt<br />

und nur schweigend seinen Tee getrunken. Ein paar Mal<br />

175


lickte er zu Gertrud hinüber, aber sie beachtete ihn<br />

nicht. Daher war sie fast erschrocken, als er nun das<br />

Wort an sie richtete: »Was denken Sie denn über diese<br />

mo<strong>der</strong>nen Strömungen in <strong>der</strong> Kunst, Fräulein Oertel?«<br />

Etwas verwirrt antwortete sie: »Ach, ich finde das<br />

alles ganz interessant ... Man sollte es vielleicht nicht<br />

gleich verurteilen ... Je<strong>der</strong> kann sich ja seine eigenen<br />

Gedanken machen.«<br />

»Haben Sie nicht neulich anlässlich eines Konzerts in<br />

<strong>der</strong> Hochschule als Pian<strong>ist</strong>in einen großen Erfolg<br />

gehabt?«, wandte sich Frau Goltstein an Gertrud und bot<br />

ihr noch einen von den kleinen Kuchen an, die in einer<br />

silbernen Gebäckschale auf dem Tisch standen. Gertrud<br />

errötete leicht, freute sich aber gleichzeitig über die<br />

anerkennende Bemerkung.<br />

»Ja, ich habe einige Préludes von Chopin und die<br />

'Pathétique' von Beethoven gespielt«, erwi<strong>der</strong>te sie<br />

schlicht.<br />

»Ich bewun<strong>der</strong>e Sie.« Rebecca Goltsteins dunkle<br />

Stimme klang warm und voll. »Ich würde sicher<br />

fürchterliches Lampenfieber haben, ganz abgesehen<br />

davon, dass ich nicht so gut Klavierspielen kann wie Sie.<br />

Ich klimpere nur ein bisschen.«<br />

»Das glaube ich nicht«, sagte Gertrud liebenswürdig,<br />

»ich habe gehört, dass Sie recht gut spielen.« Nach dem<br />

Tee gingen die beiden Herren ins Labor. Die jungen<br />

Leute le<strong>ist</strong>eten Frau Goltstein noch eine Weile<br />

Gesellschaft, dann schlug Philipp vor, er könne Gertrud<br />

den Garten zeigen.<br />

Es war ein sonniger Tag Ende März. Über den<br />

blassblauen Himmel glitten einige kleine Wölkchen wie<br />

176


weiße Boote. Gertrud atmete tief den erquickenden,<br />

herb-würzigen Geruch nach feuchter Erde ein. Die<br />

frische Luft belebte sie, aber gleichzeitig fühlte sie sich<br />

in Philipps Gegenwart ein wenig beklommen. Während<br />

sie schweigend nebeneinan<strong>der</strong> hergingen, betrachtete<br />

sie die Schneeglöckchen und die Krokusse, die die<br />

Rabatten säumten, die schwellenden Knospen <strong>der</strong><br />

Forsythien und die hier und da aus dem Boden<br />

guckenden grünen Spitzen, die ahnen ließen, dass in<br />

wenigen Wochen dort Tulpen und Narzissen blühen<br />

würden. Der Garten war nicht groß, eben ein<br />

Stadtgarten, aber sehr gepflegt. Mit seinen englisch kurz<br />

gehaltenen Rasenflächen, verschiedenen einzeln<br />

stehenden Sträuchern und Bäumen, die sich ohne<br />

störende Nachbarn zu ihrer besten Form entwickeln<br />

konnten und <strong>der</strong> aus hellem Sandstein erbauten Villa<br />

machte das ganze Anwesen einen feudalen Eindruck.<br />

Nur um etwas zu sagen, stellte Gertrud fest: »Ihr Garten<br />

<strong>ist</strong> sehr hübsch.«<br />

»Ihr Garten in Harzburg <strong>ist</strong> sicher viel größer und<br />

schöner«, antwortete Philipp und räusperte sich<br />

verlegen. Gertrud musste unwillkürlich lächeln, doch<br />

sie fasste sich schnell wie<strong>der</strong> und sagte leichthin: »Ja,<br />

aber dort <strong>ist</strong> alles viel weiter zurück als hier. Vor kurzem<br />

lag noch Schnee.«<br />

Die Unterhaltung stockte. Philipp kämpfte gegen<br />

seine Gehemmtheit an. Obwohl er zehn Jahre älter war<br />

als Gertrud, wusste er nicht, wie er sich diesem<br />

eigenwilligen, aparten Mädchen gegenüber verhalten<br />

sollte. Ihre Reserviertheit, die jedoch ihren natürlichen<br />

Charme nicht verleugnen konnte, verunsicherte ihn. Er<br />

setzte ein paar Mal zum Sprechen an, schwieg dann aber<br />

177


doch. Schließlich fragte er Gertrud: »Wir könnten<br />

einmal zusammen ins Theater gehen. Hätten Sie Lust<br />

dazu?« Dabei sah er sie unsicher von <strong>der</strong> Seite an.<br />

»Vielleicht«, antwortete Gertrud knapp.<br />

Philipp bemühte sich, an ihrem Gesicht zu erkennen,<br />

wie sie darüber dachte, aber es drückte keine Regung<br />

aus, we<strong>der</strong> Zustimmung noch Ablehnung. Enttäuscht<br />

wandte er den Blick ab.<br />

Mittlerweile war <strong>der</strong> Rundgang durch den Garten<br />

beendet. Philipp schlug vor, wie<strong>der</strong> ins Haus zu gehen.<br />

»Die Sonne hat zwar schon Kraft, aber <strong>der</strong> Wind <strong>ist</strong><br />

noch kalt. Nicht, dass Sie sich erkälten, Fräulein<br />

Oertel.« Mit einem verlegenen, ein wenig schiefen<br />

Lächeln wollte er ihren Arm nehmen, aber Gertrud<br />

wehrte ihn mit einer spontanen Bewegung ab: »So<br />

schnell erkälte ich mich nicht, aber gehen wir ins Haus<br />

zurück. Die beiden Herren haben das Labor sicher<br />

inzwischen ausreichend besichtigt.«<br />

Goltstein und Oertel saßen schon in angeregtem<br />

Gespräch im Raucherzimmer, je<strong>der</strong> mit einer Zigarre.<br />

Frau Goltstein empfing die jungen Leute mit einem<br />

Sherry.<br />

Kurze <strong>Zeit</strong> später verabschiedete man sich mit dem<br />

Versprechen, sich bald einmal im Oertelschen Hause<br />

wie<strong>der</strong>zutreffen.<br />

»Was hältst du denn von Philipp Goltstein?«, fragte<br />

Oertel seine Tochter auf dem Heimweg. Er bemühte<br />

sich um einen unverfänglichen Ton, aber Gertrud spürte,<br />

dass <strong>mehr</strong> hinter <strong>der</strong> Frage steckte, als <strong>der</strong> Vater ihr<br />

gegenüber zugeben wollte. »Er <strong>ist</strong> ganz nett, aber nichts<br />

Beson<strong>der</strong>es«, sagte sie obenhin.<br />

178


Wenn Gertrud sich später an diese <strong>Zeit</strong> ihres Lebens<br />

erinnerte, hatte sie immer die Vorstellung, als treibe sie<br />

in einem Boot über ein unendliches Meer, steuerlos,<br />

führerlos, von den Wellen davongetragen, ohne Kurs,<br />

ohne Ziel, unter einem dunklen Himmel, von dem kein<br />

Stern zu ihr herableuchtete, um ihr den Weg zu weisen.<br />

Es war ihr gleichgültig, wo sie ankommen würde und ob<br />

sie überhaupt ankommen würde. Sie überließ sich den<br />

Strömungen im Ozean ihres Lebens, ohne einen<br />

Entschluss zu fassen, ohne die Richtung zu bestimmen.<br />

Sie ging weiter mit Anni und ihrer Clique aus und<br />

setzte sich über die missbilligenden Blicke und<br />

gelegentlichen zurechtweisenden Äußerungen des<br />

Vaters hinweg. Von Philipp ließ sie sich ins Theater<br />

begleiten. »Ich habe extra eine Oper ausgesucht. Ich<br />

weiß doch, wie sehr Sie die Musik lieben. ›La Bohème‹<br />

von Puccini ... Ist das das Richtige für Sie?«, hatte er<br />

eifrig gesagt. Gertrud spürte in seinen Worten, wie er<br />

sich um sie bemühte, doch das weckte in ihr<br />

zwiespältige Gefühle. »Wie nett, danke«, antwortete sie<br />

höflich, mied aber seinen Blick.<br />

Kurze <strong>Zeit</strong> später wurden Goltsteins zum Essen<br />

eingeladen, und Gertrud war als Tochter des Hauses die<br />

charmante Gastgeberin. Emmy hat sich wie<strong>der</strong><br />

beson<strong>der</strong>s viel Mühe gegeben, dachte sie. Die Pilzsuppe<br />

aus den im Harz selbstgesuchten Pilzen, das<br />

Kalbsfricandeau mit Leipziger Allerlei scheinen den<br />

Gästen gut zu schmecken. »Aber <strong>der</strong> Nachtisch <strong>ist</strong> <strong>der</strong><br />

Clou!«, meinte Goltstein bege<strong>ist</strong>ert und nahm sich ein<br />

zweites Mal von <strong>der</strong> Welfenspeise. »Ich habe noch nie<br />

so etwas Köstliches gegessen,« stimmte Frau Goltstein<br />

179


ihrem Mann zu. Gertrud unterdrückte ein Schmunzeln.<br />

Sie fühlte sich geschmeichelt, denn Goltsteins waren<br />

Leute, die Ansprüche stellten. Der Mocca wurde<br />

anschließend im Musikzimmer serviert, wo Vater und<br />

Tochter die Gäste mit ihrem Spiel unterhielten. Gertrud<br />

begann mit <strong>der</strong> A-Dur-Sonate von Mozart, dann spielten<br />

sie gemeinsam eine Cellosonate von Brahms. Goltsteins<br />

waren aufmerksame und interessierte Zuhörer, und<br />

Philipp, <strong>der</strong> selbst kein Instrument spielte, zeigte offen<br />

seine Bewun<strong>der</strong>ung für Gertruds Spiel. »Großartig, wie<br />

Sie das können! Aber sicher müssen Sie viel üben! Ist<br />

das nicht langweilig?«, fragte er. Mit einem<br />

schwärmerischen, gleichzeitig naiven Ausdruck in den<br />

Augen sah er sie an.<br />

»Es macht mir Spaß«, antwortete sie leichthin, »und<br />

außerdem habe ich diese Stücke schon oft gespielt.«<br />

»Sie haben es sehr schön hier.« Philipp ließ seinen<br />

Blick durch den Raum schweifen, über den wertvollen<br />

Perserteppich, den antiken Schrank, in dem die Noten<br />

aufbewahrt wurden, den mit Figuren verzierten<br />

Kerzenleuchter, <strong>der</strong> neben dem Flügel stand. »Es<br />

herrscht so eine gemütliche Atmosphäre, dazu das<br />

ausgezeichnete Essen, die schöne Musik, alles so<br />

stilvoll und harmonisch. Sie müssen sich sehr wohl zu<br />

Hause fühlen.«<br />

»Tja.« Es klang wie ein Auflachen, aber auch<br />

gleichzeitig wie ein Seufzen. Gertrud hob die Hände und<br />

ließ sie wie<strong>der</strong> sinken. »Es kann auch ganz schön<br />

langweilig sein. Als ›brave Tochter‹...«, sie verdrehte<br />

die Augen, »... als brave Tochter muss ich dafür sorgen,<br />

dass Vater immer ein frisches Hemd und saubere<br />

Wäsche hat, dass die Zimmerpflanzen gegossen werden<br />

180


und frische Sträuße in den Blumenvasen sind. Ich muss<br />

beim Staubwischen und Silberputzen helfen und<br />

gelegentlich einkaufen. Gewiss, das muss alles getan<br />

werden. Aber dieser Alltagstrott! Manchmal denke ich,<br />

ich halte es nicht <strong>mehr</strong> aus.«<br />

Philipp sah sie mit großen Augen an. »Aber das sind<br />

doch die Aufgaben einer Frau.«<br />

»So? Denken Sie das auch?« Die Schärfe in ihrem<br />

Ton irritierte ihn. »Frauen gehören ins Haus und an den<br />

Herd? Frauen können auch im Beruf etwas le<strong>ist</strong>en, und<br />

das <strong>ist</strong> viel interessanter.«<br />

Gertrud hatte immer lauter gesprochen, sodass Oertel<br />

und Goltsteins einen Augenblick lang verwun<strong>der</strong>t zu ihr<br />

herüber sahen.<br />

Philipp wusste nicht, was er sagen sollte. Unruhig<br />

rutschte er in seinem Sessel hin und her. Dieser<br />

plötzliche Ausbruch war ihm peinlich, er hatte Gertrud<br />

nicht kränken wollen.<br />

Aber sie schlug schon wie<strong>der</strong> versöhnlichere Töne<br />

an. »Bitte, nehmen Sie es mir nicht übel. Ich fühle mich<br />

nur manchmal ein bisschen eingesperrt. Das<br />

Klavierspiel bedeutet mir unendlich viel. In <strong>der</strong> Musik<br />

kann ich ausdrücken, was mich bewegt. All meine<br />

Gefühle, Freude, Kummer o<strong>der</strong> Schmerz finden darin<br />

ihren Wi<strong>der</strong>hall. Sie nimmt mich mit in ein Land<br />

jenseits des grauen Alltags.« Ein Strahlen lag auf ihrem<br />

Gesicht.<br />

Bald darauf verabschiedeten sich Goltsteins. »Es war<br />

ein wun<strong>der</strong>schöner Abend, herzlichen Dank. Sie müssen<br />

uns bald wie<strong>der</strong> besuchen.«<br />

181


Dies <strong>ist</strong> das Ende <strong>der</strong> Leseprobe von „<strong>Im</strong> <strong>Zwielicht</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>Zeit</strong>“.<br />

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