Im Zwielicht der Zeit - Buch ist mehr - Verlag 3.0
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auszulöschen schien. »Ich will leben, leben! Ich will<br />
leben!«, schluchzte sie auf und sank am Bett ihrer<br />
Mutter nie<strong>der</strong>. Sie weinte bis zur Erschöpfung. All die<br />
aufgestauten Gefühle des Tages – die verzweifelte<br />
Hoffnung, an die sie sich zunächst geklammert hatte,<br />
das langsame Begreifen <strong>der</strong> Endgültigkeit des<br />
Abschieds, <strong>der</strong> Lebenshunger und <strong>der</strong> unendliche<br />
brennende Schmerz – wurden mit <strong>der</strong> Tränenflut<br />
hinweggeschwemmt.<br />
Später setzte sie sich in den Sessel neben dem Bett<br />
<strong>der</strong> Toten und sank in einen unruhigen Schlaf, <strong>der</strong> von<br />
wirren Träumen begleitet war. Sie sah ihre Mutter, wie<br />
sie sie als Kind oft gesehen hatte, im Sessel sitzend, mit<br />
einer Handarbeit beschäftigt, still, freundlich zu<br />
je<strong>der</strong>mann, liebevoll zu ihren Kin<strong>der</strong>n. Aber ihre<br />
Liebkosungen waren nur flüchtig, sie strich ihren<br />
Kin<strong>der</strong>n leicht über das Haar, tätschelte zart ihre<br />
Wangen o<strong>der</strong> hauchte einen kaum spürbaren Kuss<br />
darauf, so als wolle sie sie nicht zu stark an sich binden,<br />
als ahne sie, dass sie früh von ihnen gehen würde. Sie<br />
vertiefte sich in ihre Stickerei. Unter ihren Händen<br />
entstanden kunstvolle Tischdecken, die man überall im<br />
Haus auf Tischen, Truhen und Kommoden bewun<strong>der</strong>n<br />
konnte. Und noch viele Jahre später, als längst<br />
Kunststoffe und maschinell bedruckte Tücher benutzt<br />
wurden, sollte sich ihre Enkelin Anna daran freuen,<br />
wenn sie diese Kunstwerke bei festlichen Gelegenheiten<br />
aus dem Schrank holte. Sie war immer ein wenig müde,<br />
still und geduldig, je<strong>der</strong> hatte sie gern. Die Krankheit,<br />
die ihr ständiger Begleiter war, ließ sie dem Leben mit<br />
einer gewissen Teilnahmslosigkeit begegnen. Sie liebte<br />
ihre Kin<strong>der</strong>, sie liebte ihren Mann, aber es war ihr<br />
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