Im Zwielicht der Zeit - Buch ist mehr - Verlag 3.0

aufgelöst in geometrische Formen ... Woher soll da ein
positiver Anstoß für künftige Entwicklung kommen?«
»Seien Sie nicht so streng, Herr Oertel.« Frau
Goltstein lächelte ihm zu, und Goltstein meinte: »Ich für
meine Person finde es interessant, auch einmal die
Entwicklung solcher Experimente zu beobachten.
Vielleicht führen sie ja in eine Sackgasse, aber wer kann
das heute schon sagen?«
Goltstein war ein liberal denkender Mann. Er fühlte
sich als Deutscher, obwohl er Jude war. Seine Familie
lebte schon seit etwa sechshundert Jahren in
Deutschland. Goltsteins feierten die christlichen Feste
wie Weihnachten und Ostern genauso wie alle
Deutschen, obwohl sie dem israelitischen Bekenntnis
angehörten. Besonders der Weihnachtsbaum, der mit
zierlichen Glöckchen, Sternen und Engeln aus
mundgeblasenem Glas geschmückt war und an dem
außerdem bunte Zuckerringe und Schokoladenkringel
hingen, rief jedes Jahr das Entzücken aller
Familienmitglieder hervor, besonders der Kinder.
Goltsteins nahmen teil an der deutschen Kultur, liebten
die großen Dichter wie Goethe, Schiller, Lessing oder
Kleist, verehrten Beethoven, Mozart und andere
bedeutende Komponisten. Josua Goltstein selbst und
seine Kinder hatten eine humanistische Bildung
genossen. Hätte man ihm oder einem anderen Mitglied
der Familie gesagt, sie seien keine Deutschen, seien
Fremdkörper und hätten in Deutschland nichts verloren,
so hätte er nur verwundert den Kopf geschüttelt und den
Sprecher für verrückt gehalten.
Philipp hatte sich nicht an der Unterhaltung beteiligt
und nur schweigend seinen Tee getrunken. Ein paar Mal
175