Im Zwielicht der Zeit - Buch ist mehr - Verlag 3.0

Selbstgefälligkeit. Ihr bastseidenes, erdbeerrotes Kleid
mit der weißen Stickerei war unterhalb der Taille leicht
gerafft und ließ sie sehr schlank erscheinen. Der Mode
entsprechend war es nur wadenlang, sodass die Beine,
die in durchsichtigen Strümpfen steckten, zu sehen
waren. Sie hatte den Schmuck, den sie von ihrer Mutter
geerbt hatte, angelegt: die Perlenkette, den Brillantring
und das dazu passende Armband. Auch ihre Frisur hatte
sie zeitgemäß verändert: Sie trug einen Pagenkopf, »le
dernier cri« der Friseurkunst. Ihr Gesicht hatte sie ein
wenig geschminkt: ganz hell gepudert, die Wangen
leicht mit Rouge betupft und den Mund mit einem
leuchtenden Rot nachgezogen, das zur Farbe des
Kleides passte. Die Augen waren durch zwei kaum
sichtbare schwarze Striche in den Augenwinkeln betont.
Sie hatte viel Zeit auf ihre Aufmachung verwendet, und
als sie zum Schluss ihr Spiegelbild betrachtete, gefiel
ihr, was sie sah.
Ihr Ziel war das Tanzcafé Wagner. Ihre Freundin
Anni war bereits da, als Gertrud das Lokal betrat. Sie
entdeckte sie an einem der kleinen runden
Marmortischchen. Vor ihr stand eine Tasse Kaffee.
Gertruds Blick fiel auf die lange Zigarettenspitze aus
Elfenbein in der Hand ihrer Freundin. Natürlich, dachte
sie belustigt, ohne ihre türkischen Zigaretten kann Anni
nicht sein. Aber das schlichte graugrüne
Sommerkostüm steht ihr gut. Sie kann solche matten
Farben tragen. Der einfache, ein bisschen strenge
Schnitt der Jacke, die kleine goldene Nadel am Revers
als einziger Schmuck, die glatte Frisur mit dem Knoten
im Nacken ... Das alles passt zu ihr, zu ihrer etwas
herben, intellektuellen Persönlichkeit.
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