Im Zwielicht der Zeit - Buch ist mehr - Verlag 3.0

Alles geht drunter und drüber, seit der Arbeiter- und
Soldatenrat den Herzog gezwungen hat abzudanken.
Den ganzen Tag sausen Autos mit bewaffneten Soldaten
durch die Stadt, rote Fahnen am Kühler. Bei dem
dauernden Gehupe muss man sich die Ohren zuhalten,
wenn man auf die Straße geht. Aus der Villa des Prinzen
wurden das ganze Bargeld, die Orden und alle
wertvollen Gegenstände gestohlen. Und auch sonst:
Einbruch und Diebstahl sind an der Tagesordnung.
Vater ist ganz deprimiert. Er sagt: »Jetzt haben wir
Zustände wie in Russland. Das ist Anarchie! Die
Proleten, die jetzt unser Land regieren, sind doch gar
nicht fähig, die Ordnung wieder herzustellen.« Wenn ich
daran denke, dass die sich heute im Schloss
breitmachen, wo meine Eltern in früheren Jahren so oft
Gäste waren, wo ich als Debütantin stolz meinen ersten
Ball erlebt habe – ich könnte heulen. Wie wird es
weitergehen? Man traut sich ja kaum noch auf die
Straße. Werden wir noch einmal ruhige, ganz normale
Zeiten erleben, wie es früher war?
Weiches Spätnachmittagslicht fiel in das kleine
Ankleidezimmer und verlieh der Elfenbeinfarbe, in der
die Seidentapete und die zierlichen Möbel gehalten
waren, einen warmen und intensiven Ton. Die weiße
Gardine blähte sich ein wenig im Luftzug des halb
geöffneten Fensters. Gertrud saß auf dem Hocker vor
ihrer Frisierkommode und betrachtete ihr Gesicht im
Spiegel: das dunkelbraune, leicht gewellte Haar, das im
Gegenlicht schimmerte, das ovale Gesicht, dem die
großen braunen Augen mit ihrem träumerischen Glanz
einen charakteristischen Ausdruck verliehen, den
Mund, der mit seinen schmalen Lippen Empfindsamkeit
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