Im Zwielicht der Zeit - Buch ist mehr - Verlag 3.0

und nickte. »Bestimmt nicht. Die Gans bleibt unser
Geheimnis.«
24 . Juni 1916
W
ie die Zeit vergeht! Ich kann es kaum glauben,
dass schon wieder Juni ist. Und immer noch
ist Krieg, kein Ende der Kämpfe abzusehen!
Von Paul haben wir ein paar Karten bekommen, die
letzte vor vierzehn Tagen. Gott sei Dank ist er noch am
Leben! Oder sollte ich sagen: War er noch am Leben,
als er die Karte schrieb? Diese Ungewissheit ist
schrecklich! Sie lastet wie ein Druck auf uns allen.
Und dazu kommt, dass wir immer weniger zu essen
haben. Oft stehe ich jetzt hungrig vom Tisch auf,
obwohl Emmy sich so viel Mühe gibt.
Aber trotz allem: Gestern habe ich mich riesig
gefreut! Ich bin einundzwanzig geworden. Vater hat
mich zum Essen ins Parkhotel eingeladen und dann ins
Theater. Einundzwanzig Jahre! Man macht so viel
Wesen um diesen Tag, man gibt ihm eine so große
Bedeutung. Warum eigentlich? Nun gut, ich bin jetzt
›erwachsen‹, ›mündig‹, wie Vater sagt. Aber ich bin
doch dieselbe wie in all den Wochen und Monaten
vorher. Ich fühle mich genauso, denke genauso, ich kann
nicht finden, dass sich viel verändert hat. Jetzt könne ich
tun und lassen, was ich wolle, sagte Vater. Aber er
lächelte dabei, und seine Augen blitzten ein bisschen
spöttisch – ich wusste genau, er meint es nicht ernst.
Wenn ich ihm morgen erklären würde, ich wolle jetzt
Krankenschwester werden wie Olga oder Lehrerin wie
Anni – das würde ein schönes Donnerwetter geben.
104