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SPIELZEUG<br />
27<br />
Vier von 16 Modell-Tableaus mit den dazugehörigen<br />
Schnittmustern aus „Die kleine Puppen-<br />
Schneiderin". Singer, Frankfurt/Main, um 1960<br />
Über 30 Jahre war „Puppenmütterchens Nähschule"<br />
von Agnes Lucas ein Bestseller des Verlages<br />
Otto Maier, Ravensburg. Mit einer Beilage zum<br />
Katalog des Jahres 1924 wurde die 6. Auflage angekündigt.<br />
Wie zuvor war die Anleitung wieder<br />
zusammen nur mit den Schnittmustern und als<br />
„Große Spiel-Ausgabe" mit einer Gelenkpuppe<br />
und Zubehör für die Näharbeit erhältlich<br />
schule noch recht simpel: „Liebe kleine<br />
Puppen-Mutti! Jetzt bist Du die ewige Sorge<br />
um die Kleidung für Dein Puppenkind<br />
los. Lese die nachfolgenden Seiten, tue<br />
auch gleich, was ich Dir Blatt für Blatt lehre.<br />
So erlernst Du im Spiel ein modernes<br />
Schnitt’ System. (...) Wenn Du noch nicht<br />
lesen kannst, dann lasse es Dir vorlesen;<br />
was zu tun ist, das kann schon die kleine<br />
Kinderhand, wenn sie nur einen Punkt und<br />
einen Strich zeichnen kann." Tatsächlich<br />
war jedoch die Anleitung ohne Hilfe erfahrener<br />
Schneiderinnen für Kinder kaum<br />
brauchbar, denn es hieß auch: „Wenn<br />
Deiner Mutti das Strauss’ System ‘Spar’<br />
Schnitt-Schneidern für große Leute’ noch<br />
nicht bekannt ist, senden wir gerne einen<br />
auskunftgebenden Prospekt." Das System<br />
bot die Möglichkeit, ausgehend von einem<br />
Grundschnitt, vielfältige Variationen für<br />
weitere Schnitte und Puppen unterschiedlicher<br />
Größe zu erstellen. Die „Singer-Nähschule"<br />
bestand aus einer stabilen Pappmappe<br />
mit 16 farbigen Modell-Tableaus<br />
mit rückseitig aufgedruckten Schnittmustern,<br />
einem großen Bogen mit acht Spar-<br />
Schnitten, drei Karo-Stäben und einem<br />
Paus-Bogen. Der Umgang mit diesen Mustern<br />
und Hilfsmitteln gestaltete sich erheblich<br />
schwieriger als mit den um 1900<br />
erschienenen Anleitungen. Die Mädchen<br />
mussten zunächst an ihren Puppen Maß<br />
nehmen, ein gutes Dutzend Symbole für<br />
das Verständnis der Muster kennen, etliche<br />
Fachbegriffe verstehen und dann<br />
noch mit Hilfe der Karo-Stäbe ein für die<br />
Puppe passendes Schnittmuster entwickeln.<br />
Selbst Puppenmütter mit ausgezeichneten<br />
Lesekenntnissen dürften von<br />
diesen Anleitungen überfordert gewesen<br />
sein. Auch aus Sammlersicht sind die<br />
Schnittmuster der „Singer-Nähschule"<br />
nicht sonderlich interessant, reizvoll mögen<br />
allerdings die im 1950er-Jahre-Stil<br />
gezeichneten Tableau-Illustrationen sein.<br />
Handwerkliche Fähigkeiten im Umgang<br />
mit Schere, Maßband, Nadel und Faden<br />
oder der Nähmaschine für die Anfertigung<br />
der Puppenbekleidung vermittelten die<br />
Anleitungen zur Puppenschneiderei nur in<br />
geringem Umfang oder überhaupt nicht;<br />
sie wurden bereits vorausgesetzt. Bei den<br />
Näh-, Strick-, und Schneiderarbeiten der<br />
Mütter, Großmütter und älteren Geschwister<br />
im Haushalt waren die jungen Mädchen<br />
oft anwesend und erwarben durch<br />
ihre Mithilfe die notwendigen Kenntnisse,<br />
die sie aber auch im Handarbeitsunterricht<br />
der Volksschulen, in den von sozialen Einrichtungen<br />
durchgeführten Nähkursen<br />
und in den „Höheren Töchterschulen" für<br />
die Mädchen des begüterten Bürgertums<br />
erlangen konnten. Vorwiegend letztere<br />
dürften sich auch mit den Nähanleitungen<br />
von Julie Lutz, Agnes Lucas usw. beschäftigt<br />
haben, was sicherlich interessanter<br />
und motivierender war, als zusammen<br />
mit dem Dienstmädchen Socken zu<br />
stopfen oder löchrige Schürzen zu flicken.<br />
Für Werbezwecke<br />
Für Arbeiterfamilien waren die Hilfen zur<br />
Anfertigung von Puppengarderoben fast<br />
unerschwinglich, denn die Preise selbst<br />
für die einfachen Ausführungen ohne Puppe<br />
und Nähzeug, also nur aus dem Buch<br />
und den Schnittmustern bestehend, waren<br />
gegen Ende des 19. Jahrhunderts deutlich<br />
höher als der Lohn, den die meisten Arbeiter<br />
an einem oft mehr als zehnstündigem<br />
Arbeitstag verdienen konnten.<br />
Schnittmuster mit Anleitungen für Puppenkleidung<br />
mussten jedoch nicht unbedingt<br />
gekauft werden, etliche Hersteller von<br />
Garnen, Stoffen und Nähmaschinen nutzten<br />
einfache Ausführungen zu Werbezwecken<br />
und verschenkten sie über entsprechende<br />
Fachgeschäfte. Auf diese Weise<br />
sollten wohl schon Kinder auf bestimmte<br />
Produkte aufmerksam und zur Markentreue<br />
erzogen werden. Bekannt und heute<br />
noch oft zu finden sind z. B. Schnittmusterbogen<br />
von Gütermann, einem bekannten<br />
Hersteller von Nähseide. Über die<br />
Händler wurden unterschiedliche Schnittmusterbogen<br />
für jeweils mehrere Kleidungsstücke<br />
für Puppen unterschiedlicher<br />
Größe verteilt; natürlich mit dem Hinweis,<br />
dass Gütermann’s Nähseide ideal<br />
zum Zusammennähen der Puppenkleidung<br />
war. Nebenbei sei angemerkt, dass<br />
von Gütermann mit <strong>Reklame</strong>marken, Werbepostkarten,<br />
Sammelbildern, Fingerhüten,<br />
verschiedenen Spielen, hübschen<br />
Dosen usw. noch viele andere interessante<br />
Sammelobjekte stammen.<br />
Vollständige Näh- und Schneideranleitungen<br />
von Julie Lutz und Agnes Lucas mitsamt<br />
der Puppen und der Nähutensilien<br />
sind heute kaum noch zu finden und sehr<br />
teuer. Die Bücher werden im Antiquariat<br />
zwar noch häufiger angeboten, doch fehlen<br />
dann oft die Mappen mit den Schnittmustern,<br />
für deren Beschaffung schon etwas<br />
Glück und viel Geduld erforderlich<br />
sind. Zwar wurde in den Anleitungen empfohlen,<br />
die Musterbogen zunächst sorgfältig<br />
mit Hilfe einer Stricknadel oder eines<br />
harten Stiftes und Pauspapier auf einen<br />
stärkeren Papierbogen zu übertragen und<br />
erst diesen dann zu zerschneiden, doch<br />
bei mehrfacher Verwendung litten die originalen<br />
Schnittmusterbogen oder wurden,<br />
wie unvollständige alte Mappen heute zeigen,<br />
selbst zerschnitten. Die alten Bücher<br />
und Schnittmuster zur Anfertigung von<br />
Kleidungsstücken sind heute nicht nur<br />
beliebte und teure Sammlerstücke; gern<br />
werden sie auch noch für die Herstellung<br />
historischer Puppenkleidung genutzt.<br />
Schneidernde Mädchen sind inzwischen<br />
zwar selten, doch die Puppenmütter von<br />
einst sind zu erwachsenen Sammlerinnen<br />
geworden, die sich wie früher die Kinder<br />
um eine ansehnliche Garderobe für ihre<br />
Schönheiten aus Porzellan oder Celluloid<br />
bemühen. Wer es preiswert wünscht, kann<br />
auch auf einige Nachdrucke zurückgreifen,<br />
denn in den 1980er-Jahren erschienen<br />
die Schnittmuster für die Nähschule<br />
von Agnes Lucas und die komplette Ausgabe<br />
„Die Puppen-Schneiderin" von Pauline<br />
Zell-Thom wieder neu. Sie sind auch<br />
heute noch zu erschwinglichen Preisen<br />
im Buchantiquariat und auf Puppen- und<br />
Spielzeugbörsen erhältlich. Ältere Ausgaben<br />
von Puppenzeitschriften enthalten<br />
ebenfalls gelegentlich Schnittmuster für<br />
historische Puppengarderoben und auch<br />
die Suche im Internet kann erfolgreich<br />
sein, denn dort werden inzwischen Musterbogen<br />
zum kostenlosen Download angeboten.<br />
Fotos: Ludger Spielberg<br />
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