Ansprache Reemtsma (pdf, 123 KB) - Frankfurt am Main
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unkorrigiert!<br />
(bei Änderungen gilt, wie stets, das Gesprochene)<br />
Jan Philipp <strong>Reemtsma</strong><br />
„Ehrenvoller Auftrag! Ehrenvoller Auftrag!“<br />
<strong>Ansprache</strong> zum 9. November 2013<br />
Paulskirche, <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong><br />
Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister Feldmann,<br />
sehr geehrter Herr Schnabel,<br />
sehr geehrter Herr Korn,<br />
sehr geehrte Frau Stadtverordnetenvorsteherin Weyland,<br />
sehr geehrter Herr Staatsminister Boddenberg,<br />
meine D<strong>am</strong>en und Herren<br />
„Wenn jemand das Unglück des Landes oder sein eigenes Unglück der Anwesenheit jüdischer<br />
Elemente im Gemeinwesen zuschreibt, wenn er vorschlägt, diesem Zustand abzuhelfen,<br />
indem die Juden bestimmter Rechte beraubt oder von bestimmten ökonomischen und sozialen<br />
Funktionen ferngehalten oder des Landes verwiesen oder alle ausgerottet werden, sagt man“ –<br />
schreibt Jean Paul Sartre 1944 1 - „sagt man, er habe antisemitische Anschauungen.“ Und er<br />
fährt fort: „Ich weigere mich jedoch, eine Lehre, die ausdrücklich auf besondere Personen<br />
abzielt und bestrebt ist, ihre Rechte zu beseitigen oder sie auszurotten, eine Meinung zu<br />
nennen. (…) Der Antisemitismus fällt nicht in die Kategorie von Gedanken, die das Recht auf<br />
freie Meinungsäußerung schützt. Außerdem ist er etwas ganz anderes als eine Denkweise. Er<br />
ist vor allem eine Leidenschaft.“ 2<br />
Der Antisemitismus ist auch kein Vorurteil. Vorurteile sind falsifizierbar. Aber wenn man<br />
einem Antisemiten sagt, es sei falsch, daß diese oder jene Berufssparte „in jüdischer Hand“<br />
1 Veröffentlicht wurde der Text 1945 und 1946.<br />
2 Jean Paul Sartre, Überlegungen zur Judenfrage, Reinbek 1994, S. 9f.<br />
1
sei (oder wie die Formulierung lauten mag), bekommt man zu hören: „Das ist ja das Problem:<br />
man sieht sie nicht.“<br />
Schließlich ist der Antisemitismus keine Ideologie. Eine Ideologie ist eine wenigstens<br />
leidlich kohärente Weltsicht, die, sie mag so sehr an fixe Ideen und grobes Missverstehen<br />
gebunden sein, abgrenzbar ist, gegen andere Ansichten von der Welt. Der Antisemitismus ist<br />
das, was er vom Juden sagt, das der es sei: universell anpassungsfähig (es gibt totalitäre und<br />
liberale, religiöse und atheistische, nationalistische und universalistisch denkende<br />
Antisemiten) und <strong>am</strong> Ende dominiert er das, womit er sich verbunden hat. Der<br />
Antisemitismus hat keine Grenzen, man kann ihn ebenso wenig widerlegen wie die<br />
Darlegungen eines Paranoikers: ihm wird alles auf der Welt Beleg. Der Antisemitismus hat<br />
nur eine einzige Grenze, den Abscheu vor dem Antisemitismus und die Politik, die ihn<br />
bekämpft.<br />
*<br />
Der Neunte November 1938 – die Pogrome, die in Deutschland der Nachricht von der<br />
Ermordung des Diplomaten Ernst von Rath durch Herschel Grynszpan folgten, während derer<br />
jüdische Räume, private, öffentliche, religiöse zerstört wurden, Juden verhaftet wurden,<br />
deportiert, geschlagen, ermordet – die „Katastrophe vor der Katastrophe“, wie Raphael Gross<br />
geschrieben hat – man schreibt die Geschichte dieser Tage, für die der Neunte November als<br />
Markierungsdatum steht, längst nicht mehr als Geschichte einer Tat und ihrer Folgen, sondern<br />
als Teil der Geschichte des Jahres 1938. Viktor Klemperer schreibt über die Pogrome im<br />
November, auf das Jahr zurückblickend: „Und dann der entscheidende Schlag (…) das<br />
Inferno.“ 3<br />
Aber das Jahr 1938 ist Teil der Jahre 1933 bis 1945, die wiederum sind… - man kann alle<br />
Geschichten als Teile größerer Geschichten erzählen, darum geht es nicht. Es geht nur eben<br />
darum, was man aus den Ereignissen, die voraufgehen, hervorheben will, weil es zum<br />
Verständnis des Ereignisses, über das man sprechen will, unerlässlich ist. Man darf bei der<br />
Beschreibung von Geschichte nicht auf das zu achten verlernen, was Entscheidung gewesen<br />
ist, Entscheidung, die so oder anders hätte ausfallen können: Politik. Wäre Hitler nicht in die<br />
Macht hineinkomplimentiert worden, hineinkomplimentiert worden durch eine Allianz von<br />
Immoralität und Dummheit, es hätte so nicht kommen müssen - nicht so. Dem was folgte, war<br />
die Anfangslegitimität gegeben. Man hatte den Anführer einer als politische Partei formierten<br />
Bande gewählt, die wesentlich zwei Ziele prokl<strong>am</strong>ierten: Krieg und Mord.<br />
3 Ebd. S. 6.<br />
2
Einwand was den Terminus „Mord“ angeht: das, was man „Shoa“ oder „Holocaust“<br />
nennt, der systematische Massenmord an der europäischen jüdischen Bevölkerung, sei doch<br />
weder abzusehen gewesen noch progr<strong>am</strong>matisch verkündet worden. Das ist richtig. In<br />
Nürnberg sagte Julius Streicher zu seiner Verteidigung, das sei doch anfangs alles nicht so<br />
gemeint gewesen, so redeten Antisemiten eben. Das stimmt, und nicht nur Nazis. Aber die<br />
hatten die politische Gelegenheit bekommen, sich selbst beim Wort zu nehmen.<br />
Die Wähler der NSDAP seien nicht alle fanatische Antisemiten gewesen, viele hätten<br />
diese Partei aus ganz anderen Gründen gewählt. Das ist richtig. Aber sie haben diese „anderen<br />
Gründe“ für etwas gehalten, was es rechtfertigte, eine Partei zu wählen, die – so viel ist zu<br />
sagen – ein radikales Diskriminierungsprogr<strong>am</strong>m gegen einen Teil ihrer Mitbürger<br />
ankündigte, und dies in einem mörderischen Vokabular, das so nie zuvor die Rhetorik einer<br />
Massenpartei geprägt hatte. Darum geht es bei den vielen Wählern, die doch, wie man sagt,<br />
keine Antisemiten gewesen seien: daß ihnen das egal gewesen ist. (Eine Seitenbemerkung:<br />
alle die Intellektuellen, die nach dem Januar 1933 oft nur kurze Zeit auf ein imaginiertes<br />
Neuerungspotential der NS-Regierung setzten, und denen man nachher politischen Irrtum<br />
zuschrieb, haben sich durch ihr Handeln dazu bekannt, daß ihnen das egal gewesen ist. Das ist<br />
kein politischer Fehler.)<br />
Von Anfang an gab es die zwei Gesichter der Umsetzung des politisch organisierten<br />
Antisemitismus. Das der Gesetzgebung, der Verordnungen etc. und das der Übergriffe, der<br />
lizenzierten Brutalität. Bereits im März 1933 werden Kunden jüdischer Geschäfte bedroht,<br />
gibt es Schlägereien, Schmierereien, Einbrüche <strong>am</strong> hellichten Tag. 1935 kommt es zu einer<br />
„zweiten Welle der Gewalt zwischen Januar und August“. Daneben eine steigende<br />
„Verordnungs- und Gesetzesflut“. 4<br />
Alldas bedeutete die Gewöhnung an eine radikal neue gesellschaftliche Situation. Eine<br />
Gruppe, die klar zu definieren man Gesetzgebungsaufwand betrieb, wurde stigmatsiert und<br />
zunehmend rechtlos gemacht. Rechtlos durch Rechte beschneidende Gesetze und<br />
Verordnungen, rechtlos durch die durch Organisationen der Partei aktiv hergestellte<br />
rechtsfreie Räume, die durch staatliches Nichtstun positiv sanktioniert wurden. Das gehört<br />
zus<strong>am</strong>men. Vor allem dadurch, daß das eine das jeweils andere öffentlich legitimiert. Die<br />
Gesetze und Verordnungen stellen zunehmend die legale Normalität einer Gesellschaft<br />
doppelten Rechts her, die Übergriffe sind die öffentlichen Inszenierungen eines durch die<br />
offiziellen Maßnahmen noch nicht befriedigten Begehrens: noch, heißt das, ist die „jüdische<br />
Frage“ nicht „gelöst“. Wenn eine Gruppe von SA-Leuten mit Gefolge in ein Haus einbricht,<br />
4 Ebd. S. 34.<br />
3
die Zimmer verwüstet, die Möbel auf die Straße wirft, heißt das zweierlei: wir können das<br />
ungestraft tun - und: so muß man das machen. Eine Normalität wird bestätigt und eine neue<br />
punktuell avantgardistisch gesetzt.<br />
Am 15. Februar 1938 veröffentlicht eine Zeitschrift n<strong>am</strong>ens „Der Student der Ostmark“<br />
eine mit „Jüdische Firmen in Königsberg“ überschriebene Liste. Aufgeführt wurden:<br />
„Geschäftemacher (die) ihren Profit aus den Lohngroschen deutscher Arbeiter und<br />
Angestellter“ zögen. Es finden sich auf dieser Liste Geschäfts- und Privatadressen. 5 Eine<br />
Liste, während eines Pogroms abzuarbeiten. Das Jahr 1938 bereitete insges<strong>am</strong>t die Bühne für<br />
seinen November.<br />
1938 6 ist das Jahr der Annektierung Österreichs und der dort sogleich einsetzenden<br />
antisemitischen Aktionen und Maßnahmen. Ein weiterer Expansionserfolg: die international<br />
akzeptierte Annexion eines Teils der Tschechoslowakei. Anfang 1938 werden Juden<br />
sowjetischer Staatsangehörigkeit aus Deutschland ausgewiesen. 1938 ist das Jahr der<br />
„Polenaktion“, der Abschiebung in Deutschland lebender Juden nach Polen. Arisierungen<br />
werden vorangetrieben und zunehmend rücksichtsloser durchgeführt. Es kommt immer<br />
wieder zu massiven antijüdischen Ausschreitungen. Schon im Juni gibt es eine Denkschrift<br />
des von Goebbels d<strong>am</strong>it beauftragten Berliner Polizeipräsidenten, die zu Teilen vorwegnimmt,<br />
was dann in der berüchtigten Konferenz nach den Novemberprogromen progr<strong>am</strong>matischer<br />
Exzeß wird.: Einführung von Kennkarten, Kennzeichnung jüdischer Geschäfte, Verbot des<br />
Grundstückserwerbs, Einrichtung von „jüdischen Gaststätten“, Verbot des Betretens<br />
bestimmter Freizeiteinrichtungen. Während an dieser Denkschrift noch gearbeitet wird,<br />
werden in Berlin jüdische Geschäfte durch Beschmierungen und Demolierungen<br />
gekennzeichnet. Der Hinweis: „das ist jüdisches Eigentum“ und die Demonstration dessen,<br />
was mit ihm zu tun erlaubt ist, fallen ins eins.<br />
Es ist interessant – interessant für die Dyn<strong>am</strong>ik dieses durch staatliche und nichtstaatliche<br />
Institutionen Aktion werdenden Judenhasses -, wie unentschieden Goebbels für sich selbst<br />
den Juni 1938 kommentiert: “Die Judenfrage in Berlin hat sich nun sehr kompliziert. Die<br />
Partei hat (…) die Judengeschäfte beschmiert. Darob hat sich (der gerade zum<br />
Wirtschaftsminister ernannte Walter) Funk eingeschaltet. Er will das alles legal machen. Aber<br />
es dauert so lange (…) (Polizeipräsident) Helldorf hat meine Befehle ins Gegenteil verkehrt:<br />
ich hatte gesagt, Polizei handelt mit legalem Gesicht, Partei macht Zuschauer. Das<br />
5 „Es brennt!“ Antijüdischer Terror im November 1938, herausgegeben von Andreas nach<strong>am</strong>a, Uwe Neumärger<br />
und Hermann Simon, Berlin 2008, S. 64.<br />
6 Für das Folgende: Saul Friedländer, Das Dritte Reich und die Juden, Erster Band: Die Jahre der Verfolgung<br />
1933-1939, München, Peter Longerich, Politik der Vernichtung. Eine Ges<strong>am</strong>tdarstellung der<br />
nationalsozialistischen Judenverfolgung, München 1998.<br />
4
Umgekehrte ist nun der Fall.“ Statt daß die Polizei agiert und der Mob die Kulisse der Gaffer<br />
gibt, agiert nun der Mob, und die Polizei sieht zu. „Ich bestelle mir alle Parteiinstanzen und<br />
gebe neue Befehle heraus. Alle illegalen Handlungen“ – man übersetze sich das: alle<br />
Handlungen, die nicht von staatlichen Organen durchgeführt werden, die gesetzliche<br />
Grundlage ist nicht das Thema – „haben zu unterbleiben (…) Funk muß sich etwas sputen mit<br />
seinen Maßnahmen (…) im Übrigen hat diese Art von Volksjustiz doch auch wieder ihr Gutes<br />
gehabt. Die Juden sind aufgeschreckt worden“. 7<br />
Im Sommer gibt es in ganz Deutschland antijüdische Aktionen. In <strong>Frankfurt</strong> <strong>am</strong> <strong>Main</strong>:<br />
„Zertrümmerungen von Fensterscheiben, Beschmierungen widerlicher Art von<br />
Schaufenstern“ – so wörtlich der „für den Bereich Fulda-Werra zuständige SD-Führer –<br />
„Beschädigungen von Synagogeneinrichtungen, Belästigungen von arischen Angestellten,<br />
tätliche Auseinandersetzungen mit jüd. Geschäftsinhabern usw.“ 8 Die Folgerungen, die man<br />
auch aus einigen dabei festgetellten Abneigungsbekundungen gegen Unordnung zieht,<br />
bestehen etwa in einem Maßnahmenprogr<strong>am</strong>m, das u.a. das Verbot für Juden, Theater,<br />
Badeanstalten, und Grünanlagen aufzusuchen, enthält.<br />
Doch ist der SD insges<strong>am</strong>t, wie Goebbels, mit den nicht-staatlichen Aktionen nicht<br />
unzufrieden. Goebbels schrieb in sein Tagebuch, die Juden seien „aufgeschreckt“ worden, der<br />
SD bilanziert: „Die Aktionen gegen jüdische Geschäfte, die im ganzen Reichsgebiet<br />
durchgeführt worden sind, haben in vielen Fällen die Arisierung der Geschäfte vorwärts<br />
getrieben. Um sich vor weiteren Maßnahmen seitens der Bevölkerung“ - Maßnahmen seitens<br />
der Bevölkerung – „zu schützen, haben die jüdischen Geschäftsinhaber teilweise ihre<br />
Geschäfte von sich aus selbst gekennzeichnet“ – von sich aus selbst. „In anderen Fällen<br />
wurden sie zur Kennzeichnung ihrer Geschäfte durch polizeiliche Anordnung veranlaßt.“ 9<br />
Es folgt eine gesetzgeberische Offensive: Verbot von diversen Berufen für Juden, Entzug<br />
der Approbation für jüdische Ärzte, Verbot der Anwaltstätigkeit. Nach den<br />
Novemberpogromen wird Juden verboten werden, den Beruf des als Zahnarztes, des<br />
Tierarztes oder Apothekers auszuüben.<br />
Im Verlaufe des Sommers werden in München und Nürnberg die dortigen<br />
Hauptsynagogen abgerissen, im September in zahlreichen Orten Synagogen überfallen und<br />
verwüstet. In Franken und Württemberg kommt es zu Vertreibungen ortsansässiger Juden.<br />
„Nach Berichten sollen sich die Angehörigen der Gliederungen der Partei in Zivil vor den<br />
jüdischen Anwesen vers<strong>am</strong>melt und die Juden zum endgültigen Verlassen des Ortes<br />
7 Logerich, S. 179.<br />
8 Ebd. S. 183.<br />
9 Ebd. S. 184.<br />
5
aufgefordert haben. Als diese der Aufforderung keine Folge leisteten, habe man sie aus ihren<br />
Häusern herausgeholt, geschlagen und angespuckt, mit den Füßen getreten und zum Teil<br />
barfuß durch die Ortschaft getrieben. Auch die Kinder nahmen an dieser Demonstration nach<br />
Aufforderung teil.“ Es sei zu „empörten Reaktionen“ der nicht beteiligten Bevölkerung<br />
gekommen, man habe daraufhin die Juden in „Schutzhaft“ genommen und sie, nachdem sie<br />
sich verpflichtet hatten, den Ort zu verlassen, freigelassen. Das Ergebnis ist dasselbe, nur im<br />
zweiten Zug findet es gleichs<strong>am</strong> ordentlich statt, von staatlichen Organen durchgeführt. Es<br />
braucht beide Seiten: die öffentliche Demonstration der Rechtlosigkeit, bei der es nicht darauf<br />
ankommt, wer daran teilnimmt und wer es mißbilligt, und die staatliche positive<br />
Sanktionierung und Durchführung der Rechtlosstellung durch den Mob, der zuvor – „Es muß<br />
hinzugefügt werden, daß Aktionen gegen die jüdische Bevölkerung zum Teil auch daraus<br />
entstanden seind, daß die Parteiangehörigen den Augenblick zur endgültigen Liquidierung der<br />
Judenfrage gekommen glaubten“ – durch buchstäblich richtungsweisende Gesetze,<br />
Verordnungen und Maßnahmen seitens des Staates vorbereitet war. 10<br />
Grynspans Attentat war ein willkommenes Stichwort. Goebbels vermerkt es <strong>am</strong> 9.<br />
November in seinem Tagebuch mit dem Kommentar „In Hessen große antisemitische<br />
Kundgebungen. Die Synagogen werden niedergebrannt. Wenn man jetzt den Volkszorn<br />
loslassen könnte!“ Erst <strong>am</strong> 10. wird ein Konzept daraus. „In Kassel und Dessau große<br />
Demonstrationen gegen die Juden, Synagogen in Brand gesteckt und Geschäfte demoliert.<br />
Nachmittags wird der Tod des deutschen Diplomaten von Rath gemeldet (…) Ich gehe zum<br />
Parteiempfang (…) Riesenbetrieb (…) Ich trage dem Führer die Angelegenheit vor. Er<br />
bestimmt: Demonstrationen weiterlaufen lassen. Polizei zurückziehen. Die Juden sollen<br />
einmal den Volkszorn zu verspüren bekommen. Das ist richtig.“ Hitler setzt auf Aktionen des<br />
Mobs (worunter immer zu verstehen ist: Stoßtrupps von NSDAP, SA oder SS und wer immer<br />
sich anschließen mag) „Ich gebe gleich entsprechende Anweisungen an Polizei und Partei.<br />
Dann rede ich kurz dementsprechend vor der Parteiführerschaft. Stürmischer Beifall. Alles<br />
saust gleich an die Telephone. Nun wird das Volk handeln.“<br />
Seine Leidenschaft ist entfacht und er lässt sich von sich selbst mitreißen wie alle anderen<br />
Aktivisten in dieser mörderischen Sache auch: „Einige Laumänner machen schlapp. Aber ich<br />
reiße immer wieder alles hoch. (…) Mal den Dingen ihren Lauf lassen. Der Stoßtrupp Hitler<br />
geht gleich los, um in München aufzuräumen. Das geschieht denn auch gleich. Eine Synagoge<br />
wird in Klump geschlagen. Ich versuche sie vor dem Brand zu retten. Das misslingt.“ Stellt er<br />
befriedigt fest. „Ich gebe noch ein präzises Rundschreiben heraus, in dem dargelegt wird, was<br />
10 Ebd. S. 192ff.<br />
6
getan werden darf und was nicht (…) ich lasse mich nicht beirren. Unterdeß verrichtet der<br />
Stoßtrupp sein Werk (…) Ich weise (…) an, die Synagoge in der (Berliner) Fasanenstraße<br />
zerschlagen zu lassen (…) Ich will ins Hotel, da sehe ich den Himmel blutrot. Die Synagoge<br />
brennt. (…) Wir lassen nur so weit löschen, als das für die umliegenden Gebäude notwendig<br />
ist. Sonst abbrennen lassen. Der Stoßtrupp verrichtet fürchterliche Arbeit. Aus dem ganzen<br />
Reich laufen nun Meldungen ein (…) Jetzt rast der Volkszorn. Man kann für die Nacht nichts<br />
mehr dagegen machen. Und ich will auch nichts machen. Laufen lassen. (…) Als ich ins<br />
Hotel fahre, klirren die Fensterscheiben. Bravo! Bravo! In allen großen Städten brennen die<br />
Synagogen.“ Er notiert es wie trunken. Am nächsten Tag wird nachgenießend wieder<br />
Ordnung gemacht. „Die Vorgänge in Berlin. Dort ist es ganz toll hergegangen. Brand über<br />
Brand. Aber das ist gut. Ich setze eine Verordnung auf Abschluß der Aktionen auf. Es ist nun<br />
gerade genug. Lassen wir das weitergehen, dann besteht die Gefahr, daß der Mob in<br />
Erscheinung tritt.“ Soll heißen: diejenigen, die nicht kommandiert oder angestiftet sind, die,<br />
die machen, was sie wollen, wie hieß es: „Belästigung von arischen Angestellten“.<br />
„In der Osteria erstatte ich dem Führer Bericht (…) Die Aktion selbst ist tadellos<br />
verlaufen. 17 Tote. Aber kein deutsches Eigentum beschädigt.“ 12. November: „Die Lage im<br />
Reich hat sich allgemein beruhigt (…) Die Juden können mir obendrein noch dankbar sein.“ 11<br />
Es waren 1.400 zerstörte Synagogen, über weit über 7.000 Wohnhäuser und Geschäfte,<br />
30.700 Verhaftete und Deportierte, zwischen 1.300 und 1.500 Ermordete.<br />
Ein Bericht über den 9. November aus dem thüringischen Nordhausen: „Die betrunkenen<br />
SA- und SS-Männer (holten) alle Juden, Männer, Frauen, Kinder und Schwerkranke und<br />
Greise, aus ihren Wohnungen. Teils noch in Nachthemden wurden wir dann in Autos zum<br />
‚Siechenhof’“ (früher eine Art Obdachlosenasyl, dann ab 1933 ein Internierungsort für<br />
Angehörige unterschiedlicher Gruppen) „gebracht. Natürlich wurden beim Abholen auch die<br />
Wohnungen demoliert, Betten zerschnitten, Stuhlbeine abgebrochen, alle Fensterscheiben von<br />
jüdischen Läden wurden eingeschlagen (… Es) k<strong>am</strong> alles schon geschlagen und geprügelt auf<br />
dem Siechenhof an. Auch zwei- und dreijährige Kinder waren in der Gruppe. Auf dem<br />
Siechenhof wurde weitergeprügelt.“ Am nächsten Tag werden die Männer zwischen 15 und<br />
85 Jahren, 78 an der Zahl, nach Buchenwald gebracht. Sie werden ins Lager geprügelt, im<br />
Lager geprügelt, in Baracken zus<strong>am</strong>mengepfercht. „Von den Nordhäusern im<br />
Konzentrationslager umgekommen:<br />
1) Singer, Vater des Lehrers von Nordhausen, 60 Jahre alt. Er wurde in der Nacht vom<br />
Sonntag auf Montag verrückt und ist in der Waschküche totgeschlagen worden.<br />
11 Die Tagebücher von Joseph Goebbels,, herausgegeben von Elke Fröhlich, I, 6, München 1998, S. 178ff.<br />
7
2) Sohn von Singer, Lehrer, ging ins Drahtverhau, weil er nicht mit ansehen konnte, wie<br />
sein Vater, mit der Hand angebunden, über den Hof geschleift wurde.<br />
3) Amtsgerichtsrat Gerson, wollte ins Drahtverhau, ist dann gebunden und totgeschlagen<br />
worden<br />
4) Ernst Plau, in der Waschküche erledigt.<br />
5) Bacharach, 81 Jahre alt, totgeschlagen.<br />
6) Lewin, 70 Jahre alt; totgeschlagen.“ 12 *<br />
Der Antisemitismus ist keine Ansicht, kein Vorurteil, keine Ideologie. Er ist die<br />
Selbstermächtigung von Menschen, ihre Macht in Freiheit vom gemeinen Witz bis zum<br />
organisierten Mord auf Juden zu richten und auszuleben. Die Legitimationen dieses Tuns sind<br />
für die Täter und die, die sich ihnen anschließen, belanglos, allenfalls nachrangig – das, was<br />
man eben sagt, wird man nachträglich gefragt. Die Tat wird nicht durch die Worte, die sie<br />
begründen, legitimiert, sondern die Tat erfährt ihre Legitimation dadurch, daß sie getan<br />
werden kann. Im Kern ist auch jede vorgetragene Legitimation, die der Antisemit äußert,<br />
aufschreibt und verkünden lässt, nur diese eine: daß man in einer langen Tradition des<br />
Antisemitismus stehe, und man nun antrete, dieses Problem endlich zu lösen. Die<br />
Legitimation liegt also darin, daß der Ankündigung die Tat folgt.<br />
Aber Antisemitismus gab es doch überall – warum Deutschland in dieser Weise? Nur in<br />
Deutschland gab es eine radikal antisemitische Regierung, nur in Deutschland gab es<br />
genügend Wähler, die eine solche Partei wegen oder unter gleichgültigem „Absehen von“<br />
gewählt hatten. In Deutschland gab es keine zureichende Tradition, keinen verlässlichen<br />
Abscheu sozialer und intellektueller Eliten vor solchem Mob. Die Frage, wie es in einem<br />
kultivierten Land zu so etwas habe kommen können, ist falsch gestellt: es war eben kein<br />
kultiviertes Land in diesem Sinne. Es wäre sonst eben dazu nicht gekommen. Man konnte das<br />
nicht voraussehen, aber als Warnung vernehmen im Berliner Antisemitismusstreit. Treitschke<br />
machte sich 1879 mit seinen vulgären Tiraden nicht akademisch unmöglich; unter den nichtjüdischen<br />
Akademikern widersprach nur Theodor Mommsen vehement. Treitschke folgten<br />
dann auch bald die, die schon von Deportation und Mord phantasierten. 13<br />
12 Zitiert aus: Gross, S. 59ff.<br />
13 Vgl. Jan Philipp <strong>Reemtsma</strong>, Vertrauen und Gewalt. Versuch über eine besondere Konstellation der Moderne,<br />
H<strong>am</strong>burg 2013, S. 423-430.<br />
8
Wenn ich vom leidenschaftlichen Ausleben der Freiheit, Mitmenschen nach Gutdünken<br />
zuzurichten, spreche, in dem man selber sich zu dem erhöht, der andere erniedrigen darf, der<br />
lebt, d<strong>am</strong>it andere sterben müssen, dann meine ich nicht nur das Gesicht des Pogroms. Ich<br />
meine die Gesetze und Verordnungen vorher und nachher. Sie sind ein Ausdruck großer, fast<br />
kindlicher Freude über die Freiheit, über die Stränge der Zivilisation schlagen zu können. Wie<br />
freut man sich an den Schikanen, die man verfügt. Wie hochgestimmt ist der Kreis um<br />
Göring, der <strong>am</strong> 12. November berät, was nun geschehen soll. 14 Denn nun muß man ja wieder<br />
ans Regeln gehen. Wie freuen sie sich, zu dekretieren, die Juden sollten doch die Schäden<br />
gefälligst selbst aufräumen – und, natürlich, bezahlen. Wieviel? Sie überbieten sich wie die<br />
Kleinkinder: 6 Millionen? 30 Millionen? Warum nicht 100 Millionen! ach was: eine<br />
Milliarde!<br />
Und dann zum Grundsätzlichen: Juden in der Öffentlichkeit. In Eisenbahnzügen? Man<br />
debattiert hin und her, wie man das machen soll mit den Abteilen, und was ist, wenn der Zug<br />
überfüllt ist, aber dann hat Göring die Idee: der Jude muß dann „auf dem Lokus sitzen<br />
während der ganzen Fahrt.“ Man denke an die Schmierereien der Gestapo, von denen Viktor<br />
Klemperer berichtet, wenn es eine Razzia gab im „Judenhaus“. Und was ist mit den<br />
Feizeitanlagen – immer wieder geht es um die im Besonderen - : sollen Juden sich doch in<br />
eigenen Kinos jüdische Filme ansehen! Und: „Heute laufen Juden rudelweise“ – rudelweise –<br />
„im Grunewald herum. Das ist so aufreizend und provozierend, daß es dauernd zu<br />
Schlägereien kommt.“ Und Göring hat die Idee: bestimmte Teile nur für Juden vorzusehen<br />
und dort Tiere anzusiedeln, die wie Juden aussehen, Elche zum Beispiel: „der Elch hat ja so<br />
eine gebogene Nase“. Sie <strong>am</strong>üsieren sich königlich über den Mordsspaß.<br />
Ein Antisemit, schreibt Sartre, „möchte das disziplinierte Mitglied einer undisziplinierten<br />
Gruppe sein“ er will „sich alles erlauben (können), ohne fürchten zu müssen, als Anarchist zu<br />
gelten, was ihm ein Grauen wäre.“ 15 „Ich lasse mich nicht beirren“, schreibt Goebbels und als<br />
er die Anweisung gibt, die Synagoge in der Fasanenstraße „zerschlagen zu lassen“, sagt der<br />
Kommandoempfänger: „Ehrenvoller Auftrag“ – und immer wieder: „ehrenvoller Auftrag“. 16<br />
Das muß immer nebenher mitlaufen – nicht bei allen, aber bei denen, die etwas von sich<br />
halten -, daß sie etwas anderes sind als Schlägern und Mörder, wenn sie zuschlagen und<br />
morden.<br />
Und man mache auch nicht so viel her von denen, die die antisemitische Politik als<br />
Intellektuelle und Wissenschaftler begleiteten, auch vorantrieben. Um das Progr<strong>am</strong>m von<br />
14 Vgl. zum Folgenden <strong>Reemtsma</strong>, S. 442-444.<br />
15 Sartre, S. 23.<br />
16 Goebbels, S. 180.<br />
9
Schlägern und Mördern intellektuell zu garnieren, muß man bald denken wie ein Schläger und<br />
einer, der auf Mord aus ist. Die einen machten Karriere, weil es ihnen lag, so zu denken und<br />
zu schreiben, die anderen, weil sie es im Handumdrehen lernten, und sie lernten es im<br />
Handumdrehen, weil es ihnen Spaß machte. Die Lust an destruktiver Machtausübung bringt<br />
stets die Lust an Dummheit und auch gedanklicher Rohheit mit sich. Das scheußliche Treffen<br />
des 12. November ist ein höllisches Kaspertheater. Und solches findet nicht nur in Ministerien<br />
statt, auch an Universitäten.<br />
Der Antisemitismus, wenn er öffentliche Tat wird, wenn er staatlich geduldet, wenn er,<br />
wie zwischen 1933 und 1945 in Deutschland Regierungspolitik wird, ist ein losgebundener<br />
Vernichtungswille, der sich seiner Legitimität durch erfolgreiche Tat versichert. Dem hat man<br />
nichts entgegenzusetzen, wenn die staatliche und öffentliche Macht von solchen<br />
Leidenschaften beherrscht wird. Dann haben alle, die da nicht mittun wollen, verloren. Aber<br />
erst dann. Vorher gibt es Gesetzlichkeit – und, man unterschätze sie nicht, die Macht des<br />
Abscheus und der Verachtung. Und das, auch das, was wir hier tun. Demokratien müssen ein<br />
Bewusstsein ihrer Fragilität haben – und ein Selbstbewusstsein, das daus dem Wissen ihrer<br />
Bürger und ihrer politischen Repräsentanten besteht, daß sie es sind, die die Zukunft der<br />
Demokratie in der Hand haben. Es geht, immer wieder, um Selbstvergewisserung. Nennen<br />
wir, was wir hier tun, nicht „Erinnerungspolitik“, nennen wir es Politik.<br />
10