15.04.2014 Aufrufe

„Wer würde denn den Hochzeitsturm schleifen ... - Zfd-online.net

„Wer würde denn den Hochzeitsturm schleifen ... - Zfd-online.net

„Wer würde denn den Hochzeitsturm schleifen ... - Zfd-online.net

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

„Oteco defera“<br />

zeigt Arrabals<br />

„Fando & Lis“<br />

„Guck Lis, wie schwer das ist,“ ruft Wolfgang<br />

Vogler als Fando und macht einen<br />

Kopfstand. Er hat recht, <strong><strong>den</strong>n</strong> vor allem wie<br />

schwer Theaterspielen sein kann, zeigen die<br />

fünf SchauspielerInnen in <strong>den</strong> knapp achtzig<br />

Minuten, die Fernando Arrabals „Fando<br />

& Lis“ dauert. „Oteco defera“ heißt Darmstadts<br />

neue freie Theatergruppe: hervorgegangen<br />

ist sie aus ehemaligen SchülerInnen<br />

der Theatergruppe der Justus-Liebig-<br />

Schule; mitgenommen hat sie als Regisseur<br />

Hanno Hener und die Hypothek eines<br />

ausgezeich<strong>net</strong>en Rufes im Schülertheater.<br />

„Oteco defera“ ist eine Abkürzung und steht<br />

für „Obduktionstheatercompagnie der Entfunktionalisierung<br />

des Absur<strong>den</strong>.“ Der<br />

Pennälerhumor ist tatsächlich Programm:<br />

die Entfunktionalisierung des Absur<strong>den</strong> ist<br />

gründlich gelungen – der Abend ist sinnlos.<br />

Fando und Lis sind mit einem Wägelchen<br />

immer im Kreis nach Tar unterwegs und<br />

kommen nie an. Tar – wie könnte es auch<br />

anders sein – ist eine Chiffre. Eine Chiffre,<br />

die für eine Menge steht. Beckett hat seinen<br />

Godot vergleichsweise präzise und plastisch<br />

beschrieben. Mit Details hält sich<br />

Arrabal gar nicht erst auf: möglicherweise<br />

interessierte er sich für Themen wie Gewalt,<br />

Sexualität, Kommunikation, Nihilismus,<br />

Theater, Erdbeermarmelade, Dosenbier,<br />

<strong>den</strong> Menschen allgemein und die Gesellschaft<br />

überhaupt. Das ist durchaus möglich.<br />

Das läßt sich mit Sicherheit je<strong>den</strong>falls<br />

nicht ausschließen. Ausschließen läßt sich<br />

auch nicht, daß irgendein sensibilisierter<br />

Semiintellektueller in dem wabern<strong>den</strong> Textflachsinn<br />

irgendwelche Bedeutungssurrogate<br />

entdeckt, die ihm irgendwo und<br />

irgendwie unheimlich viel bringen – persönlich<br />

natürlich. Arrabals großzügiger<br />

Strich in der Gesamtanlage setzt sich in<br />

Handlung und Figuren fort. Fando ist ein<br />

böses Siegfriedchen, der Lis ganz lieb fesselt,<br />

ihr ganz lieb Handschellen anlegt,<br />

schröcklich droht und lauter schlimme Dinge<br />

zu tun behauptet. Klar, daß diese Comicfigur<br />

Lis liebt. Und genauso klar, daß Lis<br />

„Guck Lis, wie<br />

schwer das ist“<br />

ihren Fando liebt. Arabal zeigt Lis als eine<br />

Frau, wie Frauen eben so sind: dumm dul<strong>den</strong>d<br />

und liebend gelähmt; ein langweiliges<br />

Objekt männlicher Subjekte. Weil die bei<strong>den</strong><br />

sich nichts zu sagen haben, muß Fando<br />

Lis umbringen – sonst wäre ja rein gar<br />

nichts los. Und weil das in zehn Minuten<br />

erledigt sein könnte, tauchen zwischendurch<br />

immer wieder drei Herren mit<br />

gelbem Schirm auf und versuchen, das öde<br />

Spiel unterhaltsamer zu gestalten. Tommy<br />

Trc hat die Bühne eingerichtet: in dem<br />

engen Rund der mit schwarzen Plastikfolien<br />

verhängten Manege sitzen die maximal<br />

sechzig ZuschauerInnen auf unbequemen<br />

Holzbänken dicht am Geschehen. Das ist –<br />

wenn man nicht gerade meinen Rücken<br />

fragt – eine gute Lösung. Anne Niemeyer<br />

und Wolfgang Vogler spielen Romeo und<br />

Julia im Zirkus. Wolfgang Vogler hat es an<br />

diesem Abend übel erwischt: so peinlich<br />

schlecht gesprochen seine Liebesbekundungen<br />

über die Lippen kommen, so<br />

unglaubwürdig geraten die andressierten<br />

Wutausbrüche. Anne Niemeyer füllt die<br />

Sprechblasen brav mit Text und laßt auch<br />

sonst viel mit sich machen. Das hat mit<br />

Anne Niemeyer, Tim Lang<br />

und Falk Schüll (Foto: H. Hener)<br />

ihrem schauspielerischen Vermögen wenig<br />

und mit Arrabal eine Menge zu tun. Nicht<br />

nur ein Lichtblick, nein, funkelnde Sterne in<br />

finsterer Nacht sind Falk Schüll, Tim Lang<br />

und David Gieselmann: die drei Männer mit<br />

dem gelben Schirm. Der perfekt choreographierte<br />

Nonsens der drei kann sich sehen<br />

lassen. Hanno Heners Regie zeigt viel Liebe<br />

zum Detail. Selbst kleinste Bewegungen<br />

sind sehr genau ausgearbeitet. Es ist verblüffend,<br />

mitanzusehen, was er aus seinen<br />

SchauspielerInnen physisch herausholt; im<br />

übrigen muß er Ohrenstöpsel getragen<br />

haben.<br />

Die „Obduktionstheatercompagnie“ hätte<br />

die Leiche „Fando & Lis“ besser im Keller<br />

der Theaterliteratur liegen lassen und das<br />

Skalpell an einem anderen Stück versucht.<br />

Die bloße Deklaration der Welt als einer<br />

absur<strong>den</strong> ersetzt keine inhaltliche Auseinandersetzung;<br />

sie ist nicht einmal unterhaltsam<br />

geraten. Die SchauspielerInnen agieren<br />

mit viel Enthusiasmus und Selbstbewußtsein.<br />

Das ist eine gute Voraussetzung<br />

für weitere Produktionen, genügt auf Dauer<br />

aber nicht.<br />

P.J. Hoffmann<br />

Nummer 51 · 25.6.1993 · Seite 11<br />

Ein<br />

sist<br />

Glas<br />

ein Glas<br />

ist ein<br />

ist<br />

Glas<br />

ein Glas<br />

ist ein<br />

ist<br />

Gla-<br />

Glas ist ein Glas ist ein Glas<br />

ein<br />

ein Glas ist ein Glas ist ein Glas<br />

ist<br />

ist<br />

Glas<br />

ein<br />

ist<br />

Glas<br />

ein Glas<br />

ist ein<br />

ist<br />

Glas<br />

ein Glas<br />

ist ein<br />

ein Glas ist ein Glas ist ein Glas<br />

ist<br />

Ein<br />

ist ein<br />

Glas<br />

Glas...Ein<br />

ist ein Glas<br />

Glas<br />

ist ein<br />

ist<br />

Glas<br />

Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />

ein<br />

Ein Serienmaler Glas Peter ist Dreher<br />

ist ein Glas...<br />

ein Glas fens hat der ist Künstler ein allerlei Glas mitteilsame<br />

Spuren hinterlassen, aus <strong>den</strong>en sich seine<br />

der Galerie Axel Thieme<br />

Ein<br />

ist Glas<br />

Glas...<br />

ist ein Glas Befindlichkeiten, ist seine ein Gedanken, Glas ja sogar<br />

Was bringt einen Maler dazu, sich über die äußeren Ereignisse der immer wiederkehren<strong>den</strong><br />

Tage des Malens rekonstruieren<br />

zwanzig Jahre hinweg mit dem ewig gleichen,<br />

simplen Bild eines glatten Trinkglases lassen – mal nur ein simples Datum neben<br />

Ein zu beschäftigen?<br />

ist ein<br />

Glas Ist er von<br />

Glas...Ein<br />

ist irgendwelchen ein Glas der durchlaufen<strong>den</strong><br />

Glas<br />

ist ein Numerierung,<br />

ist<br />

Glas mal<br />

geheimen, dem nicht-künstlerischen Menschen<br />

verborgen bleiben<strong>den</strong> Inhalten ver-<br />

wechselhafte Botschaften wie „Webern<br />

Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />

ein–<br />

568 – 7.9.91“, oder „Brüderlein und<br />

Ein<br />

leitet wor<strong>den</strong>,<br />

ist ein<br />

Glas<br />

oder ist er<br />

Glas...<br />

ist<br />

vielleicht<br />

ein<br />

schlicht-Glaweg ein Verrückter, der sich in manischer<br />

Schwesterlein ist – 581 ein – 22.9.91”, Glas vielleicht<br />

auch politisch Erscheinendes wie „Hoyerswerda<br />

– 582 ist – 22.9.91“, oder ganz Glas poetisch<br />

Weise nicht mehr von einer besitzergreifen<strong>den</strong><br />

Idee befreien kann? Diese Frage muß<br />

Ein<br />

ist ein<br />

Glas<br />

Glas...<br />

ist ein Glas<br />

am selben Tag „Miss Robinson – 583 –<br />

sich bisweilen der Freiburger Maler Peter<br />

22.9.91“.<br />

Dreher stellen, <strong><strong>den</strong>n</strong> er arbeitet seit 1972 an<br />

Ein der möglicherweise<br />

ist ein<br />

Glas monoton<br />

Glas...Ein<br />

ist wirken<strong>den</strong> Peter Dreher schafft auf diese Weise einen<br />

ein Glas<br />

Glas<br />

ist ein<br />

ist<br />

Glas<br />

Serie „Tag um Tag ein guter Tag“.<br />

autonomen Mikrokosmos seiner Bildwelten,<br />

der sich geschlossen wirkt und <strong>den</strong>-<br />

Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />

Scheinbar kunstlos überträgt er dazu die<br />

noch mit dem Makrokosmos unserer<br />

Ein Umrisse seiner<br />

ist Glas Bildformen<br />

Glas...<br />

ist mittels einerGlas Lebenswelten ist korrespondiert. ein Glas Ähnlich wie<br />

Schablone, um das mit <strong>den</strong> klaren Fensterreflexen<br />

und vor dem hellem, neutralen<br />

der amerikanische Konzeptkünstler On<br />

Ein<br />

Hintergrund<br />

ist Glas<br />

eines Tisches<br />

Glas...<br />

ist<br />

und einer<br />

ein<br />

WandGlas Kawara, dessen ist äußerlich ein glatte Glas Datumsbilder<br />

innen mit aktuellen Zeitungsfragmenten<br />

dann brav und detailliert mit Ölfarbe auszumalen.<br />

Wenn man eines der Bilder gesehen<br />

ausgekleidet sind und so ihren Entstehungszeitpunkt<br />

ebenso dokumentieren wie<br />

Ein hat, so könne<br />

ist ein<br />

Glas man sich die<br />

Glas...Ein<br />

ist achtundachtzig ein Glas<br />

Glas<br />

ist ein<br />

ist<br />

Glas<br />

restlichen <strong>den</strong> neuen Räumen der Galerie<br />

kommentieren, stellt Peter Dreher seine<br />

Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />

Axel Thieme vielleicht sparen…<br />

scheinbar nur ästhetischen Artefakte in<br />

einen diskursiven Zusammenhang mit dem<br />

Ein Könnte man<br />

ist ein<br />

Glas wirklich? Dem<br />

Glas...<br />

ist konzentrierten ein Glas Betrachter, ist wodurch ein der Titel Glas der Serie<br />

und behutsamen Betrachter erschließen<br />

auch programmatischen Charakter gewinnt<br />

sich bei einer langsamen Beschäftigung mit<br />

Ein<br />

ist Glas<br />

Glas...<br />

ist ein Glas und womöglich ist <strong>den</strong> ein Imperativ einer Glas bewußteren<br />

Lebensführung enthalten mag.<br />

Drehers Glas-Serie bald schon subtile Differenzen<br />

der Farbigkeit, die jeder der neunundachtzig<br />

Tafeln einen eigenen Stimmungsgehalt<br />

Gerhard Kölsch<br />

Ein<br />

ist ein<br />

Glas verleihen. Mehr<br />

Glas...Ein<br />

ist noch, ein <strong>den</strong>Glas Bis zum 26.<br />

Glas<br />

ist Juni, Öffnungszeiten: ein<br />

ist<br />

Glas<br />

weichen Farbgrund des oberen Bildstrei-<br />

Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />

ein<br />

Ein<br />

ist ein<br />

Glas<br />

Glas...<br />

ist ein Glas Di–Fr 11–18.30, ist Sa ein 10–14 Uhr.<br />

Glas<br />

Ein Glas ist ein Glas ist ein Glas<br />

Ein intimer Kenner der germanischen Psyche<br />

„Das vierte Reich“ von Heleno Saña: ein Ratgeber voller Ressentiments<br />

Unter diesem Titel verspricht der<br />

Autor „der äußeren Dialektik des deutschen<br />

Volkes“ auf <strong>den</strong> Grund zu gehen. Er überfliegt<br />

ohne viel Federlesens <strong>den</strong> Dschungel<br />

der Geschichte und enthüllt geradewegs die<br />

Kausalkette von <strong>den</strong> „Raub- und Beutezügen<br />

der alten Germanen“ (die allenfalls „oft von<br />

langen Pausen unterbrochen“ waren) über<br />

die Weltkriege in die Zukunft, wohl ahnend,<br />

daß „jede antizipatorische Auslegung die<br />

Gefahr in sich birgt, sich in Pseudo-Prophetentum<br />

zu verwandeln.“ Diese Hürde unterläuft<br />

Saña souverän und bedient sich als<br />

Prophet ewiger Wahrheiten etwa der folgen<strong>den</strong><br />

Art: „ ... der Eroberungs- und Aggressionstrieb<br />

(der alten Germanen) ist noch heute<br />

eines der tiefsten psychischen Wesensmerkmale<br />

der Deutschen“ (S. 217); „Der<br />

Beuteinstinkt der alten Germanen ist keineswegs<br />

abgeklungen“ (S. 21); „Die BRD hat<br />

<strong>den</strong> uralten, tiefverwurzelten teutonischen<br />

Drang nach Machtentfaltung weitgehend<br />

geerbt.“ (S. 33).<br />

Was Sañas „prospektive Analytik“ nur auf<br />

<strong>den</strong> ersten Blick offenläßt, ist die Frage,<br />

woher nun die alten Germanen ihre tiefverwurzelten<br />

Instinkte abbekommen haben.<br />

Hat es vielleicht etwas mit Blut und Rasse zu<br />

tun? Saña würde dies vermutlich entrüstet<br />

von sich weisen, möchte er doch unter Kennern<br />

als ausgewiesener Sozialist und Antifaschist<br />

gelten.<br />

Allerdings, seine deutliche Distanz zu Prominenten<br />

des Sozialismus kommt nicht von<br />

ungefähr: Lenin etwa (seine Mutter war<br />

natürlich ausgerech<strong>net</strong> Deutsche), dessen<br />

Bolschewismus „importiertes Europäertum<br />

in seiner germanischen ungeduldigen Prägung“<br />

(S. 95) war, konnte seine Mission<br />

1917 bekanntlich nur aufgrund einer Freikarte<br />

der teutonischen Eisenbahn antreten.<br />

Es ist daher nicht verwunderlich, daß Saña<br />

sich auf eine politökonomische Betrachtung<br />

der bundesdeutschen Gesellschaft, respektive<br />

ihrer Klassenverhältnisse kaum einlassen<br />

muß. Dialektische bzw. historisch-materialistische<br />

Ansätze müssen ihm von vornherein<br />

suspekt sein. Denn auch wenn er Karl<br />

Marx bisweilen nahezu lobend (weil weniger<br />

deutsch) erwähnt, – mit Marx und Engels,<br />

„mehr mit letzterem, ... weil er der deutscheste<br />

von bei<strong>den</strong> war“ (S. 157), fing „die organisatorische<br />

Germanisierung der europäischen<br />

Arbeiterbewegung“ schon an.<br />

Sañas kaum verborgene Sympathie für<br />

Bakunin dagegen (dessen panslawistische<br />

Neigung ihn geradezu beflügelt), gibt ihm<br />

die erforderliche antizipatorische Schärfe<br />

hinsichtlich des Verhältnisses zwischen<br />

Deutschen und Russen. Nur so konnte es<br />

<strong><strong>den</strong>n</strong> auch exakt auf <strong>den</strong> Punkt gebracht<br />

wer<strong>den</strong>: „Die Russen wer<strong>den</strong> immer so bleiben,<br />

wie sie waren: indolent, träge, unzuverlässig,<br />

gutmütig, schmerzerprobt, wodkasüchtig,<br />

träumerisch und <strong><strong>den</strong>n</strong>och fähig,<br />

bis zur Selbstaufgabe und mit äußerster<br />

Tapferkeit ihre Heimat gegen je<strong>den</strong> Aggressor<br />

zu verteidigen ... .“(S. 96). Und weil die<br />

Deutschen, wie sollte es bei deren „uralten,<br />

tiefverwurzelten teutonischen Drang“ auch<br />

anders sein, ebenfalls immer so bleiben, wie<br />

sie waren, ist der weitere Lauf der Historie<br />

wohl nicht schwer zu erraten.<br />

Wenn es aber nicht Rassismus sein soll,<br />

was Saña zu seinen für die „Deutschen als<br />

Kollektiv, als Masse, als Nation“ so düsteren<br />

und jede Hoffnung auf Besserung praktisch<br />

ausschließen<strong>den</strong> Perspektiven gelangen<br />

läßt, so bleiben dazu aus dem Rest seiner<br />

Darlegungen im Wesentlichen seine profun<strong>den</strong><br />

Kenntnisse der Psychologie – genauer<br />

des Geschichtsfreudianismus, als dessen<br />

herausragender Vertreter er unzweifelhaft in<br />

die wissenschaftliche Literatur eingehen<br />

wird. Denn er hat ganz offensichtlich mehr<br />

als „bei Freud nur ein bißchen geblättert“ (S.<br />

230). Wie z. B. ein berühmter Verhaltensforscher<br />

meinte, aus jahrelangen Beobachtungen<br />

der Graugänse die Politologie<br />

fortentwickeln zu können, leistet Saña<br />

systemschöpfende Arbeit, indem er mit Sigmund<br />

Freud zugleich die graue Vergangenheit<br />

und die Zukunft des „Germanentums“<br />

erhellt: Denn die teutonische Aggressionsbereitschaft<br />

„war schon längst vorher da als<br />

individuellkollektives Syndrom, als Folge<br />

der autoritär-repressiven Orientierung …<br />

der Gesellschaftsverhältnisse … die bei <strong>den</strong><br />

zwischenmenschlichen Beziehungen täglich<br />

erlebte … Bestrafung war die wahre Ursache<br />

für die Triebunterdrückung und das Entstehen<br />

von Rachegefühlen.“ (S. 55) Und<br />

damit leuchtet ein: „Langeweile erzeugt<br />

Aggressionen, herrschsüchtige Menschen<br />

und Völker sind immer unglücklich und die<br />

Deutschen sind es in höchstem Maße.“(S.<br />

102) Also „ ... ist zu vermuten, daß sie sich<br />

für ihre grundsätzlich aggressive Triebausstattung<br />

neue Entladungsmöglichkeiten“<br />

(S.55) suchen. Fazit: „Wir sehen, daß das,<br />

was wir zusammenfassend antizipatorisch<br />

das vierte Reich nennen, letzten Endes eine<br />

psychische Angelegenheit ist … ein neuer<br />

Zyklus germanischen Machtrauschs … eine<br />

Entladung angestauter Rachegelüste und<br />

unüberwun<strong>den</strong>er Minderwertigkeitskomplexe<br />

… . Ein neuer Höhepunkt der schlimmsten<br />

Traditionen dieses Volkes …“ (S. 237)<br />

usw. usf..<br />

Das Buch, wider <strong>den</strong> deutschen Chauvinismus<br />

geschrieben, ist weder antinationalistisch,<br />

noch antichauvinistisch. Es zeigt vielmehr,<br />

wie sich mit dem Vehikel eines vulgären<br />

Psychologismus ein ungeahntes<br />

Arsenal an rassistischen Klischees und<br />

nationalistischen Vorurteilen reproduzieren<br />

läßt, in diesem Fall gegen „Die Deutschen“.<br />

Sañas Rezept lautet folgerichtig: „Die Entgermanisierung<br />

Deutschlands“(Kap. 21).<br />

Auch sporadisch eingeflochtene Versuche,<br />

<strong>den</strong> Eindruck einer Ausgewogenheit zu<br />

erwecken, erweisen sich als leichtflüchtig.<br />

So macht Saña seine „Hoffnung: die anderen<br />

Deutschen“ (Kap.21) sich selbst gleich<br />

wieder zunichte, <strong><strong>den</strong>n</strong>: „sie waren immer die<br />

Verlierer, sie wer<strong>den</strong> es wahrscheinlich wieder<br />

sein“.<br />

Im Ernst: Der Kampf gegen die Gefahr eines<br />

4. Reiches tut gewiß not – doch dazu bedarf<br />

es einer anderen Diagnostik. So wenig man<br />

die imperialistischen Ambitionen der<br />

führen<strong>den</strong> Kreise des vereinten Deutschland<br />

bestreiten und z.B. die Gefahr einer künftigen<br />

Notstandsdiktatur, eines Faschismus in<br />

neuem Gewand, (etwa unter dem Titel<br />

„Sicherung des Rechtsstaates“) ignorieren<br />

kann, sowenig darf man eine ganze Reihe<br />

von Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte<br />

übergehen. Es sei hier nur Weniges<br />

angedeutet, um zu unterstreichen, wie<br />

gewagt es wäre, Heleno Saña das Feld der<br />

Prophetie streitig zu machen: Die wirtschaftliche<br />

und militärische Rolle der Bundesrepublik<br />

erlaubt der maßgeblichen Klasse keine<br />

nationalistischen Abenteuer. Daß die friedliche,<br />

kosmopolitische Variante der deutschen<br />

Politik <strong>den</strong> Vorzug hat, ist für Saña<br />

allerdings erneuter Beweis für <strong>den</strong> „ungebrochenen<br />

Eroberungs- und Aggressionstrieb“,<br />

der sich notgedrungen halt friedlich<br />

„neue Entladungsmöglichkeiten“ suchen<br />

muß. Aber, daß die „Germanisierung Europas“<br />

etwa durch ökonomische Probleme<br />

infolge der deutschen Einheit gebremst wer<strong>den</strong><br />

könnte, paßt schon nicht mehr in seine<br />

Schablonen.<br />

Für Bewegungen „von unten gibt es für<br />

unseren Autor nur die von seiner eigentümlichen<br />

Geschichtsinterpretation gewiesene<br />

Einbahnstraße. Seine Feststellung, daß es<br />

„in der BRD keine richtige Arbeiterbewegung<br />

und deshalb auch keine richtige Linke“<br />

gibt (S.148) (warum kreidet er das nur <strong>den</strong><br />

Deutschen an?), ist an alten, gescheiterten<br />

Modellen orientiert. Sie muß daher zu der<br />

trostlosen Aussicht führen, „daß die deutsche<br />

Arbeiterklasse sich immer mehr im<br />

Fahrwasser der nationalen Eintracht bewegt<br />

und sich be<strong>den</strong>kenlos dem imperialistischen<br />

Kurs der führen<strong>den</strong> Schichten der Nation<br />

anpassen wird.“(S.152) Überhaupt kein<br />

Thema in diesem Zusammenhang sind die<br />

beträchtlichen Veränderungen der sozialkulturellen<br />

Verhältnisse in Deutschland seit<br />

<strong>den</strong> ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts,<br />

vor allem nach 1945. Wäre es z.B. nicht der<br />

Mühe Wert, aus dem Verbleib der agrarischen,<br />

vom preußischen Halbfeudalismus<br />

autoritär geprägten Schichten, die ein<br />

wesentlicher Resonanzbo<strong>den</strong> des Faschismus<br />

waren, neue Schlußfolgerungen zu ziehen?<br />

„Die unzähligen Sozial-, Protest- und außerparlamentarischen<br />

Bewegungen“ (S.151),<br />

die 68er, die Frie<strong>den</strong>s- oder Ökologiebewegung<br />

usw. vermag Saña nur von der Seite<br />

ihres Scheiterns an der politischen Oberfläche<br />

zu sehen. Ihre Ursachen, Wechselwirkungen<br />

und Vermittlungen gerade im<br />

Zusammenhang mit tieferen Schichten des<br />

sozialen, politischen oder „psychischen“<br />

Milieus bleiben ausgeblendet.<br />

Sañas Buch weist sich aus als das eines<br />

Metaphysikers, für <strong>den</strong> „Dialektik allenfalls<br />

in mechanischen Verhältnissen unveränderlicher<br />

(im Fall der Deutschen allemal unverbesserlicher)<br />

Größen besteht. Der intime<br />

Kenner der germanischen Psyche erschöpft<br />

sich darin, in unendlichen Varianten zu räsonieren,<br />

daß seit der Völkerwanderung im<br />

großen und ganzen alles beim alten geblieben<br />

ist. Die alten Germanen können sich<br />

gegen solchen Obskurantismus (Bestreben,<br />

die Menschen bewußt in Unwissenheit zu<br />

halten, ihr selbständiges Denken zu verhindern<br />

und sie an Übernatürliches glauben zu<br />

lassen) nicht mehr zur Wehr setzen. Wenn<br />

es um <strong>den</strong> gewiß schwierigen Kampf für ein<br />

künftiges Deutschland geht, vor dem die<br />

Völker keine Angst mehr haben müssen,<br />

muß man auf Ratgeber, die statt Aufklärung<br />

Ressentiments anbieten, besser verzichten.<br />

Karl-Heinz Goll<br />

Heleno Saña: „Das vierte Reich“,<br />

Rasch u. Röhring-Verlag, 1990

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!