„Wer würde denn den Hochzeitsturm schleifen ... - Zfd-online.net
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„Oteco defera“<br />
zeigt Arrabals<br />
„Fando & Lis“<br />
„Guck Lis, wie schwer das ist,“ ruft Wolfgang<br />
Vogler als Fando und macht einen<br />
Kopfstand. Er hat recht, <strong><strong>den</strong>n</strong> vor allem wie<br />
schwer Theaterspielen sein kann, zeigen die<br />
fünf SchauspielerInnen in <strong>den</strong> knapp achtzig<br />
Minuten, die Fernando Arrabals „Fando<br />
& Lis“ dauert. „Oteco defera“ heißt Darmstadts<br />
neue freie Theatergruppe: hervorgegangen<br />
ist sie aus ehemaligen SchülerInnen<br />
der Theatergruppe der Justus-Liebig-<br />
Schule; mitgenommen hat sie als Regisseur<br />
Hanno Hener und die Hypothek eines<br />
ausgezeich<strong>net</strong>en Rufes im Schülertheater.<br />
„Oteco defera“ ist eine Abkürzung und steht<br />
für „Obduktionstheatercompagnie der Entfunktionalisierung<br />
des Absur<strong>den</strong>.“ Der<br />
Pennälerhumor ist tatsächlich Programm:<br />
die Entfunktionalisierung des Absur<strong>den</strong> ist<br />
gründlich gelungen – der Abend ist sinnlos.<br />
Fando und Lis sind mit einem Wägelchen<br />
immer im Kreis nach Tar unterwegs und<br />
kommen nie an. Tar – wie könnte es auch<br />
anders sein – ist eine Chiffre. Eine Chiffre,<br />
die für eine Menge steht. Beckett hat seinen<br />
Godot vergleichsweise präzise und plastisch<br />
beschrieben. Mit Details hält sich<br />
Arrabal gar nicht erst auf: möglicherweise<br />
interessierte er sich für Themen wie Gewalt,<br />
Sexualität, Kommunikation, Nihilismus,<br />
Theater, Erdbeermarmelade, Dosenbier,<br />
<strong>den</strong> Menschen allgemein und die Gesellschaft<br />
überhaupt. Das ist durchaus möglich.<br />
Das läßt sich mit Sicherheit je<strong>den</strong>falls<br />
nicht ausschließen. Ausschließen läßt sich<br />
auch nicht, daß irgendein sensibilisierter<br />
Semiintellektueller in dem wabern<strong>den</strong> Textflachsinn<br />
irgendwelche Bedeutungssurrogate<br />
entdeckt, die ihm irgendwo und<br />
irgendwie unheimlich viel bringen – persönlich<br />
natürlich. Arrabals großzügiger<br />
Strich in der Gesamtanlage setzt sich in<br />
Handlung und Figuren fort. Fando ist ein<br />
böses Siegfriedchen, der Lis ganz lieb fesselt,<br />
ihr ganz lieb Handschellen anlegt,<br />
schröcklich droht und lauter schlimme Dinge<br />
zu tun behauptet. Klar, daß diese Comicfigur<br />
Lis liebt. Und genauso klar, daß Lis<br />
„Guck Lis, wie<br />
schwer das ist“<br />
ihren Fando liebt. Arabal zeigt Lis als eine<br />
Frau, wie Frauen eben so sind: dumm dul<strong>den</strong>d<br />
und liebend gelähmt; ein langweiliges<br />
Objekt männlicher Subjekte. Weil die bei<strong>den</strong><br />
sich nichts zu sagen haben, muß Fando<br />
Lis umbringen – sonst wäre ja rein gar<br />
nichts los. Und weil das in zehn Minuten<br />
erledigt sein könnte, tauchen zwischendurch<br />
immer wieder drei Herren mit<br />
gelbem Schirm auf und versuchen, das öde<br />
Spiel unterhaltsamer zu gestalten. Tommy<br />
Trc hat die Bühne eingerichtet: in dem<br />
engen Rund der mit schwarzen Plastikfolien<br />
verhängten Manege sitzen die maximal<br />
sechzig ZuschauerInnen auf unbequemen<br />
Holzbänken dicht am Geschehen. Das ist –<br />
wenn man nicht gerade meinen Rücken<br />
fragt – eine gute Lösung. Anne Niemeyer<br />
und Wolfgang Vogler spielen Romeo und<br />
Julia im Zirkus. Wolfgang Vogler hat es an<br />
diesem Abend übel erwischt: so peinlich<br />
schlecht gesprochen seine Liebesbekundungen<br />
über die Lippen kommen, so<br />
unglaubwürdig geraten die andressierten<br />
Wutausbrüche. Anne Niemeyer füllt die<br />
Sprechblasen brav mit Text und laßt auch<br />
sonst viel mit sich machen. Das hat mit<br />
Anne Niemeyer, Tim Lang<br />
und Falk Schüll (Foto: H. Hener)<br />
ihrem schauspielerischen Vermögen wenig<br />
und mit Arrabal eine Menge zu tun. Nicht<br />
nur ein Lichtblick, nein, funkelnde Sterne in<br />
finsterer Nacht sind Falk Schüll, Tim Lang<br />
und David Gieselmann: die drei Männer mit<br />
dem gelben Schirm. Der perfekt choreographierte<br />
Nonsens der drei kann sich sehen<br />
lassen. Hanno Heners Regie zeigt viel Liebe<br />
zum Detail. Selbst kleinste Bewegungen<br />
sind sehr genau ausgearbeitet. Es ist verblüffend,<br />
mitanzusehen, was er aus seinen<br />
SchauspielerInnen physisch herausholt; im<br />
übrigen muß er Ohrenstöpsel getragen<br />
haben.<br />
Die „Obduktionstheatercompagnie“ hätte<br />
die Leiche „Fando & Lis“ besser im Keller<br />
der Theaterliteratur liegen lassen und das<br />
Skalpell an einem anderen Stück versucht.<br />
Die bloße Deklaration der Welt als einer<br />
absur<strong>den</strong> ersetzt keine inhaltliche Auseinandersetzung;<br />
sie ist nicht einmal unterhaltsam<br />
geraten. Die SchauspielerInnen agieren<br />
mit viel Enthusiasmus und Selbstbewußtsein.<br />
Das ist eine gute Voraussetzung<br />
für weitere Produktionen, genügt auf Dauer<br />
aber nicht.<br />
P.J. Hoffmann<br />
Nummer 51 · 25.6.1993 · Seite 11<br />
Ein<br />
sist<br />
Glas<br />
ein Glas<br />
ist ein<br />
ist<br />
Glas<br />
ein Glas<br />
ist ein<br />
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Gla-<br />
Glas ist ein Glas ist ein Glas<br />
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ein Glas ist ein Glas ist ein Glas<br />
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Glas...Ein<br />
ist ein Glas<br />
Glas<br />
ist ein<br />
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Glas<br />
Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />
ein<br />
Ein Serienmaler Glas Peter ist Dreher<br />
ist ein Glas...<br />
ein Glas fens hat der ist Künstler ein allerlei Glas mitteilsame<br />
Spuren hinterlassen, aus <strong>den</strong>en sich seine<br />
der Galerie Axel Thieme<br />
Ein<br />
ist Glas<br />
Glas...<br />
ist ein Glas Befindlichkeiten, ist seine ein Gedanken, Glas ja sogar<br />
Was bringt einen Maler dazu, sich über die äußeren Ereignisse der immer wiederkehren<strong>den</strong><br />
Tage des Malens rekonstruieren<br />
zwanzig Jahre hinweg mit dem ewig gleichen,<br />
simplen Bild eines glatten Trinkglases lassen – mal nur ein simples Datum neben<br />
Ein zu beschäftigen?<br />
ist ein<br />
Glas Ist er von<br />
Glas...Ein<br />
ist irgendwelchen ein Glas der durchlaufen<strong>den</strong><br />
Glas<br />
ist ein Numerierung,<br />
ist<br />
Glas mal<br />
geheimen, dem nicht-künstlerischen Menschen<br />
verborgen bleiben<strong>den</strong> Inhalten ver-<br />
wechselhafte Botschaften wie „Webern<br />
Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />
ein–<br />
568 – 7.9.91“, oder „Brüderlein und<br />
Ein<br />
leitet wor<strong>den</strong>,<br />
ist ein<br />
Glas<br />
oder ist er<br />
Glas...<br />
ist<br />
vielleicht<br />
ein<br />
schlicht-Glaweg ein Verrückter, der sich in manischer<br />
Schwesterlein ist – 581 ein – 22.9.91”, Glas vielleicht<br />
auch politisch Erscheinendes wie „Hoyerswerda<br />
– 582 ist – 22.9.91“, oder ganz Glas poetisch<br />
Weise nicht mehr von einer besitzergreifen<strong>den</strong><br />
Idee befreien kann? Diese Frage muß<br />
Ein<br />
ist ein<br />
Glas<br />
Glas...<br />
ist ein Glas<br />
am selben Tag „Miss Robinson – 583 –<br />
sich bisweilen der Freiburger Maler Peter<br />
22.9.91“.<br />
Dreher stellen, <strong><strong>den</strong>n</strong> er arbeitet seit 1972 an<br />
Ein der möglicherweise<br />
ist ein<br />
Glas monoton<br />
Glas...Ein<br />
ist wirken<strong>den</strong> Peter Dreher schafft auf diese Weise einen<br />
ein Glas<br />
Glas<br />
ist ein<br />
ist<br />
Glas<br />
Serie „Tag um Tag ein guter Tag“.<br />
autonomen Mikrokosmos seiner Bildwelten,<br />
der sich geschlossen wirkt und <strong>den</strong>-<br />
Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />
Scheinbar kunstlos überträgt er dazu die<br />
noch mit dem Makrokosmos unserer<br />
Ein Umrisse seiner<br />
ist Glas Bildformen<br />
Glas...<br />
ist mittels einerGlas Lebenswelten ist korrespondiert. ein Glas Ähnlich wie<br />
Schablone, um das mit <strong>den</strong> klaren Fensterreflexen<br />
und vor dem hellem, neutralen<br />
der amerikanische Konzeptkünstler On<br />
Ein<br />
Hintergrund<br />
ist Glas<br />
eines Tisches<br />
Glas...<br />
ist<br />
und einer<br />
ein<br />
WandGlas Kawara, dessen ist äußerlich ein glatte Glas Datumsbilder<br />
innen mit aktuellen Zeitungsfragmenten<br />
dann brav und detailliert mit Ölfarbe auszumalen.<br />
Wenn man eines der Bilder gesehen<br />
ausgekleidet sind und so ihren Entstehungszeitpunkt<br />
ebenso dokumentieren wie<br />
Ein hat, so könne<br />
ist ein<br />
Glas man sich die<br />
Glas...Ein<br />
ist achtundachtzig ein Glas<br />
Glas<br />
ist ein<br />
ist<br />
Glas<br />
restlichen <strong>den</strong> neuen Räumen der Galerie<br />
kommentieren, stellt Peter Dreher seine<br />
Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />
Axel Thieme vielleicht sparen…<br />
scheinbar nur ästhetischen Artefakte in<br />
einen diskursiven Zusammenhang mit dem<br />
Ein Könnte man<br />
ist ein<br />
Glas wirklich? Dem<br />
Glas...<br />
ist konzentrierten ein Glas Betrachter, ist wodurch ein der Titel Glas der Serie<br />
und behutsamen Betrachter erschließen<br />
auch programmatischen Charakter gewinnt<br />
sich bei einer langsamen Beschäftigung mit<br />
Ein<br />
ist Glas<br />
Glas...<br />
ist ein Glas und womöglich ist <strong>den</strong> ein Imperativ einer Glas bewußteren<br />
Lebensführung enthalten mag.<br />
Drehers Glas-Serie bald schon subtile Differenzen<br />
der Farbigkeit, die jeder der neunundachtzig<br />
Tafeln einen eigenen Stimmungsgehalt<br />
Gerhard Kölsch<br />
Ein<br />
ist ein<br />
Glas verleihen. Mehr<br />
Glas...Ein<br />
ist noch, ein <strong>den</strong>Glas Bis zum 26.<br />
Glas<br />
ist Juni, Öffnungszeiten: ein<br />
ist<br />
Glas<br />
weichen Farbgrund des oberen Bildstrei-<br />
Glas ist ein Glas ist ein Glas...<br />
ein<br />
Ein<br />
ist ein<br />
Glas<br />
Glas...<br />
ist ein Glas Di–Fr 11–18.30, ist Sa ein 10–14 Uhr.<br />
Glas<br />
Ein Glas ist ein Glas ist ein Glas<br />
Ein intimer Kenner der germanischen Psyche<br />
„Das vierte Reich“ von Heleno Saña: ein Ratgeber voller Ressentiments<br />
Unter diesem Titel verspricht der<br />
Autor „der äußeren Dialektik des deutschen<br />
Volkes“ auf <strong>den</strong> Grund zu gehen. Er überfliegt<br />
ohne viel Federlesens <strong>den</strong> Dschungel<br />
der Geschichte und enthüllt geradewegs die<br />
Kausalkette von <strong>den</strong> „Raub- und Beutezügen<br />
der alten Germanen“ (die allenfalls „oft von<br />
langen Pausen unterbrochen“ waren) über<br />
die Weltkriege in die Zukunft, wohl ahnend,<br />
daß „jede antizipatorische Auslegung die<br />
Gefahr in sich birgt, sich in Pseudo-Prophetentum<br />
zu verwandeln.“ Diese Hürde unterläuft<br />
Saña souverän und bedient sich als<br />
Prophet ewiger Wahrheiten etwa der folgen<strong>den</strong><br />
Art: „ ... der Eroberungs- und Aggressionstrieb<br />
(der alten Germanen) ist noch heute<br />
eines der tiefsten psychischen Wesensmerkmale<br />
der Deutschen“ (S. 217); „Der<br />
Beuteinstinkt der alten Germanen ist keineswegs<br />
abgeklungen“ (S. 21); „Die BRD hat<br />
<strong>den</strong> uralten, tiefverwurzelten teutonischen<br />
Drang nach Machtentfaltung weitgehend<br />
geerbt.“ (S. 33).<br />
Was Sañas „prospektive Analytik“ nur auf<br />
<strong>den</strong> ersten Blick offenläßt, ist die Frage,<br />
woher nun die alten Germanen ihre tiefverwurzelten<br />
Instinkte abbekommen haben.<br />
Hat es vielleicht etwas mit Blut und Rasse zu<br />
tun? Saña würde dies vermutlich entrüstet<br />
von sich weisen, möchte er doch unter Kennern<br />
als ausgewiesener Sozialist und Antifaschist<br />
gelten.<br />
Allerdings, seine deutliche Distanz zu Prominenten<br />
des Sozialismus kommt nicht von<br />
ungefähr: Lenin etwa (seine Mutter war<br />
natürlich ausgerech<strong>net</strong> Deutsche), dessen<br />
Bolschewismus „importiertes Europäertum<br />
in seiner germanischen ungeduldigen Prägung“<br />
(S. 95) war, konnte seine Mission<br />
1917 bekanntlich nur aufgrund einer Freikarte<br />
der teutonischen Eisenbahn antreten.<br />
Es ist daher nicht verwunderlich, daß Saña<br />
sich auf eine politökonomische Betrachtung<br />
der bundesdeutschen Gesellschaft, respektive<br />
ihrer Klassenverhältnisse kaum einlassen<br />
muß. Dialektische bzw. historisch-materialistische<br />
Ansätze müssen ihm von vornherein<br />
suspekt sein. Denn auch wenn er Karl<br />
Marx bisweilen nahezu lobend (weil weniger<br />
deutsch) erwähnt, – mit Marx und Engels,<br />
„mehr mit letzterem, ... weil er der deutscheste<br />
von bei<strong>den</strong> war“ (S. 157), fing „die organisatorische<br />
Germanisierung der europäischen<br />
Arbeiterbewegung“ schon an.<br />
Sañas kaum verborgene Sympathie für<br />
Bakunin dagegen (dessen panslawistische<br />
Neigung ihn geradezu beflügelt), gibt ihm<br />
die erforderliche antizipatorische Schärfe<br />
hinsichtlich des Verhältnisses zwischen<br />
Deutschen und Russen. Nur so konnte es<br />
<strong><strong>den</strong>n</strong> auch exakt auf <strong>den</strong> Punkt gebracht<br />
wer<strong>den</strong>: „Die Russen wer<strong>den</strong> immer so bleiben,<br />
wie sie waren: indolent, träge, unzuverlässig,<br />
gutmütig, schmerzerprobt, wodkasüchtig,<br />
träumerisch und <strong><strong>den</strong>n</strong>och fähig,<br />
bis zur Selbstaufgabe und mit äußerster<br />
Tapferkeit ihre Heimat gegen je<strong>den</strong> Aggressor<br />
zu verteidigen ... .“(S. 96). Und weil die<br />
Deutschen, wie sollte es bei deren „uralten,<br />
tiefverwurzelten teutonischen Drang“ auch<br />
anders sein, ebenfalls immer so bleiben, wie<br />
sie waren, ist der weitere Lauf der Historie<br />
wohl nicht schwer zu erraten.<br />
Wenn es aber nicht Rassismus sein soll,<br />
was Saña zu seinen für die „Deutschen als<br />
Kollektiv, als Masse, als Nation“ so düsteren<br />
und jede Hoffnung auf Besserung praktisch<br />
ausschließen<strong>den</strong> Perspektiven gelangen<br />
läßt, so bleiben dazu aus dem Rest seiner<br />
Darlegungen im Wesentlichen seine profun<strong>den</strong><br />
Kenntnisse der Psychologie – genauer<br />
des Geschichtsfreudianismus, als dessen<br />
herausragender Vertreter er unzweifelhaft in<br />
die wissenschaftliche Literatur eingehen<br />
wird. Denn er hat ganz offensichtlich mehr<br />
als „bei Freud nur ein bißchen geblättert“ (S.<br />
230). Wie z. B. ein berühmter Verhaltensforscher<br />
meinte, aus jahrelangen Beobachtungen<br />
der Graugänse die Politologie<br />
fortentwickeln zu können, leistet Saña<br />
systemschöpfende Arbeit, indem er mit Sigmund<br />
Freud zugleich die graue Vergangenheit<br />
und die Zukunft des „Germanentums“<br />
erhellt: Denn die teutonische Aggressionsbereitschaft<br />
„war schon längst vorher da als<br />
individuellkollektives Syndrom, als Folge<br />
der autoritär-repressiven Orientierung …<br />
der Gesellschaftsverhältnisse … die bei <strong>den</strong><br />
zwischenmenschlichen Beziehungen täglich<br />
erlebte … Bestrafung war die wahre Ursache<br />
für die Triebunterdrückung und das Entstehen<br />
von Rachegefühlen.“ (S. 55) Und<br />
damit leuchtet ein: „Langeweile erzeugt<br />
Aggressionen, herrschsüchtige Menschen<br />
und Völker sind immer unglücklich und die<br />
Deutschen sind es in höchstem Maße.“(S.<br />
102) Also „ ... ist zu vermuten, daß sie sich<br />
für ihre grundsätzlich aggressive Triebausstattung<br />
neue Entladungsmöglichkeiten“<br />
(S.55) suchen. Fazit: „Wir sehen, daß das,<br />
was wir zusammenfassend antizipatorisch<br />
das vierte Reich nennen, letzten Endes eine<br />
psychische Angelegenheit ist … ein neuer<br />
Zyklus germanischen Machtrauschs … eine<br />
Entladung angestauter Rachegelüste und<br />
unüberwun<strong>den</strong>er Minderwertigkeitskomplexe<br />
… . Ein neuer Höhepunkt der schlimmsten<br />
Traditionen dieses Volkes …“ (S. 237)<br />
usw. usf..<br />
Das Buch, wider <strong>den</strong> deutschen Chauvinismus<br />
geschrieben, ist weder antinationalistisch,<br />
noch antichauvinistisch. Es zeigt vielmehr,<br />
wie sich mit dem Vehikel eines vulgären<br />
Psychologismus ein ungeahntes<br />
Arsenal an rassistischen Klischees und<br />
nationalistischen Vorurteilen reproduzieren<br />
läßt, in diesem Fall gegen „Die Deutschen“.<br />
Sañas Rezept lautet folgerichtig: „Die Entgermanisierung<br />
Deutschlands“(Kap. 21).<br />
Auch sporadisch eingeflochtene Versuche,<br />
<strong>den</strong> Eindruck einer Ausgewogenheit zu<br />
erwecken, erweisen sich als leichtflüchtig.<br />
So macht Saña seine „Hoffnung: die anderen<br />
Deutschen“ (Kap.21) sich selbst gleich<br />
wieder zunichte, <strong><strong>den</strong>n</strong>: „sie waren immer die<br />
Verlierer, sie wer<strong>den</strong> es wahrscheinlich wieder<br />
sein“.<br />
Im Ernst: Der Kampf gegen die Gefahr eines<br />
4. Reiches tut gewiß not – doch dazu bedarf<br />
es einer anderen Diagnostik. So wenig man<br />
die imperialistischen Ambitionen der<br />
führen<strong>den</strong> Kreise des vereinten Deutschland<br />
bestreiten und z.B. die Gefahr einer künftigen<br />
Notstandsdiktatur, eines Faschismus in<br />
neuem Gewand, (etwa unter dem Titel<br />
„Sicherung des Rechtsstaates“) ignorieren<br />
kann, sowenig darf man eine ganze Reihe<br />
von Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte<br />
übergehen. Es sei hier nur Weniges<br />
angedeutet, um zu unterstreichen, wie<br />
gewagt es wäre, Heleno Saña das Feld der<br />
Prophetie streitig zu machen: Die wirtschaftliche<br />
und militärische Rolle der Bundesrepublik<br />
erlaubt der maßgeblichen Klasse keine<br />
nationalistischen Abenteuer. Daß die friedliche,<br />
kosmopolitische Variante der deutschen<br />
Politik <strong>den</strong> Vorzug hat, ist für Saña<br />
allerdings erneuter Beweis für <strong>den</strong> „ungebrochenen<br />
Eroberungs- und Aggressionstrieb“,<br />
der sich notgedrungen halt friedlich<br />
„neue Entladungsmöglichkeiten“ suchen<br />
muß. Aber, daß die „Germanisierung Europas“<br />
etwa durch ökonomische Probleme<br />
infolge der deutschen Einheit gebremst wer<strong>den</strong><br />
könnte, paßt schon nicht mehr in seine<br />
Schablonen.<br />
Für Bewegungen „von unten gibt es für<br />
unseren Autor nur die von seiner eigentümlichen<br />
Geschichtsinterpretation gewiesene<br />
Einbahnstraße. Seine Feststellung, daß es<br />
„in der BRD keine richtige Arbeiterbewegung<br />
und deshalb auch keine richtige Linke“<br />
gibt (S.148) (warum kreidet er das nur <strong>den</strong><br />
Deutschen an?), ist an alten, gescheiterten<br />
Modellen orientiert. Sie muß daher zu der<br />
trostlosen Aussicht führen, „daß die deutsche<br />
Arbeiterklasse sich immer mehr im<br />
Fahrwasser der nationalen Eintracht bewegt<br />
und sich be<strong>den</strong>kenlos dem imperialistischen<br />
Kurs der führen<strong>den</strong> Schichten der Nation<br />
anpassen wird.“(S.152) Überhaupt kein<br />
Thema in diesem Zusammenhang sind die<br />
beträchtlichen Veränderungen der sozialkulturellen<br />
Verhältnisse in Deutschland seit<br />
<strong>den</strong> ersten Jahrzehnten des Jahrhunderts,<br />
vor allem nach 1945. Wäre es z.B. nicht der<br />
Mühe Wert, aus dem Verbleib der agrarischen,<br />
vom preußischen Halbfeudalismus<br />
autoritär geprägten Schichten, die ein<br />
wesentlicher Resonanzbo<strong>den</strong> des Faschismus<br />
waren, neue Schlußfolgerungen zu ziehen?<br />
„Die unzähligen Sozial-, Protest- und außerparlamentarischen<br />
Bewegungen“ (S.151),<br />
die 68er, die Frie<strong>den</strong>s- oder Ökologiebewegung<br />
usw. vermag Saña nur von der Seite<br />
ihres Scheiterns an der politischen Oberfläche<br />
zu sehen. Ihre Ursachen, Wechselwirkungen<br />
und Vermittlungen gerade im<br />
Zusammenhang mit tieferen Schichten des<br />
sozialen, politischen oder „psychischen“<br />
Milieus bleiben ausgeblendet.<br />
Sañas Buch weist sich aus als das eines<br />
Metaphysikers, für <strong>den</strong> „Dialektik allenfalls<br />
in mechanischen Verhältnissen unveränderlicher<br />
(im Fall der Deutschen allemal unverbesserlicher)<br />
Größen besteht. Der intime<br />
Kenner der germanischen Psyche erschöpft<br />
sich darin, in unendlichen Varianten zu räsonieren,<br />
daß seit der Völkerwanderung im<br />
großen und ganzen alles beim alten geblieben<br />
ist. Die alten Germanen können sich<br />
gegen solchen Obskurantismus (Bestreben,<br />
die Menschen bewußt in Unwissenheit zu<br />
halten, ihr selbständiges Denken zu verhindern<br />
und sie an Übernatürliches glauben zu<br />
lassen) nicht mehr zur Wehr setzen. Wenn<br />
es um <strong>den</strong> gewiß schwierigen Kampf für ein<br />
künftiges Deutschland geht, vor dem die<br />
Völker keine Angst mehr haben müssen,<br />
muß man auf Ratgeber, die statt Aufklärung<br />
Ressentiments anbieten, besser verzichten.<br />
Karl-Heinz Goll<br />
Heleno Saña: „Das vierte Reich“,<br />
Rasch u. Röhring-Verlag, 1990