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satirisch<br />

justizhörig<br />

experimentell<br />

wahrheitenliebend<br />

frei-volksherrschaftlich<br />

Freitag, 28.1.1994<br />

2. Kalenderwoche, 5. Jahrgang<br />

alle 14 Tage Tage<br />

Nummer 62<br />

Der General<br />

residiert im Grünzug<br />

Groß-Bieberau:<br />

<strong>CDU</strong>-<strong>Filz</strong> <strong>und</strong> Rechtextremismus beherrschen eine Gemeinde<br />

Was im nahen Darmstadt die Staatsanwaltschaft<br />

schon wiederholt auf<br />

den Plan gerufen hatte, die zum Hitler-<br />

Gruß erhobene Hand mit dem geschmetterten<br />

„Heil Hitler“, gehört nur 20 Kilometer<br />

weiter in dem kleinen Dorf Rodau<br />

(400 Einwohner) nahe Groß-Bieberau<br />

(4.000 Einwohner) im Landkreis Darmstadt-Dieburg<br />

wie anno dazumal zum<br />

Alltag des Heute: Holger, Sohn der Ortsvorsteherin<br />

Luise Späth (<strong>CDU</strong>) <strong>und</strong> derzeit<br />

bei der B<strong>und</strong>eswehr, darf seine Weltanschauung<br />

offen vor sich hertragen <strong>und</strong><br />

auch mal mit etwas zuviel Alkohol im<br />

Blut am Steuer sitzen, erzählt man sich<br />

laut tuschelnd im Dorf. Wo soviel deutscher<br />

Nationalstolz herrscht, fallen auch<br />

mal Schüsse auf Flüchtlingsunterkünfte<br />

(29.8.92) – eine von 18 Kugeln geht<br />

durchs Fenster <strong>und</strong> schlägt dicht neben<br />

dem Kopf einer Jugoslawin in die Wand.<br />

Da die rechtsradikalen Schützen ungeübt<br />

waren, ging man zur Tagesordnung über,<br />

denn der Bürgermeister Werner Seubert<br />

(<strong>CDU</strong>) wußte dem Parlament zu berichten,<br />

was die Polizei nicht weiß: „Das war<br />

niemand aus Groß-Bieberau“.<br />

Weniger offen, aber in der Öffentlichkeit,<br />

trifft sich in der Kneipe des Wirts Philipp<br />

Rauth in Rodau der „königlich-bayrische<br />

Stammtisch“. Über den Wirt, einen stolzen<br />

Alt-Nazi, wissen Groß-Bieberauer zu<br />

berichten, er habe sich seine Uniform<br />

damals maßschneidern <strong>und</strong> die Gäste<br />

strammstehen lassen.<br />

Ob das auch heute noch so ist?<br />

Verneinen mochte das niemand. Apropos<br />

Männerstammtisch: Christdemokratische<br />

Honoratioren treffen sich dort zum Maßbier<br />

mit ihrem Bürgermeister Seubert,<br />

der in Groß-Bieberau unter dem Spitznamen<br />

der „General“ residiert. Seine<br />

Parteifre<strong>und</strong>in Luise Späth, die heute im<br />

Parlament treu für seine Vorhaben<br />

stimmt, kündigt öffentlich bereits an, daß<br />

bei den nächsten Kommunalwahlen die<br />

Rep kandidieren werden – ob sie dann<br />

ihrer <strong>CDU</strong> untreu wird?<br />

Sie lesen<br />

3 Neu: Chronik der Ereignisse<br />

4 u. 5 Zweiter Giftgas-Prozeß: Gutachter sind nicht unabhängig<br />

6 u.7 Von Weimar nach Bonn <strong>und</strong> zurück<br />

8 Politiker plündern Stadt für Versorgungsunternehmen<br />

10 u. 11 Wie reif sind wir eigentlich? Darmstadt, Wolbert <strong>und</strong> Sironi<br />

12 u. 13 Bilder einer Ausstellung: Exklusiv bei uns<br />

15 „Beruf Neonazi“: Ein Propagandafilm<br />

17 u. 18 Briefe: Falsch oder richtig? RadfahrerInnen müssen warten<br />

Nächste Ausgabe:<br />

Bei den Grünen keimt die Angst<br />

In solchem Klima nimmt es denn auch<br />

weniger W<strong>und</strong>er, wenn eine grüne Frau,<br />

die zur Antirasissmus-Demo in Bonn per<br />

Plakat aufruft, am nächsten Tag die<br />

Droh-Schmiererei findet: „Wir kriegen<br />

Euch alle. Sieg Heil!“ (siehe Foto). Das<br />

erregt die ländlichen Gemüter ebensowenig<br />

wie das obligate „Heil Hitler“. Bei<br />

den Grünen keimt <strong>und</strong> wächst die Angst.<br />

Das kennt auch andere Gründe. Den rechten<br />

Konservativen in Groß-Bieberau war<br />

ihre sichere Mehrheit nicht sicher genug.<br />

Ein solcher Ausblick (Bild oben) war in<br />

früheren Zeiten den Feualherren vorbehalten,<br />

die ihre Zwingfesten auf Bergkuppen<br />

errichten ließen. Heute gibt es aber<br />

auch Bürgermeister – wie den Groß-Bieberauer<br />

„General“ Seubert –, die ihre<br />

Villen so zu plazieren verstehen. Noch<br />

dazu preiswert. Statt in Nachbars Wohnzimmer<br />

kann er seinen Blick nun in die<br />

Ferne schweifen lassen, von Schloß Lichtenberg<br />

bis zur Feste Otzberg <strong>und</strong> natürlich<br />

über seine Untertanen.<br />

Links auf dem Plakatständer eine der<br />

unverhüllten Drohungen der Groß-Bieberauer<br />

Faschisten – ob neu <strong>und</strong>/oder alt<br />

ist nicht bekannt. Die Polizei konnte bis<br />

heute keinen fassen. Bürgermeister Werner<br />

Seubert meint: Die sind nicht aus<br />

Groß-Bieberau. (Fotos: as)<br />

Freitag, 11.2.1994<br />

Vor der Kommunalwahl 1993 verzeich<strong>net</strong>e<br />

der Anrufbeantworter einer Grünen,<br />

der Architektin Beate Rupp (45): „Hier<br />

ist das Kommando … (unverständlich)<br />

… Beate, Du hast nicht mehr lange zu<br />

leben. Du wirst gelyncht, Du wirst<br />

gelyncht, Asylantenhure.“<br />

Die engagierte Darmstädter Kripo, angewiesen<br />

auf Hilfe aus der Bevölkerung,<br />

konnte die rechten Straftäter nicht fassen.<br />

☛ Fortsetzung Seite 2<br />

„Kaum zu glauben aber wahr“, titelte<br />

das „Groß-Bieberauer Anzeigenblatt“,<br />

<strong>und</strong> Bürgermeister Seubert sorgte frühzeitig<br />

dafür, daß in seiner Gemeinde die<br />

Stimmung gegen Flüchtlinge angeheitzt<br />

wurde. Am 21.1.1990 ließ er sich mit<br />

dem riesigen Holzscheit abbilden, um<br />

öffentlich zu demonstrieren: Damit habe<br />

ein „Asylant auf seinen Mitbewohner<br />

eingedroschen“. Weiter steht zu lesen:<br />

„So wird in Groß-Bieberau ganz offen<br />

davon gesprochen, daß sich bei Dunkelheit<br />

Frauen allein nicht mehr auf die<br />

Straße trauen“ – dies wird heute dementiert,<br />

vielmehr habe man Angst vor<br />

Rechtsextremisten. (Foto: as)<br />

Einzelpreis 2,70 DM<br />

Postfach 10 11 01, 64211 Darmstadt, Telefon 0 6151/71 98 96<br />

Der Herausgeber der ZD habe persönlich<br />

etwas gegen die SPD, verbreiten weiter<br />

ungeniert einige Darmstädter Sozialdemokraten.<br />

Sie ärgern sich über den Dauerbeschuß,<br />

dem sie in der ZD ausgesetzt sind,<br />

sehen sie sich doch wie ihr Alt-OB als<br />

„Opfer“ <strong>und</strong> nicht als Macher ihrer Polit-<br />

(Un-)tätigkeiten. Doch alles, was regiert,<br />

hat sich von allem, was recherchiert, auf<br />

die Finger <strong>und</strong> in die Geschäfte sehen zu<br />

lassen. Das paßt den Sozis nicht, <strong>und</strong> so<br />

zensieren sie munter <strong>und</strong> großherzöglich<br />

unerwünschte Presse.<br />

Ab sofort müssen sie verbreiten, auch die<br />

Staatsanwälte hätten persönlich etwas<br />

gegen Sozis. Nachdem sich die Strafanzeigen<br />

<strong>und</strong> Privatklagen Eike Eberts <strong>und</strong><br />

Volker Schmidts gegen den Herausgeber<br />

der ZD wegen „Verleumdung“ wiederum<br />

selbst als eine solche erwiesen hatten,<br />

bekam die Presse (außer dem obrigkeits-<br />

SPD-hörigen „Echo“ <strong>und</strong> der vertunteten<br />

„FAZ“) Wind davon, daß an dem Darmstädter<br />

<strong>Filz</strong> mehr dran ist als nur das<br />

schutzbehauptete persönliche Feindbild.<br />

Im Gefolge des Wiesbadener Lotto-Skandals<br />

kochte schlagartig am 20.1. breites<br />

Interesse an „rotem <strong>Filz</strong>“ hoch – wie die<br />

b<strong>und</strong>esweite „Bild“ titelte. Die Arbeit in<br />

der ZD war lahmgelegt. Pausenlos klingelte<br />

das Telefon wegen R<strong>und</strong>funk-Interviews<br />

<strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong>-Informationen.<br />

Ob Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher Eike Ebert<br />

auch der Staatsanwaltschaft die von ihm<br />

verwalteten Magistratsvorlagen (treffender:<br />

<strong>Filz</strong>-Nachweise) verweigern wird,<br />

wie er dies gegenüber der ZD bis jetzt<br />

erfolgreich schaffte? Immerhin konnte die<br />

ZD wegen Zensur nur über die Spitze des<br />

Eisbergs berichten.<br />

Ein Journalist wollte wissen:<br />

„Ist der Eike Ebert denn auch im <strong>Filz</strong>?“<br />

Erste Antwort: Ein Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher<br />

war gleichzeitig Direktor der überwiegend<br />

in städtischem Eigentum stehenden<br />

Stadt- <strong>und</strong> Kreissparkasse, Dank eines<br />

von den Genossen gestrickten „Lex-<br />

Ebert“, um die Gesetze halbseiden zu<br />

umschiffen. Derselbe avancierte zum B<strong>und</strong>estagsabgeord<strong>net</strong>en<br />

<strong>und</strong> gab seinen<br />

Posten bei der Sparkasse auf, nicht ohne<br />

zuvor über eine Viertelmillion vorausberech<strong>net</strong>er<br />

Rente einzusacken. Heute ist er<br />

wieder Aufsichtsratsvorsitzender in derselben<br />

Sparkasse. Über fette Dienstwagen<br />

<strong>und</strong> Reisen schweigen wir vornehmerweise.<br />

Wer, wenn nicht ein oberster Sparkassen-<br />

Kontrolleur, könnte besser für die Pfründe<br />

sorgen als derjenige, der ungeniert in aller<br />

Öffentlichkeit vorführt, wie Vorteile zu<br />

nehmen <strong>und</strong> Rente vorzeitig abzugreifen<br />

ist? Wer könnte bessere Garantie geben als<br />

ein Ober-<strong>Filz</strong>okrat, daß den Genossen-<br />

Vettern sein Wirtschaften fromme wie ihm<br />

selbst?<br />

Zweite Antwort: Die Bitte der ZD um<br />

Verfilzte Feindbilder<br />

offen<br />

bissig<br />

kritisch<br />

unabhängig<br />

überparteilich<br />

D 11485 D<br />

Zustellung der Verwaltungsvorlagen für<br />

die Vergabe von städtischen Gr<strong>und</strong>stücken<br />

<strong>und</strong> Steuergeldern für die Sozis wurde<br />

nicht erfüllt von: Oberbürgermeister<br />

Günther Metzger (SPD), Oberbürgermeister<br />

Peter Benz (SPD), Stadtkämmerer<br />

Otto Blöcker (SPD), Liegenschaftsdezernent<br />

Gert Grünewaldt (SPD), Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher<br />

Eike Ebert (SPD), Liegenschaftsausschußvorsitzendem<br />

Peter Netuschil<br />

(FDP), Rechtsamt der Stadt Darmstadt,<br />

Kommunalaufsicht des Regierungspräsidenten<br />

Dr. Horst Daum (SPD), dessen<br />

Sachbearbeiter Sabais (Sohn des sozialdemokratischen<br />

Alt-OB) <strong>und</strong> – in Folge<br />

der Koalition – Bürgermeister Michael<br />

Siebert (Grüne).<br />

… Fre<strong>und</strong>bilder<br />

Der folgende Briefwechsel mit der Kommunalaufsicht<br />

des Regierungspräsidenten<br />

gibt einen detailgetreuen Einblick in die<br />

Arbeit der Behörde. Offensichtlich werten<br />

die Beamten dort Versorgungs- <strong>und</strong> Parteiinteressen<br />

höher als bestehende Gesetze.<br />

Neben Verschleppen, Abwiegeln,<br />

Falschauskünfte erteilen, Zensieren, hohe<br />

Beamten-Gehälter kassieren <strong>und</strong> verfilzte<br />

(Partei-)Fre<strong>und</strong>e decken sind uns derzeit<br />

noch keine weiteren Eigenschaften<br />

bekannt. Der Briefwechsel ist nicht etwa<br />

Ausnahme, sondern Regel, weshalb er<br />

auch nur als exemplarischer zu verstehen<br />

ist. Weitere Schlüsse sind aus dem Folgenden<br />

zu ziehen: Wir machen darauf aufmerksam,<br />

daß es sich um keine Zeitungs-<br />

Satire handelt, die Wirklichkeit ist Satire<br />

selbst.<br />

5.3.1993 Sehr geehrter Herr Daum<br />

(z.Zt. Regierungspräsident),<br />

in den ZD-Ausgaben Nummer 43 bis 45<br />

haben wir publiziert, daß die Stadtverord<strong>net</strong>en<br />

Peter Netuschil, Volker Schmidt <strong>und</strong><br />

Eike Ebert an einer Bauherrengemeinschaft<br />

beteiligt sind, die Mittel aus öffentlichen<br />

Subventionen bezogen hat. Während<br />

Ebert eine Gegendarstellung brachte<br />

<strong>und</strong> erklärte, er sei an der Bauherrengemeinschaft<br />

nicht beteiligt, ließ Netuschil<br />

die Informationen in der Öffentlichkeit<br />

stehen. Als Vorsitzender des Liegenschaftsausschusses<br />

war er an den Beschlüssen<br />

für die Magistratsvorlage 60 aus<br />

1991 beteiligt. Volker Schmidt könnte als<br />

Mitglied im Bauausschuß teilgenommen<br />

haben, dieses entzieht sich jedoch unserer<br />

Kenntnis. Zumindest im Fall des Stadtverord<strong>net</strong>en<br />

Netuschil liegt ein Verstoß gegen<br />

§ 25 HGO vor. Wir bitten um Überprüfung<br />

<strong>und</strong> Auskunft, was Sie ermittelt haben.<br />

16.4.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />

am 5.3. hatten wir angefragt wegen eines<br />

vermuteten Verstoßes gegen §25 HGO,<br />

leider haben Sie bis heute nicht geantwortet.<br />

Ich bitte wiederholt um Auskunft <strong>und</strong><br />

erlaube mir, eine Frist bis zum 22.4. zu setzen.<br />

21.5.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />

auf mehrfache Anmahnungen unsererseits<br />

bezüglich eines vermuteten Verstoßes gegen<br />

§ 25 HGO hat Ihr Sachbearbeiter Herr<br />

Sabais am 24.3. mitgeteilt, daß „kein<br />

Handlungsbedarf“ mehr vorliege. Er<br />

schreibt, daß die Beschlüsse bereits 1991<br />

gefaßt worden <strong>und</strong> nur sechs Monate wirksam<br />

seien. Aus der Antwort geht hervor,<br />

daß Ihr Sachbearbeiter den Vorgang nicht<br />

geprüft hat. Die Magistratsvorlage mit der<br />

Nummer 60 stammt zwar aus 1991, ist jedoch<br />

erst im Januar 1993 beschlossen worden.<br />

Ist es Usus in Ihrer Behörde, Vorgänge<br />

ungeprüft bescheiden zu lassen?<br />

Des weiteren teilt die Kommunalaufsicht<br />

mit, daß wir uns an den Vorsitzenden der<br />

Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung zu wenden<br />

hätten. Erstens ist der Vorsitzende der<br />

Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung, Eike<br />

Ebert, in dem Bauprojekt aus der o.a. Magistratsvorlage<br />

selbst involviert, zum<br />

zweiten habe ich mich an Ihre Behörde gewandt,<br />

weil Sie aufsichtführend ist.<br />

Wenn Ihre Behörde die Kommunalaufsicht<br />

nicht wahrnehmen will, bitte ich um<br />

klare Auskunft, dann werde ich den Vorgang<br />

direkt an das Innenministerium weiterleiten,<br />

irgendjemand muß doch für Verstöße<br />

gegen die Hessische Gemeindeordnung<br />

zuständig sein. Bitte teilen Sie uns<br />

mit, ob die Kommunalaufsicht tätig wird.<br />

Falls die Kommunalaufsicht keine Prüfung<br />

vornimmt, bitte ich umgehend um<br />

Auskunft mit Angabe von Gründen.<br />

☛ Fortsetzung Seite 2


☛ Fortsetzung von Seite 1<br />

Frau Rupp hatte sich bereits 1990 in<br />

einem „Asylarbeitskreis“ für die r<strong>und</strong><br />

130 Flüchtlinge engagiert, die in Groß-<br />

Bieberau in 80 Containern untergebracht<br />

sind. Die Frauen helfen den Flüchtlingen<br />

bei Asylanträgen, organisieren Veranstaltungen<br />

gegen Rassismus <strong>und</strong> lösen<br />

Probleme bei der Unterbringung. Der<br />

Dorfbevölkerung jedoch bleibt es ein<br />

Rätsel, weshalb sich die Frauen um die<br />

Fremdlinge kümmern, <strong>und</strong> so gesellt sich<br />

zur Fremdenfeindlichkeit noch der perfide<br />

Verdacht sexueller Interessen – der<br />

Kreis zu Schmierereien <strong>und</strong> Drohanrufen<br />

schließt sich.<br />

Die Schmähschrift Seuberts<br />

Unverhohlen offen drohte Bürgermeister<br />

Seubert den Grünen am 4.3.93 im<br />

„Echo“, weil sie ihn wegen der Vergabe<br />

öffentlicher Aufträge angegriffen hatten:<br />

„Diesen Leuten sollte man das Handwerk<br />

legen“. Ob seine weitergehende Drohung,<br />

„alles daranzusetzen, daß die menschenverachtende<br />

Rufmordkampagne<br />

sich gegen die Urheber auswirken werde“,<br />

etwas mit dem Drohanruf zu tun hat?<br />

Die Schmähschrift Seuberts blieb ohne<br />

Reaktion in der Öffentlichkeit, denn trotz<br />

mehrfacher Zusagen druckte das „Echo“<br />

keine Gegendarstellung der Grünen – <strong>und</strong><br />

unterstützte so den Wahlkampf der <strong>CDU</strong>.<br />

Impressum<br />

Verleger <strong>und</strong> Herausgeber:<br />

Michael Grimm<br />

Unser Team :<br />

Uta Schmitt<br />

Eva Bredow<br />

Sanne Borghia<br />

Nicole Schneider<br />

Peter J. Hoffmann<br />

Rudolf Gold<br />

Ludwig v. Sinnen<br />

<strong>und</strong> freie AutorInnen<br />

Anzeigen:<br />

verantwortlich<br />

Heiner Schäfer<br />

Gültige Anzeigenpreisliste: Nr. 5<br />

Postanschrift:<br />

Zeitung für Darmstadt<br />

Postfach 10 11 01, 64211 Darmstadt<br />

Telefon 06151/719896<br />

Telefax 06151/719897<br />

Bankverbindungen:<br />

Volksbank Darmstadt<br />

BLZ 508 900 00, Konto 14 111301<br />

Spendenkonto:<br />

Postgiroamt Frankfurt<br />

BLZ 500 100 60, Konto 56 29 29-601<br />

Druck:<br />

Caro Druck<br />

Kasseler Straße 1a, 60486 Frankfurt<br />

Durchschnittliche Auflage:<br />

10.000<br />

Abonnement:<br />

jährlich DM 60,00 incl. 7% MWSt.<br />

Nachdruck <strong>und</strong> Vervielfältigungen sind nur mit<br />

Genehmigung des Verlages gestattet.<br />

Für namentlich gekennzeich<strong>net</strong>e Artikel oder<br />

Presseberichte von Parteien, Verbänden <strong>und</strong><br />

Vereinen übernehmen die jeweiligen AutorInnen<br />

die presserechtliche Verantwortung. Sie sind kein<br />

Spiegel für die Meinung der Redaktion.<br />

Personenbezogene Daten werden<br />

elektronisch gespeichert, ausschließlich intern<br />

für die Verwaltung eingesetzt <strong>und</strong> nach Ende<br />

des Zeitungsbezugs umgehend gelöscht.<br />

InformantInnen bleiben gemäß gesetzlicher<br />

Gr<strong>und</strong>lage auf Wunsch anonym.<br />

Text <strong>und</strong> Bild sind mit „QuarkXPress“<br />

auf Apple Macintosh gesetzt <strong>und</strong> unter Omnis 5 -<br />

Verlagverwaltung organisiert.<br />

Redaktionsschluß<br />

für die nächste Ausgabe: 5.2.94<br />

Der General residiert…<br />

Auch andere kämpften mit harten Bandagen<br />

gegen Grün: In Rodau wurden die<br />

Plakatständer kurz <strong>und</strong> klein geschlagen<br />

– eine Strafanzeige förderte wieder nichts<br />

ans Tageslicht.<br />

General Seubert ließ sich des öfteren als<br />

Vorkämpfer gegen Grün von „Echo“-<br />

Schreiber Fritz Weber (tw) zitieren:<br />

„Hart ins Gericht ging er (Seubert, red.)<br />

mit den Praktiken der Grünen auf<br />

Gemeindeebene. Er sprach ihnen Konsensfähigkeit<br />

ab, weil sie kommunalpolitische<br />

Unruhe schürten <strong>und</strong> sogar die<br />

Nähe zum Psychoterror nicht scheuten.“<br />

(29.11.93 „DE“). Die so Geschmähten<br />

(zwei Stadtverord<strong>net</strong>e, bei 8,7 % Stimmenanteil)<br />

begehrten mit Stellungnahmen<br />

dagegen auf. Solchermaßen im B<strong>und</strong>e<br />

mit der Presse <strong>und</strong> Gesinnungsfre<strong>und</strong>en,<br />

fordert General Seubert Befehlsgehorsam<br />

im Dorf.<br />

Die Recherche sollte eigentlich genaueren<br />

Einblick in die rechte Szene geben,<br />

aber in Rodau („unser Dorf soll schöner<br />

werden“) zählt demokratische Wehrhaftigkeit<br />

nicht gerade zum Schönheitsideal,<br />

<strong>und</strong> in Groß-Bieberau ist das wichtigste<br />

Thema die „Dorferneuerung“. Der rechte<br />

Cocktail aus Nationalgefühl <strong>und</strong> Lokalpatriotismus<br />

in der Stadt (das Dorf hat<br />

Stadtrechte) wird in den Richtlinien für<br />

die Vergabe von Gr<strong>und</strong>stücken festgeschrieben<br />

(1.3.90): „Für die Aufnahme in<br />

die Vormerkliste Wohnungsbau haben<br />

Antragsteller nachzuweisen, daß ihr ständiger<br />

Wohnsitz seit mindestens sieben<br />

Jahren in Groß-Bieberau ist…“<br />

Häuslebau: Die schnelle Mark<br />

Da die Christdemokraten mit 50,6 Prozent<br />

der Stimmen <strong>und</strong> zwölf Sitzen im<br />

Parlament tun <strong>und</strong> lassen können was sie<br />

wollen, bleiben auch die Gesetze auf der<br />

Strecke, mitsamt eigenen Satzungen <strong>und</strong><br />

Richtlinien.<br />

In den Kommunen halten die PolitikerInnen<br />

das Bauwesen für ihre vordringlichste<br />

Aufgabe, so auch in Groß-Bieberau,<br />

wo Magistrat <strong>und</strong> Parlament kaum andere<br />

Themenkreise kennen, geschweige denn<br />

auf ihre Tagesordnungen setzen. Das hat<br />

neben dem Fortschrittsglauben auch ganz<br />

praktische, handfeste, ökonomische<br />

Gründe: So kommt PolitikerIn am<br />

schnellsten zu Geld. Wo Gr<strong>und</strong>stücke<br />

gedealt <strong>und</strong> Bauaufträge vergeben werden,<br />

ist die schnelle, leichte <strong>und</strong> langlebige<br />

Mark drin.<br />

Das hat auch der gelernte Staplerfahrer,<br />

B<strong>und</strong>eswehroffizier in Reserve <strong>und</strong> studierte<br />

Betriebswirt, Bürgermeister Seubert,<br />

gelernt. Mit seiner Stimmenmehrheit<br />

in Magistrat <strong>und</strong> Parlament kennt er<br />

keine Probleme, seine (auch privaten)<br />

Wünsche landläufig als Vetterleswirtschaft<br />

oder als <strong>Filz</strong> betitelt, durchzusetzen.<br />

Moralprediger, Saubermann<br />

1989 ließ der General (seit 1984 im kommunalen<br />

Dienst der Stadt Groß-Bieberau),<br />

der ansonsten als „Saubermann der<br />

Nation“ <strong>und</strong> als „Moralprediger“ gilt –<br />

zumindest nach dem zu beurteilen, was er<br />

öffentlich proklamiert – ein neues Baugebiet<br />

namens „Ober-Ramstädter Weg“<br />

vorprüfen, das am 2.11.90 beschlußreif<br />

war. Klar, daß bei einer so hohen <strong>CDU</strong>-<br />

Mehrheit das Baugebiet auf der Ackerscholle<br />

der Tante Brauer des Parteifre<strong>und</strong>es<br />

<strong>und</strong> Stadtverord<strong>net</strong>en Fritz Albrecht<br />

liegen mußte; auch klar, daß der Kaufpreis,<br />

zwischen vier bis sechs Mark für<br />

den Quadratmeter angesiedelt, plötzlich<br />

auf 50 Mark angestiegen war, <strong>und</strong> auch<br />

klar, daß Bedenken von Landschafts- <strong>und</strong><br />

Naturschützern übergangen wurden.<br />

Käufer war die Gemeinde, um Spekulation<br />

zu verhindern, wie das Verfahren<br />

öffentlich begründet wurde.<br />

Daß die Parteifre<strong>und</strong>e alle daran verdienen<br />

wollten, zeigt der weitere Fortgang.<br />

Solche Zusammenhänge sind banal, alltäglich,<br />

demokratisch üblich <strong>und</strong> einträglich,<br />

aber sie sind auch <strong>Filz</strong>-tauglich.<br />

Rechts das Haus von „General“<br />

Seubert <strong>und</strong> links der<br />

Plan des Baugebietes „Ober -<br />

Ramstädter Weg“. Deutlich<br />

ist darauf der Grünzug eingetragen,<br />

dunkel mit Kugelbäumen<br />

versehen. Die hellere<br />

Schraffur (siehe Pfeil) markiert<br />

das Gr<strong>und</strong>stück, das sich<br />

der Bürgermeister selbst als<br />

Residenz erwählt hat.<br />

Beim Dachdecken des Bürgermeisterhauses<br />

haben städtische<br />

Bedienstete wohl aus<br />

lauter Dankbarkeit geholfen<br />

– Rechnungen dafür liegen in<br />

der Stadtverwaltung jedenfalls<br />

keine vor. (Foto: as)<br />

Während Seubert noch am 6.6.90 die<br />

Bauplatzanwärter unter Hinweis auf die<br />

„Vergaberichtlinien“ anschreiben ließ,<br />

verfolgte er längst einen besseren Plan,<br />

wie er das Filetstück des neuen Baugebietes,<br />

einen der schönsten Plätze der<br />

Gemeinde mit Blick über die Landschaft,<br />

seinem Familienbesitz einverleiben<br />

könnte.<br />

Das Filetstück für den General<br />

Der Bebauungsplan von 1990 sah mitten<br />

im Baugebiet auf der Bergkuppe einen<br />

Grünzug vor. Das paßte Seubert nicht,<br />

denn dies hielt er berechtigt für den<br />

schönsten Platz <strong>und</strong> eines Generals für<br />

würdig. In zahlreichen formal penibel<br />

eingehaltenen <strong>und</strong> schriftlich belegten<br />

Behördenabläufen gelang es Seubert, ein<br />

zusätzliches Baugr<strong>und</strong>stück (Flur 407/1)<br />

im Grünzug auf der Bergkuppe ausweisen<br />

zu lassen, das er nach mehreren<br />

Änderungen des Planes schließlich im<br />

April 1992 selbst erwarb – für den<br />

erstaunlich niedrigen Preis von ca. 150<br />

Mark pro Quadratmeter.<br />

Der Preis wird jedoch in der Öffentlichkeit<br />

für „sicher“ gehalten – so die<br />

Gerüchte stimmen, ist der Bürgermeister<br />

billigst an das Gelände gekommen. Von<br />

600 bis zu 2.000 Mark liegen die Quadratmeterpreise<br />

in der Umgebung Darmstadts<br />

<strong>und</strong> gerade das traumhaft gelegene<br />

Gr<strong>und</strong>stück Seuberts müßte die obere<br />

Preisgrenze erreichen. Das Haus (siehe<br />

Foto) liegt im ehemals geplanten Grünzug,<br />

der heute nur noch als schmaler<br />

Streifen gerade ausreichend ist, um mit<br />

einer Reihe von Bäumen zum Nachbargr<strong>und</strong>stück<br />

abzugrenzen. Doch auch diese<br />

vorteilhafte Planung paßte ihm noch<br />

nicht <strong>und</strong> wieder änderte sich der Plan<br />

<strong>und</strong> sein Gr<strong>und</strong>stück wuchs in Länge <strong>und</strong><br />

Breite.<br />

Bauplätze für Parteifre<strong>und</strong>e<br />

Zwischenzeitlich versorgte er, wie sich<br />

das für ein Stadtoberhaupt gehört, 16 von<br />

ca. 34 seiner Parteifre<strong>und</strong>Innen mit Bauplätzen<br />

– wer will da nicht gern in trautem<br />

Fre<strong>und</strong>eskreise leben? Auf Anfragen<br />

nach der Vormerkliste der Anwärter für<br />

den Kauf gemeindeeigener Gr<strong>und</strong>stücke<br />

betrieb Seubert ein kleines Verwirrspiel:<br />

Mal waren es 200 BewerberInnen, mal<br />

100, ein anderes Mal 50, lediglich dem<br />

Stadtverord<strong>net</strong>en Heinrich Schmitt<br />

(SPD) gewährte er genauere Auskunft –<br />

allerdings erst im Nachhinein. Aus ihr<br />

ging hervor, daß seine Parteifre<strong>und</strong>e Rudi<br />

Lorenz (Magistratsmitglied), Heribert<br />

Lorenz (Stadtverord<strong>net</strong>er) <strong>und</strong> Werner<br />

Mattusch (ebenfalls Stadtverord<strong>net</strong>er)<br />

unter Verstoß gegen die Vergabe-Richtlinien<br />

ihre minderjährigen Kinder als<br />

Gr<strong>und</strong>stücks-KäuferInnen eingesetzt hatten.<br />

Das ist im Dorf so üblich, wenn jemand<br />

bereits schon ein Gr<strong>und</strong>stück von der<br />

Gemeinde erworben hat. Es machte den<br />

Christdemokraten auch nichts, daß die<br />

Satzung den Verkauf an unter 18jährige<br />

nicht zuläßt. Die im Parlament sitzenden<br />

Väter beteiligten sich an allen Abstimmungen,<br />

auch, wenn es um ihre „Familienangelegenheiten“<br />

ging. Der Fraktionsvorsitzende<br />

der SPD, Bernd Führer,<br />

bestätigt die „Geheimniskrämerei um die<br />

Listen“ gern, auch wenn er einen „vorsichtigen<br />

Umgang damit für erforderlich<br />

hält“.<br />

Abstimmungen in eigener Sache<br />

Abgesehen von Landschaftsbild <strong>und</strong><br />

Naturschutz, die auf der Strecke blieben,<br />

wären auch diese Vorgänge ganz alltäglich-übliche<br />

Politiker-Praxis. Doch wer<br />

so sicher im Parteisattel sitzt <strong>und</strong> in der<br />

Öffentlichkeit steht, geht noch weiter. So<br />

auch unser General. Obwohl dem des<br />

Gesetzes erfahrenen Mann bekannt sein<br />

mußte, daß er bei Entscheidungen dann<br />

nicht im Parlament anwesend sein darf,<br />

wenn über seine privaten Belange abgestimmt<br />

wird, war dies selbstverständlich.<br />

Seubert trug gar noch seine eigenen<br />

Wünsche für Änderungen des Bebauungsplanes<br />

vor. Daß seine ebenfalls<br />

begünstigten Parteifre<strong>und</strong>e die Abstimmungen<br />

nicht verließen, störte ihn nicht,<br />

ebensowenig seinen christdemokratischen<br />

Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher Anton<br />

Weiher – bei Entscheidungen in eigener<br />

Angelegenheit zu stimmen, sichert die<br />

Mehrheiten, <strong>und</strong> außerdem könnten ja<br />

andere Stadtverord<strong>net</strong>e auf die Idee kommen,<br />

daß irgendetwas nicht koscher ist.<br />

Seuberts B<strong>und</strong>eswehr-Moral<br />

Städtische Bedienstete gehen ihrem<br />

General auch gern privat zur Hand: Ob es<br />

Aufräum- oder Gartenarbeiten sind, solch<br />

kleiner Dienste kann sich der Bürgermeister<br />

nicht „erwehren“, wie er lachend<br />

öffentlich erklärte. Dagegen wäre nichts<br />

einzuwenden, wenn die Gemeinde ihre<br />

Bediensteten gegen Entgelt auch für Privatleute<br />

arbeiten ließe, doch der Stadtverwaltung<br />

ist nichts bekannt von Rechnungen,<br />

die vom Stadtoberhaupt beglichen<br />

worden wären. Da schlägt die B<strong>und</strong>eswehr-Moral<br />

des Bürgermeisters durch:<br />

Dort ist Schütze Arsch extra für die<br />

Bedienung seiner hohen Befehlsgewaltigen<br />

abgestellt (O-Ton B<strong>und</strong>eswehr). Ob<br />

Seubert seine Offizierserfahrungen mit<br />

demokratischer Bürgermeistertätigkeit<br />

verwechselt?<br />

Die Liberalen schweigen lieber zu alledem,<br />

denn ihr Bauunternehmer Walter<br />

Liebig kassiert die öffentlichen Aufträge<br />

ein, freigestellt von lästiger Konkurrenz,<br />

da Seubert von Ausschreibungen wenig<br />

hält. Zudem ist der Bauunternehmer<br />

bestens informiert über die städtischen<br />

Planungen, denn er sitzt mit im „Planungsbeirat<br />

zur Dorferneuerung“ ebenso,<br />

wie der planende Architekt Bukatsch, ein<br />

Busenfre<strong>und</strong> des Generals, der ihm auch<br />

beim Bau seiner Residenz behilflich ist<br />

<strong>und</strong> als Planer auch der öffentlichen Bauten<br />

auftreten darf.<br />

Nach erfolgreichem Anfang…<br />

So setzten sich SPD <strong>und</strong> Grüne zusammen<br />

<strong>und</strong> beratschlagten, was zu tun sei,<br />

denn die Vorgänge sind mit den Deals am<br />

Ober-Ramstädter Weg keinesfalls am<br />

Höhepunkt, sondern erst am Anfang. Das<br />

christdemokratische Familien-Duo Albrecht/Brauer<br />

verkaufte der Gemeinde<br />

nicht nur Äcker für der Politiker Einfamilienhaus-Idyllen,<br />

sondern sackt derzeit in<br />

einem Gewerbegebiet (Schaubacher<br />

Berg) kräftig ein, wird gar zu Millionären<br />

im nächsten Wohnbaugebiet am Falltor.<br />

Zufall oder <strong>Filz</strong>? Groß-Bieberau liegt in<br />

einem Landschaftsschutzgebiet, <strong>und</strong><br />

andere Baugebiete soll es nicht mehr<br />

geben.<br />

<strong>CDU</strong>-Parteifre<strong>und</strong> Daab durfte als Baugr<strong>und</strong>geber<br />

gegen harte Mark für einen<br />

Kindergarten Wohltäter spielen <strong>und</strong><br />

erzielte mit 120 Mark je Quadratmeter<br />

Preise, die treibend sind, obwohl Seubert<br />

verkündet hatte, der Spekulation Einhalt<br />

gebieten zu wollen. Dieser Preis rief alle<br />

Landwirte auf den Plan: Seitdem wollen<br />

sie gleich behandelt sein <strong>und</strong> ebensoviel<br />

Geld für ihre Ackerflächen haben.<br />

Bei so vielen Geschäften fällt es wahrlich<br />

schwer, neben der aufwendigen Organisation<br />

für die vielen offenen Hände <strong>und</strong><br />

Taschen der vielen Parteifre<strong>und</strong>Innen<br />

auch noch einen klaren Kopf für anderes<br />

zu behalten. Beispielsweise für gesetzliche<br />

Grenzen. So ist auch der Blick für die<br />

Notwendigkeit, gegen offene rechte<br />

Gewalt anzutreten – um wenigstens den<br />

Anschein zu wahren – verschleiert von<br />

den unendlich profitablen Buchhaltereien<br />

<strong>und</strong> Rechenspielen. Das Dorf wird<br />

beherrscht von 36 christdemokratischen<br />

Parteimitgliedern. Die 100 Sozialdemokraten<br />

hatten ihren Wahlkampf vernachlässigt,<br />

<strong>und</strong> es geht um, daß auch Sozialdemokraten<br />

Seubert gewählt hätten, weil<br />

sie keinen eigenen Kanidaten zu stellen<br />

vermochten – eine Wiederwahl steht erst<br />

in zwei Jahren an.<br />

Michael Grimm<br />

Ausgabe 62 28.1.1994 · Seite 2<br />

Das Bauschild weist Bürgermeister Seubert<br />

als Bauherren aus. (Foto: as)<br />

☛ Fortsetzung von Seite 1<br />

… Fre<strong>und</strong>bilder<br />

8.11.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />

in der o.a. Angelegenheit, die nunmehr<br />

über ein halbes Jahr bei Ihrer Behörde zur<br />

Bearbeitung vorliegt, war mir am 21.6.<br />

mitgeteilt worden, es werde eine Stellungnahme<br />

des Magistrats der Stadt Darmstadt<br />

eingeholt. Soweit der Magistrat die Angelegenheit<br />

aussitzen will, könnten Zwischenberichte<br />

Ihrer Behörde zumindest<br />

anzeigen, daß keine Untätigkeit vorliegt.<br />

Die Bearbeitung nimmt erstaunlich viel<br />

Zeit in Anspruch <strong>und</strong> ist sicher nicht geeig<strong>net</strong>,<br />

das Vertrauen der Öffentlichkeit in<br />

Politik <strong>und</strong> Behörden zu stärken. Gerade<br />

von aufsichtführenden Behörden sollte eine<br />

besonders korrekte <strong>und</strong> zeitnahe Bearbeitung<br />

erwartet werden können.<br />

26.11.93 Sehr geehrter Herr Grimm,<br />

es waren keine Verstöße gegen § 25 HGO<br />

festzustellen.<br />

4.12.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />

Dank für Ihre Auskunft vom 26.11.93.<br />

Nunmehr erbitte ich von Ihnen Auskunft<br />

darüber, welche Sitzungslisten, welcher<br />

städtischen Gremien von welchen Tagen<br />

vorgelegt wurden <strong>und</strong> bitte um Einsicht.<br />

7.12.1993 Sehr geehrter Herr Grimm,<br />

auf Ihr o.a. Schreiben darf ich Ihnen versichern,<br />

daß die mir von der Stadt Darmstadt<br />

vorgelegten Unterlagen für die von mir zu<br />

treffende Entscheidung eine ausreichende<br />

Gr<strong>und</strong>lage darstellten. Ein Akteneinsichtsrecht<br />

nach § 29 VwVfG steht Ihnen nicht<br />

zu, da sie nicht Beteiligter i.S.d. § 13<br />

VwVfG sind.<br />

Ergo:<br />

Betreff § 29 Verwaltungsverfahrensgesetz:<br />

„Die Behörde ist zur Gestattung des<br />

Akteneinsichtsrechts nicht verpflichtet,<br />

soweit …sie wegen der berechtigten Interessen<br />

der Beteiligten oder dritter Personen<br />

geheimgehalten werden müssen.“ Nach<br />

Meinung der Kommunalaufsicht ist demnach<br />

Vorteilnahme aus Steuermitteln, ein<br />

„berechtigtes Interesse“ der Politiker <strong>und</strong><br />

von der Kommunalaufsicht zu schützen.<br />

Betreff § 13: Der Herausgeber will auf keinen<br />

Fall Beteiligter an solchen Immobiliengeschäften<br />

zu Lasten der Steuerzahler<br />

werden (eine Zeitung am Ort im <strong>Filz</strong><br />

reicht), selbst wenn er dadurch an die<br />

Informationen käme.<br />

Neugierig geworden, leiten wir den Vorgang<br />

an den Innenminister Herbert<br />

Günther (SPD) weiter. Ob sein Ministerium<br />

vor <strong>Filz</strong> sicher ist? Ob auch die Wiesbadener<br />

wieder ein dreiviertel Jahr für eine<br />

Antwort benötigen? Vorbestellungen für<br />

die Ausgabe 75 im Oktober nimmt die ZD<br />

ab sofort entgegen. Der Herausgeber


„Manche haben keine Wohnung – macht nichts,<br />

dafür haben andere gezwungenermaßen gleich zwei“<br />

Ehepaar Maleh ist über Wohnungsamt <strong>und</strong> GWH empört<br />

„Es wird einem unmöglich gemacht,<br />

eine Sozialwohnung zu verlassen, da<br />

Kosten auf einen zukommen, die sämtliche<br />

Ersparnisse ausbeuten. Da braucht<br />

man niemandem einen Vorwurf<br />

machen, wenn er in seiner Sozialwohnung<br />

hocken bleibt, obwohl ihm diese<br />

schon lang nicht mehr zusteht.“<br />

Susanna Maleh hat ihre Sozialwohnung<br />

der „Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft<br />

Hessen“ (GWH) in der Bartningstraße<br />

– eine Zwei-Zimmerwohnung<br />

mit 61 qm für monatlich 840 Mark<br />

warm – am 3.11. mit Wirkung zum<br />

31.1.94 gekündigt, da die beiden eine<br />

größere im Mühltal gef<strong>und</strong>en hatten. An<br />

die GWH ging die Mitteilung, daß sie<br />

die alte Wohnung bereits zum 1.12. verlassen.<br />

Sie gingen davon aus, damit<br />

schnell jemandem zu helfen, der kein<br />

eigenes Dach überm Kopf hat. Und<br />

dachten dabei zum Beispiel an einen<br />

Arbeitskollegen, der obdachlos ist.<br />

Doch weit gefehlt.<br />

Ganze zwei Wochen brauchte die GWH<br />

allein, um die Kündigungsbestätigung<br />

zuzusenden (15.11.). Am 18.11. wurde<br />

den Malehs beim Amt für Wohnungswesen<br />

versichert, daß von der GWH<br />

noch keine Information über die freie<br />

Wohnung vorliege. Die gleiche Auskunft<br />

bekamen sie am 24.11. Die<br />

Freimeldung der GWH lag erst vier<br />

Wochen später, am 30.11. vor.<br />

Erst jetzt konnte das Wohnungsamt aus<br />

seinen 2.311 WohnungsbewerberInnen<br />

für öffentlich geförderten Wohnraum –<br />

davon 459 Wohnungsnotstandsfälle<br />

(Stand Ende Oktober 93) – mindestens<br />

drei BewerberInnen auswählen. Doch<br />

auch dies Amt ließ sich zwei Wochen<br />

Zeit: Die Auswahl der Bewerber habe<br />

man nach Warteliste vorgenommen.<br />

Nach welchem Schema, ob Willkür oder<br />

Schiebung dahinterstehen, das offenzulegen<br />

fordert die ZD bereits seit 1990 –<br />

bis heute ohne Erfolg.<br />

„Kriterien geben wir nicht preis“<br />

Aus dieser kleinen erwählten Gruppe<br />

darf sich die Vermieterin, in diesem Fall<br />

die GWH, jene oder jenen raussuchen,<br />

der/dem sie die Wohnung gibt. GWH-<br />

Mitarbeiterin Petra Schmidt dazu:<br />

„Unsere Kriterien geben wir gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

nicht preis“. Und das bei 1.600<br />

Wohnungen r<strong>und</strong> um Darmstadt.<br />

Verwaltungswege brauchen ihre Zeit. In<br />

diesem Fall nahm die Entscheidung für<br />

einen Nachmieter so viel Zeit in<br />

Anspruch, daß Malehs bis zum 31.1.<br />

doppelt Miete bezahlen müssen – für die<br />

Bartningstraße <strong>und</strong> für die neue Adresse<br />

im Mühltal.<br />

Die GWH bestimmte eine Frau als<br />

Nachmieterin, die in einer Drei-Zimmer-Wohnung<br />

der GWH im Wickopweg<br />

lebt, die sie laut Kündigungsfrist<br />

erst zum 1. Mai verlassen kann - ein<br />

Wohnungsnotfall? So wird die Wohnung<br />

in der Bartningstraße wohl fünf<br />

Monate leerstehen.<br />

Die GWH-Wahl fiel nicht etwa auf jene<br />

Bewerber – die das Wohnungsamt ebenfalls<br />

vorgeschlagen hatte – die im<br />

„Hotel Mathildenhöhe“ untergebracht<br />

sind. 3.000 Mark zahlt das Sozialamt<br />

monatlich für das 6 qm große Zimmer.<br />

„Wie deckt sich das mit dem städtischen<br />

Sozialetat?“, fragt wütend Ehepaar<br />

Maleh. „Wieso bekommt jemand unsere<br />

Wohnung, der eine hat, wo doch so viele<br />

auf der Straße, in Hotels oder Pensionen<br />

sitzen?“ Am meisten erbost sind sie aber<br />

über die „Lahmarschigkeit“ der Behörde<br />

<strong>und</strong> des landeseigenen Unternehmens.<br />

ZD in eigener Sache<br />

Dieser Fall zeigt wieder einmal, daß die<br />

Vergabekriterien für Sozialwohnungen<br />

an die Öffentlichkeit gehören. Und mehr<br />

als das: Wie die Frauenbeauftragte<br />

Trautel Baur <strong>und</strong> Ute Laucks von der<br />

„Teestube“ schon länger fordern (siehe<br />

ZD-Ausgabe 57): Eine „Kontingentierung“<br />

muß her. Das heißt, das Wohnungsamt<br />

dürfte für eine Wohnung nur<br />

Bewerber aus einer bestimmten Gruppe<br />

auswählen, damit auch eine Frau aus<br />

dem Frauenhaus oder ein Obdachloser<br />

von der Straße zum Beispiel Chancen<br />

hätte. Nach erfolgreicher Vermittlung<br />

wäre dann die nächste benachteiligte<br />

Gruppe am Zug. Eva Bredow<br />

Keine Verleumdung: Schmidt verliert Prozeß gegen Herausgeber<br />

Im Namen des Volkes hatte das Landgericht<br />

Darmstadt über eine Klage des<br />

Architekten Volker Schmidt gegen den<br />

Herausgeber der ZD zu entscheiden.<br />

Volker Schmidt (SPD) klagte, um zu<br />

erreichen, daß in der ZD unter<br />

Haftandrohung <strong>und</strong> Ordnungsstrafe von<br />

500.000 Mark nicht mehr verbreitet<br />

wird: „Herr Schmidt sei ein Spekulant,<br />

der tief in den Steuersäckel gegriffen<br />

<strong>und</strong> kommunalen Subventionsbetrug<br />

begangen habe. Herr Schmidt habe als<br />

Stadtverord<strong>net</strong>er <strong>und</strong> Mitglied der Partei<br />

Kenntnisse erworben, wo welche städtischen<br />

Gr<strong>und</strong>stücke für sozialen Wohnungsbau<br />

bereitgestellt werden. Er habe<br />

Insider-Kenntnisse hemmungslos ausgeschöpft.<br />

Er würde bei Baumaßnahmen,<br />

die den sozialen Wohnungsbau<br />

betreffen, nach Fertigstellung des Baus<br />

die zuviel gezahlten Gelder über eine<br />

Erhöhung des Architektenhonorars einstecken.<br />

Er habe kommunalen Subventionsbetrug<br />

<strong>und</strong> Vorteilnahme begangen.“<br />

Die Formulierung der Unterlassungsklage<br />

– eine schlechte Kurzfassung der<br />

Ein Freibrief für 4,5 Millionen<br />

Wohnungen mit Tiefgaragen auf dem Ruthsplatz<br />

Mit dem sozialen Wohnungsbau ist das<br />

so eine Krux: Obwohl wir einen auch<br />

amtlich attestierten Wohnungsnotstand<br />

haben, der vor allem untere VerdienerInnen<br />

<strong>und</strong> Arbeitslose trifft, baut<br />

Darmstadts größter Bauherr, der Bauverein<br />

für Arbeiterwohnungen – ein<br />

Unternehmen zu 100 Prozent im Eigentum<br />

der Stadt – teure Eigentumswohnungen,<br />

Beispiel Kranichstein K6. Bauvereinschef<br />

Heinz Reinhard erklärt<br />

gegenüber der ZD, der soziale Wohnungsbau<br />

sei überhaupt nicht mehr kalkulierbar,<br />

da das Land Hessen den Bau<br />

von Tiefgaragen nicht mehr finanziere.<br />

Dies bestätigt Wiesbaden. Dennoch<br />

werden wie üblich in der heutigen automobilen<br />

Gesellschaft keine 50 Meter<br />

vom leerstehenden TH-Parkhaus entfernt<br />

auf dem Ruthsplatz (siehe Foto<br />

oben: hs) wieder Tiefgaragen gebaut.<br />

Auf Anfrage, ob der Bauverein die<br />

Berechnung für Sozial-Bauten zustellen<br />

würde, hatte Bauvereinshef Reinhard<br />

bereits im März 93 erklärt: „Sie kriegen<br />

die nicht, damit sie es mit mir so machen<br />

wie mit dem Schmidt.“ Jede eingehende<br />

Magistratsvorlage prüften wir darauf-<br />

publizierten ZD-Artikel, aufgesetzt vom<br />

gegnerischen Rechtsanwalt – bezogen<br />

sich auf die Ausgabe 49, auf den Artikel<br />

„Ein verdienstvoller, verdienender<br />

Mann“. Schmidt war namentlich nicht<br />

erwähnt („Der Name? Spielt keine Rolle,<br />

er hat viele Namen.“), deshalb,<br />

begründen die Richter, „bleibt es dem<br />

Leser völlig überlassen, ob er den Kläger<br />

(Schmidt) mit den Ausführungen in<br />

Verbindung bringen will.“<br />

Die Richter, Jaekel, Diesing <strong>und</strong> Feimer,<br />

vermochten auch in dem zweiten<br />

Artikel, „Ein Architekt greift tief in den<br />

Steuersäckel: Fälle kommunalen Subventionsbetruges?“<br />

keinen Gr<strong>und</strong> finden,<br />

eine Wiederholung unter Strafe zu<br />

stellen: „ Der Hinweis auf die erforderliche<br />

Einsichtnahme in weitere Akten<br />

macht deutlich, daß selbst die zitierte<br />

Wertung des … Fachmannes nur eine<br />

vorläufige Beurteilung sein kann.“<br />

Damit haben die Richter die Sachlage<br />

treffend erfaßt: Sämtliche Behörden <strong>und</strong><br />

Politiker verweigern der ZD die Herausgabe<br />

von Unterlagen, aus denen weitere<br />

vorteilsnehmende Geschäfte des Volker<br />

hin, ob die Berechnungen für den Ruthsplatz<br />

angefügt sind. Doch Reinhard hatte<br />

Recht behalten: Wir haben sie nicht<br />

bekommen. Am Ruthsplatz baut der<br />

Bauverein vier Sozialwohnungen in<br />

einem Altbau, die von Architekten<br />

ordentlich durchkalkuliert sind. Daneben<br />

entsteht ein Neubau für 32 Wohnungen,<br />

für die jeoch keine Berechnungen<br />

offengelegt sind. Das Land Hessen zahlt<br />

etwas über 5 Millionen, die Stadt 4,5<br />

Millionen – davon 993.000 Mark für die<br />

Tiefgaragen.<br />

Zahlreiche weitere Anfragen bei den<br />

zuständigen Dezernenten förderten<br />

Merkwürdiges ans Tageslicht: Für das<br />

Bauvorhaben gibt es zwei Magistratsvorlagen<br />

(Nr. 0619 <strong>und</strong> 0158), mehr<br />

nicht. Das heißt, unser Parlament hat<br />

darüber abgestimmt, ohne die Berechnungen<br />

zu kennen <strong>und</strong> dem Bauverein<br />

gleichsam einen Freibrief über 4,5 Millionen<br />

für den Bau ausgestellt.<br />

Es mochte auch niemand bestätigen, daß<br />

dort statt Sozial- möglicherweise auch<br />

Eigentumswohnungen errichtet werden<br />

<strong>und</strong>, wenn ja, wieviele. sb<br />

Schmidt nachweisbar werden könnten.<br />

Mit der Zensur der ZD werden sich die<br />

Gerichte demnächst auf Klage des Herausgebers<br />

befassen müssen, ist doch die<br />

Tatsache, daß die Unterlagen vorenthalten<br />

werden, der sichere Hinweis auf<br />

weitere tote H<strong>und</strong>e.<br />

Gegen Schmidt ermittelt von Amts<br />

wegen die Staatsanwaltschaft in gleicher<br />

Angelegenheit – auch wenn das<br />

„Echo“ Schmidt im O-Ton zitierte, er<br />

habe Selbstanzeige erstattet. Die angebliche<br />

Flucht nach vorn soll retten, was<br />

noch möglich ist: Das öffentliche Ansehen<br />

bis zur denkbaren Eröffnung eines<br />

Strafverfahrens; letzteres ist abhängig<br />

davon, ob es dem Staatsanwalt gelingt,<br />

die Beweise zusammenzutragen.<br />

Die Meldung im Echo war zugleich Premiere:<br />

Das Blatt hat zum ersten Mal seit<br />

März 1990 seinen LeserInnen vorgeführt,<br />

daß es eine zweite Zeitung in<br />

Darmstadt gibt. Wohl auch nur, weil<br />

„Hessischer R<strong>und</strong>funk“, „Bild“ <strong>und</strong><br />

andere ein Publizieren unumgänglich<br />

hatten werden lassen.<br />

Wir werden berichten. mg<br />

CHRONIK<br />

Ausgabe 62 28.1.1994 · Seite 3<br />

02.01.94 HESSEN-SPD: Regierungssprecher Erich Stather (SPD) wird von der Landesregierung<br />

entlassen. Außer daß Unstimmigkeiten in der<br />

Pressepolitik bestünden, mag Stather nichts sagen. Die<br />

Abfindung war offensichtlich hoch genug.<br />

04.01.94 BÜRGERKRIEG IN MEXICO. Eine Guerillabewegung namens „Zapatista“ besetzt<br />

in der mexikanischen Provinz Chiapas mehrere Städte, die<br />

Indios wehren sich gegen behördliche Übergriffe – 12.000<br />

Soldaten sollen ein Ende bereiten werden aber mit den Indios<br />

nicht fertig.<br />

05.01.94 SPD-FILZ IN WIESBADEN. Lotto-Manager Hanns-Detlev von Uckro (SPD)<br />

sackt für Mehrfachtätigkeiten hohe Summen ein: 240.000<br />

Mark Gehalt + zwei Tantiemen pro Jahr, Rente 3.111 Mark<br />

<strong>und</strong> 5.000 Mark Beratungshonorar. Staatssekretär Otto<br />

Geske (SPD) lügt wiederholt in der Öffentlichkeit, wird von<br />

seiner Finanzministerin Fugmann-Heesing (SPD) gedeckt<br />

<strong>und</strong> Ministerpräsident Eichel (SPD) schweigt; erst am 13.1.<br />

gibt er die Entlassung Geskes bekannt. Abfindungen <strong>und</strong><br />

Altersversorgung um etwa 800.000 Mark sollen seinem<br />

Vorgänger Dumschat (SPD) den vorzeitigen Abgang (5<br />

Monate) versüßt haben. Reisen, Dienstfahrzeuge, Versorgungsbezüge<br />

– die Genossen sahnen ab, wo es nur geht.<br />

12.01.94 LUFTANGRIFFE AUF SERBIEN? Nato-Gipfel in Brüssel unter Beteiligung des US-<br />

Präsidenten Bill Clinton droht Serbien. Dem dringenden<br />

Wunsch Polens, der Tschechischen Republik <strong>und</strong> Ungarns<br />

für eine Aufnahme in die Nato, folgt der Westen nicht.<br />

§ 218: Das Berufsverbot für den Frauenarzt Horst Theißen wird vom Landgericht<br />

Augsburg aufgehoben <strong>und</strong> die reduzierte Haftstrafe<br />

von eineinhalb Jahren auf Bewährung ausgesetzt.<br />

14.01.94 SPD-FILZ IN WIESBADEN. Lotto-Manager Hanns-Detlev von Uckro (SPD)<br />

fliegt von Ministerpräsidents Gnaden.<br />

DA ROCK FÜR OBDACHLOSE: Benefiz-Konzert in der Bessunger Knabenschule,<br />

der Erlös von fast 6.000 Mark geht zu je einer Hälfte an die<br />

Bahnhofsmission <strong>und</strong> an die Teestube.<br />

RECHTSRADIKALE? Ein behindertes Mädchen aus Halle behauptet von drei<br />

Skinheads überfallen worden zu sein: Sie sollen ihr ein<br />

Hakenkreuz in das Gesicht geschnitten haben – die Meldung<br />

geht um die Welt. Tags darauf demonstrieren laut Agenturen<br />

15.000 gegen rechte Gewalttäter. Später tritt die Staatsanwaltschaft<br />

an die Öffentlichkeit: Das Mädchen soll sich die<br />

NS-Rune selbst eingeritzt haben. Die ARD-Sendung „ZAK“<br />

weiß von 80 Überfällen auf Behinderte im Jahr 93.<br />

AFFÄRE BAD KLEINEN: Wolfgang Grams erschoß sich selbst, so das Fazit der<br />

Justiz, <strong>und</strong> schließt die Akten.<br />

ATOMARE WAFFEN: Die Ukraine sichert zu, ihre Atomwaffen zu vernichten.<br />

Clinton <strong>und</strong> Jelzin vereinbaren, mit ihren Atomraketen nicht<br />

mehr aufeinander zu zielen.<br />

DA STRAßENBAHN NACH KRANICHSTEIN: 60.000 Mark hat der Magistrat für ein<br />

Gutachten zur Umweltverträglichkeit bewilligt.<br />

15.01.94 NAMENLOSE SINTI UND ROMA: Eine Liste mit den Namen von 22.000 in Auschwitz<br />

ermodeten Sinti <strong>und</strong> Roma übergab deren Verbandsvorsitzender<br />

an OB Benz. Die ZD war zensiert worden, <strong>und</strong><br />

bat den Sinti <strong>und</strong> Roma-Verband um die Namen der aus<br />

Darmstadt stammenden NS-Opfer. Obwohl es 48 Jahre<br />

gedauert hat, bis dieser Wunsch geäußert worden ist,<br />

möchte der Verband noch immer nicht, daß die Namen von<br />

22 in Darmstadt Geborenen publiziert werden.<br />

17.01.94 KORRUPTES ITALIEN: Präsident Scalfaro löst das Parlament auf. Neuwahlen<br />

sollen am 27. März sein. Gegen r<strong>und</strong> ein Drittel der Parlamentarier<br />

laufen Ermittlungsverfahren wegen Korruption.<br />

18.01.94 DA POSTGEBÄUDE AM HAUPTBAHNHOF: Der 100-Millionen-Neubau vom Sommer<br />

93, paßt der Post bald nicht mehr ins Konzept. Sie<br />

schaut sich nach Mietern um.<br />

19.01.94 DA GESUNDHEITSAMT: Wegen verschiedener Pflichtverletzungen ist Chef Dr.<br />

Jürgen Altrock suspendiert worden. Vor allem Eltern hatten<br />

ihn wegen der angeblichen „Ruhr-Epidemie“ hart kritisiert.<br />

DEUTSCHE SOLDATEN IN ALLER WELT: Ein deutsches Flugzeug wurde über Bosnien<br />

beschossen – zwei Treffer zwangen zur Umkehr.<br />

KEIN HEROIN AUF KRANKENSCHEIN: Die Stadt Frankfurt darf kein Heroin an<br />

Süchtige abgeben, entschied das B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsministerium.<br />

Schneider, vom Frankfurter Drogenreferat, nannte<br />

dies einen „Rückfall in die drogenpolitische Steinzeit“.<br />

20.01.94 DA MAHNMAL ZUM 50. JAHRESTAG DES KRIEGSENDES. Eine Jury beauftragt den<br />

Darmstädter Bildhauer Thomas Duttenhöfer mit der Ausführung.<br />

Kosten: 250.000 Mark.<br />

SPD-FILZ IN WIESBADEN. Nun tritt auch Finanzministerin An<strong>net</strong>te Fugmann-<br />

Hessing zurück. Nachfolger ist der bisherige Wirtschaftsminister<br />

Ernst Welteke, dem Lothar Klemm folgt.<br />

22.01.94 DEUTSCHE SOLDATEN IN ALLER WELT: B<strong>und</strong>eswehrsoldaten erschießen eine<br />

Somalier in Belet Uen, weil er nachts in das deutsche Tanklager<br />

habe eindringen wollen.<br />

24.01.94 KORRUPTES ITALIEN: Wahlniederlagen <strong>und</strong> Affären bereiten der Democrazia<br />

Cristiana, 45 Jahre lang Regierungspartei, das Ende <strong>und</strong><br />

eine Spaltung in Volkspartei (PPI) <strong>und</strong> Zentrum (CCD).<br />

25.01.94 CLUBHOTEL SEHR in Flammen: Brandstiftung? Das leerstehende Clubhotel<br />

bei Messel ist bis auf die Gr<strong>und</strong>mauern niedergebrannt,<br />

10.000 Liter Reinigungsmittel flossen in die Bäche.<br />

BRD-WAFFENHANDEL: Ein deutscher Frachter, der für den Irak bestimmten<br />

Raktentreibstoff an Bord hatte, ist Ende Dezember im saudiarabischen<br />

Hafen Dschidda aufgehalten worden. Mal wieder<br />

ein deutscher Waffen-Transport trotz UN-Embargo.<br />

NEUER BUNDESPRÄSIDENT?: <strong>CDU</strong>-B<strong>und</strong>esvorstand nominiert Roman Herzog,<br />

Präsident des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts zur Wahl, als<br />

Nachfolger von B<strong>und</strong>espräsident Weizsäcker .<br />

NEUER US-VERTEIDIGUNGSMINISTER wird William Perry (66), bisher stellvertrender<br />

Pentagonchef.<br />

HITLER-PLAGIAT: Hitler-Tagebücher-Fälscher Konrad Kujau bewirbt sich als<br />

Bürgermeister für seine Heimatstadt Lobau.<br />

26.01.94 VERGIFTETE NORDSEE: Auch an die schleswig-holsteinische Küste sind<br />

Päckchen mit dem giftigen Pflanzenschutzmittel „Apron<br />

plus 50 DS“ angeschwemmt worden. Im Dezember hatte<br />

der französische Frachter „Sherbro“ 88 Container davon<br />

verloren. 100.000 Tüten sollen noch in der Nordsee treiben.<br />

DA SPD-FILZ: Die <strong>CDU</strong> überlegt, einen Untersuchungsausschuß wegen der<br />

Geschäfte des Volker Schmidt (SPD) zu beantragen.<br />

01.04.94 ELEFANTEN FRESSEN WEIHNACHTSBÄUME, meldet das „DE“ am 26.1.. Darmstadts<br />

Grüne sollen beschliessen, zum 1. April einen Antrag<br />

einzubringen, daß die Stadt aus Wiederverwertungsgründen<br />

ein solches Tier anschafft. Beim Fuhr- <strong>und</strong> Reinigungsamt<br />

könnte der Stadt-Elefant namens Knecht Ruprecht Unterschlupf<br />

finden. red.


2. Irak-Giftgasprozeß:<br />

Bayer-Gutachter wollen<br />

Angeklagte entlasten<br />

Die Giftgasopfer: Von 5.000 bis zu 20.000 reichen unterschiedliche Schätzungen. Am 17. <strong>und</strong> 18. März 1988 setzte Saddam Hussein die mörderische Waffe ein. Vor Gericht<br />

stehen noch immer die Lieferanten der Produktionsanlagen von Samarra, allerdings nur wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz – nicht wegen Beihilfe zum Völkermord<br />

(Foto: Agentur)<br />

Am 17.1. 94 ist der sogenannte Irak-Giftgasprozeß<br />

vor der 13. Strafkammer des<br />

Darmstädter Landgerichts wiedereröff<strong>net</strong><br />

worden. Über ein halbes Jahr hat es damit<br />

gedauert, acht der ehemals zehn angeklagten<br />

Manager <strong>und</strong> Mitarbeiter der Firmengruppe<br />

Karl-Kolb (Dreieich) <strong>und</strong> W.E.T.<br />

(Hamburg) erneut vor Gericht zu stellen,<br />

wo sie sich wegen angeblich illegaler<br />

Exporte in den Irak zu verantworten haben<br />

– nicht etwa wegen Beihilfe zum Völkermord.<br />

Die Vorwürfe der Anklage spalten die<br />

Beschuldigten in den sogenannten Südkomplex<br />

<strong>und</strong> den Nordkomplex. Die Angeklagten<br />

des sogenannten Südkomplexes,<br />

Manager <strong>und</strong> Mitarbeiter der Karl-Kolb Firmengruppe<br />

mit Sitz in Dreieich, sollen zwischen<br />

1983 <strong>und</strong> 1985 drei Chemieanlagen<br />

in den Irak geliefert haben, die von Mitarbeiter<br />

Ewald Langer so umgebaut wurden,<br />

daß sie zur Herstellung chemischer Kampfstoffe<br />

besonders geeig<strong>net</strong> waren.<br />

Gasangriffe auf Kurden<br />

Nachdem die B<strong>und</strong>esregierung 1984 auf<br />

massiven Druck aus dem Ausland versucht<br />

hatte, die Lieferungen durch eine Verschärfung<br />

der Außenwirtschaftsverordnung zu<br />

stoppen, führten die Angeklagten Joachim<br />

Fraenzel <strong>und</strong> Helmut Maier laut Staatsanwaltschaft<br />

die Exporte über das Ausland<br />

vor, <strong>und</strong> halfen dem Irak so weiterhin beim<br />

Aufbau seiner Giftgasfabrik in Samarra.<br />

Fraenzel wird außerdem vorgeworfen, zwischen<br />

Dezember 1986 <strong>und</strong> Herbst 1988<br />

beim Export einer Anlage zur Beschichtung<br />

von Bomben gegen aggressive Chemikalien<br />

federführend tätig gewesen zu sein. In dieser<br />

Zeit erreichte der von Saddam Hussein<br />

befehligte Völkermord gegen die Kurden im<br />

eigenen Land seinen Höhepunkt: Dutzende<br />

kurdischer Dörfer <strong>und</strong> Städte wurden von<br />

der irakischen Luftwaffe mit Giftgasgranaten<br />

bombardiert. 1989, ein Jahr nachdem<br />

die Bilder verwüsteter kurdischer Städte<br />

<strong>und</strong> Dörfer durch die Weltpresse gegangen<br />

waren, nachdem allein beim Giftgasangriff<br />

auf das kurdische Halabdija nach offiziellen<br />

Angaben mindestens 5.000 Menschen<br />

grausam vergiftet worden waren, soll<br />

Fraenzel noch Ersatzteile für die Bombenbeschichtungsanlage<br />

geliefert haben.<br />

Zum Tode verurteilter Vermittler<br />

Die Angeklagten des sogenannten Nordkomplexes,<br />

die Manager der Firma W.E.T<br />

mit Sitz in Hamburg, brachten 1984 eine<br />

Maschine in den Irak, die zur Herstellung<br />

einer Bombenfertigungsstraße gedacht<br />

war. Zwei Jahre später folgte ein Kühlcontainer<br />

für die Konservierung chemischer<br />

Kampfstoffe. Der ehemalige Preussag Mitarbeiter<br />

Al Kadhi, der bei den genannten<br />

Lieferungen als Vermittler zwischen<br />

Deutschland <strong>und</strong> dem Irak fungiert hatte,<br />

soll 1986 zudem eine Bombenverschraubungsanlage<br />

in den Irak geliefert haben.<br />

1987 <strong>und</strong> 1988 führten die W.E.T. laut<br />

Anklageschrift eine Kampfstoffanlage in 28<br />

Teillieferungen in den Irak aus. Der<br />

Deutsch-lraker Al Kadhi wirkte bei dieser<br />

Ausfuhr nicht mehr mit; er war 1986 im Irak<br />

inhaftiert <strong>und</strong> zum Tode verurteilt worden,<br />

weil er – ein wahrer Geschäftsmann – Gasmasken<br />

an den Kriegsgegner des Irak, den<br />

Iran geliefert hatte. Ein Gnadengesuch<br />

Weizsäckers befreite Al Kadhi schließlich<br />

aus der Todeszelle.<br />

Der erste Giftgas-Prozeß<br />

Bei der Wiedereröffnung des Prozesses<br />

sitzt Al Kadhi nicht mehr auf der Anklagebank.<br />

Auch, wenn im Prozeß-Jargon vom<br />

„gesondert verfolgten“ Al Kadhi gesprochen<br />

wird – tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit<br />

gering, daß er sich noch einmal vor<br />

Gericht wird verantworten müssen, nachdem<br />

er im ersten Verfahren wegen mysteriöser,<br />

medizinisch nicht nachweisbarer<br />

„Absencen“ nach Hause geschickt worden<br />

war.<br />

Überhaupt war der erste Irak-Giftgasprozeß<br />

bis zu seinem oft prognostizierten <strong>und</strong><br />

schließlich doch plötzlichen Ende nicht<br />

gerade fruchtbar. Die Verteidigung hielt die<br />

Kammer mit ständigen Einstellungs-<br />

Abtrennungs - <strong>und</strong> Aussetzungsanträgen in<br />

Atem. Zur Sache wurde kaum verhandelt,<br />

<strong>und</strong> wenn es doch geschah, dann in einer<br />

Art, die Staatsanwalt Thomas Brand mit der<br />

Bemerkung kommentierte, er schätze,<br />

höchstens 5 Prozent der Verhandlungsteilnehmer<br />

verstünden die Prozeßführung des<br />

Vorsitzenden. Brands Kollege Staatsanwalt<br />

Thorer empfahl Richter Alfred Pani gar,<br />

eine Strafrechtsvorlesung des ersten<br />

Semesters zu besuchen.<br />

Als im September 1992 alle Sachverständigen<br />

beurlaubt wurden, geriet die Verhandlung<br />

zur Farce: Alle zehn Tage wurde eine<br />

kurze Hauptverhandlung anberaumt, um<br />

die Fristen zu wahren. Oft verlas die Kammer<br />

dann nur ein einziges Schriftstück,<br />

getreu der vom Richter ausgegebenen<br />

Parole: „Wir dürfen hier nicht zu viel<br />

machen.“<br />

Im November 1992 beantragte die Verteidigung<br />

mal wieder erfolglos die Aussetzung<br />

des Verfahrens, diesmal, weil das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

die Verfassungsbeschwerde<br />

der Firma Kolb wegen der Außenwirtschaftsverordnung<br />

angenommen hatte.<br />

Auch einen Befangenheitsantrag der Verteidigung<br />

gegen die Sachverständigen Knipfelberg,<br />

Jäger <strong>und</strong> Hallmann – sie sollten<br />

vor allem die vom Nordkomplex gelieferten<br />

Anlagen begutachten – lehnte die Kammer<br />

ab.<br />

Streit um Gutachter<br />

Ende Januar 1993 stand dann fest, was alle<br />

befürchtet hatten: Der Gutachter der Staatsanwaltschaft,<br />

Professor Richarz, dessen<br />

Gutachten zur Eröffnung des Prozesses<br />

geführt hatte, bat aus ges<strong>und</strong>heitlichen<br />

Gründen um seine Entlassung. Die Staatsanwaltschaft<br />

sah zu Recht den Gr<strong>und</strong>satz<br />

der Waffengleichheit verletzt, als das<br />

Gericht verkündete, sich allein auf den<br />

Sachverständigen Prof. Dialer verlassen zu<br />

wollen. Dialer war anders als Richarz zu<br />

dem Ergebnis gekommen, die vom Südkomplex<br />

exportierten Anlagen seien für die<br />

Giftgasherstellung nicht besonders konstruiert<br />

worden. Die „besondere Konstruktion“<br />

– entscheidende Frage für die Straf-<br />

barkeit<br />

– war<br />

bis zur Verschärfung<br />

der<br />

Außenwirtschaftsverordnung<br />

1984 bedingend für die<br />

Genehmigungspflicht eines Exportes.<br />

Dialer wurde aus diesem Gr<strong>und</strong> als<br />

„Gutachter der Verteidigung“ gehandelt.<br />

Kein W<strong>und</strong>er also, daß die Staatsanwaltschaft<br />

dies Anfang Februar l993 mit einem<br />

Ablehnungsantrag gegen die drei Berufsrichter<br />

<strong>und</strong> die beiden Schöffen quittierte.<br />

Die zur Entscheidung berufene 9. Strafkammer<br />

lehnte diesen Antrag jedoch nachlässig<br />

begründet ab.<br />

Hoffnung auf neuen Prozeß<br />

Im Juni 1993 gab die Kammer unter dem<br />

Vorsitz Panis dem Antrag der Staatsanwaltschaft<br />

nach, auch Professor Dialer als Gutachter<br />

zu entbinden. Vorausgegangen war<br />

eine Anhörung des Sachverständigen für<br />

Chemieanlagen, bei der Zweifel an seiner<br />

Sachk<strong>und</strong>e aufkamen. Dialer gestand ein,<br />

sein Wissen vornehmlich aus Büchern über<br />

Pestizidherstellung entnommen zu haben,<br />

in denen jedoch wegen Geheimhaltung vieles<br />

verschwiegen werde. Dennoch kam der<br />

Entschluß der Kammer, den Prozeß abzusetzen,<br />

für die Staatsanwaltschaft überraschend.<br />

Nach Ansicht des Staatsanwalts<br />

Brand hätte ohne weiteres zunächst ohne<br />

Gutachter für Chemieanlagen verhandelt<br />

werden können. Eine Beschwerde der<br />

Staatsanwaltschaft gegen die Absetzung<br />

des Prozesses vor dem OLG Frankfurt blieb<br />

erfolglos: der Giftgasprozeß war nach fast<br />

80 Verhandlungstagen, die uns SteuerzahlerInnen<br />

zwischen drei <strong>und</strong> fünf Millionen<br />

Mark kosteten, zunächst beendet. So<br />

unglücklich war die Staatsanwaltschaft<br />

jedoch über das Platzen des Prozesses<br />

nicht; Brand verband mit einer Neueröffnung<br />

des Prozesses die Hoffnung, man<br />

werde die Verhandlung straffer führen <strong>und</strong><br />

alte Fehler vermeiden.<br />

Geeig<strong>net</strong> oder nicht?<br />

Am 17.1. war es dann soweit; der Prozeß<br />

wurde vor der gleichen Kammer des Darmstädter<br />

Landgerichts wiedereröff<strong>net</strong>. Geändert<br />

hatten sich jedoch die Vorzeichen.<br />

Bereits im Dezember 1993 war in der Presse<br />

die Rede davon, nach den neuen Gutachten<br />

sei selbst der Staatsanwalt von einem<br />

Freispruch für die Angeklagten überzeugt.<br />

Auch Richter Pani eröff<strong>net</strong>e die Verhandlung<br />

mit den Worten, die Verteidigung<br />

Fraenzels werde nun ja von der Staatsanwaltschaft<br />

übernommen. Richtig ist, daß<br />

die Gutachten der Professoren Dr. Hellmut<br />

Hoffmann (vom Verband der chemischen<br />

Industrie, Wuppertal) <strong>und</strong> Dr. Wolfgang<br />

Swodenk (von den Bayer-Werken, Odhental<br />

bei Leverkusen) zu dem Ergebnis kommen,<br />

die fraglichen Chemieanlagen seien für die<br />

Produktion der Kampfstoffe Lost, Tabun<br />

<strong>und</strong> Sarin „schlecht geeig<strong>net</strong>“ gewesen. Die<br />

beiden als Ersatz für Richarz <strong>und</strong> Dialer<br />

vom Gericht bestellten Gutachter, die früher<br />

als Manager bei der Bayer AG tätig waren,<br />

vertreten nach Angaben der Staatsanwaltschaft<br />

in ihrer nur elfseitigen Untersuchung<br />

zudem die Ansicht, der ganze in Samarra<br />

befindliche Chemie-Anlagenkomplex sei<br />

nicht für die Kampfstoffherstellung besonders<br />

konstruiert gewesen – was auf Gr<strong>und</strong><br />

des Arbeitgebers auch wenig w<strong>und</strong>ert. Vermutlich<br />

habe man auf diesen Anlagen<br />

Pflanzenschutzmittel produziert. Diesen<br />

Schluß zogen die beiden Sachverständigen<br />

vor allem aus dem Fehlen elementarer<br />

Sicherheitsvorkehrungen, ohne die eine<br />

Giftgasproduktion nicht möglich sei. Der<br />

Schweizer Gutachter Richarz war in seinem<br />

Gutachten zu der Überzeugung gekommen,<br />

daß die Anlagen zur Giftgasherstellung<br />

nicht nur geeig<strong>net</strong>, sondern sogar speziell<br />

konstruiert waren.<br />

Anklagevorwürfe<br />

unbeeinträchtigt<br />

Ein Freispruch für „die Angeklagten“ folgt<br />

jedoch auch aus dem Gutachten Swodenks<br />

(bereits im Imhausen-Prozeß als Sachverständiger<br />

tätig) <strong>und</strong> Hoffmanns (ehemaliger<br />

Berater der B<strong>und</strong>esregierung bei der<br />

Abrüstungskonferenz für Chemiewaffen<br />

1991 in Genf) keineswegs. Die Angeklagten<br />

des Nordkomplexes, Leifer, Holzer <strong>und</strong><br />

Krauskopf sind von den neuen Gutachten<br />

nicht betroffen. Eine Entlastung bringen<br />

diese lediglich für die drei Hauptangeklagten<br />

des Südkomplexes Fraenzel, Maier <strong>und</strong><br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 4<br />

Darmstädter Landgericht eröff<strong>net</strong><br />

Prozeß gegen Waffenhändler<br />

mit neuen Fachleuten<br />

Langer.<br />

Die<br />

Angeklagten der<br />

Firma Karl Kolb (Südkomplex)<br />

sind nicht aus<br />

dem Schneider. Für eine Verurteilung<br />

reicht aus, wenn die Anlagen<br />

zur Giftgasproduktion geeig<strong>net</strong> waren, ein<br />

besondere Konstruktion ist für die Genehmigungspflicht<br />

nicht erforderlich. Geschaffen<br />

wurde das „Lex Kolb“ 1984, allerdings<br />

in dem sogenannten Umlaufverschweigungsverfahren,<br />

d. h. ohne ausdrückliche<br />

Zustimmung der Minister. Ob dies zur<br />

Unwirksamkeit der Verordnung führt, soll<br />

ein für April erwartetes Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />

klären. Aber auch,<br />

wenn das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht die<br />

Verordnung von 1984 für unwirksam hält,<br />

entfällt die Strafbarkeit der Manager wegen<br />

der gelieferten Anlagen nicht.<br />

BVG-Urteil wird erwartet<br />

Am 1.1.1987 wurde die Änderung der<br />

Außenwirtschaftsverordnung offiziell nachvollzogen,<br />

indem die Minister abstimmten.<br />

Die Verfassungsbeschwerde rügt allerdings<br />

nicht nur das Verfahren, sondern hält die<br />

Änderung auch materiell-rechtlich für<br />

unwirksam. So verstoße der Begriff der<br />

„Geeig<strong>net</strong>heit“, durch den auch der Export<br />

sogenannten dual-use Waren genehmigungspflichtig<br />

gemacht werden sollte,<br />

sowohl gegen den verfassungsrechtlichen<br />

Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satz als auch gegen<br />

das Übermaßverbot. Es ist demnach möglich,<br />

daß das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht die<br />

Änderung der Außenwirtschaftverordnung<br />

auch nach der Heilung des Verordnungsgebungsverfahrens<br />

vom 1. 1. 1987 für<br />

unwirksam hält <strong>und</strong> damit alle Kolb-Lieferungen<br />

am Maßstab der „besonderen Konstruktion“<br />

gemessen werden müssen.<br />

Betrug von Kolb<br />

Selbst dann bleibt jedoch zumindest nach<br />

Ansicht der Staatsanwaltschaft der<br />

Betrugsvorwurf unbeeinträchtigt, den die<br />

Anklageschrift gegen Maier <strong>und</strong> Fraenzel<br />

erhebt. Die beiden Kolb-Manager spiegelten<br />

Vertretern der B<strong>und</strong>esrepublik vor,<br />

ihnen stünde eine Schadensersatzforderung<br />

zu, weil sie nach 1984 zu Unrecht veranlaßt<br />

worden seien, ihre Lieferungen in<br />

den Irak zu unterlassen. In Wirklichkeit entstand<br />

der Firma kein Schaden, auch nach<br />

der Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />

stellte sie ihre Lieferungen an den Irak<br />

nicht ein. Zwar kam es letztlich nicht zur<br />

Auszahlung der ausgehandelten Schadensersatzsumme<br />

<strong>und</strong> damit zur Vollendung<br />

des Betrugs, die B<strong>und</strong>esregierung hatte<br />

jedoch bereits 1,6 Millionen DM zur Erfüllung<br />

ihrer angeblichen Pflichten in den B<strong>und</strong>eshaushalt<br />

eingestellt. Allerdings kann<br />

sich die Kammer mit dem Urteil in Sachen<br />

Betrug nicht allzuviel Zeit lassen, denn nach<br />

fünf Jahren – somit Ende 1994 – verjährt<br />

diese Tat.<br />

Auf ein Neues<br />

Die Wirtschaftsstrafkammer des Darmstädter<br />

Landgerichts ist offensichtlich entschlossen,<br />

diesmal alles besser zu machen.<br />

Pani eröff<strong>net</strong>e den Prozeß daher folgerichtig<br />

mit Hinweisen zum geplanten Ablauf.<br />

Das Gericht will diesmal gleich zu Beginn<br />

des Prozesses die Gutachter hören. Die<br />

Gutachten sollen, erläuterte Pani, in der<br />

hypothetischen Annahme gehört werden,<br />

die Anklagevorwürfe träfen zu. Je nach<br />

dem, zu welchem Ergebnis die Gutachter<br />

kämen, könne das Verfahren gegen den<br />

Südkomplex „erheblich verkürzt werden“.<br />

Im Klartext: Sollte eine Strafbarkeit der<br />

Manager wegen mangelnder Eignung der<br />

gelieferten Anlagen selbst bei berechtigter<br />

Anklage zu verneinen sein, könne man sich<br />

das Nachprüfen der Anklagevorwürfe – was<br />

wurde wann, von wem geliefert – ersparen.<br />

Für den Nordkomplex wollte Pani an diesem<br />

ersten Verhandlungstag, „noch keine<br />

Prognose wagen“.<br />

☛ Fortsetzung auf folgender Seite


☛ Fortsetzung<br />

2. Irak-Giftgasprozeß …<br />

Knapp vorbei ist auch daneben?<br />

Dafür erstaunte er die Öffentlichkeit: „Das<br />

vor einem Jahr in Richtung Staatsanwaltschaft<br />

gesprochene Wort, ,knapp vorbei ist<br />

auch daneben‘, ist, wenn auch nicht zur<br />

Gewißheit, so doch zur Wahrscheinlichkeit<br />

geworden.“ Das Gutachten stelle fest, daß<br />

die Anlagen, auf die sich die Anklage stütze,<br />

nicht die eigentlichen Produktionsanlagen<br />

für Giftgase seien, „sie sind scheinbar unter<br />

anderen Hausnummern zu finden“, erklärte<br />

Pani <strong>und</strong> spielte damit auf die Bezeichnung<br />

der einzelnen Gebäude in Samarra unter<br />

den Nummern P 4, P 7, P 8 etc. an. Eine<br />

Anklageschrift habe aber, das dürfe man<br />

nicht vergessen, auch Begrenzungsfunktion:<br />

„Man kann nicht von einem Misthaufen<br />

zum anderen springen, wenn man im<br />

ersten nichts findet“, das werde auch in der<br />

höheren Rechtsprechung immer wieder<br />

betont.<br />

Weder positiv noch negativ<br />

Staatsanwalt Brand, in der Prozeßpause<br />

nach der Bedeutung dieser Erklärung vom<br />

Richtertisch gefragt, reagierte gelassen:<br />

„Ich weiß auch nicht, wie der Vorsitzende<br />

darauf kommt. Wir haben uns auf die Anlagen<br />

konzentriert, die nach den Gutachten<br />

der Sachverständigen am ehesten sensibel<br />

waren. Wenn sich aus den jetzigen UN-Gutachten<br />

ergibt, daß andere Anlagen in<br />

Samarra sensibler waren, waren die möglicherweise<br />

anderer Herkunft, also nicht von<br />

‚unseren‘ Leuten. “ Auch Fraenzels Verteidiger,<br />

Rechtsanwalt Hild, wollte die Äußerung<br />

des Richters klargestellt wissen <strong>und</strong> der<br />

Vorsitzende beeilte sich, zu erklären: „Ich<br />

habe mich in keinster Weise darüber verhalten,<br />

die Herren hier seien an der Lieferung<br />

sensiblerer Anlagen beteiligt gewesen.<br />

Hierzu wurde nicht ermittelt, mehr kann ich<br />

positiv <strong>und</strong> negativ nicht sagen.“ Mit anderen<br />

Worten: Im Nachhinein wollte er nichts<br />

gesagt haben, hatte aber im Hinterkopf, daß<br />

die Russen eine Anlage für die Mengenproduktion<br />

des Kampfgases Lost lieferten -<br />

eine neue Erkenntnis im zweiten Prozeß.<br />

Schon mal gesehen<br />

Dieser Klarstellung des Vorsitzenden folgte<br />

der erste Antrag der Verteidigung, eine<br />

knappe St<strong>und</strong>e nach Eröffnung der Hauptverhandlung.<br />

Der Rechtsanwalt des Angeklagten<br />

W.E.T.-Managers, Peter Leifer, forderte<br />

die Kammer auf – für Beobachter des<br />

ersten Giftgasprozesses ein déja-vu-Erlebnis<br />

– das Verfahren gegen Leifer wegen örtlicher<br />

Unzuständigkeit des Darmstädter<br />

Landgerichts abzusetzen. Der sachliche<br />

Zusammenhang zwischen Nord- <strong>und</strong> Südkomplex,<br />

mit dem die Staatsanwaltschaft<br />

die Zuständigkeit des Darmstädter Landgerichts<br />

auch für die Hamburger Manager<br />

begründet hatte, sei nicht gegeben. Leifer<br />

werde daher unter Verstoß gegen das<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz sein gesetzlicher Richter entzogen;<br />

er habe einen Anspruch darauf, daß<br />

in Hamburg gegen ihn verhandelt werde.<br />

Rechtsanwalt Thiez-Bartram jammerte in<br />

der Begründung seines Antrags über die<br />

beklagenswerte Situation seines Mandanten.<br />

Dieser lebe von Arbeitslosenhilfe <strong>und</strong><br />

falle, werde erst die Arbeitslosenhilfe eingestellt,<br />

gar der Sozialhilfe anheim. Jeder Versuch<br />

Leifers, Arbeit zu finden, erweise sich<br />

bis genau zu dem Zeitpunkt hoffnungsvoll,<br />

zu dem Leifer eingestehe, an zwei Tagen<br />

der Woche, 600 km von Hamburg entfernt,<br />

einer Gerichtsverhandlung beiwohnen zu<br />

müssen. Die Regel, daß ein Eröffnungsbeschluß<br />

nicht rückgängig gemacht werden<br />

könne, müsse deshalb hier eine Ausnahme<br />

finden. Erwartungsgemäß widersprach<br />

Pani dem Antrag, der schon einmal im April<br />

1992 erfolglos gestellt worden war, auch<br />

diesmal: „Wir haben Angst, uns auf dieses<br />

Eis zu begeben. Unsere Strafprozeßordnung<br />

ist nicht so fragmentarisch wie die<br />

anglo-amerikanische. Dann heißt es, Ihr<br />

habt eure Kompetenzen, dann sprecht ihn<br />

doch um Himmelswillen frei.“<br />

EG-Recht abgelehnt<br />

Das nächste déja-vu-Erlebnis folgte auf<br />

dem Fuße. Der Angeklagte Schwarz, eher<br />

eine Nebenfigur im Giftgas-Prozeß, meldete,<br />

er fühle sich nicht so. Das Gericht gab<br />

ihm daraufhin auf, sich von der Amtsärztin<br />

untersuchen zu lassen. Danach bestand<br />

auch keine Klarheit über seinen Ges<strong>und</strong>heitszustand,<br />

weil die Amtsärztin nicht ausreichend<br />

ausgerüstet war, um ein Belastungs-EKG<br />

zu erstellen. Ohne dieses sei<br />

eine zuverlässige Diagnose aber nicht möglich.<br />

Gegen den Vorschlag Panis, die Hauptverhandlung<br />

zu schließen, bis die Untersuchung<br />

des Angeklagten in einer kardiologischen<br />

Abteilung Gewißheit gebracht habe,<br />

erhob Rechtsanwalt Hild lautstarken Protest.<br />

Er finde, erklärte der publicity-verwöhnte<br />

Anwalt, „dieses Krankheitsbild am<br />

ersten Verhandlungstag nicht sehr elegant.“<br />

Seinem Mandanten Fraenzel könne<br />

angesichts der Vorgeschichte des Prozesses<br />

nicht zugemutet werden, daß jetzt<br />

schon wieder unterbrochen werde. Schließlich<br />

habe man aus diesem Gr<strong>und</strong> selbst keinen<br />

einzigen Antrag gestellt. Hild setzte<br />

sich schließlich mit seinem Antrag durch,<br />

das Verfahren gegen Schwarz vorläufig<br />

abzutrennen <strong>und</strong> die Verhandlung fortzuführen<br />

„mit dem Risiko, daß wir alles, was<br />

wir ohne ihn machen, wiederholen müssen.“<br />

Nachdem das Gericht dem Antrag<br />

stattgegeben hatte, meldete sich Leifers<br />

Verteidiger Thiez-Bartram erneut zu Wort.<br />

Er stellte den ebenfalls nicht gerade neuen<br />

Antrag, die Hauptverhandlung auszusetzen<br />

<strong>und</strong> dem Europäischen Gerichtshof Rechtsfragen<br />

vorzulegen, die die Vereinbarkeit der<br />

Außenwirtschaftsverordnung mit geltendem<br />

EG-Recht betreffen. Einen ähnlichen<br />

Antrag des Anwalts hatte die Kammer<br />

bereits im Sommer 1992 mit der Begründung<br />

abgelehnt, die Einführung eines<br />

Genehmigungsverfahrens für Exporte verbleibe<br />

nach dem europäischen Vertragsrecht<br />

in der Kompetenz der Mitgliedstaaten.<br />

Thiez-Bartram hatte seine Hausaufgaben<br />

allerdings gemacht <strong>und</strong> sich mit der damaligen<br />

Rechtsauffassung der Kammer ausführlich<br />

auseinandergesetzt.<br />

Überflüssiger Prozeß?<br />

Einige Anwälte schlossen sich dem Antrag<br />

auf Nachfragen des Richters an, nur ein<br />

nicht genau zu identifizierender Spaßvogel<br />

aus den Reihen der Verteidigung merkte an:<br />

„Dafür müßte ich den Antrag noch einmal<br />

hören.“ Richter Pani erklärte, den Antrag<br />

noch nicht bescheiden zu wollen: Gr<strong>und</strong>lage<br />

sei, daß es sich um dual-use-Produkte<br />

handele, gerade in diesem Zusammenhang<br />

müßte man aber zunächst die Gutachten<br />

hören.<br />

Rechtsanwältin Michalke beantragte noch<br />

einmal, den Eröffnungsbeschluß auszusetzen.<br />

Sie habe sich mit ihren Kollegen überlegt,<br />

was passiert wäre, wenn das neue<br />

Gutachten schon im Ermittlungsverfahren<br />

vorgelegen hätte. Der Prozeß wäre dann<br />

schließlich nie eröff<strong>net</strong> worden. Fraglich sei<br />

nun, ob eine Möglichkeit bestehe, sich<br />

gewissermaßen in diesen Stand zurückzuversetzen.<br />

Sie wolle ihrem Mandanten, der<br />

in der Zwischenzeit schwer erkrankt sei,<br />

eine erneute Hauptverhandlung ersparen.<br />

Michalke vertrat die Ansicht, alle Tatkomplexe<br />

seien entscheidungsreif in dem Sinne,<br />

daß die sich die Anklagevorwürfe nicht<br />

bewahrheitet hätten. Da mag etwas dran<br />

sein, nicht umsonst kommen die neuen<br />

Gutachter aus Kreisen der deutschen Chemie-Industrie.<br />

Astrid Nungeßer<br />

Telekom verärgert<br />

Stadt<br />

Im Frühjahr ’92 war die Telekom an die<br />

Stadt Darmstadt herangetreten, um das<br />

Gr<strong>und</strong>stück Pallaswiesenstraße 184 mit<br />

einer Fläche von 6.437 qm zu kaufen. Das<br />

Unternehmen wollte dort zunächst ein Ausweichrechenzentrum,<br />

dann ein Informationstechnisches<br />

Zentrum unter Mitbenutzung<br />

von Infrastruktureinrichtungen eines<br />

benachbarten Rechenzentrums errichten.<br />

Da es seinen Standort Darmstadt samt der<br />

Beschäftigen ohne dieses Gr<strong>und</strong>stück<br />

gefährdet sah <strong>und</strong> dies der Stadtregierung<br />

unmißverständlich klarmachte, verwarf der<br />

Magistrat alle Bedenken <strong>und</strong> stimmte dem<br />

Verkauf des Geländes für 380 Mark pro qm<br />

am 21. 7.93 zu. Hatte die Telekom gedroht<br />

<strong>und</strong> gedrängelt, passierte daraufhin aber<br />

nichts. Erst am 8. Dezember meldete sie,<br />

nicht mehr zu kaufen <strong>und</strong> stattdessen Büroflächen<br />

anzumieten. Dies stieß im Magistrat<br />

auf Unverständnis, er fühlt sich düpiert <strong>und</strong><br />

„im Regen stehen gelassen“. OB Peter Benz<br />

(SPD): „Ein ärgerlicher Vorgang“.<br />

Volker Rinnert, Presseamt<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 5<br />

Keine Sicherheitsstandards –<br />

wie bei Hoechst<br />

Gutachter beschreiben<br />

Kampfstoffanlagen in<br />

Samarra, dabei fällt<br />

kein Wort über die<br />

Opfer<br />

Die Gutachter sollen den Juristen helfen<br />

bei der Beurteilung der Frage: Waren<br />

die Chemieanlagen im irakischen Samarra<br />

besonders „geeig<strong>net</strong> oder konstruiert“, um<br />

Kampfgase wie Tabun, Sarin oder Lost herzustellen?<br />

Die zwei neuen Gutachter Wolfgang<br />

Swodenk <strong>und</strong> Helmut Hoffmann verneinen<br />

dies.<br />

Swodenk war von 1958 bis 1986 bei dem<br />

Chemiekonzern Bayer-Leverkusen in der<br />

„Technologischen Entwicklungsabteilung“<br />

zeitweise als deren Leiter tätig. Er beschreibt<br />

die „Vielzweckanlagen“ Ali <strong>und</strong><br />

Mohamed <strong>und</strong> legt Schwerpunkte auf die<br />

Sicherheitsvorrichtungen. Ein Kessel beispielsweise<br />

war laut Swodenk mit einem<br />

Sicherheitsventil aus „Stanniolpapier“ gegen<br />

Überdruck geschützt <strong>und</strong> er zieht daraus<br />

das Fazit: „Wenn ich sehr giftige Stoffe<br />

zu verarbeiten hätte, würde ich das so nicht<br />

bauen. Ich muß darauf achten, daß den Mitarbeitern<br />

bei der Produktion nichts passiert“<br />

<strong>und</strong> vergleicht mit den Anlagen der<br />

Firma Hoechst, „wo auch keine Sicherheitsmaßnahmen<br />

vorhanden waren“. Daß der<br />

Irak an solchen Sicherheitsstandards aus<br />

Umweltschutzgründen wenig Interesse gezeigt<br />

hatte, war schon im ersten Prozeß bekannt<br />

geworden: Zum einen liegt Samarra<br />

in der Wüste, weit von der Zivilisation entfernt<br />

<strong>und</strong> während der Produktion sollen<br />

H<strong>und</strong>erte von Arbeitern erkrankt <strong>und</strong> ständig<br />

ausgewechselt worden sein. Die<br />

Giftgasanlagen in Samarra beschreibt Swodenk<br />

als „beliebteste Anlagenart, da sie für<br />

möglichst viele Produkte ausgelegt sind“.<br />

Nicht besonders konstruiert<br />

Der Gutachter versucht zu belegen, daß die<br />

Chemie-Destille („darauf können sie auch<br />

Alkohol destillieren“) in Samarra nicht geeig<strong>net</strong><br />

war, um hochwertige Produkte zu<br />

erzielen. Dünnschicht- <strong>und</strong> Vakuumverdampfer<br />

fehlen in der Anlagengruppe ebenso<br />

wie Trennbehälter – „eine schlechte Anlage“.<br />

Bei der Produktion des Kampfgases<br />

Tabun, bei dem Natrium <strong>und</strong> Natriumchlorid<br />

vermischt werden, fällt Salz an <strong>und</strong><br />

Swodenk konstatiert: „Feststoffe können<br />

zwar eingegeben, aber nicht herausgeholt<br />

werden“, weshalb er den Schluß zieht: „Die<br />

Anlage ist nicht besonders konstruiert“. Ein<br />

weiteres Argument gegen die besondere<br />

Konstruktion: „Die Substanzen in Samarra<br />

sind unrein gewonnen worden“. In der Tat<br />

sind irakische Granaten im Iran gef<strong>und</strong>en<br />

worden, die mit Sarin gefüllt waren, das als<br />

schlecht eingestuft wird. Je reiner ein Giftgas<br />

ist, desto länger behält es seine volle<br />

Wirksamkeit <strong>und</strong> ist gleichzeitig haltbarer.<br />

Technische Mängel?<br />

Für Swodenk steht auch hier wieder die Frage<br />

der Produktionssicherheit im Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Aus der abgeschalteten Anlage können<br />

die Salze selbstverständlich entfernt<br />

werden, die Produktion dauert nur länger.<br />

Dann aber kommt der entscheidende Einwand:<br />

In der Anlage Ali hat Swodenk keine<br />

sogenannten „Zudosierschnecken“ gef<strong>und</strong>en.<br />

Dabei handelt es sich um einen mechanischen<br />

Vortrieb, der in Leitungen von<br />

Chemieanlagen eingebaut wird, für Materialien,<br />

die hochviskos, zähflüssig oder wie<br />

hier kristallin sind. „Das müssen Sie einmal<br />

überlegen, wie soll sich denn in den dünnen<br />

Leitungsrohren das Salz fortbewegen?“<br />

Diese Zudosierschnecken haben die Gutachter<br />

jedoch in den Konstruktionszeichnungen<br />

für die Anlage Achmed gef<strong>und</strong>en –<br />

die allerdings stammte aus russischer<br />

Fabrikation <strong>und</strong> dort wurde nachweislich<br />

eines Unescom-Berichtes das Kampfgas<br />

Lost, auch Senfgas genannt, produziert.<br />

Allerdings besteht technisch die Möglichkeit,<br />

bei dem Mischen der Kampfgase auch<br />

in der Anlage Ali, die Salze durch Lösungsmittel<br />

zu beseitigen. Für das Mischen von<br />

Tabun sei die Anlage „schlecht geeig<strong>net</strong>“,<br />

für Lost „möglich“, ebenso für Schwefel-<br />

Lost <strong>und</strong> Sarin.<br />

Unbefriedigende Antworten<br />

Den Juristen bereiten die Darlegungen des<br />

Gutachters Probleme: „Für den Begriff<br />

,geeig<strong>net</strong>‘ gibt es offensichtlich Abstufungen.<br />

Was macht eine solche Anlage<br />

typisch?“ will Richter Pani wissen. Die Antwort<br />

ist für Nicht-Chemiker rätselhaft <strong>und</strong><br />

Richter Sagebiel hakt nach: „Gibt es konstruktive<br />

Anlagenmerkmale, die auf die Produktion<br />

von Giftgasen schließen lassen?<br />

Beispielsweise, daß die Anlage nur für<br />

Tabun-Herstellung geeig<strong>net</strong> wäre?“ Swodenk<br />

verneint. Die Staatsanwaltschaft will<br />

mehr wissen: „Wie konnten Sie ihre Gutachten<br />

in drei Monaten erstellen, während<br />

Professor Richarz drei Jahre brauchte?<br />

Wenig überzeugend antwortete Swodenk:<br />

„Unsere Gutachten waren auf der Arbeit<br />

von Professor Richarz aufgebaut“, außerdem<br />

erkenne man auf den Plänen mehr, als<br />

wenn man vor der Anlage stehe. „Hätten die<br />

Iraki eine besser geeig<strong>net</strong>e Anlage bekommen<br />

können?“ fragt die Staatsanwaltschaft<br />

<strong>und</strong> der Gutachter stellt den deutschen Lieferanten<br />

ein schlechtes Zeugnis aus: „Ja<br />

von anderen“. Und auf die Frage nach den<br />

Sicherheitsstandards gibt Swodenk zu:<br />

„Die paar Männeken, die kann man dort in<br />

der Wüste in Schutzanzüge stecken.“ Erübrigt<br />

sich also die Frage nach der „besonderen<br />

Konstruktion“?<br />

Widersprüchliches<br />

Die Ankläger sind noch nicht zu Ende:<br />

„Spielt es denn außer wirtschaftlichen Erwägungen<br />

eine Rolle, wenn man aus einer<br />

solchen Anlage unreine Substanzen erhält –<br />

der Zweck wird damit doch so oder so<br />

erreicht?“ Und Swodek antwortet ausweichend:<br />

„Eine unreine Substanz zersetzt sich<br />

zu schnell, das gibt Lagerprobleme“. Auch<br />

der nächsten präzisen Frage weicht Swodenk<br />

aus. „Wie kann das sein, daß Professor<br />

Richarz zu einem so abwegig anderen<br />

Ergebnis kommt? Er hat gesagt, eine solche<br />

Anlage ist besonders geeig<strong>net</strong>“, fragt<br />

Staatsanwalt Brand <strong>und</strong> Swodenk: „Das ist<br />

seine Schlußfolgerung, die kann ich nicht<br />

nachvollziehen.“ Der zweite Gutachter,<br />

Hoffmann, schaltet sich ein: „Professor<br />

Richarz hat ja nicht alles gewußt – zum Beispiel<br />

wie schlecht die Qualität der Kampfgase<br />

war. Er ist wohl davon ausgegangen, daß<br />

eine Nation, die in den Krieg zieht <strong>und</strong><br />

Kampfgase braucht, daß die Nation alles<br />

verwendet, was sie bekommen kann.“ Der<br />

Gutachter meint noch: „Man muß objektiv<br />

bleiben.“ Niemand weist Hoffmann auf die<br />

unsinnige Aussage hin. Die Darstellung des<br />

Gutachters hinterläßt mehr offene Fragen<br />

<strong>und</strong> Widersprüche, als daß der Beitrag eine<br />

Klärung hätte bringen können.<br />

Schlechte Kampfgase<br />

Der zweite Gutachter Helmut Hoffmann ist<br />

ebenfalls ein Mann des Bayer-Konzerns. Er<br />

erzählt, daß er an der Erfindung von E 605<br />

<strong>und</strong> an der Entwicklung von Lost <strong>und</strong> Sarin<br />

beteiligt war. Hoffmann trägt präzise <strong>und</strong><br />

kenntnisreich vor: Kampfstoffanlagen unterscheiden<br />

sich von normalen Produktionsanlagen<br />

„nur durch Sicherheitseinrichtungen<br />

<strong>und</strong> Einhausungen“. Er weiß in Sachen<br />

Sicherheit zu berichten, daß „pro Jahr<br />

mehrere h<strong>und</strong>ert Vergiftungsfälle wegen<br />

fehlender Sicherheitseinrichtungen“ registriert<br />

wurden. „Spurenreste von Kampfstoffen<br />

haben Unescom-Leute mit hochempfindlichen<br />

Meßgeräten“ festgestellt – aber<br />

„aus der Konstruktion der Anlagen allein ist<br />

das nicht abzulesen“. Als Produktionsanlagen<br />

für Pestizide, so Hoffmann, taugten die<br />

Anlagen Ali <strong>und</strong> Mohamed nicht, da eine<br />

Phasentrennung fehlt, beziehungsweise<br />

„unverständlich ans Ende der Anlage<br />

gesetzt worden ist. In Samarra sind Anlagen<br />

gebaut worden, die nach einem Prozeß<br />

gesucht haben. Man hat viel Geld gehabt<br />

<strong>und</strong> gebaut, ohne zu wissen, was man speziell<br />

bauen will“. Dann spricht er von mangelnder<br />

Qualität der Kampfgase Sarin <strong>und</strong><br />

Tabun, die in Samarra hergestellt worden<br />

sind. „Zunächst hatte man gedacht, es<br />

wären alte Weltkriegsgase aus dem Irgendwo<br />

aufgetaucht“, aber später habe sich<br />

nachweisen lassen, daß das Sarin erst kurz<br />

vor dem Verschuß produziert wurde. Allerdings<br />

müsse man sich auch vor einem „20<br />

prozentigen Sarin“ vorsehen – die Selbstverständlichkeit<br />

<strong>und</strong> Nüchternheit <strong>und</strong> das<br />

mit Stolz vorgetragene Wissen vermitteln<br />

einen Eindruck von dem Denken solcher<br />

Fachleute – kein Wort fällt über die Opfer.<br />

Jetzt waren es die Russen<br />

Dafür aber hätten die Iraker die Herstellung<br />

von Lost beherrscht, meint Hoffmann <strong>und</strong><br />

„das ist laut Unescom-Bericht in der Russenanlage<br />

hergestellt worden“. Richter Pani<br />

lobt, in Hoffmann einen Experten zu haben,<br />

„der bei der Normsetzung für Kampfstoffanlagen<br />

für die Genfer Abrüstungsverhandlungen<br />

tätig war.“ Der Belobigte<br />

ergänzt: „Im Auftrag des Justizministeriums<br />

<strong>und</strong> des Verbandes der Chemischen<br />

Industrie“. Seine Arbeit bestand darin, die<br />

speziellen Konstruktionsmerkmale solcher<br />

Chemie-Anlagen einmal für zivile zum anderen<br />

für militärische Zwecke aufzulisten.<br />

Eine analoge Liste für die zu verarbeitenden<br />

Chemikalien allerdings wurde nicht erstellt.<br />

Die Genfer Abrüstungsverhandlungen müssen<br />

ein Flop gewesen sein, denn Pani fragt<br />

konsequent, welche Anlagenmerkmale<br />

denn speziell für die Produktion von Kampfgasen<br />

gegeben sein müßten: Hoffmanns<br />

Antwort: „Die gibt es nicht. Wir hatten<br />

gewußt, wenn man das macht, daß man alle<br />

Anlagen genehmigungspflichtig machen<br />

muß für den Export.“ Das läßt Rückschlüsse<br />

auch auf die Export-Bestimmungen zu –<br />

nach denen geurteilt werden soll.<br />

Keine besondere Konstruktion<br />

Diese einschneidend klare Aussage des<br />

Gutachters besagt: Es bedarf keiner besonderen<br />

Konstruktionsmerkmale, um auf<br />

einer chemischen Produktionsanlage<br />

Kampfgase herzustellen <strong>und</strong> er belegt dies<br />

noch einmal: „So gut wie alle normalen<br />

Chemieanlagen sind auch zur Herstellung<br />

von Lost geeig<strong>net</strong>“. Dual-use demnach at<br />

all. Problem für die Juristen: Ihr Unterscheidungsmerkmal,<br />

nach dem sie suchen,<br />

die besondere Konstruktion, gibt es demnach<br />

nur, wenn auch ein Interesse an der<br />

Sicherheit der Arbeiter vorhanden wäre.<br />

Pani fragt ganz richtig: „Wozu dann aber die<br />

Norm der besonderen Konstruktion?“<br />

Wo gibt es Chemiker?<br />

Richter Sagebiel sucht weiter nach Beweisen,<br />

daß es sich um eine Kampfstoffanlage<br />

gehandelt hat: „Wenn nicht die Anlage<br />

besonders konstruiert war, konnte der Irak<br />

die Kenntnisse für die Produktion erwerben?“<br />

Gutachter Hoffmann beschreibt, daß<br />

es von der chemischen Formel bis zur Mengenproduktion<br />

hochwertiger Kampfstoffe<br />

eines „zwei Jahre währenden Sammelns<br />

von Erfahrungen bedarf.“ Hätte der Irak<br />

einen Chemiker anheuern können? „Bei den<br />

Russen ja“, meint Hoffmann <strong>und</strong> „bei den<br />

USA gab es auch Experten; die Briten hatten<br />

die Kampfstoffproduktion schon ganz aufgegeben,<br />

die deutschen Experten waren zu<br />

alt; von der DDR wissen wir nichts <strong>und</strong><br />

auch aus Frankreich ist nichts bekannt.“<br />

„Das ist nicht zulässig“<br />

Dann geht es noch einmal um die Gesamtanlage,<br />

denn wenn keine besonderen Konstruktionsmerkmale<br />

vorhanden sein müssen,<br />

dann läßt sich möglicherweise darüber<br />

der Nachweis führen. Einer der Anwälte<br />

fragt nach der Haltbarkeit minderwertiger<br />

Kampfgase <strong>und</strong> Hoffmann spricht von<br />

„Halbwertzeiten innerhalb weniger Monate“.<br />

Allerdings hätten die Iraker nach Stabilisatoren<br />

gesucht. Die Haltbarkeit der todbringenden<br />

Gase kann jedoch auch über<br />

Kühlanlagen verlängert werden. Gutachter<br />

Hoffmann: „Je tiefer die Temperatur, desto<br />

länger sind die Chemikalien haltbar“. Sein<br />

Kollege Swodenk fällt ihm ins Wort: „Daraus<br />

kann aber nicht die Schlußfolgerung<br />

gezogen werden, weil Kühlanlagen da<br />

waren, wurde Giftgas produziert. Das ist<br />

nicht zulässig“. Sollte diese Bewertung<br />

nicht Sache der Richter sein? Die Aufgabe<br />

von Gutachtern besteht darin, technische<br />

Informationen zu geben. Resultat aus beiden<br />

Gutachten: Auf den von deutschen<br />

gelieferten Vielzweckanlagen Ali <strong>und</strong> Mohamed<br />

kann eigentlich nichts produziert werden,<br />

dafür aber Kampfgase auf der russischen<br />

Achmed – eine spezielle Konstruktion<br />

gibt es nicht, weshalb Ali <strong>und</strong> Mohamed<br />

auch Kampfstoff-Produktionsanlagen sind.<br />

M. Grimm


Zu<br />

Beginn der Weltwirtschaftskrise<br />

wollte die DVP – die Partei der<br />

Industrie <strong>und</strong> des Großbürgertums – eine<br />

der wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften<br />

der Weimarer Republik, die<br />

Arbeitslosenversicherung, als „Systemfehler”<br />

beseitigen, den „sozialpolitischen<br />

Pfahl aus dem Fleische des kapitalistischen<br />

Wirtschaftssystems herausreißen”<br />

(1929). In Medienkampagnen wurde der<br />

„Mißbrauch” dieser Institution angeprangert:<br />

Hotelangestellte in großen Kurorten,<br />

die nicht nur versicherungspflichtiges<br />

Gehalt, sondern enorme Trinkgelder im<br />

Sommer kassieren würden, um im Winter<br />

ganz bequem Arbeitslosengeld zu kassieren;<br />

Bauern, die ihre Söhne als Landarbeiter<br />

einstellten <strong>und</strong> sie hernach entlassen<br />

würden, damit sie Arbeitslosenunterstützung<br />

kassieren könnten.<br />

Ähnlichkeiten zu heute sind kein Zufall.<br />

Der „Umbau des Sozialstaats” BRD<br />

beginnt fast identisch.<br />

EINE GROSS ANGELEGTE MISSBRAUCHSKAM-<br />

PAGNE DER BUNDESREGIERUNG SOLL ANPRAN-<br />

GERN, NICHT NUR, WO GESPART WERDEN MUSS,<br />

SONDERN VOR ALLEM, WER AN DER WIRTSCHAFT-<br />

LICHEN KRISE DIE SCHULD TRÄGT. EBEN DIE<br />

ZAHLREICHEN „SOZIALSCHMAROTZER” DIESER<br />

GESELLSCHAFT, DIE MIT ALLER SELBSTVER-<br />

STÄNDLICHKEIT DIE SOZIALEN EINRICHTUNGEN<br />

DIESES STAATES BENUTZEN.<br />

Daß dies keine Geschenke, sondern<br />

Ergebnisse eines aus Arbeit finanzierten<br />

sozialen Sicherungssystems sind, wird<br />

geflissentlich übergangen.<br />

BUNDESKANZLER KOHLS REDE VOM SOZIALSTAAT<br />

BRD ALS „KOLLEKTIVER FREIZEITPARK” IM<br />

Ähnlichkeiten <strong>und</strong> Unterschiede sozialer Entwicklungen 1929 <strong>und</strong> 1993/94<br />

JAHR 1993 ÄHNELT NICHT ZUFÄLLIG REICHS-<br />

KANZLER VON PAPENS ANGRIFF GEGEN DEN<br />

WEIMARER STAAT ALS „WOHLFAHRTSANSTALT”<br />

IM JUNI 1932.<br />

„Bonn ist nicht Weimar” – diese allseits<br />

beliebte Floskel wird um so mehr zur<br />

Selbstberuhigung bemüht, als es nötig<br />

wäre, Ähnlichkeiten <strong>und</strong> Identitäten zu<br />

suchen, um eine neue faschistische Entwicklung<br />

zu verhindern. Doch das Gegenteil<br />

geschieht. Indem eine Binsenwahrheit<br />

strapaziert wird (Bonn ist tatsächlich nicht<br />

Weimar), erübrigt sich die Suche nach<br />

Gemeinsamkeiten, die den Faschismus<br />

haben entstehen lassen. Eine Krise der<br />

Wirtschaft, die den Zweck ihres Wirtschaftens,<br />

die Anhäufung von Kapital zur weiteren<br />

Vermehrung nicht mehr ausreichend<br />

realisieren kann, <strong>und</strong> eine gesellschaftliche<br />

Krise, die als Politik-, Partei- <strong>und</strong> Parlamentsverdrossenheit<br />

daherkommt.<br />

Auch das nicht unähnlich zu aktuellen Entwicklungen.<br />

Sodann der erste Schritt zur<br />

Krisenlösung: ran an die Arbeitskosten,<br />

ran an den Lohn in allen seinen Abteilungen,<br />

vom Arbeits- bis zum Soziallohn.<br />

„SKPWG“ HEISST DIE BONNER NOTVERORD-<br />

NUNG – „SPAR-, KONSOLIDIERUNGS- UND<br />

WACHSTUMSPROGRAMM-GESETZ” VOM OKTO-<br />

BER 93. „NOTVERORDNUNG ZUR SICHERUNG VON<br />

WIRTSCHAFT UND FINANZEN“ NANNTE BRÜNING<br />

SEINE SPAR- UND DEFLATIONSPOLITIK ZWISCHEN<br />

1930 UND 1932, DIE NEBEN EINEM RASCHEN<br />

VERFALL DER KAUFKRAFT ZU EINER EBENSO<br />

RASCHEN VERSCHÄRFUNG DER KRISE FÜR ARBEI-<br />

TENDE UND ARBEITSLOSE FÜHRTE.<br />

Nach Brünings vierter Notverordnung gab<br />

es 1932 offiziell 6,128 Millionen<br />

(geschätzt 10 Millionen) Arbeitslose in<br />

Deutschland. Dem Kabi<strong>net</strong>t Brüning folgten<br />

in noch kürzeren Abständen zwei weitere<br />

Präsidialkabi<strong>net</strong>te von Papens (sechs<br />

Monate) <strong>und</strong> Schleichers (zwei Monate),<br />

die nur noch nach Artikel 48 der Weimarer<br />

Verfassung unter Ausschaltung des Parlaments<br />

regierten, ehe am 30. Januar 1933<br />

die verfassungsmäßige Übertragung der<br />

Macht an Adolf Hitler den Faschismus etablierte.<br />

Kaum war das SKWP-Gesetz eingebracht,<br />

kündigten Kohl, Waigel, Schäuble weitere<br />

Einsparungen an. Die zweite demokratische<br />

Notverordnung, der die dritte, vierte<br />

usw. folgt?<br />

An dieser Stelle muß von einigen Unterschieden<br />

gesprochen werden. Der erste<br />

wichtige: die Wirtschaftskrise. Die Weimarer<br />

folgte einer Weltwirtschaftskrise, die<br />

nicht nur Absatzstockungen <strong>und</strong> konjunkturelle<br />

Rückgänge brachte, sondern eine<br />

tiefgreifende Akkumulationskrise war. Der<br />

übliche Krisenbehebungs-Mechanismus<br />

war durch Kapitalmangel infolge der Bankenkrise<br />

(Abzug ausländischen Kapitals<br />

aus Deutschland) <strong>und</strong> der Lasten aus den<br />

Reparationen des Versailler Vertrages<br />

nicht anwendbar. Die deutschen Kapitalbesitzer<br />

verlangten vom Staat daher einen<br />

quasi Totalschnitt in die soziale Sicherung<br />

<strong>und</strong> das kollektive Arbeits- <strong>und</strong> Tarifrecht.<br />

Die Mittel „zur Belebung der Wirtschaft”<br />

(wie die späteren Notverordnungen<br />

hießen) mußten daher nahezu ausschließlich<br />

von den Arbeitenden <strong>und</strong> Arbeitslosen<br />

im Lande geholt werden. Innerhalb von<br />

eineinhalb Jahren hatte der ADGB (Allgemeiner<br />

Deutscher Gewerkschaftsb<strong>und</strong>)<br />

Ende 1931<br />

errech<strong>net</strong>, waren die<br />

Löhne um durchschnittlich<br />

28%<br />

gesunken, um mehr<br />

als das Doppelte der<br />

gleichfalls versproche-<br />

nen Preissenkungen. Die binnenwirtschaftliche<br />

Krise war damit dramatisch<br />

verschärft worden. Der Außenhandel<br />

krankte an den Folgen der Weltwirtschaftskrise<br />

des Weltmarktes, der zum<br />

großen Teil zusammengebrochen war,<br />

zumal das Deutsche Reich nach dem verlorenen<br />

Ersten Weltkrieg nicht in den<br />

Rang einer ökonomischen Großmacht<br />

aufgestiegen war. Den erreichte es erst<br />

durch das gänzlich auf Aufrüstung <strong>und</strong><br />

territoriale sowie kriegerische Expansion<br />

ausgerichtete nationalsozialistische Programm.<br />

Und Anfang l994? Der Unterschied ist<br />

augenfällig. Die B<strong>und</strong>esrepublik ist nach<br />

wie vor die zweitgrößte Exportnation, hinter<br />

den USA, umgerech<strong>net</strong> auf die Bevölkerungszahl<br />

sogar die Nummer Eins. Die<br />

jetzige Wirtschaftskrise in der Welt ist eine<br />

konjunkturelle Absatzkrise, die nicht überall<br />

gleich tief greift. Aus den USA <strong>und</strong><br />

Großbritannien wird bereits konjunktureller<br />

Aufschwung gemeldet. Die deutsche<br />

Krise ist eine doppelte: zum einen eine verzögerte<br />

konjunkturelle in Folge der deutschen<br />

Vereinigung, zum zweiten eine aus<br />

der veränderten Lage in der Welt (nach<br />

dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“)<br />

durch verschärfte Konkurrenz<br />

zwischen den großen imperialistischen<br />

Zentren (Japan/Asien, USA/Nafta,<br />

Deutschland/Europa), um die Spitzentechnologien<br />

<strong>und</strong> die Märkte der Zukunft.<br />

ANDERS ALS 1929 TOBT DER KAMPF UM WELT-<br />

MARKTANTEILE AUS DEUTSCHER SICHT NICHT AUS<br />

DER POSITION DES WIRTSCHAFTLICHEN NACH-<br />

ZÜGLERS, SONDERN AUS DER KONKURRENZ UM<br />

SPITZENPLÄTZE.<br />

So der heutige Stand, niemand ist jedoch<br />

derzeit in der Lage, einigermaßen seriös<br />

<strong>und</strong> f<strong>und</strong>iert Prognosen über die weitere<br />

Entwicklung zu erstellen. So ist eine Verschärfung<br />

der Krise ebensowenig auszuschließen<br />

wie eine noch tiefergehendere<br />

Strukturkrise, die sich zu einer einschnei-<br />

denden Akkumulationskrise ausweiten<br />

könnte. Träte dieser Fall ein, würde mit<br />

Sicherheit der heute bereits deutlich<br />

erkennbare Prozeß der Faschisierung<br />

enorm verschärft werden: autoritäres,<br />

Kapitalinteressen vertretendes Regieren<br />

einerseits <strong>und</strong> die Wahlpropaganda andererseits,<br />

die Minderheiten die Schuld für<br />

die Krise zuweist, wie sie beispielhaft in<br />

der Asyldebatte deutlich geworden ist.<br />

Zwar ist die Krisenlage eine andere als in<br />

Weimarer Zeiten, doch gibt es dennoch<br />

strukturelle Ähnlichkeiten. In der heutigen<br />

Krise wird der vornehm als „Umbau des<br />

Sozialstaats” umschriebene Abbau von<br />

Lohn- <strong>und</strong> Sozialleistungen in einem Ausmaß<br />

betrieben, wie ihn die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

noch nicht erlebt hat. Nach dem Sieg der<br />

Marktwirtschaft 1989/90 auf Weltebene,<br />

soll in Zukunft auch die Sozialpolitik den<br />

Kriterien des Marktes angepaßt werden.<br />

Neben dem technologischen Wettlauf auf<br />

der internationalen Bühne beherrscht der<br />

Kampf um die Höhe (besser: Tiefe) des<br />

Lohns den Binnenmarkt. Um dies durchzusetzen,<br />

wird die nationale Einheit<br />

beschworen, die jeden heutigen sozialen<br />

Widerstand hilflos erscheinen läßt: der<br />

„Standort Deutschland”<br />

muß Weltspitze<br />

sein, dem<br />

hat sich alles<br />

andere unterzuordnen.Entsprechend<br />

schwach<br />

ist der<br />

Protest gegen soziale Einschnitte. Nicht<br />

nur strategisch aufgr<strong>und</strong> der Widerstandsbedingungen,<br />

sondern auch in den<br />

Formulierungen der Gegner des Sozialabbaus,<br />

allen voran der Gewerkschaften,<br />

weil sie keiner anderen Logik folgen.<br />

DA ES KEINE GESELLSCHAFTLICHE UND ÖKONOMI-<br />

SCHE ALTERNATIVE ZUM MARKTWIRTSCHAFTLI-<br />

CHEN RAUBZUG DES LEISTUNGSSTÄRKEREN GIBT,<br />

ORIENTIERT SICH AUCH DER SOZIALE WIDERSTAND<br />

AN DER STANDORTPOLITIK.<br />

Und das heißt: wir auf Kosten der anderen,<br />

zunächst im internationalen Rahmen <strong>und</strong><br />

sodann auch national. Was dem „Standort<br />

Deutschland” nicht nützt, schadet ihm. So<br />

beginnt der innere Raubzug bei denen, die<br />

den Standortkriterien nicht entsprechen.<br />

Kein W<strong>und</strong>er, daß es zuerst die Nichtdeutschen<br />

getroffen hat, dann die Arbeitslosen<br />

<strong>und</strong> Sozialhilfebezieher – <strong>und</strong> dann?<br />

Die heutigen Krisenbewältigungsmaßnahmen,<br />

Sparpolitik <strong>und</strong> Kürzungen, folgen<br />

nahezu identisch dem Weimarer Muster.<br />

Um investives Kapital freizusetzen, wurden<br />

damals von Notverordnung zu Notverordnung<br />

in mehreren Schritten die<br />

Arbeitslosenhilfe gekürzt, immer größere<br />

Gruppen waren betroffen, die „Fürsorge”<br />

wurde reduziert, die Zumutbarkeitsanordnungen<br />

verschärft, die Krankenversicherung<br />

verschlechtert, Verbrauchs- <strong>und</strong> Einkommenssteuern<br />

erhöht <strong>und</strong> Unternehmenssteuern<br />

gesenkt.<br />

Der Unterschied zu heute besteht im<br />

Niveau der Leistungen, nicht aber in der<br />

Tendenz, den Standort Deutschland <strong>und</strong><br />

deutsche Subventionen in der Welt zu<br />

Lasten der sozial Schwächsten zu ermöglichen.<br />

Beispiel Arbeitslosenunterstützung:<br />

gilt in der B<strong>und</strong>esrepublik die Dauer<br />

des Arbeitslosengeldbezugs mindestens<br />

ein Jahr (altersmäßig nach oben verlängert),<br />

danach Arbeitslosenhilfe praktisch<br />

auf „Lebenszeit”, zusätzlich abgesichert<br />

durch die Sozialhilfe, die vom gr<strong>und</strong>legenden<br />

Lebensbedarf ausgeht (als „Existenz-<br />

minimum” formuliert), gab es in Weimar<br />

nur 26 Wochen Arbeitslosengeld, danach<br />

setzte die sogenannte „Krisenfürsorge”<br />

für weitere 26 Wochen ein, so daß der<br />

Arbeitslose nach einem Jahr auf die magere<br />

„Fürsorge” angewiesen war. Bereits<br />

Mitte 1932 waren mehr als die Hälfte der<br />

damals 5,7 Millionen Arbeitslosen aus den<br />

Leistungen der Versicherung rausgefallen<br />

<strong>und</strong> mußten von der „Fürsorge” leben, die<br />

wiederum die kommunalen Haushalte<br />

enorm belastete.<br />

Die B<strong>und</strong>esrepublik hatte im Herbst 1993<br />

geplant, auch die Zahlungen für Arbeitslosenhilfe<br />

zu begrenzen – nach Weimarer<br />

Vorbild.<br />

ENDE 1993 WURDE DER SOZIALABBAU ERST IM<br />

LETZTEN AUGENBLICK DURCH DEN WIDERSTAND<br />

DER KOMMUNEN GEBREMST: DIE BUNDESREGIE-<br />

RUNG PLANTE, DIE ARBEITSLOSENHILFE NACH<br />

ZWEI JAHREN AUSLAUFEN ZU LASSEN, SO DASS<br />

DER HEUTIGE ARBEITSLOSE NACH ZUMEIST DREI<br />

JAHREN AUF DIE SOZIALHILFE ZURÜCKGEWORFEN<br />

WORDEN WÄRE.<br />

Angesichts der aktuellen Entwicklung<br />

dürfte klar sein, daß aufgeschoben<br />

nicht aufgehoben bedeutet. Der<br />

nächste Sparhaushalt ist in Vorbereitung.<br />

Die Tendenz ist dabei nicht<br />

neu. Bereits in den ersten beiden<br />

Jahren der „Wenderegierung”<br />

Kohl wurden Arbeitslosengeld<br />

<strong>und</strong> -hilfe gekürzt. Die jüngsten<br />

Kürzungen, vor allem der<br />

Hilfe, werden die Zahl der<br />

Sozialhilfebezieher vervielfachen.<br />

ÄHNLICH DIE ENTWICKLUNG<br />

DER SOZIALHILFE SEIT 1982: DIE KÜRZUNGS-<br />

DYNAMIK HAT EINEN STAND ERREICHT, DER DEN<br />

GRUNDGEDANKEN DER SICHERUNG DES LEBENS-<br />

BEDARFS DE FACTO AUFGEGEBEN HAT.<br />

Sozialhilfe orientiert sich immer mehr an<br />

der ausgabenpolitischen Seite, um finanzpolitische<br />

oder gar lohnpolitische Krisen<br />

zu meistern.<br />

Der erste große Anlauf gegen bisherige<br />

Sozialstandards ist „erfolgreich” gemeistert.<br />

Die Vielzahl der in die Diskussion<br />

gebrachten Vorschläge, (von der 7-Tage-<br />

Woche, dem 10- St<strong>und</strong>en-Tag, über Streichung<br />

von Urlaubsgeld bis hin zu Karenztagen),<br />

folgt der Methode „steter Tropfen<br />

höhlt den Stein”. Der nächste große Einschnitt<br />

dürfte ein knappes Jahr auf sich<br />

warten lassen. 1994 ist bekanntlich „Superwahljahr”,<br />

da verbietet sich aus Rücksichtnahme<br />

auf die Wählerstimmen so<br />

mancher Schnitt, der bereits vorbereitet ist.<br />

IM KERN GEHT ES BEI ALLEN MAßNAHMEN UM<br />

DEN LOHN, UM DIE UMVERTEILUNG<br />

GESELLSCHAFTLICHEN REICHTUMS.<br />

Macht man sich die Logik der Standortsicherung<br />

zu eigen, dann stimmen die<br />

Rechnungen, die besagen, daß diese am<br />

ehesten über das Senken der Arbeitskosten<br />

zu erreichen ist. Ein Blick auf die verschärfte<br />

weltwirtschaftliche Konkurrenz<br />

wirkt dabei überzeugend. Daß die „soziale<br />

Frage” seit einem guten Jahr so massiv in<br />

der öffentlichen Diskussion aufgeworfen<br />

wird (Sozialabbau ist „das Wort des Jahres”<br />

1993), soll diese Einsicht verallgemeinern.<br />

Denn: so sehr nach 1989 in diesem<br />

Land wieder nationale Reden<br />

geschwungen werden, die Internationalisierung<br />

von Produktion <strong>und</strong> Märkten führt<br />

auch zu einer Internationalisierung der<br />

Arbeitsmärkte. Damit sind „nationale<br />

Tarifautonomie” <strong>und</strong> die national definierten<br />

Standards von Sozialstaatlichkeit out.<br />

DER ANGRIFF AUF SOZIALHILFE, ARBEITSLOSEN-<br />

GELD UND -HILFE SOLL DAS GESAMTE LOHNGEFÜ-<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 6<br />

GE NACH UNTEN VERSCHIEBEN, MIT EINER TEN-<br />

DENZ DER ANPASSUNG AN VERGLEICHBARE STAN-<br />

DARDS DER KONKURRENTEN.<br />

„Die Wahrung des Lohnabstandgebots in<br />

der Sozialhilfe”, wie es im Papier der B<strong>und</strong>esregierung<br />

zur „Sicherung des Standorts<br />

Deutschland“ vom September 1993<br />

heißt, meint genau diese Abwärtsorientierung.<br />

Der bisherige Soziallohn ist nicht<br />

nur eine Belastung der öffentlichen Haushalte,<br />

sondern hindert auch das Absenken<br />

des Lohns auf Preise, die bislang als ausreichendes<br />

Sozialeinkommen all jener galten,<br />

die keine Arbeit haben. Die Summen,<br />

die dabei eingespart werden <strong>und</strong> die deutschen<br />

Produkte konkurrenzfähiger machen<br />

sollen, liegen bei weitem über den<br />

zweistelligen Milliarden-Beträgen, die<br />

beim Soziallohn derzeit gespart werden.<br />

Die aktuellen wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen<br />

Operationen verfolgen denn auch das Ziel:<br />

Senkung der Lohnkosten, größere Flexibilität<br />

beim Einsatz von Arbeit <strong>und</strong> die Umschichtung<br />

von konsumptiven zu produktiven<br />

Ausgaben mit dem Ziel, am Standort<br />

Deutschland kostengünstiger<br />

zu produzieren.<br />

Von Weimar nach Bonn<br />

DER NÄCHSTE GROSSE ANGRIFF GILT DEM<br />

TARIFRECHT.<br />

Auch hier ist auf veränderter Entwicklungsstufe<br />

dieses Rechts die Parallelität zu<br />

Weimar verblüffend. „Die Macht des Tarifkartells<br />

zu verringern”, schreibt die „FAZ“,<br />

böten sich „erste Reformschritte” an: „Die<br />

Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeit”<br />

der Tarifverträge. Genau diese erfolgte<br />

auch durch Staatseingriff 1930.<br />

Konsequent geht es weiter: „Die zwingende<br />

Einführung von Öffnungsklauseln in<br />

den Tarifverträgen <strong>und</strong> die Einrichtung<br />

von Tarifgruppen für Arbeitslose.“ Letzteres<br />

ist bereits Teil des Forderungskataloges<br />

von B<strong>und</strong>eswirtschaftsminister Rexrodt<br />

(FDP) an die Tarifpartner. Geschehe<br />

dies nicht, so die <strong>CDU</strong>/CSU-B<strong>und</strong>estagsfraktion,<br />

erweise sich die „Tarifpolitik als<br />

Jobkiller”. Gesetzlich ist die B<strong>und</strong>esregierung<br />

bereits weiter. Mit dem neuen Paragraphen<br />

449h des Arbeitsförderungsgesetzes,<br />

kann künftig eine untertarifliche<br />

Mischfinanzierung aus Arbeitslosengeld<br />

<strong>und</strong> Arbeitgeberzuschuß in Umwelt-,<br />

sozialen <strong>und</strong> Jugendprojekten erfolgen.<br />

ÄHNLICHES VERFOLGT ARBEITSMINISTER BLÜM<br />

(<strong>CDU</strong>) MIT SEINER NATIONALISTISCH VOR-<br />

GETRAGENEN IDEE, STATT AUSLÄNDISCHER,<br />

MEIST ÖSTLICHER „TOURISMUS”-ARBEITER ALS<br />

ERNTEHELFER, KÜNFTIG DEUTSCHE SOZIAL-<br />

HILFEBEZIEHER ZU VERPFLICHTEN, DIE AUF DEN<br />

NIEDRIGLOHN EINEN „AUFSTOCKUNGSBETRAG”<br />

ERHALTEN KÖNNTEN.<br />

Die Tariföffnungsklauseln sind zwar noch<br />

nicht zwingend, aber zunehmend Realität.<br />

Zunächst gaben die Gewerkschaften in<br />

Ostdeutschland dem Druck der dortigen<br />

Betriebsräte nach, Sondertarife zu vereinbaren.<br />

Dann befürwortete die IG-Metall<br />

„Sonderregelungen” für das Ruhrgebiet,<br />

weil, „wer zum Arbeitsamt muß, auch<br />

Bezahlung unter Tarif” akzeptieren werde.<br />

☛ Fortsetzung auf folgender Seite


☛ Fortsetzung<br />

Von Weimar nach Bonn …<br />

Danach kam der große Durchbruch in der<br />

Automobilindustrie <strong>und</strong> im Bergbau.<br />

Dabei sind die Vereinbarungen verwirrend<br />

unterschiedlich. Bei „Opel“ verzichten die<br />

Beschäftigten auf Lohnerhöhung <strong>und</strong><br />

Weihnachtsgeldanteile, um den „Standort<br />

zu retten”. Im Ruhrbergbau werden Freischichten<br />

gegen Lohnverzicht eingetauscht,<br />

um Entlassungen zu vermeiden.<br />

Bei „IBM“ wird bei gleichbleibendem<br />

Gehalt die Wochenarbeitszeit um zwei<br />

St<strong>und</strong>en verlängert.<br />

Die „Volkswagen AG“ (VAG) kürzt die<br />

Arbeitszeit um 20% bei gleichbleibendem<br />

Monatslohn, weil alle Lohnbestandteile<br />

wie Sonderzahlungen, Urlaubs- <strong>und</strong> Weihnachtsgeldanteile<br />

sowie Verzicht auf die<br />

Tariferhöhung als monatliche Zahlung einberech<strong>net</strong><br />

sind. Per Saldo läuft das auf ca.<br />

11% weniger Lohn hinaus. Der VAG-Vorstand<br />

sieht in der Arbeitszeitverkürzung<br />

eine flexiblere Möglichkeit des Arbeitskräfteeinsatzes,<br />

die „zusätzliche Produktivitätseffekte<br />

freisetzt”. Dieser Weg soll<br />

weitergegangen werden. Nach Verkürzung<br />

der Wochenarbeitszeit folgt das VAG-<br />

„Blockmodell” (acht oder neun Monate<br />

Arbeit im Jahr, Freizeit für Fortbildung)<br />

<strong>und</strong> das „Stafettenmodell” (Teilzeitarbeit<br />

für junge <strong>und</strong> ältere Beschäftigte). Immer<br />

steht dabei das Interesse im Vordergr<strong>und</strong>,<br />

den Beschäftigten an den Betrieb zu binden,<br />

<strong>und</strong> ihn in der Arbeitszeit optimal zu<br />

verwerten.<br />

liegt sicher richtig, wenn er das VAG-<br />

Modell als Muster dafür sieht, daß der<br />

„Flächentarifvertrag selbst auf dem Spiel<br />

steht”. Konsequenz wäre dann nicht einfach<br />

die Abschaffung jeglichen Tarifrechts,<br />

wohl aber die Aufsplittung kollektiver<br />

Tarifverträge, die auch die Funktion<br />

haben, die gewerkschaftlich schwächer<br />

organisierten Teile vor unternehmerischer<br />

Willkür zu schützen. Das Tarifrecht<br />

wäre dann letztlich vom jeweiligen Unternehmensinteresse<br />

regierbar.<br />

Wie stark sich die Unternehmerverbände<br />

in der Krise sehen, beweist der Vorstoß<br />

von Gesamtmetall, die IG-Metall in der<br />

laufenden Tarifr<strong>und</strong>e zum Verzicht auf<br />

das Urlaubsgeld aufzufordern, da dieses<br />

– so wörtlich Hauptgeschäftsführer,<br />

Kirchner – ein „Luxusbestandteil” des<br />

Tarifvertrages sei.<br />

„MEHR GEMEINSINN – WENIGER STAAT” –<br />

SO LASSEN SICH DIE GRUNDWERTE DES NEUEN<br />

<strong>CDU</strong>-PROGRAMMS AUF EINEN NENNER<br />

BRINGEN. BEIDES IST SCHWINDEL.<br />

Weder wird der Bürger künftig mit weniger<br />

Staat konfrontiert sein, im Gegenteil,<br />

vom „Lauschangriff” bis zu Gemeinschafts-<br />

<strong>und</strong> Kriegsdiensten wird er mit<br />

dem Staat zu tun haben. Noch geht es um<br />

das abstrakte Ideal eines „Sinns für die<br />

Gemeinschaft”, einer nationalen Solidarität<br />

aller für alle.<br />

DIES WIDERSPRICHT DIAMETRAL DEM KAPITALI-<br />

STISCHEN PRINZIP, DAS KONKURRENZ UND DEN<br />

VORTEIL DES „STÄRKEREN” GEGENÜBER DEM<br />

„SCHWÄCHEREN” ZUR GRUNDLAGE SEINES<br />

WIRTSCHAFTENS HAT.<br />

<strong>und</strong> zurück<br />

WIE DA GRÜNE ODER DIE „TAZ” („TEILEN IN DER<br />

KLASSE”) AUF DIE IDEE KOMMEN KÖNNEN, ES<br />

HANDELE SICH UM EINE CHANCE FÜR EINE „SOLI-<br />

DARISCHE GESELLSCHAFT”, BLEIBT RÄTSELHAFT.<br />

ALLE UNTERSCHIEDLICHEN MODELLE DER FLEXI-<br />

BILISIERUNG HABEN NUR DAS ZIEL, KOSTEN ZU<br />

SENKEN UND PRODUKTIVITÄT ZU ERHÖHEN.<br />

Sie schaffen nicht einen neuen Arbeitsplatz,<br />

was spätestens dann deutlich werden<br />

wird, wenn die Absatzflaute vorüber<br />

ist <strong>und</strong> die Beschäftigten bedarfsweise<br />

auch wieder länger arbeiten müssen.<br />

Daß jetzt auch die „Alternativen” den Produktivitätswahnsinn<br />

<strong>und</strong> seine Produkte –<br />

in diesem Fall das Auto – unterstützen <strong>und</strong><br />

von Solidarität schwafeln, wo noch mehr<br />

Konkurrenz um weniger Arbeit organisiert<br />

wird, ist eine der traurigen Entwicklungen<br />

unserer Zeit, die nur verdeutlicht, daß derzeit<br />

keine gesellschaftlich relevante Kraft<br />

ernsthaft die Vorstellungen einer solidarischen<br />

Gesellschaft verfolgt. Dann müßte<br />

wieder über Sozialismus (nicht den gewesenen<br />

„realen“) <strong>und</strong> nicht über Marktwirtschaft<br />

geredet werden. Auch in den<br />

Gewerkschaften wächst das Lager derer,<br />

die sich in das „Unvermeidliche fügen”<br />

wollen. Die Haltung erinnert fatal an die<br />

Politik des ADGB gegenüber den Weimarer<br />

Notverordnungen:<br />

„MIT ZÄHNEKNIRSCHEN MUSS DAS ÄRGSTE<br />

HINGENOMMEN WERDEN, UM DAS ALLERÄRGSTE<br />

ZU VERHÜTEN” (DEZEMBER 1931, 14 MONATE<br />

VOR DER MACHTÜBERTRAGUNG AN HITLER).<br />

Die Akzeptanz solcher Lohn-Nivellierungsmodelle<br />

wie bei der VAG hat ihren wesentlichen<br />

Gr<strong>und</strong> im relativ hohen Standard<br />

des Lohns <strong>und</strong> der sozialen Bestandteile<br />

bei der Volkswagen AG, die die höchsten<br />

Gehälter in der Industrie zahlt. Übertragen<br />

auf den gesellschaftlichen Durchschnitt<br />

wird deutlich, daß, was bei der VAG finanziell<br />

vielleicht verkraftbar ist, den Durchschnittsverdiener<br />

erheblich mehr belasten<br />

<strong>und</strong> die sozial Schwachen abstürzen lassen<br />

wird. Arbeitgeberpräsident Murrmann<br />

Wer in Fragen der Reichtumsverteilung<br />

„Gemeinsinn” verlangt, hat mit<br />

Sicherheit andere Absichten als es<br />

die demagogische Formel verheißt.<br />

„GEMEINNUTZ GEHT VOR EIGENNUTZ”<br />

WAR EIN VOLKSTÜMLICHER SLOGAN DER<br />

NAZIS, MIT DEM EIN VERMEINTLICH<br />

GEMEINSAMES INTERESSE ERZWUNGEN<br />

WERDEN SOLLTE.<br />

Die aktuelle „Wertediskussion” müht<br />

sich just an solchen Demagogien ab.<br />

Und Rexrodt fordert in seinem schon<br />

erwähnten Papier „Verantwortungsbewußtsein,<br />

Mitmenschlichkeit, Zuverlässigkeit,<br />

Treue, Pünktlichkeit, Entscheidungs<strong>und</strong><br />

Gestaltungsbereitschaft” ein. Auch<br />

die sozialdemokratische Symbolfigur<br />

preußischer Sek<strong>und</strong>ärtugenden, Helmut<br />

Schmidt, erinnert sich in dem Bestseller<br />

„Manifest für ein besseres Deutschland”<br />

zusammen mit anderen AutorInnen seiner<br />

Jugend <strong>und</strong> Reichswehrzeit: „Warum soll<br />

es uns so schwerfallen, freiwillig zur<br />

Erhaltung des inneren Friedens Verzichte<br />

zu leisten, die jeder im Falle eines Krieges<br />

selbstverständlich auf sich nimmt”.<br />

IMMER GEHT ES DABEI NICHT UM „UNS ALLE”,<br />

SONDERN DEN „UNTEREN KLASSEN” ANS LEDER.<br />

B<strong>und</strong>espräsident Weizsäcker fordert<br />

„Dienstpflicht für alle” (möglicherweise<br />

auch für Frauen) z.B. in der Entwicklungshilfe,<br />

im Umweltschutz, in den sozialen<br />

Diensten. Rexrodt wirbt allerorten für<br />

„Gemeinschaftsarbeit” unter Tarif, die<br />

zudem den Vorteil habe, anders als ABM-<br />

Tätigkeiten, keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld<br />

nach sich zu ziehen. Der<br />

Schmidt-Schüler Voscherau (SPD) in<br />

Hamburg geht angesichts rechter Wahlerfolge<br />

sogar so weit, im „Spiegel” in Vorbereitung<br />

auf die weiter sinkende Zahl von<br />

Industriearbeitsplätzen, nicht nur eine<br />

Ausdehnung „öffentlicher Arbeitsplätze”<br />

vorzuschlagen, sondern an Arbeitszwang<br />

zu denken. Man müsse „eine Sanktion für<br />

Menschen schaffen, die arbeiten können,<br />

aber trotzdem nicht wollen”.<br />

Dabei ist, öffentlich kaum registriert, die<br />

gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage bereits geschaffen.<br />

DURCH ÄNDERUNG EINES WÖRTCHENS IM BUN-<br />

DESSOZIALHILFEGESETZ HAT DIE BUNDESRE-<br />

GIERUNG DIE BISHERIGE SOLLVORSCHRIFT, DASS<br />

DIE TRÄGER DER SOZIALHILFE DIE BEZIEHER ZUR<br />

„GEMEINNÜTZIGEN ARBEIT” HERANZIEHEN KÖN-<br />

NEN, IN EINE MUSS-VORSCHRIFT UMGEWANDELT.<br />

Künftig haben die Kommunen die Pflicht,<br />

im Einzelfall „die Gewöhnung eines Hilfesuchenden<br />

an eine berufliche Tätigkeit<br />

besonders zu fördern oder seine Bereitschaft<br />

zur Arbeit zu prüfen”, indem „ihm<br />

für eine notwendige Dauer eine hierfür<br />

geeig<strong>net</strong>e Tätigkeit oder Maßnahmen<br />

anzubieten”, ist. Allein an der bürokratischen<br />

Leistungsfähigkeit der Kommunen<br />

wird die massenhafte Umsetzung dieses<br />

Muß heute scheitern. Von Ausnahmen<br />

abgesehen gibt es ein umfassendes Konzept<br />

für solche „gemeinnützigen” Tätigkeiten.<br />

„SO VIEL LAUB WIE DA GEFEGT WERDEN SOLL,<br />

GIBT ES NICHT MAL IM HERBST”, SPOTTETE DIE<br />

BERLINER SOZIALSENATORIN.<br />

Doch wird das Problem bleiben? Angesichts<br />

der Tatsache, daß industrielle<br />

Arbeitsplätze wegrationalisiert werden,<br />

daß nach dem Wegfall der Systemgrenze<br />

die Billiglohnproduktion vor der deutschen<br />

Haustür in Osteuropa liegt (ein gut<br />

ausgebildeter tschechischer Arbeiter<br />

erhält 15% vom Lohn eines deutschen),<br />

wird ganz offensichtlich mit einer steigenden<br />

Zahl Arbeitsloser kalkuliert. Es dürfte<br />

nur<br />

noch eine Frage der Zeit sein, bis man sich<br />

„bewährter” Rezepte nicht nur erinnert,<br />

sondern sie auch praktizieren wird.<br />

Es war die liberale Gräfin Dönhoff in der<br />

„Zeit”, die die Erinnerungen präzisierte.<br />

Nazi-Brandstifter <strong>und</strong> Mörder motivierten<br />

sie zu der Überlegung, daß man die jungen<br />

Leute im Osten „nicht ohne Arbeit” <strong>und</strong><br />

„ohne Jugendklubs” sich selbst überlassen<br />

dürfe. Was liegt da näher als ein<br />

„Dienst an der Gemeinschaft”? Dönhoff<br />

weiter:<br />

„ES IST ABSURD, WENN MAN VOR DIESER<br />

MASSNAHME ZURÜCKSCHRECKT, WEIL ANGEBLICH<br />

HITLER DEN ARBEITSDIENST ERFUNDEN HAT.<br />

ER HAT IHN GAR NICHT ERFUNDEN, ER HAT IHN<br />

NUR ZU EINER VORMILITÄRISCHEN ORGANISATION<br />

PERVERTIERT.“<br />

„Seine Konzeption, an der Helmut von<br />

Moltke <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e vom späteren<br />

Widerstand mitgewirkt haben, war das<br />

Bestreben, Arbeiter, Bauern <strong>und</strong> Studenten<br />

in Bildungslagern zusammenzuführen.<br />

Dieser Arbeitsdienst hatte schon zur Zeit<br />

von Brüning 100.000 Mitglieder”.<br />

Im September 1932 waren exakt 144.000<br />

Jugendliche unter 25 Jahren, die einen<br />

zunächst 20- später 40-wöchigen „Freiwilligen<br />

Arbeitsdienst” (FAD) leisten mußten.<br />

Im Straßen-, Wald- <strong>und</strong> Wanderwegebau,<br />

bei der Kultivierung von Moor <strong>und</strong> Heide,<br />

beim Bau von Sportanlagen, aber auch<br />

Arbeit in Steinbrüchen <strong>und</strong> Kiesgruben<br />

wurde „systematische Arbeitsschulung”<br />

<strong>und</strong> „kollektive Selbsthilfe” eingeübt, wie<br />

es – man glaubt es kaum – der ADGB formulierte.<br />

Der FAD war Teil der ersten Brüning’schen<br />

Notverordnung vom Juni 1931<br />

<strong>und</strong> sollte der „produktiven Verwendung<br />

der Arbeitslosenunterstützung” dienen.<br />

Die Vergabe <strong>und</strong> Prüfung erfolgte durch<br />

die Arbeitsämter. Träger waren Kommunen,<br />

Körperschaften öffentlichen Rechts,<br />

Stiftungen, Kirchengemeinden, Genossenschaften,<br />

Gewerkschaften, Technische<br />

Nothilfe <strong>und</strong> Sportvereine. Der FAD geriet<br />

zum Tummelplatz deutsch-nationaler <strong>und</strong><br />

nationalsozialistischer Gruppierungen <strong>und</strong><br />

bot die Gr<strong>und</strong>lage für den Reichsarbeitsdienst<br />

der Nationalsozialisten, die ihn<br />

1935 zur gesetzlichen Dienstpflicht für<br />

jeden Jugendlichen ab 18 Jahre (Dauer:<br />

sechs Monate) machten. Ehemalige Offiziere<br />

brachten Jugendlichen häufig in<br />

großen Arbeitslagern Arbeitsdisziplin bei.<br />

Dönhoff hat recht, Hitler hat so wenig den<br />

Arbeitsdienst erf<strong>und</strong>en, wie die Arbeit, die<br />

Ausbeutung, den Krieg. Interessanter ist<br />

jedoch die Frage, ob solche Maßnahmen<br />

den Weg für die Kriegsabsichten Hitlers<br />

bereiteten. Kern der bereits seit Anfang<br />

des Jahrh<strong>und</strong>erts diskutierten Dienstverpflichtung<br />

(schon einmal 1916 als „Vaterländischer<br />

Hilfsdienst” Gesetz) war weder<br />

damals noch bei den Nationalsozialisten<br />

nur die militärische Überlegung. Drei<br />

Hauptargumente für den Arbeitsdienst<br />

waren ausschlaggebend: Neben der vormilitärischen<br />

Ausbildung waren dies<br />

pädagogische <strong>und</strong> ökonomische Erwägungen.<br />

Die pädagogische ging davon<br />

aus, <strong>und</strong> da dürfte sich Dönhoff wiederfinden,<br />

daß praktisch jede Art von Beschäftigung<br />

besser sei als Arbeitslosigkeit. Erziehung<br />

durch Arbeit galt in der Pädagogik<br />

als ein Wert, der heute wiederbelebt wird<br />

gegen eine sogenannte „permissive<br />

society” (eine sich selbst überlassene,<br />

selbst regulierende Gesellschaft). Solche<br />

Überlegungen haben immer dann Konjunktur,<br />

wenn eine Gesellschaft nichts<br />

anderes zu bieten hat.<br />

DIE NATIONALSOZIALISTEN ENTWICKELTEN<br />

DARAUS EIN SYSTEM DES „DREISCHRITTS”:<br />

„SCHULPFLICHT, ARBEITSPFLICHT,<br />

WEHRPFLICHT”, UM AM ENDE DEN TOTAL<br />

VERFÜGBAREN DEUTSCHEN STAATSBÜRGER<br />

VERFÜGBAR ZU HABEN.<br />

Auch sie wußten ihr Vorhaben als solidarischen<br />

Dienst moralisch zu begründen:<br />

„Die Schule des Arbeitsdienstes (sollte)<br />

der Jugend unseres Volkes auch die so<br />

notwendige staatsbürgerliche Erziehung<br />

zu nationaler Pflicht ... <strong>und</strong> sozialem<br />

Gemeinschaftsempfinden geben”, wie<br />

Oberst a. D. Konstantin Hierl („Beauftragter<br />

des Führers für den Arbeitsdienst”)<br />

1932 formulierte.<br />

Auch der FAD war so freiwillig nicht wie er<br />

sich ausgab. In dem Maße, wie die Gesellschaft<br />

keine Alternative ließ, wurde er<br />

angenommen. Freiwilligkeit läßt sich also<br />

auch herstellen, <strong>und</strong> der Gräfin sei’s<br />

geglaubt, sie will keinen Reichsarbeitsdienst.<br />

Zur Zeit muß man davon ausgehen,<br />

daß alle Überlegungen zwischen<br />

Dienstpflicht <strong>und</strong> „Gemeinschaftsarbeit”,<br />

die behaupten, Alternativen zu Arbeitslosigkeit<br />

zu sein, weniger gesellschaftspolitische<br />

Bedeutung haben als vielmehr ideologische.<br />

Über die Einsicht in das angeblich<br />

Notwendige kann „Gemeinschaftsarbeit“<br />

als jederzeit anwendbares Druckmittel<br />

gegen Arbeitslose fungieren.<br />

Unter den derzeitigen wirtschaftlichen<br />

Bedingungen scheint die marktwirtschaftliche<br />

Variante erfolgsträchtiger als staatlicher<br />

Zwang. In den USA beispielsweise<br />

entstanden überall dort Billigjobs, wo der<br />

Kapitaleinsatz niedrig war: Boten, Fast<br />

Food, Hausangestellte, Pflegepersonal<br />

usw. Sie kosten den verschuldeten Staat<br />

keinen Pfennig. Derzeit ist der billigste<br />

Weg zu solcher Niedriglohnarbeit noch die<br />

tarifrechtliche Regelung, die den bisherigen<br />

Schutz von Arbeitsverhältnissen aufhebt<br />

<strong>und</strong> abgestufte Arbeit unter Tarif<br />

zuläßt. In den USA ließ sich aus der Not ein<br />

Zwang zur Arbeit ohne staatlich organisierten<br />

Arbeitszwang verwirklichen. Staatliche<br />

Maßnahmen könnten ergänzend hinzukommen,<br />

sei es mit Zuckerbrot (Lohnsubventionen)<br />

oder Peitsche (Zumutbarkeitsverschärfung,<br />

Sozialkürzungen).<br />

Das SPD-Konzept, „Arbeit statt Arbeitslosigkeit<br />

zu finanzieren”, dürfte anders<br />

umgesetzt werden, als es die sozialdemokratischen<br />

Vordenker wollten. Der Reichsarbeitsdienst<br />

war eine solche Form. Vor-<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 7<br />

aussetzung dafür ist die staatskapitalistische<br />

Organisierung von Arbeitsmaßnahmen,<br />

die mehr sind als kommunal verord<strong>net</strong>es<br />

Laubharken sowie ein Konsens zwischen<br />

Politik <strong>und</strong> Großkapital. Dafür gab<br />

es schließlich schon einmal ein Vorbild in<br />

der deutschen Geschichte.<br />

Trotz allem kann keine gerade Vergleichslinie<br />

zum Nationalsozialismus gezogen<br />

werden. Allerdings liegt ein Prozeß der Faschisierung<br />

vor, der gleiche Entwicklungsstränge<br />

aufweist <strong>und</strong> eine spezifisch deutsche<br />

Kontinuität zeigt. Um einer ähnlichen<br />

Entwicklung wie 1933 vorzubeugen, bedürfte<br />

es auch der Untersuchung neuer<br />

deutscher Großmacht-, Europa-, Außen<strong>und</strong><br />

Militärpolitik ebenso wie der vergleichenden<br />

Entwicklung der Gesellschaft zu<br />

einem „faschisierten Massenbewußtsein”,<br />

das sich am offenk<strong>und</strong>igsten r<strong>und</strong> um die<br />

Pogrome von Hoyerswerda <strong>und</strong> Rostock<br />

artikuliert hat.<br />

DER UNTERSCHIED ZWISCHEN 1930 UND 1993<br />

IN DER WIRTSCHAFTS- UND ARMUTS-<br />

ENTWICKLUNG EINSCHLIEßLICH DES<br />

SOZIALABBAUS LÄSST EBENFALLS KEINE GERADE<br />

VERGLEICHSLINIE ZU, WEIL ARMUT EINE SCHWER<br />

OBJEKTIVIERBARE GRÖSSE IST.<br />

Gemessen an den kulturellen <strong>und</strong> konsumptiven<br />

Standards sind gesellschaftliche<br />

Isolierung <strong>und</strong> relative Verarmung<br />

1993 deutlich anders als 1930 zu bewerten.<br />

Hinzu tritt eine andere Komponente, die<br />

sehr deutsch ist. Der deutsch-nationale <strong>und</strong><br />

später nationalsozialistische Begriff der<br />

Herrenrasse hat sich in „modernisierter”<br />

Form bis heute erhalten. Vom „made in germany”<br />

zum Wir-müssen-selbstverständlich-überall-Spitze-sein,<br />

<strong>und</strong> wenn wir es<br />

nicht sind, dann sind in der Regel andere<br />

daran schuld, gibt es eine Kontinuität.<br />

Das Problem zwischen 1990 – als Kohl<br />

„blühende Landschaften” <strong>und</strong> „keinem<br />

wird es schlechter, vielen wird es besser<br />

gehen” versprach – <strong>und</strong> 1993 – wo allerorten<br />

Verbitterung angesichts des Ausbleibens<br />

dieses Versprechens herrscht –<br />

liegt darin, daß eine vermeintliche Selbstverständlichkeit<br />

eingeklagt wird. In der<br />

verklärten Wahrnehmung der Wiedervereinigungs-Euphorie<br />

liegt ja nicht nur D-<br />

Mark-Verdummung, sondern auch die<br />

Selbstherrlichkeit des „Wir sind ein Volk”,<br />

die Angst machen muß, wenn sie<br />

umschlägt.<br />

DER NEUE RASSISMUS IST EIN SOLCHER<br />

„VOLKSREFLEX”, DER DARAUF VERWEIST, DASS<br />

FASCHISMUS UND FASCHISIERUNG NICHT NUR<br />

EINE STAATSVERANSTALTUNG UND EINE -VER-<br />

SCHWÖRUNG VON STAAT UND KAPITAL SIND.<br />

Zwischen der Internationalisierung von<br />

Produktion, Märkten <strong>und</strong> Arbeitsmärkten<br />

<strong>und</strong> dem zunehmenden National-Bewußtsein<br />

seit 1990 besteht ein Widerspruch.<br />

1990, als das „Ende der Geschichte” nach<br />

dem Zusammenbruch des realen Sozialismus<br />

vorhergesagt wurde, mochte es kurzzeitig<br />

so scheinen, als stünde eine „Weltgesellschaft”<br />

auf der Tagesordnung. Das<br />

Gegenteil war <strong>und</strong> ist der Fall. Zunehmende<br />

Konkurrenz als notwendiger Bestandteil<br />

des Kapitalismus, verstärkt durch die<br />

Krisensituation, beherrscht das Weltgeschehen.<br />

Diese Konkurrenz wird sich mit<br />

wachsender Tendenz national organisieren<br />

<strong>und</strong> zwar nicht nur in den Verlierergesellschaften<br />

des Ostens.<br />

Kapitalistische Modernisierer wie Stoiber,<br />

die ihren Anti-Europaismus regionalistisch<br />

(was nur eine Spielart des Nationalismus<br />

ist) artikulieren, treten trotzdem für den<br />

immer schwieriger werdenden freien Welthandel<br />

ein, den ungehinderten Zugang zu<br />

Ressourcen anderswo <strong>und</strong> Deutschlands<br />

Spitzenstellung auf dem Weltmarkt, weil<br />

der Reichtum dieses Landes darauf basiert.<br />

In dem Maße, wie die Konkurrenz in internationalen<br />

Abkommen nicht mehr bruchlos<br />

regulierbar ist, entstehen neue Konflikte<br />

<strong>und</strong> Nationalismen. Das hat sich nicht<br />

zuletzt bei den GATT-Verhandlungen offenbart,<br />

sondern auch bei dem Ausrichten<br />

deutscher Interessen auf die Ostmärkte.<br />

Nationalismus eint eine „Volksgemeinschaft”,<br />

selbst bei aller Unterschiedlichkeit<br />

der Interessen, indem ein gemeinsames<br />

Ziel gesetzt wird, nämlich Deutschlands<br />

Spitzenstellung in der Welt zu erhalten –<br />

dies ist eine weitere Quelle für Faschisierung.<br />

Heiner Möller, (47) lebt als freier Autor in<br />

Hamburg.


S 8 A62 28.07.1995 14:34 Uhr Seite 1<br />

Politiker plündern Stadt für Versorgungsjobs<br />

Eigentlich sollte es nur eine Presseerklärung<br />

werden, als sich Bürgermeister<br />

Michael Siebert (Grüne)<br />

gegen parteipolitische Angriffe der<br />

<strong>CDU</strong> zur Wehr setzte: In Kranichstein<br />

müßten die Leute frieren, so der Vorwurf,<br />

weil er den Bau einer Fernwärmeleitung<br />

verhindert habe. Ein Beschluß<br />

der Südhessischen, die Fernwärmeleitung<br />

nicht zu bauen, war aber bereits vor<br />

Amtsantritt Sieberts gefaßt worden <strong>und</strong><br />

in Kranichstein friert niemand.<br />

Siebert versteht es, sich akribisch in<br />

Unterlagen einzuarbeiten – auch heute,<br />

nach seinen ersten 100 Tagen nach<br />

Amtsantritt – <strong>und</strong> weiß dann sehr wohl,<br />

was er will. Aus der beabsichtigten Verteidigung<br />

wurde eine Offensive mit<br />

voller Breitseite gegen die „Südhessische<br />

Gas <strong>und</strong> Wasser AG“.<br />

Das Unternehmen steht zu 66 Prozent<br />

im Eigentum der Stadt, weitere 26 Prozente<br />

hält die „Rhenag“, eine Tochter<br />

des Elektrizitätsgiganten „RWE“. Die<br />

Geschäftsführung der Südhessischen ist<br />

sehr genau darauf bedacht, den Gewinn<br />

für das Unternehmen zu maximieren<br />

<strong>und</strong> hatte deshalb der Stadt einen Vertrag<br />

vorgelegt, der laut Siebert einen<br />

kalkulatorischen Gewinn vor Steuern<br />

von 17% vorsieht. Solche Vertrags-Entwürfe<br />

durchlaufen die Verwaltung der<br />

Stadt, landen beim zuständigen Dezernenten,<br />

das ist heute Siebert, <strong>und</strong> der<br />

legt sie dem Magistrat vor, letztlich<br />

haben die Stadtverord<strong>net</strong>en zu<br />

beschließen.<br />

Doppelte Gebühren<br />

In der Vergangenheit kamen so für den<br />

Steuerzahler, beziehungsweise die<br />

Stadt, ungünstige Verträge heraus.<br />

Gerade die Südhessische hatte mehrfach<br />

auf diesem Weg Vorteile zu Lasten der<br />

städtischen Kassen <strong>und</strong> letztlich von uns<br />

VerbraucherInnen herausgeplündert.<br />

Ein Beispiel war der Verkauf der Kläranlagen:<br />

Nach dem Übergang auf die<br />

Südhessische stiegen die Gebühren aufs<br />

Doppelte an <strong>und</strong> Verbraucher <strong>und</strong> Stadt<br />

dürfen heute <strong>und</strong> in Zukunft kräftig zahlen.<br />

Übrigens werden wir deutlich mehr<br />

geschröpft als dies andernorts der Fall<br />

ist.<br />

So gut wie geschenkt<br />

Bürgermeister Siebert, der ohnehin<br />

schon wegen einer Wasserpreiserhöhung<br />

gegen die Südhessische auf den<br />

Klageweg gegangen war („das Verfahren<br />

ruht derzeit, denn ich habe andere<br />

Möglichkeiten als Bürgermeister“) <strong>und</strong><br />

auch öffentlich gegen den Verkauf des<br />

Umweltlabors protestiert hatte, stieß bei<br />

dem Entwurf auf wieder einmal solch<br />

einen Fall. Denn die Südhessische will<br />

die Fernheizwerke Arheilgen <strong>und</strong> Kranichstein<br />

für den Preis von 2,281 Millionen<br />

Mark kaufen, für das Gelände keinen<br />

Kaufpreis <strong>und</strong> keine Miete zahlen<br />

<strong>und</strong> obendrein ein Geschenk von 3,4<br />

Millionen nicht rückzahlbaren Zuschuß<br />

einsacken für den Bau eines Blockheizkraftwerkes,<br />

was so gut ist wie<br />

geschenkt.<br />

Lukrative Vorstandsposten<br />

Noch am selben Abend des 19.1. setzte<br />

Siebert für den darauffolgenden Vormittag<br />

eine Pressekonferenz an, denn „ich<br />

wollte die Öffentlichkeit davon informieren,<br />

daß kein Versorgungsnotstand<br />

in Kranichstein vorliegt <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

einen Vorschlag unterbreiten.“ Das<br />

gefiel seinem Oberbürgermeister Peter<br />

Benz überhaupt nicht, „er hat mich<br />

gebeten, die Pressekonferenz abzusagen“,<br />

doch Siebert blieb dabei, er wollte<br />

sich verteidigen. Benz hatte ohnehin<br />

genug Gr<strong>und</strong> für Ärger, denn ein Interview<br />

mit Stefan Willert vom „HR 4“,<br />

das Siebert am 19.1. gegeben hatte, ist<br />

geeig<strong>net</strong>, unseren <strong>Filz</strong>-gewohnten Politikern<br />

die Zornesröte ins Gesicht zu treiben.<br />

Willert darin: „Beobachter der<br />

Darmstädter Kommunalpolitik aber<br />

wollen die Motive ausgemacht haben.<br />

Die Südhessische gehört mehrheitlich<br />

der Stadt <strong>und</strong> alle städtischen Tochterunternehmen<br />

florieren. Dort gibt es<br />

lukrative Vorstands- <strong>und</strong> Aufsichtsratsposten<br />

<strong>und</strong> der Zufall will es, auf diesen<br />

Posten findet man die gleichen Darmstädter<br />

Politiker wieder, die zuvor als<br />

Stadtverord<strong>net</strong>e <strong>und</strong> Stadträte den Ausverkauf<br />

der Stadt beschlossen haben.“<br />

Das ist in der Tat zu bestätigen, wenn<br />

auch der Ärger des OB Benz über Siebert<br />

insofern ungerechtfertigt war, als<br />

Siebert erklärt hatte, es sei ihm ein Rätsel,<br />

warum die Stadt so handele – von<br />

<strong>Filz</strong> keine Rede.<br />

Ein mächtiges Ärgernis<br />

Doch Benz <strong>und</strong> seinem Hofberichterstatter<br />

Klaus Staat vom Echo – beide<br />

eingeschworen auf SPD-Linie – war<br />

dies alles mächtiges Ärgernis. Während<br />

Benz schon von „einer wackelnden<br />

Koalition“ sprach, erdichtete Staat eine<br />

andere Wirklichkeit via Falschberichterstattung<br />

im „Echo“. Dabei hatte Siebert<br />

seine Hausaufgaben als zuständiger<br />

Umweltdezernent lediglich gründlich<br />

gemacht <strong>und</strong> städtische Interessen vertreten.<br />

Sachlich weiß er seine Politik<br />

durchaus handfest zu untermauern.<br />

Wenn die Südhessische die neue Fernwärmeleitung<br />

von Arheilgen nach Kra-<br />

Ausgabe 62 28.1.1994 · Seite 8<br />

Erster Koalitions-Krach: Siebert will <strong>Filz</strong>-Quelle Südhessische verstopfen – Benz verteidigt Politiker-Pfründe<br />

nichstein vor dem Winter hätte fertigstellen<br />

wollen, wäre es erforderlich<br />

gewesen, den Bau an zwei Stellen<br />

gleichzeitig zu beginnen. Und die Südhessische<br />

selbst – wohl wegen ihrer<br />

hohen Forderungen verunsichert – hatte<br />

den zweiten Teil der Fernwärmeleitung<br />

nach einer Aufsichtsratsitzung vom<br />

7.7.93, als Siebert noch kein Bürgermeister<br />

war, zurückgestellt. Die Unsicherheit<br />

der Südhessischen: In der rot-grünen<br />

Koalitionsvereinbarung ist anderes<br />

vorgesehen als im Vertrag. Darauf stützt<br />

sich Siebert heute <strong>und</strong> meint, „Mir geht<br />

es darum, daß die Stadt nicht wieder der<br />

Dumme ist“. Die Kontrolle, die er praktisch<br />

wahrgenommen hat, hebt ihn von<br />

seinen Magistratskollegen ab, die in der<br />

Vergangenheit immer kräftigt mitgefilzt<br />

haben.<br />

Teure Sanierung<br />

Siebert spricht von „einem dauerhaften<br />

Defizit, das bei der Stadt bleibt“ <strong>und</strong><br />

weiß dies zu begründen: Die Südhessische<br />

betreibt die Heizkraftwerke <strong>und</strong> die<br />

Fernwärmeleitung <strong>und</strong> die Stadt versorgt<br />

die Haushalte über ein Feinverteiler<strong>net</strong>z,<br />

das veraltet ist (es stammt von<br />

1968) <strong>und</strong> bei einem Wärmeverlust von<br />

25% regelmäßig Verluste bringt, denn<br />

16% erhält die Stadt lediglich an Einnahmen,<br />

einmal ganz abgesehen von der<br />

längst überfälligen Sanierung. Da keine<br />

Rückstellungen gemacht wurden, fehlen<br />

auch dafür die Gelder – von Summen bis<br />

zu 15 Millionen wird gesprochen – nach<br />

Willen der Südhessischen sollen diese<br />

Stadt <strong>und</strong> Verbraucher berappen.<br />

Die Koalitionsvereinbarung<br />

Bei der Südhessischen sitzen clevere<br />

Manager: Sie stellen ihren kalkulatorischen<br />

Gewinn von 17 Prozent einfach<br />

auf die Kostenseite, weshalb es „kein<br />

W<strong>und</strong>er ist, daß rein rechnerisch hinter-<br />

her nichts übrig bleibt“, erklärt Siebert.<br />

Um „die Kuh vom Eis zu holen“, hat er<br />

deshalb einen Vorschlag parat: Die Südhessische<br />

bekommt nicht das Geschenk<br />

von 3,4 Millionen, sondern die Stadt<br />

„soll ihre Kapitaleinlage erhöhen, denn<br />

dann bekommen wir 9% Zinsen“,<br />

immerhin etwa „300.000 Mark pro Jahr,<br />

genug, um das Netz zu sanieren <strong>und</strong><br />

kostendeckend arbeiten zu können“. Die<br />

Überlegung ist plausibel <strong>und</strong> entspricht<br />

darüber hinaus den Vereinbarungen in<br />

der rot-grünen Koalition. Darin ist verzeich<strong>net</strong>:<br />

„Sicherstellung der Unterstützung<br />

städtischer Energiepolitik durch<br />

die städtischen Gesellschaften … <strong>und</strong><br />

eines maßgeblichen städtischen Einflusses“.<br />

Ebert, ein Interessenvertreter<br />

Trotzdem war Benz sauer, drohte mit<br />

Disziplinarmaßnahmen <strong>und</strong> Eike Ebert<br />

durfte im Echo verbreiten: Der Vorschlag<br />

sei Quatsch, weder praktikabel<br />

noch angemessen <strong>und</strong> – faux pas oder<br />

Dummheit – es gebe bereits Zusagen an<br />

die Südhessische. Von wem? Weshalb?<br />

Und zu wessen Vorteil? Die Verträge<br />

sollten doch erst von Magistrat <strong>und</strong> Parlament<br />

beschlossen werden?! Ebert als<br />

ehemaliger Sparkassendirektor im<br />

Geldverteilen (<strong>und</strong> -nehmen) bestens<br />

bewandert, sitzt auch dem Aufsichtsrat<br />

der Südhessischen vor <strong>und</strong> vertritt mit<br />

dem Angriff gegen Siebert (der übrigens<br />

auch im Aufsichtsrat des Unternehmens<br />

sitzt) Unternehmensinteressen – nicht<br />

die von uns VerbraucherInnen – vertritt<br />

wohl auch noch andere Interessen, die<br />

Gr<strong>und</strong> für diesen Bericht <strong>und</strong> die detaillierte<br />

Beschreibung bilden.<br />

Versorgungsjobs<br />

Wo ist die Verbindung zwischen <strong>Filz</strong><br />

<strong>und</strong> Fernwärme-Geschäft der Südhessischen<br />

beziehungsweise der Privatisierung<br />

öffentlicher Versorgungsaufgaben<br />

zu suchen? Im Verlauf jahrzehntelanger<br />

Parteien-Herrschaft haben sich die PolitikerInnen<br />

Sicherheiten geschaffen.<br />

Wenn beispielsweise ein altgedienter<br />

Parteifre<strong>und</strong> einen gut bezahlten Job<br />

braucht oder ein Politiker nicht wiedergewählt<br />

wird oder der gutbezahlte Politiker<br />

noch immer nicht genug Geld verdient<br />

oder ein Politiker seines Jobs überdrüssig<br />

ist <strong>und</strong> ein gutes Versorgungseinkommen<br />

benötigt – dann macht es<br />

sich ausbezahlt, stehen bei einer Südhessischen,<br />

einer HEAG, einem Bauverein<br />

<strong>und</strong> anderen doch die Jobs parat. So<br />

w<strong>und</strong>ert es denn nicht, daß Benz als<br />

Oberbürgermeister laut <strong>und</strong> öffentlich<br />

fordert, daß der Magistrat nicht „mit<br />

mehreren Zungen sprechen solle“, von<br />

Alleingängen spricht <strong>und</strong> Sieb ert<br />

Illoyalität vorwirft – ein unglaublicher<br />

Vorgang, der eher an großherzögliche<br />

Zeiten denken läßt, denn an demokratische.<br />

Wenigstens in seiner Partei findet<br />

Siebert Rückendeckung: Günter Mayer<br />

versichert, „Ich stehe voll <strong>und</strong> ganz hinter<br />

dem, was der Michael macht“.<br />

In die Politik gehen – warum?<br />

In der Öffentlichkeit jammern die Politiker<br />

zwar oft <strong>und</strong> laut, die Städte hätten<br />

auf ihre reichen Töchterunternehmen<br />

keinen Einfluß mehr, doch davon glauben<br />

wir besser nur das Lamento. Beispiel:<br />

Im Bauverein-Aufsichtsrat sitzen<br />

neun Politiker aller Parteien <strong>und</strong> vier<br />

Arbeitnehmer – wer hat da das Sagen?<br />

Wohlweislich werden alle Mitglieder<br />

zum Schweigen genötigt, damit ja nichts<br />

an die Öffentlichkeit dringt. Beispielsweise<br />

darüber, wer welche Reise, welches<br />

Dienstfahrzeug <strong>und</strong> vor allem, wer<br />

welchen Job als Geschäftsführer<br />

bekommt. Das wird besonders kompliziert,<br />

wenn mehrere Parteien an demselben<br />

Strang ziehen <strong>und</strong> so die Interessen<br />

mal der <strong>CDU</strong>, mal der SPD, mal der<br />

FDP zu berücksichtigen sind. Da bedarf<br />

es denn wirklich guter Strategen eines<br />

Kalibers wie Ebert.<br />

Es werden immer mehr<br />

Alle Parteien hoffen immer, noch mehr<br />

Stimmen, noch mehr Mitglieder zu<br />

bekommen, also müssen sie konsequent<br />

dafür sorgen, daß die privaten Töchter<br />

immer mehr, immer größer <strong>und</strong> immer<br />

reicher werden. Das besaß unter der<br />

Ägide Metzger eine besondere Komponente,<br />

waren die Pfründe doch der einzige<br />

Anreiz, der SPD beizutreten – der<br />

guten Jobs, der vielen Möglichkeiten<br />

wegen – kurz dem <strong>Filz</strong> wegen. Denn<br />

sagen durften die Sozialdemokraten<br />

nichts, die Politik war ihnen von oben<br />

verord<strong>net</strong> – wozu also sollten sie in diese<br />

Partei gehen?<br />

War das die „Zusage“ Eberts an die Südhessische<br />

in Sachen Fernwärme, bevor<br />

der Magistrat, bevor die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />

beschlossen hatten?<br />

Öffentlich sagen darf das niemand. Die<br />

Zinsen in Höhe von 300.000 Mark pro<br />

Jahr hätten doch schon wieder einmal<br />

für einen gut dotierten Posten hergehalten<br />

oder? Das betroffene Unternehmen,<br />

die Südhessische, hat zwar eine eigene<br />

Pressestelle, schweigt jedoch bis heute<br />

vornehm.<br />

Gefügiger Dezernent?<br />

Benz/Ebert haben auch schon angekündigt:<br />

Notfalls holen sie sich die Mehrheiten<br />

anders. Nicht bei den Grünen,<br />

sondern bei der <strong>CDU</strong>, die ebenso wie<br />

die FDP an Pfründen teilhaben darf.<br />

Benz als Oberbürgermeister wird das<br />

System schützen: Erforderlichenfalls<br />

kündigte er öffentlich an, werde er Siebert<br />

die Zuständigkeit für die Energiepolitik<br />

entziehen – ein anderer Dezernent<br />

wäre (siehe oben) gefügiger <strong>und</strong><br />

interessierter an der Pflege des Sumpfes<br />

der Parteienpfründe.<br />

Wo kämen wir denn hin…<br />

Wo kämen wir denn hin, wenn plötzlich<br />

Geld in den städtischen Kassen wäre, für<br />

Obdachlose <strong>und</strong> Wohnungssuchende<br />

Häuser gebaut werden müßten, Radwege<br />

geplant <strong>und</strong> gemalt würden, Altlastdeponien<br />

saniert werden könnten,<br />

Zuschüsse für kulturelle Institutionen<br />

(außer dem Staatstheater) vergeben werden<br />

müßten, Straßenbahnen finanzierbar<br />

würden … ?<br />

Wo kämen wir denn hin, wenn die PolitikerInnen<br />

auf einmal ernsthaft Politik<br />

machen wollten, um sich durch Kenntnisse<br />

zu profilieren, gar um ihre Karriere,<br />

um ihre Wiederwahl kämpfen müßten,<br />

um einen der nicht so zahlreichen,<br />

bezahlten Verwaltungsjobs zu kriegen?<br />

Das nächste Beispiel kommt<br />

Demnächst ist übrigens im Bauverein<br />

der Posten des Direktors (heute Heinz<br />

Reinhard, SPD) frei. Eine öffentliche<br />

Ausschreibung wird niemand lesen <strong>und</strong>,<br />

daß ein Politiker nachfolgt <strong>und</strong> welcher<br />

es wird, das steht dann in der ZD.<br />

Lastest News<br />

Am 26.1. hat der Magistrat den Verkauf<br />

der Fernheizwerke an die Südhessische<br />

beschlossen. Dieser Beschluß wird von<br />

den Fraktionsvorsitzenden der SPD <strong>und</strong><br />

Grünen mit einem gemeinsamem<br />

Antrag in der StaVo vom 17.2. blockiert<br />

werden: Sie fordern ein zweites Angebot.<br />

Das soll die BHKW-GmbH (Südhessische<br />

u. HEAG) abgeben. Damit wir<br />

einen Vergleichsangebot haben, erklärt<br />

Horst Knechtel (SDP) <strong>und</strong> meint, „die<br />

Bürger sind bereits genug mit hohen<br />

Kosten belastet <strong>und</strong> wir haben uns dann<br />

wenigstens um eine Alternative<br />

bemüht“. Michael Grimm<br />

Städtischer Handel<br />

mit privaten Adressen<br />

Auf die Gefahr vor allem für Frauen<br />

<strong>und</strong> AusländerInnen hatten wir in der<br />

Ausgabe 59 hingewiesen, nachdem<br />

die Stadt angekündigt hatte, unsere<br />

Adressen, unsere Namen <strong>und</strong> nicht<br />

genauer beschriebene persönliche<br />

Informationen auch gegen unseren<br />

Willen zu verkaufen. Wir wollten<br />

unter anderem wissen, an wen die<br />

Stadt uns veräußert (auch an rechte<br />

Parteien?) <strong>und</strong> was sie daran verdient.<br />

Zuerst kam die Antwort, unsere Fragen<br />

seien so umfangreich, daß mehr<br />

Zeit benötigt werde als die vierzehn<br />

Tage, die wir dem Amt für Einwohnerwesen<br />

benannt hatten. Dann aber,<br />

am 14.12., kam die Antwort, wir<br />

sollten uns die Gesetzestexte vornehmen.<br />

Ob Amtsleiter Schwarz wohl<br />

glaubt, im Gesetz sei verzeich<strong>net</strong>, an<br />

welche Unternehmen die Stadt<br />

Darmstadt unsere persönlichen<br />

Daten verkauft? Oder wieviel die<br />

Stadt beispielsweise damit verdient?<br />

Wer erinnert sich noch an die Volkszählung,<br />

als uns zugesichert worden<br />

war, die Daten seien nicht reidentifizierbar?<br />

Als wir besänftigt wurden,<br />

es bestünde gar kein Interesse daran,<br />

unsere persönlichen Daten weiter zu<br />

verarbeiten?<br />

Wer Auskünfte vorenthält, hat etwas<br />

zu verschweigen. Dieser neuerliche<br />

Akt von Zensur, zeigt, es kann gar<br />

nicht genug Mißtrauen gegenüber<br />

Politiker-Versprechen gehegt werden.<br />

So müssen wir unseren LeserInnen<br />

die Informationen schuldig bleiben –<br />

noch. Denn mit der fortgesetzten<br />

Zensur der rot-grünen Koalition werden<br />

sich demnächst wieder einmal<br />

die Gerichte befassen müssen. Sowie<br />

unsere Klageschrift (heute schon auf<br />

über 50 Seiten angewachsen) fertig<br />

ist <strong>und</strong> wir vielleicht gewonnen<br />

haben werden, wiederholen wir die<br />

Fragen. Bekanntlich kann so etwas<br />

lange dauern, aber wir bleiben optimistisch.<br />

Die Redaktion


Famoses Stolzieren,<br />

Fechten, Spreizen, Stolpern<br />

„Was Ihr wollt“: Ein Shakespeare für die, die ihn mögen, nicht zum Liebgewinnen<br />

Von babyrosa links bis babyblau rechts<br />

markiert Christian Steiofs Bühnenbild<br />

den Spielplatz: eine quadratische Fläche<br />

feinkörnigen Kieses mit ein paar großen<br />

<strong>und</strong> ein paar kleinen Reisekoffern. Die Farben<br />

des auf die Rückwand gemalten Regenbogens<br />

sind blaß <strong>und</strong> das Licht wird<br />

während der dreieinviertelstündigen Aufführung<br />

nie grell. Abendstimmung im Kinderzimmer,<br />

das scheint nicht verkehrt, hat<br />

uns Shakespeare mit, „Was Ihr wollt“, doch<br />

einmal mehr eine märchenhafte Geschichte<br />

zu erzählen.<br />

Viola <strong>und</strong> Sebastian, das hochherrschaftliche<br />

Geschwisterpaar, geraten in Seenot.<br />

Nach dem Schiffsuntergang kann sich Viola<br />

an die Küste Illyriens retten, so wie ihr Bruder<br />

in einiger Entfernung auch. Sie glaubt,<br />

Eine deutschdeutsche<br />

Geschichte über<br />

den Schriftsteller<br />

Wolfgang Eckert<br />

Eine Geschichte ist zu erzählen über deutsche<br />

Geschichte <strong>und</strong> jene Leute, die sie<br />

allein vertreten wollen. Die Geschichte hat<br />

mit der Sicherheitshysterie in der DDR – ja<br />

doch, der Stasi – zu tun, <strong>und</strong> mit einem Kollegen<br />

<strong>und</strong> Landsmann von mir, dem<br />

Schriftsteller Wolfgang Eckert, aus dem<br />

sächsischen Meerane. Nicht gleich gelangweilt<br />

weiterblättern; ich weiß, dem Volk<br />

wird viel zugemutet von all den Leuten, die<br />

das Hemd über der Brust aufreißen, um<br />

W<strong>und</strong>en zu zeigen oder das Herz dem<br />

gerechten, dem rächenden Dolchstoß darzubieten;<br />

vielleicht ist die Geschichte doch<br />

ganz lehrreich <strong>und</strong> ein bißchen amüsant<br />

auch <strong>und</strong> hoffentlich kaum wehleidig.<br />

E. war vor fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahren ein junger,<br />

aufstrebender Autor. Das juckte die<br />

Stasi. Sie inszenierte ein Spiel, genannt<br />

„taktische Kombination“. Einer ihrer Feindberührungs-Agenten,<br />

genannt „Medicus“,<br />

mußte E. zufällig kennenlernen, um<br />

Gespräche zu führen, über Prag 68 <strong>und</strong> die<br />

Kafkas, Kohouts, Goldstückers. Wenig im<br />

Sinne der damals herrschenden Klasse. So<br />

wurde E. bald darauf, von zwei Männern<br />

flankiert, ohne Angabe des Fahrziels, in eine<br />

Stasi-Dienststelle verbracht. Hier wurde<br />

ihm klargemacht, daß er mit einem gefährlichen<br />

Westagenten gesprochen habe – ein<br />

Alexandra von Schwerin <strong>und</strong> Hans Weicker in „Was ihr wollt“ (Foto: B. Aumüller)<br />

er sei tot; er glaubt, sie sei tot. Sie zieht sich<br />

die Kleider ihres Zwillingsbruders an <strong>und</strong><br />

gibt sich am Hofe des Herzogs Orsino als<br />

Mann Cesario aus. Der Herzog ist in die<br />

Gräfin Olivia verliebt; diese aber nicht in<br />

ihn, sondern in seinen Boten Cesario, das<br />

heißt Viola, die ihrerseits nicht etwa die<br />

Gräfin, sondern Orsino liebt. Kompliziert<br />

wird diese einfache Liebesgeschichte durch<br />

den Mitgiftjäger Sir Andrew Bibberback, Sir<br />

Toby Gulps Alkoholismus, einen Butler<br />

namens Malvolio, der glaubt, daß ihn die<br />

Gräfin liebt <strong>und</strong> das Auftauchen des seiner<br />

Zwillingsschwester Viola zum Verwechseln<br />

ähnlich aussehenden Sebastian, den –<br />

wenn schon, denn schon – sein Retter <strong>und</strong><br />

Gefährte Antonio liebt. Soweit der Stoff, aus<br />

dem Komödien sind.<br />

Foto zum Beweis. Nun sei es E’s Pflicht, von<br />

der Republik Schaden abzuwenden; der<br />

Mann sei dingfest zu machen. Dazu müsse<br />

er nur ein Papier mit einem fremden Namen,<br />

nämlich „Dressel“, unterschreiben. Diese<br />

Unterschrift sei Pflicht. Damit könne man<br />

dem bösen Bonner Ultra eine Falle bauen.<br />

Der Westagent in Stasi-Diensten hatte<br />

damit seine Rolle beendet; dafür ließ die<br />

Dienststelle öfter von sich hören: Ob E.<br />

nichts über Schriftstellerkollegen erzählen<br />

könne? E. hörte sich diese Fragen ein paar<br />

Mal an, dann platzte er heraus: „Ihr wißt<br />

doch über alles besser Bescheid als ich.<br />

Also, was wollt ihr dann von mir? Ich kann<br />

keinem in die Augen gucken, wenn ich hinterm<br />

Rücken was über Leute sagen soll.“<br />

Fortan kam keine Dienststelle mehr. E. wurde<br />

zehn Jahre älter; wir lernten uns kennen.<br />

Beim Bier im Leipziger „Stehfest“ erzählte<br />

er, wie er für die Stasi vor Jahren mit fremdem<br />

Namen unterschreiben mußte <strong>und</strong> wie<br />

er sogar mit einem echten Westagenten,<br />

der womöglich gar nicht echt war, plauderte<br />

– gar herzlich habe ich damals über die<br />

Räuber-<strong>und</strong>-Schampampel-Spiele der Stasi<br />

gelacht. Da wußte noch niemand, daß<br />

wieder zehn Jahre später manche Saubermänner<br />

solche Geschichten mit hochroten<br />

Ohren <strong>und</strong> gekrümmten Buckeln anhören<br />

würden. Und empörte Zeigefinger bekämen.<br />

E. jedenfalls schrieb in den achtziger Jahren<br />

einen Roman über seine Heimatstadt, der<br />

ihm zwar Anerkennung, vor allem bei kleinen<br />

Leuten, einbrachte, aber bei einigen<br />

Bürgern Protest hervorrief: Wie der unser<br />

Meeran r<strong>und</strong>ermachd! Widdse machd ieber<br />

uns! Fasdd sadierisch, murmelten die Bravsten<br />

der Sachsen. Und waren vor allem<br />

Dem Regisseur Heinz Kreidl ist es gelungen,<br />

daß keine daraus wird. Nicht, daß es in dieser<br />

Inszenierung nichts zu lachen gäbe –<br />

<strong>und</strong> nicht, daß nicht gelacht würde – doch<br />

das Komische entwickelt sich als ein Reflex<br />

des Schwermütigen. Den großmäuligen<br />

Feigling Andrew Bibberback streift so der<br />

Hauch eines Ritters von der traurigen Gestalt.<br />

Wenn die Zecher mit Sir Toby lärmend<br />

durch den Kies stolpern, wird die aufgesetzte<br />

Fröhlichkeit aus der Aschermittochsperspektive<br />

analysiert. Zur melancholischen<br />

Gr<strong>und</strong>stimmung leistet die Musik von Johannes<br />

Fritsch einen wesentlichen Beitrag;<br />

Kerstin Pramschüfer, immer am Rande <strong>und</strong><br />

doch allgegenwärtig, spielt auf der Bratsche.<br />

Heinz Kreidl hat sein Hauptaugenmerk auf<br />

die differenzierte Interpretation der drei<br />

deshalb sauer,<br />

weil einer weiter<br />

das Maul aufriß,<br />

als sie es sich<br />

selbst jemals<br />

getraut hätten.<br />

Dann kam jenes<br />

Wende genannte<br />

Flattern des<br />

Mantels der Geschichte<br />

auch in<br />

Westsachsen. E.<br />

lebte auf <strong>und</strong><br />

fand als Humorist<br />

seine<br />

Geschichten<br />

überall im<br />

neudeutschen<br />

Meerane. In<br />

einem Lokalblatt<br />

schrieb<br />

er wöchentlichFeuilletons,<br />

die<br />

dem mittlerweile<br />

gewählten<br />

Deutschen<br />

Sozialen Unionsbürgermeister,<br />

der später schnell Freier<br />

Wählerführer <strong>und</strong> somit unpolitisch wurde,<br />

wenig gefielen, weil sie dessen Arbeit nicht<br />

ständig lobpriesen. Nach Meinung redlicher<br />

Provinzpolitiker, ob sie nun SED oder DSU<br />

oder drei andere Buchstaben hinter sich<br />

haben, müssen Dichter unverbrüchlich der<br />

Politik zuschreiben: eine Schleimspur, auf<br />

der die jeweils herrschende Kaste nein,<br />

nicht aus- sondern vorwärtsgleitet.<br />

Hauptfiguren Viola, Olivia <strong>und</strong> Orsino<br />

gerichtet. Unter seinem nüchternen Blick<br />

wird die Liebe in der „Männerfre<strong>und</strong>schaft“<br />

zwischen Orsino <strong>und</strong> Viola <strong>und</strong> die Liebe<br />

der Frauen Olivia <strong>und</strong> Cesario ihrer Lächerlichkeit<br />

entkleidet; auch Kapitän Antonio<br />

darf Sebastian vollkommen unpathetisch<br />

versichern, daß er ihn liebe – <strong>und</strong> selbst der<br />

unerträgliche Klassenprimus der niederen<br />

Stände, Malvolio, ist in seinem Abschied<br />

von Olivia nicht ohne Würde. Wie unerwachsene<br />

Riesen von Mario<strong>net</strong>tenfäden<br />

gezogen, zieht diese Figuren ein ihnen<br />

unbekanntes Gefühl durch die Mechanik<br />

der Komödie. In gleichem Maße, wie Kreidl<br />

nüchternen Ernst rein- <strong>und</strong> Witz aus dem<br />

Stück rausnimmt, gewinnen die Charaktere<br />

der Figuren an Plausibilität.<br />

Leider schwindet in gleichem Maße, wie die<br />

Figuren gewinnen, die Glaubwürdigkeit der<br />

Handlung: Das Stück klemmt, ohne daß wir<br />

wenigstens darüber lachen könnten.<br />

Es ist interessant anzuschauen, wie Kreidls<br />

Regiekonzept über weite Strecken hervorragend<br />

funktioniert. Daß es weite Strecken<br />

sind, hängt freilich auch damit zusammen,<br />

daß sich Kreidl anfangs nicht nur mutig,<br />

sondern tollkühn in der Tugend der Langsamkeit<br />

gefällt; die erste halbe St<strong>und</strong>e will<br />

man nicht glauben, daß man noch im Dunkeln<br />

nach Hause kommt. Die Schwermut in<br />

der Betrachtung des Verhältnisses zwischen<br />

den Geschlechtern <strong>und</strong> mit den<br />

Geschlechtern wird schließlich am Nachhaltigsten<br />

durch den Autor gestört. Shakespeare<br />

hat eine Komödie geschrieben – das<br />

läßt sich auf Dauer nur schwer ignorieren.<br />

Wenn es zum Finale kommt, kann die Regie<br />

statt, „Ende gut, alles gut“, nur noch „Viel<br />

Lärm um Nichts“ präsentieren.<br />

Mitgetragen wird Kreidls Regiekonzept<br />

neben der Musik auch von der Übersetzung.<br />

Angelika G<strong>und</strong>lach hat – weder<br />

romantisch noch sentimental – ins Zeitgenössische<br />

übersetzt. Das macht Shakespeare<br />

in der Regel aktuell <strong>und</strong> manchmal<br />

zum Gebrauchslyriker. Nein, so schön wie<br />

Schlegel-Tieck ist das nicht – soll es aber<br />

auch nicht sein. Schade, weil vermeidbar,<br />

daß Schlegel an einigen Stellen, wie zum<br />

Beispiel den Narrendialogen, treffender <strong>und</strong><br />

genauer übersetzt.<br />

Das sechzehnköpfige Ensemble agierte als<br />

Schauspielgemeinschaft auf Gegenseitigkeit:<br />

eine Gruppe von Solistinnen mit dementsprechend<br />

unterschiedlichen Leistungen.<br />

Christina Rubrucks Gräfin Olivia überzeugte<br />

als eitle Intellektuelle <strong>und</strong> wußte vor<br />

allem die Passagen mit Olivia/Cesario<br />

glaubwürdig zu gestalten; eine starke Frau<br />

Die Patriarchen der Kleinstadt<br />

Das hatte Eckert in der DDR nicht richtig<br />

beherrscht. Und das mochte er jetzt, unter<br />

neuen Bedingungen, gleich gar nicht.<br />

Doch die Provinzmachthaber vergessen<br />

nicht. Nicht sein Buch von damals. Nicht<br />

die Pointen von heute. Also suchen sie E’s<br />

Akten, öff<strong>net</strong>en diese – unberechtigt, denn<br />

E. war gar nicht mehr städtisch bedienstet –<br />

<strong>und</strong> fanden jenen Vorgang von vor einem<br />

Vierteljahrh<strong>und</strong>ert: E. war IM! Hah! Es gibt<br />

eine Unterschrift!<br />

Da mochte E. die Geschichte so erzählen,<br />

wie er sie seit Jahren erzählte: Tut nichts,<br />

der Jude wird verbrannt! (Ausspruch einer<br />

Figur namens „Patriarch“ aus einem Drama<br />

von Gotthold Ephraim Lessing, gebürtig zu<br />

Kamenz, Kleinstadt in Sachsen)<br />

Bevor E. Einsicht nehmen konnte, verging<br />

Zeit. Diese Zeit nutzten die Provinzmachthaber:<br />

E. durfte in Stadt <strong>und</strong> Landratsamt<br />

nicht lesen <strong>und</strong> nicht auftreten; E. durfte im<br />

Blättchen der Region nicht mehr veröffentlichen.<br />

Arbeitsgruppe Stadtgeschichte oder<br />

Kunstverein – bitte ohne E.! Bis in die Zeitung<br />

der Partnerstadt im tiefen Baden, nach<br />

Lörrach, reichten die langen Arme der<br />

Behörde: keine Kolumne mehr von E., dem<br />

Ober-IM!<br />

Eckert hatte keine Demut gezeigt. Nicht<br />

damals, vor den Königsthronen der Partei.<br />

Nicht heute, vor den Kanzlergebärden der<br />

Parteischickeria. Er war nicht zu Kreuze<br />

gekrochen, unters Hemde der Christenpartei;<br />

nun konnten die empörten Zeigefinger<br />

sich recken <strong>und</strong> strecken: Herr Kanzler, wir<br />

hier im tiefen Sachsen waren leider früher<br />

keine richtigen Antikommunisten, bitten<br />

dafür demütig um Vergebung – aber der<br />

Eckert ist tausendmal schlimmer als wir!<br />

Der guckt noch immer ganz frech!<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 9<br />

an diesem Abend. Timo Berndt als Orsino<br />

sucht nach wie vor seine Paraderolle als<br />

„Timo, der Göttliche“ <strong>und</strong> hat sie auch in<br />

diesem Stück wieder nicht gef<strong>und</strong>en.<br />

Solange er in seiner Bew<strong>und</strong>erung für sich<br />

selbst nicht nachläßt, haben andere keine<br />

Chance, ihn zu bew<strong>und</strong>ern.<br />

Alexandra von Schwerin <strong>und</strong> Hans-Peter<br />

Schupp als Zwillingspaar Viola <strong>und</strong> Sebastian<br />

fügten sich dagegen nahtlos in das<br />

Konzept des Regisseurs. Zwei de facto<br />

unvergleichliche Menschen machten sich –<br />

auch dank ihrer gleichen unschuldigweißen<br />

Anzüge (Kostüme: Swetlana Zwetkowa)<br />

– ähnlich <strong>und</strong> gefielen durch ein<br />

zurückhaltendes aber präzises Spiel. Wolf-<br />

Dieter Tropf kann nichts für seinen Namen<br />

<strong>und</strong> spielte dennoch nomen est omen Sir<br />

Tobias Gulp. Jürgen Hartmanns Malvolio<br />

entwickelte sich im Laufe des Abends zum<br />

Publikumsliebling. Eine Frage der Fallhöhe:<br />

Er hat ihn herrlich stark gemacht, um später<br />

richtig schwach zu werden. Daß Monika<br />

Dortschy als Maria oft mehr fatal als femme<br />

chargierte, muß der Regie zuschlechte<br />

gehalten werden; fürs TAP ist die Frau doch<br />

eigentlich zu gut (aber das Publikum nicht,<br />

dem das gefiel).<br />

Sir Andrew Bibberback wurde von Rolf Idler<br />

verkörpert, nicht schlecht. Stimmlich hatte<br />

er – wie viele seiner männlichen Kollegen –<br />

mit etwas zu kämpfen. Da nicht klar wurde,<br />

mit was, könnte es auch er gewesen sein.<br />

Bei all dem famosen Stolzieren, Wackeln,<br />

Fechten, Spreizen, Stolpern <strong>und</strong> Fallen sollte<br />

doch nicht vergessen werden, daß jenseits<br />

der Grenze der Verständlichkeit nicht<br />

immer eine Karriere als Pantomime winkt.<br />

Das rühmliche Gegenbeispiel liefert Hans<br />

Walter Klein als Narr. Mit klarer <strong>und</strong> sonorer<br />

Stimme präsentiert er beiläufig die Rolle<br />

eines Künstlers, der mit dem Pf<strong>und</strong> seiner<br />

Sprache wuchert <strong>und</strong> nach den Schillingen<br />

geht. So einer könnte sich öfter nicht nur<br />

sehen, sondern auch hören lassen. In weiteren,<br />

kleineren Rollen wirkten Ulrich Hub,<br />

Helmut Zhuber, Sebastian Hufschmidt,<br />

Hans Weicker, Matthias Scheuring, Klaus<br />

Ziemann <strong>und</strong> Hans Hübbecker mit. Das<br />

Publikum war mit allen zufrieden <strong>und</strong> spendete<br />

fre<strong>und</strong>lichen Beifall<br />

Kreidls Darmstädter, „Was ihr wollt“, ist ein<br />

auf den Kopf gestellter Shakespeare. Was<br />

wollt ihr, sagt der Regisseur den ZuschauerInnen,<br />

es ist nicht, was ihr wollt, aber es ist<br />

möglich. Ein Shakespeare für die, die ihn<br />

mögen, nicht zum Liebgewinnen.<br />

P.J. Hoffmann<br />

Weitere Aufführungen: 29. <strong>und</strong> 30. 1., 3.,4.,5., 12., 23.<br />

<strong>und</strong> 26. Februar.<br />

So radikal gelang im totalitären Staat DDR<br />

selten eine Ausgrenzung. Ein Erich Loest,<br />

längst ausgeladen andernorts, konnte 1978<br />

in Meerane lesen aus dem Buch „Es geht<br />

seinen Gang“ – weil E. das durchsetzte.<br />

Damals standen sie hinter den Gardinen,<br />

die kämpferischen Kleinstädter, die jetzt<br />

mutig ihren zentralen städtischen IM auf<br />

dem Scheiterhaufen wissen wollten: Was,<br />

keine Berichte geliefert? Tut nichts, der<br />

Jude wird verbrannt! Was, keine Kollegen<br />

angeschwärzt? Tut nichts, der Jude wird<br />

verbrannt! Was, Dekonspiration? Tut<br />

nichts, der Jude wird verbrannt! Was, von<br />

der Stasi selbst als unwillig zum Spitzeln<br />

eingestuft? Tut nichts, der Jude wird verbrannt!<br />

Mittlerweile haben Gaucks Mühlen gemahlen.<br />

Langsam, gründlich, genau abwägend.<br />

Eckerts Erinnerung war richtig. Jeder, der<br />

ernsthaft will, mag die Akten durchforsten.<br />

Doch ein Gespräch über seinen Fall – das<br />

mögen Meeraner Patriarchen bis heute<br />

nicht.<br />

Denn wir sind eine Republik, in der erste<br />

Bürgerpflicht nicht öffentliches Gespräch,<br />

sondern schnelle Aburteilung zu sein<br />

scheint. Eine Republik, die zwar ein großartiges<br />

Gr<strong>und</strong>gesetz hat, worüber sich aber<br />

ein viel gewaltigeres Gebäude aus Feigheit,<br />

Denunziantentum <strong>und</strong> Selbstgerechtigkeit<br />

erhebt.<br />

Die Bewältigung der Stasi-Geschichte ist<br />

bisweilen noch widerlicher, als die Stasi-<br />

Geschichte selbst. Und das, so scheint mir,<br />

ist doch eine ganz lustige Pointe. Dieser<br />

Meeraner Geschichte wie auch unserer<br />

deutschen Geschichte.<br />

Matthias Biskupek


Zweieinhalb St<strong>und</strong>en lang diskutierten<br />

die Darmstädter Stadtverord<strong>net</strong>en am<br />

Montag (17.1.) im Kongreßsaal über eine<br />

große Anfrage der <strong>CDU</strong>. Da war die Rede<br />

von „der deutschen Psychose“, von „Rufmord<br />

an einer untadeligen Kollegin“, von<br />

einem „kulturpolitischen Desaster“ <strong>und</strong> daß<br />

„Darmstadts Ruf in Deutschland <strong>und</strong> Italien<br />

einen großen Schaden genommen habe“ –<br />

es ging um die abgesagte Sironi-Ausstellung<br />

auf der Mathildenhöhe.<br />

Was war passiert? Dr. Klaus Wolbert, Direktor<br />

des Instituts Mathildenhöhe, wollte<br />

die renovierten Ausstellungshallen am 27.<br />

März mit ausgewählten Bildern des italienischen<br />

Malers Mario Sironi wiedereröffnen.<br />

Sironi (1885 bis 1961) war einer der Lieblingsmaler<br />

Mussolinis <strong>und</strong> gehörte, ausgehend<br />

vom Futurismus, der italienischen<br />

Künstlergruppe „Novecento“ an. In der Öffentlichkeit<br />

hieß es, Wolbert wolle die Bilder<br />

des „faschistischen Malers“ unkommentiert<br />

zeigen, einzig seine Kunst wirken lassen.<br />

Und: Oberbürgermeister Peter Benz<br />

<strong>und</strong> der SPD-Unterbezirk seien mit einer<br />

unkritischen Präsentation nicht einverstanden.<br />

Wolbert sagte daraufhin die Ausstellung<br />

im Einverständnis mit Benz am<br />

23.11.93 ab.<br />

Und wie es weiterging<br />

Doch damit war die Sache nicht zu Ende:<br />

Auf den Institutsleiter sei politischer Druck<br />

gie zu tun“, die SPD erlasse neue Kunst<strong>und</strong><br />

Denkverbote. OB Benz griff er direkt an:<br />

„Sie sind noch keine zwölf Monate im Amt<br />

<strong>und</strong> haben schon ihren ersten großen Skandal…<br />

Wir werden nicht zulassen, daß sie<br />

den Ruf Darmstadts immer weiter runterwirtschaften.“<br />

Seine Partei erwarte, daß der<br />

Schaden beseitigt <strong>und</strong> begrenzt werde.<br />

SPD: Freie Entscheidung<br />

„Sie erheben Vorwürfe, die auf ihre Partei<br />

<strong>und</strong> ihre Mitglieder viel eher zutreffen“,<br />

konterte Benz <strong>und</strong> erinnerte an Vorfälle aus<br />

der Vergangenheit: Staeck-Ausstellung,<br />

Büchnerpreis-Verleihung, Staatstheater<br />

<strong>und</strong> Hrdlickas Büchner-Woyzeck-Zyklus –<br />

damals rissen <strong>CDU</strong>-Politiker Plakate von<br />

den Wänden, verließen den Saal oder protestierten<br />

lautstark. „Wer solche Verhaltensweisen<br />

zeigt, der darf hier nicht so argumentieren,<br />

als habe er für sich die Verteidigung<br />

der Kultur gemacht.“<br />

Die Vorgänge um die Sironi-Ausstellung<br />

seien anders abgelaufen. „Die Absage war<br />

eine Entscheidung des Leiters des Instituts<br />

Mathildenhöhe, seine freie Entscheidung,<br />

<strong>und</strong> nicht nachdem ich ihn ins Gebet<br />

genommen hatte. Weder SPD noch Unterbezirk<br />

haben Druck auf Wolbert ausgeübt.“<br />

Aufnahme <strong>und</strong> Absage einer Ausstellung<br />

sei Aufgabe Wolberts <strong>und</strong> seine autonome<br />

Angelegenheit. Wolbert sei für ihn ein<br />

„untadeliger Amtsleiter“.<br />

Grüne: Wendehals Wolbert<br />

Auch Christel Thorbecke von den Grünen<br />

bezeich<strong>net</strong>e den „bestenfalls als fahrlässignaiv<br />

zu wertenden Brief von Geiger“ als<br />

„Tiefpunkt der Diskussion“. Scharfe Vorwürfe<br />

erhob sie auch gegen Wolbert: „Es<br />

wäre besser gewesen, wenn Wolbert in der<br />

Öffentlichkeit zuverlässige <strong>und</strong> kompetente<br />

Position bezogen hätte, anstatt seine Meinung<br />

täglich zu wechseln <strong>und</strong> dazu noch<br />

den Eindruck zu erwecken, doch einer<br />

gewissen Zensur ausgeliefert zu sein.“ Ihr<br />

Fazit: „Wir haben wirklich alle kein Ruhmesblatt<br />

erworben, weder Wagner, noch<br />

Benz, noch Grüne…“ „Was ist aus dieser<br />

Affäre zu lernen?“ fragte Thorbecke, „eines<br />

sicherlich, daß uns in Deutschland eine differenzierte<br />

Diskussion über das Verhältnis<br />

von Totalitarismus <strong>und</strong> Kunst schwer fällt,<br />

denn wir tragen noch immer an unserer<br />

eigenen nationalsozialistischen Geschichte“<br />

– Thorbecke ist am 3.9.48 geboren.<br />

Geiger: faschistische Methode<br />

Sissy Geiger (<strong>CDU</strong>) beharrte darauf, Wolbert<br />

habe ihrer Partei gegenüber geäußert,<br />

die Entscheidung des SPD-Unterbezirks sei<br />

der Auslöser der Absage gewesen, er habe<br />

gewußt, daß Benz die Ausstellung nicht<br />

wollte. Für sie war das Zensur <strong>und</strong> Intoleranz:<br />

„Das ist eine faschistische Methode,<br />

einen Künstler wegen seiner politischen<br />

Überzeugung auszugrenzen.“<br />

habe mir im Gegensatz zu Ebert gewünscht,<br />

daß die Ausstellung gezeigt wird.“<br />

Die Sicht Wolberts<br />

Für Wolbert freilich spielte sich die Sache<br />

völlig anders ab. Am 19.1. erklärt er<br />

gegenüber der ZD: Das italienische Kulturinstitut<br />

in Frankfurt sei vor zwei Jahren<br />

mit der Bitte an ihn herangetreten, doch<br />

eine Ausstellung über Sironi auf der Mathildenhöhe<br />

zu zeigen. Er, Wolbert, habe sich<br />

sofort bereit erklärt, diese Ausstellung in<br />

Zusammenarbeit mit einem Fre<strong>und</strong>, dem<br />

Stifter <strong>und</strong> Kunstverlagsinhaber Gabriele<br />

Mazzotta, zu machen. Ein Konzept habe es<br />

zu jener Zeit nicht gegeben. Es habe sich<br />

auch nicht um eine konfektionierte Ausstellung<br />

gehandelt, die er lediglich habe übernehmen<br />

wollen. Und: „Es ist falsch, daß ich<br />

gesagt haben soll, Metzger hat die Ausstellung<br />

geholt. Er hat inhaltlich nie in mein<br />

Programm eingegriffen, wenn er auch<br />

manchmal gesagt hat, daß es ihm nicht<br />

gefällt.“<br />

Ein inhaltlicher Eingriff<br />

Daß die Mathildenhöhe Sironi zeigen wollte,<br />

sei schon seit einem Jahr bekannt, doch<br />

erst im September, auf einer Sitzung des<br />

Kulturausschusses, sei erstmals von der<br />

Grünen Thorbecke daran Kritik geübt worden<br />

– Wolbert nennt dies den ersten Versuch<br />

überhaupt, in sein Programm „inhaltlich<br />

einzugreifen“. Ihm habe es nicht<br />

„Wie reif sind wir eigentlich?“<br />

„Diese Stadt will nichts mit Faschisten zu tun haben“: Öffentliche Streit-Debatte über die abgesagte<br />

Sironi-Ausstellung – Klaus Wolbert äußert sich<br />

ausgeübt worden, so lautete eine neue Variante,<br />

gar von Zensur war die Rede. Das<br />

Resultat: Die Geschichte uferte zu parteipolitischem<br />

Gezänk aus, dessen vorläufiger<br />

Höhepunkt ein Brief der <strong>CDU</strong>-Politikerin<br />

Sissy Geiger an Bruno Zoratto (siehe Faksimile<br />

<strong>und</strong> Artikel auf folgender Seite) <strong>und</strong><br />

eben jene parteipolitische Debatte in der<br />

Stadtverord<strong>net</strong>ensitzung (StaVo) war.<br />

Wolbert – so die Meinung Vieler – offenbarte<br />

in der Öffentlichkeit ein schwaches Bild:<br />

Heute sage er dies, morgen jenes, mal<br />

erwecke er den Eindruck, er sei zensiert<br />

worden, dann wieder erkläre er, Alt-OB<br />

Günther Metzger habe ihm die Ausstellung<br />

aufgedrückt. Darauf reagierten PolitikerInnen<br />

verschiedener Parteien mit harscher<br />

Kritik – allen voran Eike Ebert (SPD), der als<br />

Scharfmacher erklärte, Wolbert sei für die<br />

Stadt nicht länger tragbar.<br />

Aus dem Stadtparlament<br />

Mit Kritik an Wolbert wurde auch während<br />

der Stadtverord<strong>net</strong>en-Debatte nicht gespart<br />

– von Parteimitgliedern der SPD <strong>und</strong> der<br />

Grünen. Anders die <strong>CDU</strong>. Sie hielt an ihrer<br />

Sicht der Dinge fest: Auf Wolbert sei politischer<br />

Druck ausgeübt worden – von der<br />

SPD. Und Sironi sei zensiert worden. Zum<br />

ersten Mal überhaupt äußerte sich die FDP<br />

öffentlich zum Sironi-Eklat, dabei war Ruth<br />

Wagner als Vorsitzende des Kulturausschusses<br />

bereits seit September von dem<br />

Vorgang informiert.<br />

<strong>CDU</strong>: Ein Trauerspiel<br />

Michael Bergmann (<strong>CDU</strong>-Stadtverord<strong>net</strong>er)<br />

eröff<strong>net</strong>e die Debatte mit der Attacke, dieses<br />

„Darmstädter Trauerspiel … wurde inszeniert<br />

von SPD, Grünen <strong>und</strong> ,Darmstädter<br />

Echo‘.“ Bergmann sprach von Parteien-<br />

Druck auf Wolbert, davon, daß die SPD<br />

„unverhüllt ihr wahres Demokratieverständnis“<br />

zeige <strong>und</strong> orakelte, „Kunst hat<br />

mehr mit Ästhetik als mit politischer Ideolo-<br />

Im übrigen habe die Diskussion zu einer<br />

Klärung beigetragen: „Daß es in der Kunst<br />

darauf ankommt, politische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />

Zusammenhänge immer zu<br />

sehen, <strong>und</strong> sich nicht nur um Ästhetizismus<br />

zu kreisen… Die Kritik in anderen Zeitungen<br />

ist umgekehrt erschreckend: Dort heißt<br />

es, der italienische Faschismus sei nicht<br />

mit dem deutschen zu vergleichen. Diese<br />

Strategie der Verharmlosung ist generell<br />

gefährlich in der derzeitigen europäischen<br />

Entwicklung.“<br />

SPD-Fraktionsvorsitzender Horst Knechtel<br />

räumte ein, daß die Diskussion der Stadt<br />

sehr geschadet habe – „die hätten wir<br />

anders führen müssen“. Wolbert habe die<br />

Ausstellung von sich aus abgesagt <strong>und</strong> die<br />

Meldung im „DE“ vom 1.12. sei falsch, in<br />

der es hieß, Benz sei einer Entscheidung<br />

des SPD-Unterbezirks gefolgt. <strong>CDU</strong>-Vorsitzendem<br />

Gerhard O. Pfeffermann gegenüber<br />

behauptete Knechtel, der Unterbezirk habe<br />

beim „DE“ eine Richtigstellung gefordert –<br />

vergeblich. Das soll laut „DE“ falsch sein,<br />

bei der ZD ist auch nichts eingegangen.<br />

FDP: Peinliche Debatte<br />

„Wir haben uns dieser Debatte geschämt“<br />

erklärte Ruth Wagner das bisherige<br />

Schweigen der FDP. Wolbert habe in der<br />

Kulturausschußsitzung im September geäußert,<br />

er wolle Sironi mit biografischem<br />

<strong>und</strong> kulturhistorischem Hintergr<strong>und</strong> zeigen.<br />

Sie fragte, ob der Rückzug etwa aus<br />

Angst vor dem Beifall aus der falschen<br />

Richtung erfolgt sei. Dies dürfe kein Gr<strong>und</strong><br />

sein. „Die Ausstellung wäre eine Gelegenheit<br />

gewesen, sich mit der Ausprägung des<br />

Neofaschismus kritisch auseinanderzusetzen.<br />

Diese Gelegenheit ist verspielt.“ Als<br />

Schuldigen deutete Wagner den „Echo“-<br />

Redakteur aus, der allerdings nur berichtet<br />

hatte. Den „Gipfel dieses Skandals“ aber<br />

habe Frau Geiger „gelandet“ – „einem solchen<br />

Mann zu antworten“.<br />

SPD <strong>und</strong> „DE“ hätten gemeinsam eine Rufmordkampagne<br />

betrieben. Zu ihrem Brief<br />

an Zoratto greinte sie: das sei lediglich eine<br />

Einladung zur Teilnahme am Diaabend <strong>und</strong><br />

zur Diskussion gewesen. „Wie reif sind wir<br />

eigentlich, daß wir Angst haben vor<br />

Gesprächen?“<br />

Ebert: hymnische Ausstellungen<br />

Eike Ebert (SPD) konterte: „Die ganze Richtung<br />

paßt mir nicht – sich da weinerlich hinzustellen.<br />

Ich bin froh <strong>und</strong> stolz darauf, daß<br />

diese Ausstellung abgesagt wurde… Diese<br />

Stadt will nichts mit Faschisten zu tun<br />

haben… Als wir unseren Beschluß umsetzen<br />

wollten, da hatte Wolbert dies am Morgen<br />

schon getan. Wenn er hört, was wir<br />

abends besprochen haben, <strong>und</strong> dann reagiert,<br />

ist das keine Zensur.“<br />

Ebert über Wolbert: „Jedem Zirkel hat er<br />

etwas anderes gesagt. So geht das nicht.“<br />

Er demontierte ihn auch als Ausstellungsmacher:<br />

Bei der Adolfo Wildt-Ausstellung<br />

habe er eine Mussolini-Büste altarähnlich<br />

aufgestellt. „Wolbert neigt leider dazu, seine<br />

Ausstellungen als hymnische Verherrlichung<br />

zu zeigen.“ Daher die Befürchtung<br />

des Unterbezirks, Wolbert zeige Sironi nicht<br />

kritisch, sondern „hymnisch verherrlicht“;<br />

es hätten die „falschen Leute auf die Mathildenhöhe<br />

pilgern können“.<br />

Seidler: eine Zeitungsente<br />

Für Parteikollegin Sabine Seidler ist die<br />

Sironi-Debatte „ein Exempel, was aus einer<br />

kleinen Zeitungsente alles werden kann.“<br />

Zu Geiger sagte sie: „Das war schlicht grauenvoll,<br />

was Sie gesagt haben.“ Es gebe keine<br />

Kunst losgelöst von Politik – „Ihr Kunstverständnis<br />

kann nur zum Mißbrauch <strong>und</strong><br />

zur Vereinnahmung führen.“ Außerdem<br />

habe es auf der Sitzung des Unterbezirks<br />

keine sich durchsetzende Meinung gegeben<br />

– damit wiedersprach sie Ebert –, es sei nur<br />

leidenschaftlich diskutiert worden. „Ich<br />

gepaßt, den Maler Sironi „einseitig auf das<br />

Faschismusthema zu reduzieren“. Außerdem<br />

habe der Kulturausschuß sein Programm<br />

lediglich zur Kenntnis zu nehmen.<br />

Dennoch habe er sich bemüht, vor diesem<br />

Gremium sein Ausstellungskonzept zu<br />

erläutern, was aber nicht möglich gewesen<br />

wäre, da das Gespräch „plötzlich eine andere<br />

Ebene bekam“ <strong>und</strong> aus dem „Du“ ein<br />

„Angriff einer Parlamentarierin“ wurde, vor<br />

dem er sich „rechtfertigen“ mußte. Das<br />

habe ihn zu seiner „berühmten Äußerung:<br />

Christel, davon verstehst du nichts“ verleitet<br />

– zu der Frau eines Malers.<br />

Der Stand der Dinge im November: „Ich<br />

wollte von Sironi ausschließlich ,urbane<br />

Szenarien‘ zeigen, einen Schwerpunkt seiner<br />

Arbeit rausnehmen.“ Jene Gemälde<br />

stammen alle aus der Zeit vor dem italienischen<br />

Faschismus. „Wir hatten den Ehrgeiz,<br />

Werke zu zeigen, die bisher noch nie<br />

aus Privatsammlungen geholt worden<br />

waren, erste Kontakte waren Dank unserer<br />

guten Verbindungen zu Italien geknüpft.<br />

Auch für den Katalog hatten wir schon einige<br />

Autoren <strong>und</strong> Autorinnen bestimmt, die<br />

sich unter anderem mit der Faschismustheorie<br />

auseinandersetzen wollten.“<br />

Sironi als Faschist<br />

Hatte es in der Öffentlichkeit den Anschein,<br />

als wollte Wolbert die Ausstellung unkommentiert<br />

präsentieren, so erklärt er am<br />

19.1.: „In der Ausstellung selbst wollte ich<br />

die Kunst als Kunst zeigen. Aber selbstverständlich<br />

wäre der Komplex Sironi –<br />

Moderne – Faschismus thematisiert <strong>und</strong><br />

vermittelt worden, im Katalog, bei Führungen<br />

<strong>und</strong> Vorträgen, am Eingang auf Zeittafeln<br />

<strong>und</strong> in einem Video. Dabei wäre herauszuarbeiten<br />

gewesen, was bereits an den<br />

frühen Bildern Sironis – seinen trostlosen<br />

<strong>und</strong> melancholischen Stadtansichten –<br />

faschistisch gewesen war.“ Wer jedoch bei<br />

Wolberts Präsentation des Adolfo Wildt<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 10<br />

(Sommer 90) nach Hinweisen auf den<br />

italienischen Faschismus gesucht haben<br />

sollte, wurde enttäuscht.<br />

Das Mißverständnis hätte sich daran entzündet,<br />

so Wolbert, daß er erklärt habe, die<br />

Ausstellung nicht mit Schrifttafeln zu<br />

durchsetzen. „Das ist ein Konzept der 70er<br />

Jahre – wie ich es damals auch gemacht<br />

habe –, nämlich die Bilder im Moment des<br />

Anschauens bereits zu konterkarieren, <strong>und</strong><br />

sie zu Erläuterungen von Schrifttafeln zu<br />

degradieren.“ Und fügt hinzu: „Das wäre<br />

auch mit den Leihgebern nicht zu machen<br />

gewesen, die hätten eingewendet: ,Dann<br />

hängen Sie doch Reproduktionen auf‘.“<br />

Der Gr<strong>und</strong> für die Absage<br />

Warum sagte Wolbert die Ausstellung ab?<br />

„Die ganze Richtung der Debatte war unerträglich.<br />

Auch Mazzotta war ärgerlich über<br />

die Art der Reaktion <strong>und</strong> gab den Hinweis,<br />

daß wir mitten in Verhandlungen mit Leihgebern<br />

stecken, die sich zurückziehen würden.<br />

Die Diskussion eskalierte derart, daß<br />

es denkbar geworden war, daß zur Eröffnung<br />

sowohl rechtsradikale, neofaschistische<br />

wie antifaschistische Gruppierungen<br />

auf die Mathildenhöhe marschieren könnten.<br />

Wer hätte da ausschließen können, daß<br />

Bilder in Mitleidenschaft gezogen würden.<br />

Diese Risiken hätten wir sowohl den Leihgebern,<br />

als auch der Versicherung mitteilen<br />

müssen. Es hing noch kein einziges Bild an<br />

der Wand, <strong>und</strong> schon gab es eine Vorverurteilung.<br />

Ich hatte keine Lust mehr, die Ausstellung<br />

zu machen.“<br />

Ausdrücklich betont er, er habe sie nicht auf<br />

Druck der SPD abgesagt, der er ja selbst<br />

angehöre. Seine Entscheidung sei auch<br />

nicht etwa eine Reaktion auf die Sitzung des<br />

SPD-Unterbezirks gewesen – dieser hatte<br />

am Abend zuvor beschlossen, ihn zu einem<br />

Gespräch zu laden. „Meine Absage stand da<br />

schon fest.“ Benz sei mit einer Absage<br />

sofort einverstanden gewesen, er „stand<br />

der Ausstellung schon vorher kritisch<br />

gegenüber“.<br />

Wolbert räumt Fehler ein: „Richtiger wäre<br />

gewesen, sofort eine eigene Pressekonferenz<br />

zu machen <strong>und</strong> offiziell zu begründen,<br />

wie <strong>und</strong> warum ich Sironi zeigen werde.<br />

Vielleicht bin ich zu früh eingeknickt, aus<br />

einer deprimierten Situation heraus.“<br />

Zu Sissy Geigers Behauptung, er habe der<br />

<strong>CDU</strong> gegenüber später von Zensur gesprochen,<br />

sagt Wolbert: „Eine absolute Lüge.<br />

Das ist wirklich bitter, daß da versucht wird,<br />

parteipolitischen Profit rauszuziehen.“ Tief<br />

getroffen ist er über das, was in der Öffentlichkeit<br />

gesprochen wird: „Die wissen plötzlich<br />

alle, was ich wann gesagt habe, ohne<br />

mit mir zu sprechen. Immer mehr Leute<br />

reden mit <strong>und</strong> werfen mir einen Schlingerkurs<br />

vor.“ An diesem Bild, so Wolbert<br />

mehrfach, sei einzig die Berichterstattung<br />

im „DE“ schuld. Er habe immer eine klare<br />

Linie gehabt.<br />

„Das Vertrauensverhältnis zu Benz hat sich<br />

verstärkt <strong>und</strong> gefestigt“, meint Wolbert, der<br />

ja auch Kulturreferent ist. Kopfzerbrechen<br />

aber bereiten ihm Eberts Angriffe. „Das verstehe<br />

ich nicht. Wir kennen uns ja gut; Ebert<br />

sagte zu mir, das sei jetzt Politik, privat<br />

habe er ja eine andere Meinung.“<br />

Verärgert, deprimiert<br />

Verärgert ist Wolbert auch darüber, daß die<br />

Kritik an seiner Sironi-Ausstellung sich zu<br />

einer an seiner gesamten Arbeit, vor allem<br />

an seinen italienischen Ausstellungen, ausweitete.<br />

„Die Mathildenhöhe hat den kulturpolitischen<br />

Auftrag, den internationalen<br />

Dialog zu pflegen <strong>und</strong> mit eigenen Beiträgen<br />

<strong>und</strong> Stellungnahmen an der aktuellen<br />

Kunst-Debatte teilzunehmen“, erklärt er das<br />

Konzept. Einerseits werde die Tradition der<br />

Mathildenhöhe fortgeführt, andererseits sei<br />

das Institut offen für das Heutige. Der kulturelle<br />

Anspruch Darmstadts sei schon lange,<br />

„als geistesoffene, tolerante Stadt der<br />

Kunst zu gelten, als diskussionsoffen –<br />

denken wir an die ,Darmstädter Gespräche‘<br />

<strong>und</strong> als ein Forum für Neues – etwa für<br />

Neue Musik. Doch in der Realität sieht der<br />

Umgang mit den Kulturschaffenden doch<br />

oft anders aus.“ Verbittert sagt Wolbert:<br />

„Kritik gibt es an Ausstellungsmachern<br />

immer, daß ich hier aber nicht verstanden<br />

werde – was außerhalb ganz anders ist , das<br />

deprimiert <strong>und</strong> lähmt.“ Denn in Italien, so<br />

versichert er, hätte sein Ruf wegen des<br />

Sironi-Eklats nicht gelitten. Daß Darmstadts<br />

Ruf nicht gelitten habe, beschwören<br />

einige Politiker viel zu häufig.<br />

Eva Bredow<br />

Bilder von links nach rechts: Klaus Wolbert, Eike Ebert<br />

(Fotos: H. Schäfer), Sissy Geiger (Foto: <strong>CDU</strong>), Ruth<br />

Wagner, (Foto: FDP) Christel Thorbecke (Foto: Privat)


„Ein absolut<br />

unpolitisches Thema …“<br />

Briefwechsel Zoratto/Geiger: Erst Einladung – dann Ausladung<br />

Die Absage der Darmstädter Sironi-Ausstellung<br />

empörte den Generalrat der<br />

Auslandsitaliener (CGIE). Ratsmitglied Bruno<br />

Zoratto schickte eine Flut von Briefen an<br />

Darmstädter PolitikerInnen, schimpfte über<br />

Zensur <strong>und</strong> forderte, die Absage zurückzunehmen,<br />

da sie einen Affront gegen „die italienische<br />

Kolonie in Deutschland“ sei. Eine<br />

antwortete, die <strong>CDU</strong>-Politikerin Sissy Geiger<br />

(MdB). Stein des Anstoßes: Bruno<br />

Zoratto, so stellte sich heraus, hatte zwar<br />

als Ratsmitglied der in Deutschland lebenden<br />

Italiener geschrieben, ist aber auch<br />

Parteimitglied der faschistischen italienischen<br />

Partei „Movimento Sociale Italiano“<br />

(MSI) <strong>und</strong> deren Repräsentant in Deutschland.<br />

Zoratto stellte der ZD fre<strong>und</strong>licherweise den<br />

Schriftwechsel zur Verfügung. In einem seiner<br />

Briefe steht zu lesen, die Absage sei aus<br />

drei Gründen nicht haltbar: aus rechtlichen,<br />

politischen sowie der Internationalität.<br />

Geiger antwortete: „Ich bin mit Ihnen völlig<br />

einer Meinung: Das Verbot des Oberbürgermeisters<br />

<strong>und</strong> Kulturdezernenten dieser<br />

Stadt, die Ausstellung des Malers Sironi<br />

(1885-1961) abzusagen, ist 1. gr<strong>und</strong>gesetzwidrig…,<br />

2. erinnert es an Methoden<br />

des Nationalsozialismus, als deutsche<br />

Künstler ihrer Einstellung wegen als ,entartet’<br />

eingestuft <strong>und</strong> ausgegrenzt wurden, 3.<br />

empfinde ich es genau wie Sie auch als<br />

einen Affront gegen unsere italienischen<br />

Mitbürger.“<br />

Weiter schreibt sie: „Wie Sie wissen, war<br />

das auslösende Moment dieses Skandals<br />

ein Papier eines Parteigremiums der<br />

SPD…, was gar nicht befugt ist, in die<br />

Arbeit des Direktors einer städtischen Institution<br />

politisch einzugreifen.“<br />

Ihr Kunstverständnis offenbarend, fährt sie<br />

fort: Sironi sei kein ausgesprochener<br />

Faschist gewesen, „fand doch die Gründung<br />

der Vereinigung des ,Novecento’<br />

1919, also vor Gründung der Fasch. Partei<br />

(1921) statt. Auch sollten auf der Mathildenhöhe<br />

nur die sogenannten ,Peripherien‘<br />

<strong>und</strong> die ,Stadtlandschaften‘ ausgestellt<br />

werden, die Sironi schon um 1920 begonnen<br />

hatte, weil ihn die Isoliertheit des Menschen<br />

in der zunehmend industrialisierten<br />

Landschaft faszinierte, also ein absolut<br />

unpolitisches Thema…“<br />

Ihr Fazit: „Außer der Schande der Zensur<br />

lädt diese Regierungspartei dieser Stadt<br />

auch noch die Blamage einer völlig inkompetenten<br />

Kulturpolitik auf <strong>und</strong> verspielt so<br />

den Rest unseres ehemaligen glänzenden<br />

Rufes als Kulturstadt… Die Freiheit der<br />

Kunst, die Freiheit, Ausstellungen mit<br />

anspruchsvollem Niveau zu machen, ist zur<br />

Disposition gestellt. Der Wink eines SPD-<br />

Parteitages genügt, <strong>und</strong> schon ziehen<br />

Dezernenten <strong>und</strong> Direktoren eilfertig <strong>und</strong><br />

devot ihre Vorhaben zurück.“<br />

Da sie ihm „leider nichts Positives antworten“<br />

kann, schließt sie ihr Antwortschreiben:<br />

„Ich würde mich aber sehr freuen,<br />

wenn Sie nach Darmstadt kommen würden,<br />

um sich gemeinsam mit vielen Bürgern dieser<br />

Stadt zu unterhalten im Rahmen eines<br />

Dia-Vortrages über Sironi, der in den nächsten<br />

Wochen von Dr. Wolbert, dem Direktor<br />

der Mathildenhöhe, gehalten werden wird.“<br />

Viele Darmstädter waren entsetzt, bestenfalls<br />

amüsiert über den Schmusekurs der<br />

<strong>CDU</strong>-Politikerin mit einem Faschisten. Geiger<br />

suchte sich später zu entschuldigen, sie<br />

habe nicht gewußt, daß Zoratto der MSI<br />

angehört, was Zoratto bestätigt, denn dies<br />

„ist schließlich meine Privatsache“, erklärt<br />

er der ZD.<br />

Solch eine Schimpfkampagne habe er in<br />

den 30 Jahren, die er in Deutschland lebe,<br />

Eine Provinzposse –<br />

Recht glauben möchte man ja nicht, was<br />

sich in den vergangenen Wochen in<br />

Darmstadt abgespielt hat. Da plant der Chef<br />

der Mathildenhöhe eine umstrittene Ausstellung,<br />

umstritten, weil sich jener italienische<br />

Künstler früh zum Faschismus<br />

bekannte <strong>und</strong> zum Lieblingsmaler Mussolinis<br />

avancierte. Und plötzlich heißt es, dieser<br />

Chef wolle jene Bilder unkommentiert zeigen.<br />

Ein Schreckensbild spukt in den Köpfen<br />

herum: Eine faschistische Schau; auf<br />

unserem Musenhügel! Aufmärsche von<br />

deutschen, vereint mit italienischen Neofaschisten<br />

– zur neuen Pilgerstadt Darmstadt.<br />

Heute behauptet dieser Mann, solches<br />

Gerede sei ihm unerträglich, <strong>und</strong> überhaupt<br />

hätte er ganz einfach keine Lust mehr<br />

gehabt, diese Ausstellung für die (dummen)<br />

DarmstädterInnen zu machen. Deshalb<br />

habe er sie – aus freien Stücken –<br />

abgesagt.<br />

Verletzte Eitelkeit <strong>und</strong> Trotz? Vielleicht deshalb<br />

wirkte er so wenig überzeugend, daß<br />

ihm kaum jemand glaubte. Jetzt will er uns<br />

freilich weismachen, seine Linie sei von<br />

Anfang an klar gewesen – nur das „Echo“<br />

hätte über ihn, Tag für Tag, falsch, nur<br />

lückenhaft berichtet. Die Berichterstatter<br />

als Sündenböcke, für die eigenen Verbeugungen,<br />

Verdrehungen <strong>und</strong> Kratzfüße? Ein<br />

Schuldiger muß doch schließlich her…<br />

Er wirkte so wenig glaubhaft, daß viele viel<br />

eher glaubten, SPD <strong>und</strong> Peter Benz hätten<br />

ihn unter Druck gesetzt, zensiert.<br />

Oder aber sie munkelten über Wolberts vorauseilenden<br />

politischen Gehorsam. Wolbert<br />

habe gedacht, so jene Version, der<br />

SPD-Unterbezirk verlange eine Absage –<br />

was ja angeblich nicht stimmen soll – <strong>und</strong><br />

er sei diesem Beschluß nur um ein paar<br />

St<strong>und</strong>en zuvorgekommen.<br />

noch „nie gesehen <strong>und</strong> gehört“. Zoratto<br />

wettert: „Die ganze italienische Presse, aber<br />

auch die Presse Deutschlands hat die<br />

Darmstädter Absage kritisiert“ <strong>und</strong><br />

schimpft über den „sogenannten Bürgermeister<br />

mit seinen stalinistischen Methoden.“<br />

Deutschland kenne keinen Mittelweg, klagt<br />

er. Er <strong>und</strong> ein Parteifre<strong>und</strong> aus Groß-Zimmern,<br />

der sich Mark Jäger nennen läßt,<br />

bemühen sich, den italienischen Faschismus<br />

zu relativieren: Er sei mit dem deutschen<br />

nicht zu vergleichen, „die können<br />

sich überhaupt nicht leiden.“ Die MSI sei<br />

auch nicht ausländerfeindlich. Während die<br />

deutschen Neofaschisten brandschatzend<br />

durch die Lande zögen, hätte sich die MSI<br />

für Juden eingesetzt. Beispielsweise die<br />

Wahl in Italien eine Woche vor- oder nachzuverlegen,<br />

da an dem avisierten Wahltag<br />

Juden wegen ihres Osterfestes sonst nicht<br />

abstimmen können. Auch würde die Partei<br />

auf jüdischen Friedhöfen Kränze niederlegen.<br />

In Italien gebe es nur die Alternative<br />

zwischen Dieben – den korrupten <strong>und</strong><br />

mafiosen etablierten Parteien – <strong>und</strong> eben<br />

der MSI. Überhaupt, so drohen die beiden,<br />

seien sie demnächst die herrschende Partei<br />

Italiens, schon allein deshalb müßten sich<br />

die Darmstädter PolitikerInnen überlegen,<br />

welchen Schaden sie der Stadt mit ihrem<br />

Affront beibringen würden.<br />

OB Benz erklärte Bruno Zoratto als „unerwünschte<br />

Person“ <strong>und</strong> lud ihn wieder aus.<br />

Wolbert hat inzwischen entschieden, in seinen<br />

Räumen keinen Sironi-Vortrag zu halten:<br />

„Denn, daß Sissy Geiger eine parteipolitische<br />

Veranstaltung daraus machen will,<br />

das lasse ich nicht zu.“ vro<br />

Siehe auch Erklärungen der Darmstädter Sezession in<br />

„Briefe an die Redaktion“.<br />

Bei all dem Hickhack dachte die <strong>CDU</strong> vor<br />

allem eins: Was ein unerwartetes Geschenk –<br />

da muß sich doch kräftig parteipolitischer<br />

Profit rausschlagen lassen! Sie nämlich seien<br />

die wahren Kunst- <strong>und</strong> Demokratieverteidiger<br />

Darmstadts. Vergessen sollte ihre kunst- <strong>und</strong><br />

kulturfeindliche Attacke auf das Staatstheater<br />

sein – <strong>und</strong> nicht nur die. Die Christdemokrat-<br />

Innen gingen gegen Zensur <strong>und</strong> für Autonomie<br />

der Kunst auf die Barrikaden.<br />

Doch dann, oh Pein, vergeigte sich eine<br />

ihrer Parteikolleginnen. Nicht nur, daß sie<br />

auf jenen Brief des Italieners Zoratto als<br />

einzige aus einer ganzen Adressatenhorde<br />

antwortete. Frau Geiger war so überzeugt<br />

von der <strong>CDU</strong>-Taktik, daß sie nicht gründlich<br />

nachdachte. Und so schickte sie jenen<br />

Briefwechsel auch noch ans „Echo“. Da war<br />

es passiert; da war sie selbst die Gelackmeierte<br />

– war sie doch einem Faschisten<br />

gründlich auf den Leim gegangen. Hatte ihn<br />

gar noch nach Darmstadt eingeladen, zu<br />

einem Vortrag, von Wolbert, über Sironi,<br />

auf der Mathildenhöhe.<br />

Wir klatschen in die Hände <strong>und</strong> freuen uns,<br />

daß es der <strong>CDU</strong> nicht gelungen ist, aus dieser<br />

Kunstdebatte parteipolitisch Profit zu<br />

schlagen.<br />

Und wir warten gespannt auf den Ausgang<br />

des politischen Taktierens von Eike Ebert,<br />

Peter Benz <strong>und</strong> ihrer SPD.<br />

Auch wenn Wolbert meint, die Sironi-<br />

Debatte habe das Vertrauensverhältnis zwischen<br />

ihm <strong>und</strong> dem OB gefestigt – er irrt.<br />

Freilich, Benz hat ihn in seiner Rede vor<br />

dem Stadtparlament verteidigt, sogar<br />

gelobt. Doch ist das nur, <strong>und</strong> wiederum einzig,<br />

ein parteipolitisches Spiel – diesmal<br />

von den Sozialdemokraten. Denn Wolbert<br />

D armstadt<br />

leidet. In<br />

der europäischenKulturmetropole<br />

zwischen Nieder-<br />

Mossau <strong>und</strong> Büttelborn<br />

sind die Kostgänger des schönen<br />

Scheins vom Siechtum bedroht: Morbus<br />

Wolbert. Und wieder ist es ein toter Italiener,<br />

der nach Vergil, Varus <strong>und</strong> Vivaldi die<br />

teutonischen Hirne der nördlichen Bergstraße<br />

im Minicafé zum Schmelzen bringt:<br />

Sironi.<br />

Den Künstler als Künstler zeigen, diese<br />

schöne, alte Idee, den Künstler als Künstler<br />

einfach als Künstler zu zeigen: das hat uns<br />

in Darmstadt gefehlt, das hatten wir lange<br />

nicht. Das ist geradezu bestechend, das<br />

sticht regelrecht in die Augen, das blendet<br />

geradezu.<br />

Was konnte denn dieser Sironi dafür, daß er<br />

Faschist ist? Gar nichts. So was kann<br />

schließlich jedem passieren. Wie hieß denn<br />

noch dieser <strong>net</strong>te Kommandant. Bis heute<br />

ist ja nicht klar, wie jener Herr, dessen<br />

Geburtstag wir am 20. April feiern, Mitglied<br />

der NSDAP werden konnte. Das war übrigens<br />

der, der die Autobahnen gebaut hat.<br />

Eine gute Sache. Mindestens genauso gut<br />

wie die Bilder von Sironi, der Straßen<br />

gemalt hat <strong>und</strong> nie ADAC-Mitglied war.<br />

Dürer auch nicht; <strong>und</strong> Dürer hat Hasen<br />

gemalt, was bitteschön eine reine<br />

Geschmackssache ist.<br />

Ich komm nicht auf den Namen von diesem<br />

<strong>net</strong>ten Lagerkommandanten. Jedenfalls ist<br />

dieser Sironi ein so guter Maler, daß er<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 11<br />

ohne Ende<br />

ist bei Benz in Ungnade gefallen. Er soll<br />

gehen. Aber wie soll das funktionieren?<br />

Für solche Jobs gibt es in der SPD Parteifre<strong>und</strong><br />

<strong>und</strong> Hardliner Ebert. Und zwischen<br />

beiden eine geheime Abmachung? Ein hinterlistiger<br />

Schachzug, bei dem Benz’ Weste<br />

rein bleibt, steht er doch Wolbert öffentlich<br />

weiter bei. Statt seiner übernimmt Ebert<br />

den bösen Part – <strong>und</strong> demontiert den Ausstellungsmacher,<br />

kräftig, mit Donnerschlag.<br />

Setzt alles daran, ihn zu Fall zu bringen<br />

oder aber zum Weggang zu nötigen.<br />

Womit wir am Ende unserer Freuden sind:<br />

Die frühen Stadtlandschaften Sironis hätten<br />

wir doch allzu gerne betrachtet, kommentiert<br />

natürlich – waren wir doch allzu neugierig,<br />

zu erfahren, was an ihnen faschistisch<br />

ist <strong>und</strong> was nicht. Gerade das wäre<br />

des Ausstellungsmachers <strong>und</strong> Kulturreferenten<br />

Aufgabe gewesen: Für unsere Bildung<br />

zu sorgen. Doch schon während der<br />

Sitzung des Kulturausschusses, wo ja<br />

Erklärungsbedarf bestand, schmollte der<br />

angebliche Fachmann <strong>und</strong> versäumte. Auch<br />

Benz blieb untätig: Damals hätte er seinen<br />

Kulturreferenten darauf verpflichten sollen.<br />

Zeit war genug. Und wir sind enttäuscht<br />

über unseren Ausstellungsmacher, der so<br />

schnell aufgab <strong>und</strong> dann noch so ungeschickt…<br />

Was macht dieser Kulturreferent<br />

überhaupt? Hat er sich zur Theaterkrise je<br />

geäußert, zur Bessunger Knabenschule<br />

oder etwa zu den Heag-Hallen, für die<br />

immer noch ein Konzept zur kulturellen<br />

Nutzung fehlt?<br />

Und daß unser Darmstadt so eine schlechte<br />

Presse hatte, außerhalb, in der „Süddeutschen“<br />

<strong>und</strong> wo sonst noch überall, das<br />

schmerzt ja dann doch… Eva Bredow<br />

zumindest in<br />

Darmstadt<br />

von Tag zu<br />

Tag besser<br />

wird. Und<br />

dieser südländische<br />

Faschismus<br />

ist ja auch irgendwie ganz anders, das sollte<br />

man nicht so verbissen sehen. Die Italiener<br />

sehen das auch locker, lockerer – <strong>und</strong>,<br />

wenn man Sissy Geiger glaubt, am lockersten<br />

überhaupt. Wie kommt die eigentlich<br />

in die <strong>CDU</strong>? Bestimmt zufällig. Der Faschismus<br />

in Italien war mehr eine Folkloreveranstaltung<br />

mit viel Gesang, Trachtentanz <strong>und</strong><br />

Vino. Dieser <strong>net</strong>te Lagerkommandant, ich<br />

weiß nicht mehr, wie er hieß, war zum Beispiel<br />

ein vorbildlicher Familienvater. Kunst<br />

hat mit Politik doch nun wirklich überhaupt<br />

nichts zu tun. Laßt dem Sironi doch seine<br />

Straßen <strong>und</strong> dem Dürer seine Hasen, dann<br />

sind alle zufrieden damit. Was dem einen<br />

seine schwarze Milch der Frühe, ist dem<br />

anderen Jünger sein Straßengraben oder<br />

Schützengraben. Hauptsache es ist gut<br />

gemacht.<br />

Haben sich die Amerikaner auch gedacht<br />

<strong>und</strong> den Barbie engagiert. Es regt sich bei<br />

uns doch auch niemand darüber auf, ob<br />

wann <strong>und</strong> wie irgendein Künstler oder<br />

Künstlerin damals in der DDR mit der Stasi<br />

– oder? Wir haben ja auch nichts gegen<br />

Gewalt, sofern sie professionell ausgeübt<br />

wird. Dieser <strong>net</strong>te Lagerkommandant<br />

jedenfalls (das darf man nicht ausklammern)<br />

war privat ein Vorbild für jeden deutschen<br />

Schäferh<strong>und</strong>.<br />

P. J. Hoffmann<br />

INTERNAT. TAPETEN<br />

DARMSTADT<br />

ROSSD–RFER PLATZ


In Rom, wo die Familie des 1885 in<br />

Sassari, Sardinien, geborenen Mario<br />

Sironi wohnte, lernte der junge Maler<br />

um 1910 Giacomo Balla, Umberto Boccioni<br />

<strong>und</strong> andere Mitglieder der Avantgarde-Bewegung<br />

des Futurismus kennen.<br />

„Ein Rennwagen ist schöner als die<br />

Nike von Samothrake“ lautete einer der<br />

ästhetischen Leitsprüche in den zahllosen<br />

Manifesten der Gruppe jener Zeit.<br />

Aufgabe der Kunst wurde die Auseinandersetzung<br />

mit dem Leben in der Großstadt,<br />

dem neuen Standard der voranschreitenden<br />

Technik <strong>und</strong> die<br />

Aufsplitterung<br />

der Erfahrbarkeit<br />

von Raum<br />

<strong>und</strong> Zeit –<br />

doch<br />

„Selbstbildnis“, 1908 „Paesaggio urbano con aeroplano“, 1920<br />

man war zugleich auch nationalistisch<br />

gesonnen. Man liebte die italienische<br />

Heimat, so daß einige futuristische Gemüter,<br />

wie etwa der richtungsweisende<br />

Dichter Gabriele d’Annunzio, sich nahtlos<br />

in die faschistische Denkungsart<br />

eingliedern konnten. Nach der offiziellen<br />

Aufforderung an Sironi im Jahre 1914,<br />

sich der futuristischen Bewegung anzuschließen,<br />

schuf dieser höchst eigenwillige<br />

Portraits <strong>und</strong> Interieurszenen in der<br />

typischen, prismatischen Aufsplitterung<br />

der Farben <strong>und</strong> Formen.<br />

Um 1920 präsentieren sich die Werke<br />

Sironis dagegen in ganz anderer Weise:<br />

Dem Rausch aus Farbe <strong>und</strong> Bewegung<br />

folgen beklemmend ruhige <strong>und</strong> menschenleere<br />

Ansichten der düsteren Vorstädte,<br />

der Fabrikanlagen. In Mailand<br />

formierte sich um Sironi um 1922 die<br />

Malergruppe des „Novecento Italiano“,<br />

welche sich ohne festgelegte ästhetische<br />

Normen für die Notwendigkeit einer<br />

neuen plastischen <strong>und</strong> kompakten<br />

Malerei einsetzte – neben Sironis<br />

urbanen Landschaften<br />

kristallisieren sich in diesem<br />

Umkreis auch die monumentalen,psychologisierend<br />

gesehenen<br />

Figuren von Carlo<br />

Carrà oder die aus<br />

wenigen, leisen<br />

Gegenständen<br />

komponierten<br />

Stille-<br />

„Paesaggio urbano“, 1919 „Il camion giallo“, 1919<br />

„Paesaggio urbano“, 1922<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 12<br />

Vom Futurismus zur monumentalen Figurenmalerei<br />

Mario Sironis Leben <strong>und</strong> Werk<br />

ben des Giorgio Morandi heraus. Sironis<br />

Glaube an den ideologischen Auftrag<br />

der neuen italienischen Kunst wird vollends<br />

1933 sichtbar, als er das „Manifest<br />

der Wandmalerei“ formuliert <strong>und</strong> sich<br />

für die Notwendigkeit einer „neuen<br />

faschistischen Kunst“ ausspricht: „Die<br />

Wandmalerei ist die eigentliche Form<br />

der sozialen Malerei. Der Vorstellungskraft<br />

des Volkes kann sie besser als jede<br />

andere Form entsprechen“.<br />

Man möchte in den großfigurigen, athletischen<br />

<strong>und</strong> scheinbar klassischen Vorbildern<br />

nachempf<strong>und</strong>enen Figuren der<br />

danach von Sironi geschaffenen Werke<br />

heute bisweilen den italienischen Prototyp<br />

einer faschistisch-totalitären Kunst<br />

erkennen, die sich im Gegenzug zu dem<br />

„sozialistischen Realismus“ stalinistischer<br />

Prägung entwickelte. Nicht zu<br />

übersehen ist im Europa der dreißiger<br />

Jahren allerdings die allgemeine Tendenz<br />

zu einer klassischen, der abstrakten<br />

Moderne entgegenwirkenden Figurenmalerei,<br />

die als neue Auseinandersetzung<br />

mit der sichtbaren Realität<br />

gewertet werden kann – selbst Picasso<br />

experimentierte damals mit den Formen<br />

monumentaler Figuren.<br />

Sironis Bedeutung für die Entwicklung<br />

der modernen Malerei in Italien ist<br />

unangefochten; eine eingehende Diskussion<br />

<strong>und</strong> Bewertung seiner künstlerischen<br />

<strong>und</strong> ideologischen Position<br />

bleibt in Deutschland, wo man auch die<br />

eigene totalitäre Kunst ängstlich in<br />

Depots versteckt, jedoch weiterhin zu<br />

leisten. Sironi starb 1961 in Mailand,<br />

nachdem er die Nachkriegsjahre<br />

erschüttert durch die Auswirkungen der<br />

faschistischen Ideologie <strong>und</strong> den<br />

Selbstmord seiner Tochter durchlebt<br />

hatte. Eine erste Auseinandersetzung<br />

mit seinem Werk fand in Deutschland<br />

1988 anläßlich einer Retrospektive in<br />

Baden-Baden <strong>und</strong> Düsseldorf statt. gol


„L’allieva“, 1924<br />

„Cartoni per il mosaico del Palazzo di Giustizia“, 1936<br />

Bilder einer Ausstellung<br />

„L’lavoratori“, 1932<br />

„L’agricolttura“, 1936 „Contadini al lavoro“, 1933<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 13<br />

… die in den Ausstellungshallen der Mathildenhöhe nicht gezeigt werden (dürfen). Die ZD<br />

stellt eine Auswahl vor.<br />

Nur die urbanen Szenarien (linke Seite) wollte Dr. Klaus Wolbert in seiner Sironi-Schau präsentieren,<br />

jene düsteren, melancholischen, frühen Werke des italienischen Künstlers, die er<br />

um 1920 gemalt hat. Auf der rechten Seite sind seine späteren Werke abgebildet – darunter<br />

das Wandbild, das er 1936 für den Justizpalast in Mailand geschaffen hat.<br />

Laut Oberbürgermeister Peter Benz (SPD) hat die Absage der Ausstellung Darmstadt keine<br />

Kosten verursacht, da die Verträge mit den Leihgebern oder Transportfirmen noch nicht<br />

abgeschlossen gewesen wären. Statt mit Sironi werden die renovierten Ausstellungshallen<br />

am 27.März mit Werken von jungen Darmstädter KünstlerInnen eröff<strong>net</strong>. Titel: „Junge Kunst<br />

bei uns“. Gezeigt werden Malerei, Skulptur, Graphik, Objektkunst, Performance, Klanginstallationen<br />

<strong>und</strong> Musik.<br />

Alle Abbildungen sind dem Katalog „Sironi 1885-1961“, Verlag Gabriele Mazzotta, entnommen.<br />

Anlaß war eine Ausstellung in Milano, im Palazzo Reale, vom 4. Oktober bis 8. Dezember<br />

1985.<br />

RAUMGESTALTUNG<br />

DARMSTADT<br />

ROSSDÖRFER PLATZ


Als<br />

Zolas Roman „Germinal“ 1885<br />

erschien, häuften sich die Proteste.<br />

Zu drastisch <strong>und</strong> zersetzend schienen<br />

den Konservativen die intensiven Schilderungen<br />

des elenden Bergarbeiterlebens, zu<br />

gefährlich die Anklage des Kapitals als Hort<br />

des Bösen. Dabei hatte Zola nichts anderes<br />

niedergeschrieben, als er mit naturwissenschaftlicher<br />

Akribie im Milieu vor Ort studiert<br />

hatte. Unter dem Eindruck des blutig<br />

niedergeschlagenen Bergarbeiterstreiks in<br />

Anzin (1884) hatte er sich bei den Bergarbeitern<br />

in Nordfrankreich einquartiert, bei<br />

ihren Familien in den beengten Wohnverhältnissen,<br />

hatte den langen Arbeitstag von<br />

Männern, Frauen <strong>und</strong> Kindern beim Kohleabbau<br />

unter Tage, ihre Armut, ihren Hunger,<br />

ihre Krankheiten hautnah miterlebt.<br />

Zum erstenmal im französischen Roman,<br />

nach Ansätzen bei Eugène Sue („Mystères<br />

de Paris“, 1842), bei Victor Hugo („Les<br />

Misérables“, 1862) <strong>und</strong> den Brüdern Goncourt<br />

(„Germinie Lacerteux“, 1864), werden<br />

bei Zola die Lage des Proletariats <strong>und</strong><br />

der Gegensatz von Kapital <strong>und</strong> Arbeit<br />

anschaulich, klar <strong>und</strong> ungeschminkt vom<br />

Standpunkt sozialistischer Parteilichkeit<br />

aus geschildert. Im Gegensatz zu Zolas<br />

„L'Assommoir“ (1877), der ganz im proletarischen<br />

Milieu spielt, ohne Angehörige<br />

der herrschenden Klasse auskommt, wird<br />

in „Germinal“ beim Zusammenstoß der<br />

Interessen von Arbeitern <strong>und</strong> Grubenbesitzern<br />

der Klassengegensatz voll entfaltet,<br />

<strong>und</strong> die Ausgebeuteten präsentieren den<br />

wirtschaftlich Herrschenden ihre eigenen,<br />

proletarischen Interessen <strong>und</strong> Gerechtigkeitsvorstellungen.<br />

Zola in seinem Entwurf:<br />

„Der Roman behandelt den Aufstand der<br />

Lohnabhängigen, den Schlag gegen die<br />

Gesellschaft, die einen Moment wankt: in<br />

einem Wort, den Kampf von Arbeit <strong>und</strong><br />

Kapital.“<br />

Kleinbürgerlicher Zola?<br />

Über die Reichweite dieser Parteilichkeit<br />

des als Naturalist eingestuften Zola entbrannten<br />

in den Jahren bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />

innerhalb der Arbeiterbewegung<br />

heftige literaturtheoretische Diskussionen,<br />

die zusätzlich an unversöhnlicher Schärfe<br />

dadurch gewannen, daß sie eingeb<strong>und</strong>en<br />

waren in die unvermeidliche Auseinandersetzung<br />

mit dem Revisionismus. Gerade<br />

die Zola-Rezeption in Deutschland zeigt<br />

das. Da haben wir auf der einen Seite Friedrich<br />

Engels, der im April 1888 an Margaret<br />

Harkness schreibt, er halte Balzac „für<br />

einen weit größeren Meister des Realismus<br />

als alle Zolas passés, présents et à venir“.<br />

Auf Distanz zu Zola <strong>und</strong> den Naturalisten<br />

gehen auch Franz Mehring <strong>und</strong> Wilhelm<br />

Liebknecht, die auf Verzerrungen in den<br />

naturalistischen Schilderungen des Proletariats<br />

hinweisen. Und beim Gothaer Parteitag<br />

der SPD 1896 wenden sich mittlere<br />

Funktionäre gegen „Obszönitäten“ in der<br />

naturalistischen Literatur. Diese streng<br />

ablehnende Haltung setzt sich fort bis<br />

Georg Lukács, für den Autoren wie Sue,<br />

Hugo <strong>und</strong> auch Zola „kleinbürgerliche<br />

Oppositionelle gegen den Kapitalismus,<br />

keine proletarischen Revolutionäre“ sind,<br />

die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen<br />

Produktion hätten sie nicht durchschaut,<br />

die größeren Hintergründe <strong>und</strong><br />

ökonomischen Zusammenhänge der bürgerlichen<br />

Gesellschaft seien ihnen verschlossen<br />

geblieben.<br />

Auf der anderen Seite haben wir die positiven<br />

Äußerungen der Revisionisten, so etwa<br />

des Schriftstellers Wilhelm Bölsche, der<br />

Zolas Parteilichkeit <strong>und</strong> scharfe Gesellschaftskritik<br />

hervorhebt, die zwar keine utopischen<br />

Zukunftsbilder ausmale, aber den<br />

Leser unwillkürlich das ideale Gegenbild<br />

einer befreiten Gesellschaft entwerfen lasse.<br />

In dieser sehr frühen Debatte um das,<br />

was man später „sozialistischen Realismus“<br />

nannte, nahmen die deutschen sozialdemokratischen<br />

Arbeiter auf ihre Weise<br />

Stellung: Vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende lasen<br />

sie Zola massenweise, weil er eine große<br />

Anziehungskraft auf sie ausübte. Ganz so<br />

fremd konnten die literarischen Welten<br />

Zolas, der zwar, neben Darwin, vom Positivisten<br />

Taine beeinflußt war, aber auch ein<br />

bißchen Marx <strong>und</strong> später Fourier gelesen<br />

hatte, dem Proletariat also nicht sein. Im<br />

Gegenteil, vielen Arbeitern gab Zola gerade<br />

mit „Germinal“ einen inneren Stoß, manchen<br />

bürgerlichen Intellektuellen machte er<br />

damit zum Marxisten, hatte Einfluß auf<br />

Maxim Gorki, <strong>und</strong> in Lenins Album mit Bildern<br />

seiner Lieblingsschriftsteller lag, wie<br />

die Krupskaja erzählt, auch ein Foto von<br />

Zola, der (wie Lenin) ins Exil gehen mußte,<br />

weil er sich mit seinem Manifest „J'accuse“<br />

(„Ich klage an“, 1898) für Dreyfus eingesetzt<br />

<strong>und</strong> gegen nationalistische <strong>und</strong> antisemitische<br />

Hetze gewandt hatte.<br />

Bergarbeitermilieu<br />

„Germinal“, der Roman, der auch die deutschen<br />

Proletarier so begeisterte, ist der<br />

dreizehnte Band des 20teiligen Romanzyklus<br />

„Die Rougon-Macquart. Natur- <strong>und</strong><br />

Sozialgeschichte einer Familie unter dem<br />

zweiten Kaiserreich“. Der fünfh<strong>und</strong>ert Seiten<br />

starke Band ist übersichtlich komponiert<br />

in sieben Teilen. Die ersten beiden enthalten<br />

eine breite <strong>und</strong> intensive Milieuschilderung,<br />

quasi die Exposition des Romans,<br />

der dritte schafft einen Übergang, die restlichen<br />

Teile handeln vom Streik der Grubenarbeiter<br />

<strong>und</strong> deren Niederlage. Der Roman<br />

spielt in der Wirtschaftskrise des Jahres<br />

1868 <strong>und</strong> beginnt mit der Ankunft des<br />

Arbeit suchenden Maschinisten Etienne<br />

Lantier in Montsou. Der ortsfremde <strong>und</strong> im<br />

Bergbau unerfahrene Etienne, der in der<br />

Kohlengrube Le Voreux einen Arbeitsplatz<br />

findet, ist nicht nur Zolas Vermittlerfigur,<br />

mit dessen Augen der Leser das neue<br />

Milieu kennenlernt, sondern auch die<br />

Hauptperson des Romans.<br />

Etienne wohnt bei der vielköpfigen Familie<br />

Maheu, wo der Dreizehn-St<strong>und</strong>en-Arbeitstag<br />

morgens um vier beginnt <strong>und</strong> in<br />

drückender Enge die Betten im Schichtwechsel<br />

benutzt werden, wo Essen knapp<br />

ist, Krankheiten herrschen <strong>und</strong> Schulden<br />

drücken. Die fünfzehnjährige Maheu-Tochter<br />

Cathérine interessiert ihn, sie wird aber<br />

von seinem Konkurrenten, dem Arbeiter<br />

Chaval, in Besitz genommen. Ein starkes<br />

Mittel Zolas ist der soziale Kontrast: den<br />

hungrigen <strong>und</strong> leidenden Arbeitern stellt er<br />

die satte <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Unternehmerseite<br />

gegenüber, oder er verschränkt sie kontrastiv<br />

miteinander: die Armen betteln bei den<br />

Reichen, die Reichen besuchen mildtätiggeizig<br />

die Armen. Im Laufe von Monaten<br />

entwickelt Etienne sein Klassenbewußtsein,<br />

vor allem in der Diskussion über einen<br />

möglichen Streik. Kontrahenten sind Rasseneur,<br />

der sich mit dem Kapital vorläufig<br />

arrangieren will, <strong>und</strong> der russische Anarchist<br />

<strong>und</strong> Bakunin-Schüler Souvarine, der<br />

mit der Vernichtung von Gruben, Menschen<br />

<strong>und</strong> der ganzen „alten Welt“ in eine bessere<br />

Zukunft führen will.<br />

Der lange Streik<br />

Als die Grubenleitung die Löhne drücken<br />

will, indem sie zusätzlich zur bezahlten<br />

Kohleförderung von den Arbeitern noch<br />

mehr unbezahlte Verzimmerung der vom<br />

Einsturz bedrohten Schächte verlangt, ruft<br />

Etienne zum Streik, <strong>und</strong> er hat die große<br />

Mehrheit der Arbeiter hinter sich. Doch die<br />

örtliche, neu eingerichtete Streikkasse ist<br />

bald erschöpft, Unterstützungsgelder aus<br />

dem Ausland kommen nur spärlich, nach<br />

zwei Monaten Streik ist der Hunger total,<br />

die Streikdisziplin läßt nach, die Aktionen<br />

entgleiten Etiennes Kontrolle. Die Arbeiter<br />

zerstören die Nachbargruben, ziehen drohend<br />

vor die Häuser des Direktors Hennebeau<br />

<strong>und</strong> des Aktionärs Grégoire. Die Reaktionen<br />

von Kapital <strong>und</strong> Regierung: Belgische<br />

Arbeiter werden als Streikbrecher eingesetzt,<br />

Militär marschiert auf. Ein paar der<br />

verzweifelten <strong>und</strong> provozierten Arbeiter<br />

werfen Steine, die Soldaten schießen, es<br />

gibt Tote, unter ihnen Maheu. Die Streikenden<br />

kapitulieren <strong>und</strong> geben Etienne die<br />

Schuld am Streik, sie nehmen die Arbeit<br />

wieder auf – zu denselben schlechten<br />

Bedingungen wie vor dem Streik. Doch<br />

Souvarine verübt Sabotage, <strong>und</strong> in der apokalyptischen<br />

Schlußkatastrophe wird nach<br />

einem gigantischen Wassereinbruch die<br />

ganze Grube samt ihren Übertageeinrichtungen<br />

überflutet <strong>und</strong> verschwindet unter<br />

dem Wasser. Catherine, im letzten Augenblick<br />

noch Etiennes Geliebte geworden,<br />

wird tot geborgen. Von den unter Tage Eingeschlossenen<br />

wird nur Etienne lebend<br />

gerettet. Die Arbeit in den Gruben geht weiter,<br />

der Streik endet mit einer Niederlage,<br />

doch die nun klassenbewußteren Arbeiter<br />

werden das nächste Mal besser kämpfen.<br />

Und Etienne, „gereift durch die harten<br />

Erfahrungen in der Grube“ <strong>und</strong> mit „noch<br />

größerem Haß gegen die Bourgeoisie“,<br />

macht sich auf den Weg nach Paris, „als<br />

denkender Soldat der Revolution, der der<br />

Gesellschaft den Krieg erklärt hat.“<br />

Ein ewiger Schrei<br />

„Germinal“ ist zweifellos einer der bedeutendsten<br />

französischen Romane. Was<br />

motivierte Regisseur <strong>und</strong> Drehbuchautor<br />

Claude Berri zur filmischen Adaption? „Dieses<br />

Werk ist ein Aufschrei gegen jede Form<br />

von Sklaverei,“ sagt er <strong>und</strong> fühlt sich sei-<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 14<br />

Nach ihrem 13-St<strong>und</strong>en-Arbeitstag verlassen die Arbeiter die Gruben. Etienne Lantier (Renaud, rechts) <strong>und</strong> Maheu (Gérard Depardieu, links) (Foto: Agentur)<br />

Der Götze Kapital<br />

mästet sich<br />

mit Menschenfleisch<br />

Claude Berri verfilmt Emile Zolas Streik-Epos „Germinal“<br />

nem Vater, einem Kommunisten, verb<strong>und</strong>en.<br />

„Die vielen Toten in ,Germinal‘ sind<br />

nicht umsonst gestorben.“ Und er verweist<br />

auf aktuelle Bergarbeiterprobleme. „Ich will<br />

erreichen, daß man den ewigen Schrei, den<br />

Zola vor mehr als einem Jahrh<strong>und</strong>ert ausgestoßen<br />

hat, heute noch hört – <strong>und</strong> zwar<br />

genauso laut. Seine Botschaft der Freiheit<br />

<strong>und</strong> Liebe...“ Ein starkes <strong>und</strong> engagiert spielendes<br />

Team hat er versammelt. Renaud,<br />

der bekannte Sänger <strong>und</strong> Komponist, bisher<br />

ohne Filmerfahrung, spielt den Etienne<br />

überzeugend mit Ernst, Nachdenklichkeit<br />

<strong>und</strong> Intellekt, Sensibilität, Kraft <strong>und</strong> Würde.<br />

Euro-Star Gérard Depardieu, der in seinen<br />

Äußerungen zum Film das Gefühl für dessen<br />

politischen Gehalt vermissen läßt, muß sich<br />

in der Rolle des Familienvaters Maheu<br />

etwas kleiner machen – zum Vorteil für den<br />

Dargestellten. Miou-Miou verkörpert die<br />

ihren Mann <strong>und</strong> zwei Kinder verlierende,<br />

sich zur Revolutionärin wandelnde Maheu<br />

vor allem in ihrer Härte, in ihrem Schmerz.<br />

Judith Henry gelingt es, die ihrem brutalen<br />

Entjungferer Chaval hündisch folgende<br />

Cathérine Maheu in ihrer ewigen Unterwerfung,<br />

aber auch mit ihrer inneren<br />

„Flamme der Hoffnung“ lebendig zu machen.<br />

Der bisher mehr in Nebenrollen aufgetretene<br />

Jean-Roger Milo hat das richtige<br />

giftige Gesicht für den fiesen Macho <strong>und</strong><br />

Streikbrecher Chaval. Laurent Terzieff<br />

(Jahrgang 1935), eigentlich ein Gegentyp zu<br />

dem dreißigjährigen, mädchenhaft-zart aussehenden<br />

Souvarine, gibt dem eisig-glühenden<br />

Anarchisten etwas von Mephisto.<br />

190 Millionen Francs soll „die teuerste Produktion<br />

der französischen Kinogeschichte“<br />

gekostet haben. Drei Monate für die Konzeption<br />

der Bauten <strong>und</strong> der Ausstattung, ein<br />

ganzes Jahr für die authentische Rekonstruktion<br />

eines Dorfes mit Häusern <strong>und</strong><br />

Schächten, parallel dazu die Dreharbeiten.<br />

In einer riesigen Fabrikhalle wurden<br />

Zechengänge von r<strong>und</strong> 400 Metern<br />

Gesamtlänge gebaut <strong>und</strong> ein großes<br />

Schwimmbad für die Überschwemmungsszenen.<br />

Hat sich der Aufwand gelohnt?<br />

Reduzierte Drastik<br />

Selbstverständlich ist keine absolute historische<br />

Authentizität <strong>und</strong> Detailtreue zu<br />

erwarten, schon gar nicht bei einem Kinofilm,<br />

der sich überall verkaufen soll. Das<br />

beginnt beim Aussehen der Personen. Berris<br />

Frauen sind insgesamt hübscher als die<br />

von Zola, die Film-Cathérine ist nicht mit<br />

einem Jungen zu verwechseln, <strong>und</strong> der<br />

Film-Maheu hängen die Brüste nicht bis<br />

zum Bauch. Im Roman haben die Proletarier<br />

gelbliche Haare wegen der schlechten<br />

Seife <strong>und</strong> eine durch den Kohlestaub ruinierte<br />

Haut. Die Wohnverhältnisse sind im<br />

Film etwas geschönt, dennoch ist Zolas<br />

Bergarbeitermilieu gut getroffen. Im<br />

Roman ist vieles drastischer, extremer<br />

geschildert. Berri zeigt nicht so eindringlich<br />

Armut <strong>und</strong> Hunger der Bergarbeiter<br />

während des Streiks, die alles für ein<br />

bißchen Brot verkaufen müssen: Mobiliar,<br />

Wäsche, gar die Matratzenfüllung. Die<br />

mühselige, leidvolle Arbeit unter Tage ist<br />

geschönt; allein den bei Zola anstrengenden,<br />

kilometerlangen unterirdischen<br />

Anmarsch der ArbeiterInnen samt Hochklettern<br />

im Kamin <strong>und</strong> Waten im Wasser<br />

würden Berris SchauspielerInnen, die nur<br />

einen Spaziergang machen müssen, gar<br />

nicht durchhalten. Bei Berri schieben keine<br />

kleinen Kinder die gefüllten „H<strong>und</strong>e“ auf<br />

den Schienen durch die Stollen.<br />

Zensierter Sex<br />

Die bei Zola weltuntergangsähnliche Überflutung<br />

der Grube wirkt bei Berri wie ein<br />

besseres Hochwasser, <strong>und</strong> das r<strong>und</strong> zweiwöchige<br />

Eingeschlossensein von Etienne<br />

<strong>und</strong> Cathérine mit bis zum Hals stehendem<br />

Wasser verwandelt sich bei Berri in ein<br />

paartägiges gemütliches Abwarten im Liegen<br />

auf trockenem Gr<strong>und</strong>, das nicht<br />

begreiflich macht, warum Cathérine plötzlich<br />

an Erschöpfung sterben muß. Die Glättungen<br />

Berris betreffen auch das Verhältnis<br />

der Geschlechter. Im Buch behandeln fast<br />

alle Männer ihre Frauen zu grob, im Film gilt<br />

dies nur für Chaval, der aber ist im Roman<br />

noch viel schlimmer. Während der naturalistische<br />

Autor deutlich das freie, von bürgerlicher<br />

Sexualmoral ungebremste Liebesleben<br />

der Männer <strong>und</strong> Frauen schildert,<br />

die ihrem einzigen kostenlosen <strong>und</strong> schönen<br />

Vergnügen ungehemmt <strong>und</strong> spontan<br />

hinter jedem Busch nachgehen, legt der<br />

zeitgenössische Filmemacher über diese<br />

Obszönitäten den Mantel prüden Schweigens.<br />

Selbst die flotte Mouquette, die jeden<br />

Mann in der Grube ausprobiert, muß im<br />

Film den sex appeal unter der reichlichen<br />

Wäsche lassen.<br />

Wie üblich bei der Verfilmung dicker Wälzer,<br />

so hat auch Berri notwendigerweise die<br />

Handlungsstränge gekürzt <strong>und</strong> -Elemente<br />

zusammengezogen. Vor allem die Nebenfiguren<br />

mußten Federn lassen. So zum Beispiel<br />

der für Etiennes Schicksal nicht<br />

unwichtige elfjährige Maheu-Sohn Jeanlin,<br />

der zum Dieb <strong>und</strong> Mörder wird. Doch auch<br />

einige Hauptfiguren sind betroffen. Zola ist<br />

ein Meister in der Darstellung der Widersprüchlichkeit<br />

von Charakteren. Berris Personen<br />

aber haben, auch wenn ihnen<br />

manchmal Elemente von Nebenpersonen<br />

übertragen werden, weniger innere Widersprüche,<br />

zum Teil sind ihre negativen<br />

Eigenschaften weggelassen. Zum Beispiel<br />

hat Etienne bei Zola auch einen gewissen<br />

Führer-Ehrgeiz, andererseits aber wird er<br />

von Berri an einer Stelle überflüssigerweise<br />

in seinem Verhalten radikalisiert. Bei der<br />

Maheu fehlen die gefühllosen Züge, die sich<br />

aus dem harten Kampf gegen den Hunger<br />

ergeben <strong>und</strong> sie manchmal zur Rabenmutter<br />

machen. Die Nuancen Souvarines fehlen<br />

weitgehend. Der Wirt Rasseneur ist im Film<br />

gar nur ein eindimensionales Fragment. Die<br />

Vereinfachung <strong>und</strong> Verkürzung der Hauptpersonen<br />

betrifft auch ihre Beziehungen<br />

untereinander: Souvarines Einfluß auf die<br />

politische Bildung Etiennes ist kaum<br />

erkennbar, der politische <strong>und</strong> menschliche<br />

Konflikt zwischen Rasseneur <strong>und</strong> Etienne<br />

findet gar nicht statt.<br />

Kapitalistenmärchen<br />

Schwerer wiegen kleinere politische Ausblendungen<br />

Berris, die interne Probleme<br />

<strong>und</strong> Strategiefragen der Arbeiterbewegung<br />

betreffen: die lange Diskussion über den<br />

Beitritt der lokalen Gewerkschafter in die<br />

internationale Arbeiter-Assoziation <strong>und</strong><br />

Zolas kritische Darstellung der Gewerkschaftsfunktionäre,<br />

die sich von der Basis<br />

abzuheben beginnen. Indem Berri zwei<br />

Priester wegläßt, einen korrupten <strong>und</strong> einen<br />

☛ Fortsetzung auf folgender Seite


evolutionären, verzichtet er auf die Darstellung<br />

der nicht unwichtigen Komplizenschaft<br />

von Kirche <strong>und</strong> Kapital. Den thematischen<br />

Kern Zolas, den Gegensatz von<br />

Arbeit <strong>und</strong> Kapital, hat Berri jedoch nicht<br />

beschädigt, <strong>und</strong> was die Stärke Zolas ist,<br />

das kontrastive Verfahren, gilt auch für den<br />

Regisseur. Zwar kann sich dieser nicht leisten,<br />

wie Zola ein <strong>und</strong> dasselbe Ereignis aus<br />

mehrfacher Perspektive zu schildern, doch<br />

die Montage der hungrigen Armen vor den<br />

leeren Tellern <strong>und</strong> der satten Reichen vor<br />

den Delikatessen ist ihm bestens gelungen.<br />

Mit konzentrierter Sorgfalt, in langen, ruhigen<br />

Einstellungen inszeniert Berri auch die<br />

aufschlußreichen Lohnverhandlungen der<br />

Arbeiter mit dem Direktor Hennebeau, der<br />

mit allen rhetorischen Tricks glänzt, unter<br />

anderem mit dem alten Kapitalistenmärchen:<br />

„Erst muß es mir gut gehen, damit es<br />

euch gut geht.“ Kommt das den Gewerkschaftern<br />

von heute nicht bekannt vor?<br />

Zwar hat Berri die bei Zola durchgängig<br />

vorhandene (utopisch-)sozialistische Perspektive<br />

im Laufe des Films etwas vernachlässigt,<br />

doch rettet er sie, indem er am<br />

Schluß, während die Kamera langsam in die<br />

Höhe steigt <strong>und</strong> den in die Weite der Landschaft<br />

schreitenden Etienne aus der Totalen<br />

zeigt, einen Erzähler aus dem Off die feierlichen,<br />

letzten Sätze aus Zolas Roman zitieren<br />

läßt, sie enden: „In der flammenden<br />

Sonne dieses Frühlingsmorgens war die<br />

Landschaft von solchem Gären erfüllt. Es<br />

drängten Menschen herauf, eine schwarze<br />

Rächerarmee, die langsam in den Furchen<br />

keimte, die für die Ernten des künftigen<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts emporwuchs <strong>und</strong> deren Keimen<br />

bald die Erde zum Bersten bringen<br />

sollte.“ Nicht zuletzt mit diesem Schluß hat<br />

Berri die Aussage aus Zolas „Germinal“ (d.<br />

i. der „Monat des Keimens“ im französischen<br />

Revolutionskalenders, 21. 3. - 19. 4.)<br />

bewahrt: den Traum von Gerechtigkeit, von<br />

der Umwälzung unsozialer gesellschaftlicher<br />

Zustände.<br />

Dabei folgen seine filmischen Mittel nur<br />

teilweise der Erzählweise Zolas, der das<br />

Kontrastverfahren im Makro- <strong>und</strong> Mikrokontext<br />

intensiver nutzt. Was bei diesem<br />

wuchtig in kurzen <strong>und</strong> langen Wellen auf<br />

<strong>und</strong> ab wogt, wirkt in Berris Sequenzenabfolge<br />

viel ruhiger. Seine Montage der Einstellungen<br />

vermeidet gern extreme Wechsel,<br />

seine Kamera mag keine Hektik, bewegt<br />

sich meist langsam <strong>und</strong> unauffällig, die<br />

Handlungsachsen liegen klar, schnelle<br />

Objektbewegungen im Bild sind nicht häufig.<br />

Vom mythisierenden Pathos Zolas (z.B.<br />

„der Götze Kapital mästet sich mit Menschenfleisch“),<br />

das an den altbiblischen<br />

Propheten Amos erinnert, setzt Berris<br />

Regie kaum etwas um. Für ein zweieinhalbstündiges<br />

Filmepos ist das eigentlich<br />

eine recht unauffällige Sprache. Berri verläßt<br />

sich offensichtlich, unterstützt von der<br />

dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert nachempf<strong>und</strong>enen<br />

Musik von Jean-Louis Roques, auf die<br />

Überzeugungskraft des Romanstoffs. Als<br />

filmische Adaption hat Berris „Germinal“<br />

nicht die Größe, nicht den Glanz, nicht die<br />

Ausstrahlung der literarischen Vorlage, die<br />

sie transformiert, sie bewahrt aber deren<br />

wesentliche Elemente: ihre Haupthandlung,<br />

ihre Atmosphäre, ihren historischen Gehalt,<br />

ihren Sinn, ihre revolutionäre Aussage. Und<br />

als bloßer Film, unabhängig von Zolas<br />

Roman, lohnt sich „Germinal“ in jedem Fall:<br />

die Fragen nach der Abwehr von Lohnsenkung<br />

nicht nur im Bergbau, nach dem Sinn<br />

<strong>und</strong> Ziel von Streik angesichts der drohenden<br />

Schließung von Gruben sind brandaktuell.<br />

Montsou ist Rheinhausen, Montsou<br />

ist Bischofferode. Doch wo ist der deutsche<br />

Zola?<br />

P. s.: Schade genug, daß der Darmstädter<br />

Kinomonopolist dieses Filmepos, in Frankreich<br />

der große Kinoerfolg, ins intellektuelle<br />

Aschenputteleck (zuerst ins „Classic“, dann<br />

ins „Broadway“ mit Minileinwand) versteckte,<br />

anstatt es mutig in einem größeren<br />

„Helia“-Kino dem Massenpublikum zu präsentieren.<br />

Doch es kam noch schlimmer.<br />

Nachdem in der Spätvorstellung am Samstagabend<br />

(15.1.) bereits Dürrenmatts/Geißendörfers<br />

„Justiz“ im „Broadway“<br />

für kurze Zeit die Ungerechtigkeiten<br />

launischer Technik zu spüren bekommen<br />

hatte, gab's für „Germinal“ am Sonntagnachmittag<br />

ein totales black out <strong>und</strong> für<br />

die enttäuschten <strong>und</strong> verärgerten Leute ihr<br />

Geld zurück. „J'accuse!“, rief ein erboster<br />

Romanist, der endlich wieder einmal seinen<br />

Fuß ins Kino gesetzt hatte. Der Mann sollte<br />

gehört werden!<br />

Artur Rümmler<br />

Gern sucht die Kamera<br />

Was ist das für ein Film? Was ist seine<br />

formale Konzeption? Die Kamera,<br />

sehr beweglich, macht sich zum Begleiter<br />

der Neonazis, sie folgt ihnen, sie steht<br />

neben <strong>und</strong> hinter ihnen, sitzt mit ihnen im<br />

Auto, reist mit ihnen; sie zeigt uns die Dinge<br />

<strong>und</strong> die Personen, mit denen sie zu tun<br />

haben, mit ihren Augen, aus ihrer Perspektive.<br />

Zeigt die Kamera Ewald Althans, die<br />

Hauptperson, so macht sie sich kleiner,<br />

was bei dem körperlich großen Neonazi<br />

eine gewisse Zwangsläufigkeit hat, doch<br />

geht sie in diese Bauchperspektive häufiger<br />

als nötig. Dadurch wird der Zuschauer<br />

optisch entmündigt, weil er nach oben<br />

blicken muß, <strong>und</strong> Althans monumentalisiert,<br />

über ihn gestellt <strong>und</strong> mit Autorität<br />

ausgestattet. Gerne sucht die Kamera die<br />

Nähe von Althans, klebt an ihm, zeigt ihn<br />

groß <strong>und</strong> nah, tastet sein Gesicht ab, ohne<br />

uns eine wesentliche Information zu vermitteln.<br />

Im Gegenteil, die gefühlsintensiven,<br />

suggestiven Einstellungsgrößen der<br />

Mimik von Althans ziehen uns hinein in die<br />

Welt seiner Emotionen, aber nur der Emotionen,<br />

die er der Kamera zeigen will. Einige<br />

wenige Groß- <strong>und</strong> Detailaufnahmen von<br />

Althans (Kopf, Ohr, Füße) transportieren<br />

ästhetische Wertung, vielleicht sind sie<br />

humorvoll oder ironisch gemeint, ändern<br />

aber nichts an der globalen, einfühlenden<br />

Darstellungsmethode der Kamera.<br />

Die unmittelbare Umgebung von Althans<br />

(Büro, Versammlungsraum, Straße) wird<br />

im Stil eines Amateurfilmers abgelichtet,<br />

der keine Distanz zu seinem Gegenstand<br />

hat. Die Montage der Einstellungen addiert<br />

im allgemeinen nur, schafft selten einen<br />

erhellenden Kontrast, dringt nicht in die von<br />

der Kamera gelieferte Oberflächenwirklichkeit<br />

ein, sie liefert nur den Sinn, den Althans<br />

selber präsentiert. Auch die Montage der<br />

Sequenzen unterliegt diesem Prinzip, doch<br />

indem die Sequenzen addiert werden (etwa<br />

der Wechsel von Zündel <strong>und</strong> Althans), verstärken<br />

sie die Aussagen der sich selbst<br />

darstellenden Personen. Formal gesehen,<br />

bezieht dieser Film den Standpunkt der<br />

Neonazis.<br />

Was ist die inhaltliche Konzeption des<br />

Films? Das durchgängige Prinzip heißt<br />

Selbstdarstellung, auf Kommentare wird<br />

verzichtet. Die Neonazis dürfen sagen, was<br />

sie wollen, die Regie schweigt. Die Distanzlosigkeit<br />

der Kamera ist auch die des<br />

Reporters: er mischt sich nicht ein, stellt<br />

selten Fragen, <strong>und</strong> wenn, dann dringen sie<br />

nicht in die Tiefe, erhöhen bestenfalls ein<br />

wenig die Quantität des Informationswerts,<br />

meist sind sie banal oder überflüssig. Ernst<br />

Zündel, ein großsprecherischer Kleinbürger,<br />

wird vom Reporter zusammen mit Althans<br />

in Kanada aufgesucht, darf ungestört<br />

seine Biographie ausbreiten, seinen<br />

„Widerstand“ gegen die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland, darf ausführlich sein Büro<br />

<strong>und</strong> seine Requisiten vorführen, auch seine<br />

Telefonnummer, <strong>und</strong> wer will, kann ihn<br />

nach dem Film anrufen. Zündel öff<strong>net</strong> ein<br />

Bündel mit Briefen, doch daß merkwürdigerweise<br />

in all diesen mit Tesafilm verklebten<br />

Briefen nagelneue D-Mark-Scheine,<br />

angebliche Spenden aus Deutschland, <strong>und</strong><br />

ansonsten amerikanische Schecks stecken,<br />

bringt den Reporter nicht auf die Idee, daß<br />

der NS-Wahlkanadier den finanziellen<br />

Erfolg seiner „Bewegung“ vortäuscht, um<br />

einen Spendenfluß vorzuspiegeln, den es<br />

nicht gibt. Merkwürdig auch, daß in jedem<br />

geöff<strong>net</strong>en Brief Geld oder Scheck steckt –<br />

die Neofaschisten korrespondieren auf<br />

Geldscheinen?<br />

Da wird von der Regie viel Geschwätz vorgeführt,<br />

aber auch Zündels Propagandastrategie:<br />

Videos seien seine „große Waffe“,<br />

mit denen er die Zensur unterlaufe, den<br />

„Maulkorb“ umgehe, den man ihm umhängen<br />

wolle, sie seien die „Trägerwaffe“, mit<br />

der er die vielen nationalsozialistischen<br />

Gruppen in aller Welt zusammenfassen,<br />

„auf einen Nenner bringen“ wolle. Da dürfen<br />

Zündel <strong>und</strong> der blonde, blauäugige Althans<br />

sich uneingeschränkt gegenseitig zu<br />

großen, unverzichtbaren „Führern“ hochloben.<br />

Althans, personeller Mittelpunkt des<br />

Films, gefällt sich mit Selbstlob in seiner<br />

eitlem Selbstdarstellung als „Herrenmensch“,<br />

der die Jugend zum „orthodoxen<br />

Nationalsozialismus“ erziehen will, „so<br />

radikal wie möglich“, <strong>und</strong> stolz vergleicht er<br />

sich mit SS-Führern, „ich wäre der preußische<br />

Offizier, der Heydrich oder Himmler“.<br />

Daß der Reporter den Neonazi duzt, rückt<br />

Althans in vertrauliche Nähe. Die Sequenz<br />

mit Althans <strong>und</strong> seinen Eltern, die sich<br />

deutlich politisch von ihm absetzen <strong>und</strong> seine<br />

Vergangenheit als geltungsbedürftiges,<br />

auffallen wollendes Waldorf-Kindergartenkind<br />

beleuchten, ist die einzige, in der die<br />

Person des „Hauptdarstellers“ etwas psychologische<br />

Tiefe bekommt; politische Tiefe<br />

erhält sie nie.<br />

Den Höhepunkt von Althans‘ Auftritt in die-<br />

sem Film verlegt die Regie ins KZ Auschwitz,<br />

für den Neonazi das „Disneyland für<br />

Europa“. Dort darf Althans vor hilflosen<br />

Leuten <strong>und</strong> unbehelligt vom Reporter in der<br />

Gaskammer den Schwindel des „Leuchter-<br />

Reports“ verkünden, wonach die Vergasung<br />

der Juden hier technisch unmöglich<br />

gewesen sei. Diese strafbare „Auschwitz-<br />

Lüge“, zentrales Element in der Strategie<br />

des neofaschistischen Revisionismus, präsentiert<br />

uns die Regie unkritisch <strong>und</strong> noch<br />

dazu ohne jede Distanz gestellt. In der<br />

anschließenden Diskussion mit einem US-<br />

Juden blitzt in Althans‘ Gesicht für einen<br />

Moment etwas von seiner Gefährlichkeit<br />

auf, <strong>und</strong> seine Bemerkung, Fliegen, die ihn<br />

belästigen, <strong>und</strong> Läuse müßten „ausgerottet<br />

werden“, wirkt gar nicht doppeldeutig.<br />

Wenn Althans das Rededuell beendet <strong>und</strong><br />

sich rückwärts von der Kamera wegbewegt,<br />

dann offensichtlich aus Angst vor dem<br />

möglichen Ausbruch seines antisemitischen<br />

Hasses.<br />

Eine Dia-Vorführung von Althans über seinen<br />

Auschwitz-Auftritt wie in Bonengels<br />

Film würden ZuschauerInnen im privaten<br />

Neonazi-Kreis nicht anders erleben. Und so<br />

geht es weiter: Althans, der rassistische<br />

Witze machen darf, der im Büro des<br />

„Jugendbildungswerks“ in München beim<br />

Öffnen der Tagespost wie zufällig ein<br />

bew<strong>und</strong>erndes Zitat über Hitler findet <strong>und</strong><br />

es uns in voller Länge zum Besten geben<br />

darf; ein bekanntes, strafrechtlich verfolgtes<br />

Hetzgedicht über Asylbewerber wird<br />

eingeblendet; eine alte Bürogehilfin, deren<br />

Antisemitismus <strong>und</strong> ungebrochenes<br />

Bekenntnis zu Hitler, deren Bew<strong>und</strong>erung<br />

des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß von<br />

der Kamera durch einen Schwenk auf ein<br />

Foto des letzteren nostalgisch untermalt<br />

wird; Althans <strong>und</strong> kroatische <strong>und</strong> europäische<br />

Nazi-Söldner in Bosnien, die Kindern<br />

zeigen, wie man Serben abknallt. Auch der<br />

Schluß des Films ein Höhepunkt: Althans in<br />

einem Saal mit ehrfürchtigen Jugendlichen<br />

hält eine flammende Rede mit der bewegenden<br />

Fragestellung, ob „der Nationalsozialismus<br />

in Deutschland möglich“ sei, was<br />

er natürlich auch beweist, unterstützt von<br />

der Kamera, die ihn, der sich um effektive<br />

Gestik abmüht <strong>und</strong> einmal sogar das „R“<br />

rollt wie sein großes Vorbild, abfilmt wie<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 15<br />

die Nähe des Neofaschisten<br />

„Beruf Neonazi“ – Ein PR-Film über Althans würde nicht viel anders aussehen<br />

Selten hat ein politischer Film in so kurzer Zeit so viel Aufsehen<br />

erregt wie Winfried Bonengels „Beruf Neonazi“. In verschiedenen<br />

Städten aufgeführt, vom Staatsanwalt geprüft <strong>und</strong> mit<br />

Kommentierungs-Auflage versehen, vom Filmverlag mit einem<br />

Vorspann bestückt <strong>und</strong> wieder verliehen, gab es ihn am 21.1. im<br />

Kommunalen Kino Weiterstadt zu sehen. Wegen des unerwartet<br />

starken Andrangs liefen gleich zwei Vorstellungen <strong>und</strong> Diskussionen<br />

an einem Abend bis spät in die Nacht. Eine Diskussion<br />

im ausgewählten Zirkel von Journalisten, mit Regisseur Bonengel,<br />

Staatsanwalt <strong>und</strong> anderen, soll am 31.1. im Kommunalen<br />

Filmmuseum in Frankfurt klare Linien in die öffentliche Diskussion<br />

bringen.<br />

Was nicht gezeigt wird? Althans<br />

bekennt sich offen zur Gewalt <strong>und</strong><br />

Bonengel zeigt die Fascho-Helden an der<br />

kroatisch-serbischen Front; gleichzeitig<br />

darf Althans beteuern, mit Gewalt habe er<br />

nichts zu tun. Der Film läßt die Zuschauer<br />

im Glauben, daß die Wirklichkeit von Althans<br />

im Reisen, Lächeln <strong>und</strong> argumentierenden<br />

Agitieren besteht. War es Faulheit,<br />

Desinteresse, gar Absicht, daß Bonengel<br />

uns rechtsradikale Ausschreitungen gegen<br />

AusländerInnen, vielleicht auch eines Althans<br />

in Rostock oder Hoyerswerda vorenthält?<br />

Den Auschwitz-Auftritt in der Gaskammer<br />

hätte zumindest die Zwischenblende<br />

dokumentarischer Aufnahmen der Opfer<br />

gegendarstellen müssen – nicht der Moral<br />

wegen, sondern der grauenhaften<br />

Geschichte halber. Die langweilig langen<br />

Autofahrt-Szenen des Films hätten genügend<br />

Zeit für Zwischenblenden gelassen.<br />

Geschichtslosigkeit, Verdrängung deutscher<br />

Vergangenheit des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

wieder einmal mehr exemplarisch vorgeführt.<br />

Dokumentarisch? Nein, das ist der Film beileibe<br />

nicht. Szenisch durchdachte Dramaturgie<br />

<strong>und</strong> vorbereitete Einstellungen haben<br />

mit Dokumentation nichts mehr zu tun. Wir<br />

werden getäuscht <strong>und</strong> getrogen: Da wird so<br />

getan, als ob die Neofaschisten von Spenden<br />

vieler kleiner Leute leben (so an die 500<br />

bis 600 pro Jahr) <strong>und</strong> durch die Welt reisen<br />

in höherem Auftrag. Da darf ein gebürtiger<br />

Schwarzwälder (Zündel) frech in die Kamera<br />

lügen, mit Fotografiken in Kanada großes<br />

Geld gemacht zu haben. Da wird eine weltumspannende<br />

Faschisten-Organisation<br />

vorgespiegelt. So ein Objektivitäts-Ideal in<br />

Anspruch genommen wird: Abgesehen von<br />

dem dahinterstehenden gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />

Irrtum, erweist sich Bonengels Wirklichkeit<br />

als eine hofberichterstattende, heute leider<br />

meist üblich schlechte Propaganda-<br />

Schnulze. Es hat nichts mehr mit Freiheit<br />

der Kunst oder Zensur zu tun, wenn sich die<br />

Frage aufdrängt, ob die Regie gegen den<br />

§131 Strafgesetzbuch verstoßen hat. „Verherrlichung<br />

oder Verharmlosung<br />

unmenschlicher Gewalttätigkeiten“ stellt<br />

der Gesetzgeber in Bezug auf die Menschenrechtskonventionen<br />

unter Strafe:<br />

Auschwitz ist das grauenhafte Symbol für<br />

maschinell organisierten Völkermord. Althans<br />

verleug<strong>net</strong> <strong>und</strong> verharmlost <strong>und</strong> mit<br />

ihm sein Filmregisseur Bonengel – daraus<br />

spricht eine ungeheure Menschenverachtung<br />

<strong>und</strong> Mitleidlosigkeit angesichts<br />

erschütternder Berichte <strong>und</strong> Dokumentationen<br />

über die Todesfabrik. Der Film mag in<br />

die deutsche Nachkriegsgeschichte eingehen<br />

als Zeichen für das Aufkeimen neuer<br />

Neofaschismen <strong>und</strong> ihrer unsensibel sympathisierenden<br />

Kollaborateure.<br />

eine Wochenschaukamera der dreißiger<br />

Jahre.<br />

Kein Zweifel: Bonengel geht affirmativ vor,<br />

nicht investigativ, er kopiert, statt zu kontrastieren,<br />

er filmt nur das, was er sieht,<br />

aber er bekommt nur das zu sehen, was<br />

man ihm vorführt – das führt er uns vor,<br />

unhinterfragt <strong>und</strong> <strong>und</strong>istanziert. Wir erfahren<br />

nicht viel über die Personen, nichts<br />

über Ursachen, Hintergründe, Zusammenhänge<br />

<strong>und</strong> die Folgen solchen Denkens, die<br />

in unserem Land schon zur Normalität<br />

geworden sind. Bonengels filmisches Porträt<br />

von Zündel <strong>und</strong> Althans bezieht die<br />

Position der Neonazis, es ist ihr Selbstporträt.<br />

Ein PR-Film der Neonazis würde nicht<br />

viel anders aussehen. Selbst wenn man<br />

berücksichtigt, daß die Grenze zwischen<br />

Dokumentar- <strong>und</strong> Propagandafilm für den<br />

Betrachter unklar <strong>und</strong> fließend ist, handelt<br />

es sich bei „Beruf Neonazi“ um einen Propagandafilm,<br />

weil er bestens dazu beiträgt,<br />

die Nazis zu stärken <strong>und</strong> uninformierte,<br />

neutrale oder schwankende Menschen in<br />

ihrem Sinne zu beeinflussen. „Beruf Neonazi“<br />

ist eine „Trägerwaffe“ der Nazis. Diese<br />

haben jedenfalls ihren großen Erfolg: zum<br />

erstenmal wird ihre „Auschwitz-Lüge“ in<br />

die Kinos gebracht <strong>und</strong> erreicht die Massen.<br />

Einen Vorgeschmack auf die künftige Wirkung<br />

dieses Films, die auch durch den von<br />

der Justiz zur Auflage gemachten Vorspann<br />

nicht geschmälert wird, gab die Diskussion<br />

in Weiterstadt. Unter Leitung eines freien<br />

Mitarbeiters der „Hessischen Landeszentrale<br />

für politische Bildung“, der mit seinen<br />

Fragen, statt auf die Sache zu zielen, immer<br />

wieder auf die „innere Befindlichkeit“ der<br />

ZuschauerInnen ablenkte, gerade so, als ob<br />

er Viertklässler vor sich sitzen hätte, entstand<br />

beim informierten <strong>und</strong> durchaus<br />

nicht unpolitischen Publikum viel Durch<strong>und</strong><br />

Gegeneinander. Hilflos <strong>und</strong> zum Teil<br />

recht individualistisch kreisten die Meinungen<br />

um die Frage, ob dieser Film in der vorliegenden<br />

Form der Öffentlichkeit zugänglich<br />

gemacht werden solle, <strong>und</strong> wenigen<br />

warnenden Stimmen standen viele gegenüber,<br />

die meinten, er könne durchaus in allen<br />

Kinos ohne Kommentar gezeigt werden.<br />

Langweilige Verharmlosung<br />

neuer Herrenmenschen<br />

Willi Hammann<br />

Wer den Film nicht sieht, hat nichts versäumt.<br />

Wer ihn trotzdem sehen möchte,<br />

dem sollte er kommentiert gezeigt werden –<br />

aber nicht durch einen ironisierenden Vorspann<br />

(wie er jetzt zu lesen ist), sondern<br />

durch Dokumentaraufnahmen von der Völkermord-Fabrik<br />

Auschwitz als die Verbrechensmaschinerie<br />

in Betrieb war – <strong>und</strong> vielleicht<br />

als abschreckendes Beispiel für die<br />

Strafbarkeit von Volksverhetzung <strong>und</strong><br />

Gewaltdarstellung – so sich die Gerichte<br />

damit befassen werden. Mir scheint dies<br />

unumgänglich.<br />

Nur eines darf nicht passieren: Ein Aufführungsverbot<br />

wegen des Zeigens verbotener<br />

nationalsozialistischer Symbole. Das<br />

wäre ein Bärendienst für die ohnehin wegen<br />

Zensur krakeelenden Neofaschisten.<br />

Es ist dies nicht der Ruf nach einer allgemeinen<br />

Zensur, die Strafgesetze sind ausreichend.<br />

Es ist die Notwendigkeit <strong>und</strong> das<br />

Postulat an Kunst, gleich welcher Gattung<br />

gleich welcher Entgrenzung, aufzutreten<br />

nicht als bloß ästhetische, sondern als Ausdruck<br />

gesellschaftspolitisch-historischer<br />

Entwicklungen. Dort, wo Kunst aus Bedenkenlosigkeit,<br />

Profitgier oder Unkenntnis gar<br />

Überzeugung alle Verantwortung ablegt, ist<br />

sie im Rahmen allgemeiner Gesetze auch<br />

auf diese zu verpflichten.<br />

Michael Grimm<br />

DESIGNERTEPPICHE<br />

DARMSTADT<br />

ROSSDÖRFER PLATZ


war immer unbequem <strong>und</strong> wird<br />

„E es immer bleiben. Keine Freude für<br />

die, die von der Kunst angenehm unterhalten<br />

<strong>und</strong> abgelenkt werden wollen…“,<br />

notierte im Jahr 1958 Robert d’Hooghe<br />

über einen Besuch der Radziwill-Ausstellung<br />

in der Darmstädter Kunsthalle. Sein<br />

Blick scheint heute von einem vergangenen<br />

Zeitgeist geprägt. Radziwills Gemälde in<br />

ihrer rätselhaft-düsteren Stimmung <strong>und</strong><br />

ihrem magischen Realismus beschworen<br />

damals nicht nur Assoziationen an die noch<br />

greifbar nahen Schrecken der Diktatur <strong>und</strong><br />

des Krieges herauf, sondern erschienen<br />

dem Kritiker zugleich als Ausdruck eines<br />

expressiven, „deutsch“ geprägten <strong>und</strong> bis<br />

zu Albrecht Altdorfer <strong>und</strong> Caspar David<br />

Friedrich zurückreichenden Formwillens.<br />

Es ist ebenso verlockend wie gefährlich,<br />

diese Beobachtungen heute in der am gleichen<br />

Ort ausgerichteten Radziwill-Ausstellung<br />

überprüfen zu wollen – uns fehlen<br />

heute die Erfahrung <strong>und</strong> der unmittelbare<br />

Blick von damals. Die graphischen Arbeiten<br />

Radziwills lassen sich zudem offenbar<br />

kaum mit dessen Gemälden messen. Was<br />

auf der Leinwand als charakteristisch, als<br />

ausgereift <strong>und</strong> verdichtet erscheint, ist auf<br />

dem Papier oftmals eher neben oder hinter<br />

der künstlerischen Beschäftigung mit der<br />

Wahrnehmung <strong>und</strong> der Form zu erkennen.<br />

Radziwill, geboren 1895 bei Oldenburg,<br />

aufgewachsen im norddeutschen, handwerklich<br />

geprägten Milieu, absolviert<br />

zunächst eine Maurerlehre, kommt dabei<br />

mit dem Zeichnen in Berührung, studiert<br />

zwei Jahre Architektur, bevor er in den<br />

Ersten Weltkrieg zieht. Nach kurzen Phasen<br />

im großstädtischen Kunstbetrieb zieht sich<br />

Radziwill immer wieder an die heimatliche<br />

Nordsee zurück. Prägend bleibt die Begegnung<br />

mit Otto Dix in Dresden, während die<br />

1933 begonnene Professur an der Düsseldorfer<br />

Akademie bereits zwei Jahre später<br />

endete – der NSDAP-Parteigenosse galt als<br />

„entartet“. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist<br />

das Interesse an Radziwills Spielart des<br />

Realismus gering, der Künstler malt in der<br />

Stille von Dangast weiter, muß den Pinsel<br />

Requiem<br />

auf die Gerechtigkeit<br />

Hans W. Geißendörfer verfilmt<br />

Dürrenmatts Roman „Justiz“ über Schweizer <strong>Filz</strong><br />

Der Schweizer Dürrenmatt, bei uns<br />

mehr als Dramatiker bekannt geworden,<br />

hat in den fünfziger Jahren vier Kriminalromane<br />

geschrieben, in denen es um<br />

das Thema Gerechtigkeit geht: „ Der Richter<br />

<strong>und</strong> sein Henker“, sein erfolgreichster<br />

Roman, „Der Verdacht“, „Das Versprechen“,<br />

ein „Requiem auf den Kriminalroman“,<br />

zuerst als Film „Es geschah am hellichten<br />

Tag“, mit Heinz Rühmann. In allen<br />

drei Romanen wird die Justiz irregeführt,<br />

die Gerechtigkeit in den Bereich der Absurdität<br />

verlegt. Den vierten, „Justiz“, begann<br />

Dürrenmatt 1957, brach 1960 die Arbeit ab<br />

<strong>und</strong> nahm sie erst 1985, auf Anregung seines<br />

Verlegers, wieder auf, schrieb den Stoff<br />

um <strong>und</strong> gab ihm einen anderen Schluß.<br />

Auch „Justiz“ ist eine Art Requiem auf den<br />

Kriminalroman, spielt mit dem Genre <strong>und</strong><br />

1971 wegen einem Augenleiden beiseite<br />

legen, stirbt schließlich 1983.<br />

Daß das Schaffen Radziwills in der Erfahrung<br />

der Moderne wurzelt, zeigen frühe<br />

Arbeiten wie die „Landschaft“ von 1923,<br />

deren rote Wegschlangenform zu einem<br />

kunterbunten Haus führt, während türkisgrüne,<br />

amöbenhafte Wolken vor einem<br />

schwarzen Himmel ziehen, fast wie eine der<br />

halbabstrakten Kompositionen von Kandinsky,<br />

in breiten Pinselzügen aquarelliert<br />

wie bei den Expressionisten. Herrscht in<br />

„Landschaft“ noch eine gewisse Ordnung<br />

der Dinge, so schwanken 1920 beim<br />

„Sturm im Bürgerhaus“ die Möbel bedrohlich,<br />

eine weiße Damenunterhose fliegt<br />

umher, die Moral löst sich auf, die Tür öff<strong>net</strong><br />

sich spaltbreit zu einem schwarzen,<br />

unerfahrbaren Schl<strong>und</strong> – ein Bild wie aus<br />

der Feder expressionistischer Literaten.<br />

Doch Radziwill bringt in der Folgezeit die<br />

Dinge vielleicht weniger konsequent aus<br />

dem Lot, als man glauben möchte. Zwar<br />

konstruiert er 1927 Ansichten mit jenen<br />

magischen Elementen wie der schräg in die<br />

Tiefe verlaufenden, verwitterten „Blauen<br />

Mauer“ vor kahlen Ästen, blinden Brandmauern<br />

<strong>und</strong> einem düsteren Himmel, die<br />

rätselhaft <strong>und</strong> existentiell wirken. Doch<br />

gleich daneben hängt eine Ansicht von<br />

Dresden aus demselben Jahr, die vor der<br />

Silhouette der Semperoper die Elbe samt<br />

einer Brücke so duftig zart <strong>und</strong> atmosphärisch<br />

in Aquarell anlegt, daß man nur<br />

noch an die berühmten Veduten von Canaletto<br />

oder die Stimmungsbilder von Caspar<br />

David Friedrich denken mag. Ungelöst<br />

scheint die Frage, ob Radziwill in diesen<br />

Blättern nur Gedanken <strong>und</strong> Erfahrungen<br />

skizzierte, die er später in seinen Gemälden<br />

konsequent verdichtete <strong>und</strong> intensivierte,<br />

oder ob etwa die gemütlich norddeutschen<br />

Landschaften mit Reetdachhäusern als<br />

eigenständig wertbare Werke des Künstlers<br />

eine zweite, solide, aber auch recht konventionell<br />

bleibende Schaffensebene andeuten.<br />

Versöhnend bleibt ein Blick auf Radziwills<br />

Zeichnungen in Kohle, Rohrfeder oder Bleistift<br />

– sie zeigen keine der bisweilen formel-<br />

Sie will Rache <strong>und</strong> er sagt: „Du sollst sie haben“. Maximilian Schell als Isaak Kohler <strong>und</strong> Anna Thalbach als<br />

Tochter Helene in Geißendörfers Verfilmung von Dürrenmatts Roman, „Justiz“. (Foto: Agentur)<br />

mit der Frage, ob sich Gerechtigkeit überhaupt<br />

herstellen lasse.<br />

Unschuldiger Mörder<br />

Der Züricher Regierungsrat <strong>und</strong> Millionär<br />

Dr. Kohler erschießt in einem renommierten<br />

<strong>und</strong> gut besetzten Restaurant vor aller<br />

Augen seelenruhig den Universitätsprofessor<br />

Winter, geht ebenso cool wieder hinaus,<br />

läßt sich später mit einem gewissen<br />

Behagen verhaften <strong>und</strong> zu zwanzig Jahren<br />

Zuchthaus verurteilen; für das Urteil<br />

bedankt er sich. Im Zuchthaus richtet er<br />

sich gemütlich ein, genießt seine Privilegien<br />

<strong>und</strong> engagiert den jungen <strong>und</strong> bis dahin<br />

erfolglosen Rechtsanwalt Felix Spät, er soll,<br />

rein theoretisch nur, mit Hilfe des Privatdetektivs<br />

Lienhardt den Fall noch einmal aufrollen<br />

unter der Annahme, Kohler sei nicht<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 16<br />

Die Tür öff<strong>net</strong> sich zu<br />

einem schwarzen Schl<strong>und</strong><br />

Aquarelle <strong>und</strong> Zeichnungen von Franz Radziwill in der Kunsthalle Darmstadt<br />

„Die blaue Mauer“ 1927, Feder <strong>und</strong> Aquarell 37,5x45,5 (Abb.: Kunsthalle)<br />

haften Farbstimmungen <strong>und</strong> der kosmischkomischen<br />

Himmelsvisionen der Aquarelle<br />

<strong>und</strong> Gouachen, sondern einen scharfen,<br />

analytischen Blick auf die Realität. Ein zerschossener<br />

Bunker, eine Klosterruine <strong>und</strong><br />

das sehnsuchtsvolle Motiv eines Schiffes<br />

der Mörder gewesen. „Das Wirkliche“, sagt<br />

der Auftraggeber, „ist nur ein Sonderfall<br />

des Möglichen <strong>und</strong> deshalb auch anders<br />

denkbar.“ Spät stimmt zu, die juristische<br />

Expertise wird ihm versüßt durch ein stattliches<br />

Honorar, lukrative Aufträge <strong>und</strong> die<br />

zärtliche Unterstützung des Kohler-Töchterchens<br />

Helene.<br />

A la Bande<br />

Doch die ganze Sache läuft ihm aus dem<br />

Ruder. Während seiner Ermittlungen lernt<br />

er eine falsche Monika Steiermann kennen,<br />

die in Wirklichkeit Daphne Winter heißt, die<br />

Tochter des Ermordeten ist, <strong>und</strong> im Auftrag<br />

der echten Monika Steiermann mit Männern<br />

ins Bett geht, weil diese als Besitzerin<br />

eines Konzerns zwar reich <strong>und</strong> mächtig ist,<br />

aber als verkrüppelte Zwergin ihre sexuellen<br />

Wünsche nur in der Phantasie ausleben<br />

kann. Nach <strong>und</strong> nach erscheint Kohler,<br />

Geschäftsführer der Konzernchefin, in der<br />

Öffentlichkeit als Unschuldiger, weil er nie<br />

ein Motiv nannte, nie die Tat zugab, die freilich<br />

von mehr als einem Dutzend Augenzeugen<br />

beobachtet worden war, <strong>und</strong> weil die<br />

Tatwaffe nie gef<strong>und</strong>en wurde. Jetzt wird ein<br />

Dr. Benno verdächtigt, befre<strong>und</strong>et mit den<br />

bereits Genannten, Kohlers Interessen vertritt<br />

nun der Staranwalt Stüssi-Leupin, <strong>und</strong><br />

es beginnt der Abstieg Späts zum „Hurenanwalt“,<br />

der sich immer mehr ins Illegale<br />

verstrickt. Es gibt einige Tote, Kohler<br />

kommt frei, <strong>und</strong> es zeigt sich, daß der<br />

Regierungsrat, ein ausgezeich<strong>net</strong>er Billardspieler,<br />

mit Spät „à la bande“ gespielt hat,<br />

um sich an den Honoratioren zu rächen, die<br />

seine Tochter vergewaltigten, vielleicht<br />

auch aus wirtschaftlichen Machtinteressen.<br />

Für Spät bleibt da nur eine verzweifelte<br />

Lösung.<br />

Schweizer <strong>Filz</strong><br />

Bei Dürrenmatt erfahren wir das alles vom<br />

Ich-Erzähler Felix Spät <strong>und</strong> im Schlußteil<br />

von einem zusätzlichen Erzähler, dem „Herausgeber“,<br />

die mit Vorausdeutungen, Vor-<br />

auf offenem Meer, aber auch Reisemotive<br />

wie römische Architekturreste in Ostia Antica<br />

werden mit wenigen, überzeugenden<br />

Strichen in ihren sichtbaren Konturen, aber<br />

ebenso in ihrem Bedeutungsgehalt als Botschafter<br />

der Vergänglichkeit, des Schei-<br />

griffen <strong>und</strong> Rückblenden auf vier Zeitebenen<br />

herumspringen. Eine kunstvoll verschachtelte,<br />

mit Reflexionen durchsetzte,<br />

den wahren Sachverhalt nach <strong>und</strong> nach enthüllende<br />

Handlung in der typischen eleganten<br />

Erzählweise Dürrenmatts, die die Satire<br />

<strong>und</strong> Groteske bevorzugt. Geld ist Macht,<br />

<strong>und</strong> Geld ist Gerechtigkeit. Was in Dürrenmatts<br />

berühmtestem Drama „Der Besuch<br />

der alten Dame“ (1956) auf die reiche, aus<br />

vielen Prothesen bestehende Claire Zachanassian<br />

konzentriert ist, die sich für eine<br />

Milliarde bei einem ganzen Dorf den Mord<br />

an ihrem ehemaligen Geliebten kauft, ist in<br />

„Justiz“ quasi auf die reiche Zwergin <strong>und</strong><br />

den gewieften Kohler verteilt. Kritisiert werden<br />

jedoch in beiden Texten Machtstrukturen,<br />

Ver<strong>net</strong>zungen <strong>und</strong> Haltungen, die juristisch,<br />

politisch <strong>und</strong> moralisch unannehmbar<br />

sind. Dürrenmatts Aussage nach seiner<br />

auch allgemeingültigen Abrechnung mit<br />

Schweizer <strong>Filz</strong> in „Justiz“ läßt er Kohler formulieren:<br />

„Die Gerechtigkeit wohnt in einer<br />

Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat.“<br />

Yuppie-Typ<br />

Geißendörfers biedere <strong>und</strong> glanzlose Adaption<br />

verblaßt vor dem Roman wie eine Funzel<br />

vor der Sonne. Zwar überzeugen in seinem<br />

Team der eindrucksvoll-kompakte<br />

Maximilian Schell als hintergründig-selbstsicherer<br />

Kohler, Anna Thalbach als die stille,<br />

scheinbar naive <strong>und</strong> doch vielwissende<br />

Helene, Mathias Gnädiger als deftiger,<br />

bodenständiger Kommandant <strong>und</strong> Norbert<br />

Schwientek als das eklige Juristenschweinchen<br />

Rudolph Stüssi-Leupin, doch hat der<br />

Regisseur mit Thomas Heinze als Felix<br />

Spät, auch wenn er ihn für einen „Glücksfall“<br />

hält, einen Fehlgriff gemacht: Dieser in<br />

jedem zweiten Werbefilm präsentierte <strong>und</strong><br />

dort als Träger der Warenästhetik abgelutschte,<br />

brave <strong>und</strong> farblose Yuppie-Typ ist<br />

zu glatt <strong>und</strong> wiegt zu leicht, um die Probleme<br />

<strong>und</strong> Wandlungen Felix Späts zu verkörpern.<br />

Spät fungiert im Film nur als Opfer<br />

Kohlers, nicht als sein eventueller, wenn<br />

auch machtloser Gegenspieler, <strong>und</strong> macht<br />

Kohlers Triumph nur noch größer, was der<br />

Rolle Schells sehr entgegenkommt.<br />

Kunstlos<br />

Indem Geißendörfer, der auch das Drehbuch<br />

schrieb, auf Dürrenmatts Ich-Erzähler<br />

verzichtet, opfert er den besten Ansatz für<br />

die filmische Umsetzung dieses schwer zu<br />

transformierenden Romans. Denn nun muß<br />

terns <strong>und</strong> der Kontinuität des menschlichen<br />

Treibens umrissen.<br />

Rudolf Gold<br />

Kunsthalle Darmstadt; bis zum 27. Februar;<br />

Katalog 22 Mark<br />

er auch die kunstvoll verschachtelte Struktur<br />

der Zeitebenen aufgeben <strong>und</strong> den komplizierten<br />

Schlußteil stark vereinfachen.<br />

Anstatt aber wenigstens mit ein paar Rückblenden<br />

zu arbeiten, läßt er die Handlung<br />

uneingeschränkt sukzessiv ablaufen. Diese<br />

kunstlose Verschiebung vom Epischen des<br />

Romans ins Dramatische des Films ist ein<br />

Gr<strong>und</strong> für die Durchschnittlichkeit von<br />

Geißendörfers Produkt. Ein weiterer Gr<strong>und</strong><br />

dafür liegt im teilweisen Verzicht auf die<br />

Reproduktion dessen, was untrennbar zu<br />

Dürrenmatt gehört: Satire <strong>und</strong> vor allem<br />

Groteske. Im Roman gibt es einige Höhepunkte<br />

dieser Art, sie hätten die KinobesucherInnen<br />

erfreuen können.<br />

Zu beklagen ist weiterhin die einfallslose<br />

Ästhetik der Regie: Kamera <strong>und</strong> Montage<br />

leisten kaum Erwähnenswertes. Und last<br />

not least verschweigt Geißendörfer Dürrenmatts<br />

Kritik am Schweizer <strong>Filz</strong> <strong>und</strong> verkürzt<br />

damit die ausgeprägte politische, d. h. antikapitalistische<br />

Dimension des Buchs. Dort<br />

heißt es nach einem bösen R<strong>und</strong>umschlag<br />

durch die Schweizer Geschichte <strong>und</strong> gegen<br />

den „Betrieb, der sich unser Staat nennt,<br />

halb schon aufgekauft von fremdem Kapital“:<br />

„Unser kleines Land, so ahnt man <strong>und</strong><br />

reibt sich verblüfft die Augen, ist in Wirklichkeit<br />

von der Geschichte abgetreten, als<br />

es ins große Geschäft eintrat.“<br />

Niveauloses Handwerk<br />

Eine handwerkliche Routinearbeit Geißendörfers,<br />

der weit unter seinem eigenen<br />

Niveau geblieben ist. Seine filmische Adaption<br />

ist wesentlich flacher, kunstloser, ausdrucksloser<br />

als die literarische Vorlage.<br />

Wenn schließlich doch noch die zentrale<br />

Aussage des Romans erhalten bleibt, dann<br />

haben wir das vor allem Dürrenmatt zu verdanken.<br />

Allerdings ist diese desillusionierende<br />

Botschaft im Kino inzwischen etwas<br />

in die Jahre gekommen. Andere Regisseure<br />

(z. B. Chabrol, Damiani, Rosi) haben bessere<br />

Filme zur Entmystifizierung der herrschenden<br />

Kreise <strong>und</strong> der Macht des Geldes<br />

gedreht. Auch haben die großen „Spenden“-Skandale<br />

von Politik <strong>und</strong> Kapital im<br />

Westdeutschland der siebziger <strong>und</strong> die Korruptionsaffären<br />

im Italien der neunziger<br />

Jahre (der deutsche „Treuhand“-Skandal<br />

wird noch dazukommen) mehr als alle Filme<br />

zu dieser Entmystifizierung <strong>und</strong> zur<br />

Desillusionierung der Leute beigetragen.<br />

Artur Rümmler


Das ist ein starker Tobak …<br />

… antwortet ein Leser Karitas<br />

Hensel, die der „Schutzgemeinschaft<br />

Deutscher Wald“ Halbwissen,<br />

Halbwahrheiten <strong>und</strong> Polemik vorgeworfen<br />

hatte. Es geht um die geplante<br />

Mülldeponie im Zimmerer Wald:<br />

In der Zeitung für Darmstadt Nr. 57 vom<br />

5.11. 1993 erschien ein Bericht unter der<br />

Schlagzeile „Den Müll im Wald verstecken“.<br />

Darauf folgte ein weiterer Bericht unter der<br />

Überschrift „rot-grüne Umweltzerstörung im<br />

Zimmerer Wald“. Es war eine Antwort von<br />

Frau Karitas Hensel, Fraktionsvorsitzende<br />

„Die Grünen“ im Kreistag Darmstadt/Dieburg,<br />

auf den erstgenannten Bericht.<br />

In ihrer Antwort wirft Frau Hensel der Schutzgemeinschaft<br />

Deutscher Wald Halbwissen<br />

<strong>und</strong> Halbwahrheiten, gemixt mit viel Polemik<br />

in der Sache Hochdeponie am Grubenrand<br />

(Zimmerer Wald) vor. Das ist ein starker<br />

Tobak <strong>und</strong> Frau Hensel hat einiges vergessen.<br />

Sie hat die Stellungnahme der Schutzgemeinschaft<br />

Deutscher Wald zu der Planung<br />

nicht oder nicht aufmerksam gelesen.<br />

Leider verschweigt sie <strong>und</strong> streitet ab, daß<br />

durch die geplante Hochdeponie am Grubenrand<br />

auch das Bodendenkmal <strong>und</strong> Fossilienf<strong>und</strong>stätte<br />

Grube Messel beeinträchtigt wird,<br />

was ja auch den Planungsunterlagen festzustellen<br />

ist. Aus ästhetischen Gründen würde<br />

niemand neben einem Denkmal eine Müllkippe<br />

einrichten.<br />

Gerade „Die Grünen“ nannten die Befürworter<br />

der geplanten Mülldeponie Grube Messel<br />

zu Recht „Kulturbanausen“. Sie nannten die<br />

„Grube Messel – Prüfstein deutscher Kulturpolitik“.<br />

Der damalige Erste Kreisbeigeord<strong>net</strong>e,<br />

Herr Manfred Bäurle (Die Grünen),<br />

setzte die Unterschutzstellung <strong>und</strong> Eintragung<br />

in das Denkmalbuch für die weltbekannte<br />

Fossilienf<strong>und</strong>stätte Grube Messel<br />

durch.<br />

Selbst Frau Hensel setzte sich vehement für<br />

die Freihaltung der Grube Messel für die Forschung<br />

<strong>und</strong> Wissenschaft ein.<br />

Nun ist das alles in den rot-grünen Augen<br />

wertlos geworden <strong>und</strong> verunziert ein Natur-<br />

Eine Podiumsdiskussion im Schloßkeller<br />

zur künftigen Organisation<br />

des öffentlichen Nahverkehrs<br />

Am 20.12. fand die erste Veranstaltung im<br />

Rahmen des neuen Konzepts des<br />

„Schloßkellers” statt: Neben Musik- <strong>und</strong><br />

Theaterveranstaltungen sollen künftig aktuelle<br />

<strong>und</strong> politische Veranstaltungen das Profil<br />

des unterirdischen Domizils schärfen. Und<br />

das in einem Moment, wo das zugespitzte<br />

Zeitgeschehen auch die Apolitischen wieder<br />

aus dem Schlaf rütteln sollte, so die Veranstalter.<br />

Aus aktuellem Anlaß – nämlich das Nein der<br />

Stadt Darmstadt <strong>und</strong> des Kreises Darmstadt-<br />

Dieburg zum geplanten Rhein-Main-Verkehrsverb<strong>und</strong><br />

(RMV) – wurde im Schloßkeller<br />

dazu eine Podiumsdiskussion organisiert.<br />

Bürgermeister Michael Siebert (Grüne), Gerd<br />

Stanek von der „Gesellschaft zur Vorbereitung<br />

<strong>und</strong> Gründung des RMV“, Volker Blees<br />

vom Verkehrsreferat des AStA der THD <strong>und</strong><br />

Christian Brinkmann von der Fahrgastinitiative<br />

„PRO BAHN“, der die Veranstaltung<br />

moderierte, waren der Einladung des AStA<br />

gefolgt, um über die künftige Organisation<br />

des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) im<br />

Rhein-Main-Gebiet zu diskutieren.<br />

✁<br />

Briefe:<br />

An die<br />

Postfach 10 11 01<br />

64211 Darmstadt<br />

Telefax 06151 / 71 98 97<br />

<strong>und</strong> Bodendenkmal mit einer Mülldeponie.<br />

Leider wurde schon in früheren Jahren an<br />

den Grubenrändern, teilweise illegal, mit<br />

Ablagerungen die Grube verunstaltet <strong>und</strong><br />

geschädigt. Es macht für die Besucher der<br />

Grube Messel ein schlechtes Bild, wenn in<br />

unmittelbarer <strong>und</strong> bedrohlicher Nähe Müll<br />

abgekippt wird. Frau Hensel <strong>und</strong> andere<br />

müssen sich fragen lassen, ob so „rot-grüne<br />

Kulturpolitik“ aussieht.<br />

Selbst eine in Aussicht gestellte Verkleinerung<br />

der Deponie, die aufgr<strong>und</strong> bekannter<br />

Fakten unglaubwürdig ist, kann an dieser<br />

Tatsache nichts ändern. Die sogenannte<br />

Umplanung der Deponie ist wiederum eine<br />

Fehlplanung. So fordert z. B. der Umweltminister<br />

Fischer mehr Deponien zu bauen, da<br />

es Engpässe für Deponiestandorte gäbe. In<br />

der Praxis sieht eben alles anders aus als am<br />

grünen Tisch. Wer glaubt da noch an eine<br />

Verkleinerung <strong>und</strong> Laufzeitverkürzung der<br />

Deponie?<br />

Das Gegenteil wird der Fall sein <strong>und</strong> in späteren<br />

Jahren wird noch mehr Wald für Deponie-Anschlußflächen<br />

in Anspruch genommen<br />

werden. Ob die Auflagen, wie im<br />

Raumordnungsverfahren vorgegeben, für<br />

die geplante Haldendeponie überhaupt eingehalten<br />

werden können, ist zudem noch<br />

völlig offen. Wer behauptet, diese Deponie<br />

sei sicher <strong>und</strong> umweltverträglich, belügt sich<br />

selbst <strong>und</strong> die Öffentlichkeit.<br />

Die PolitikerInnen sollten die Planungsunterlagen<br />

mit akribischer Genauigkeit <strong>und</strong> aufmerksam<br />

studieren. Schließlich sind sie die<br />

Entscheidungsträger, die darüber befinden,<br />

ob in diesem Fall wieder Millionenbeträge<br />

(auf Kosten der Bürger) bedenkenlos verschleudert<br />

werden. Sie sollten deswegen die<br />

Kritik zu dieser Planung <strong>und</strong> Standort sehr<br />

ernst nehmen, um glaubwürdig zu bleiben.<br />

Nach korrekter Anwendung von Natur- <strong>und</strong><br />

Denkmalschutzgesetzen sowie der „Technischen<br />

Anleitung Siedlungsabfall“ ist diese<br />

Deponie so nicht zulässig. Man darf<br />

gespannt sein, was die Genehmigungsbehörde<br />

daraus macht.<br />

Willy Mößle<br />

BRIEFE AN DIE REDAKTION I<br />

Jugendarbeit auf der Straße Klabauta sucht<br />

neue Bleibe<br />

Der Bau der Kindertagesstätte im<br />

Johannesviertel verzögert sich,<br />

obwohl die Stadt die Zusage<br />

machte, noch 1993 erfolge der erste<br />

Spatenstich:<br />

Der Bau der Kindertagesstätte im Johannesviertel<br />

auf dem Gelände Viktoriastraße 34<br />

verzögert sich offenbar. Dies stellt der Verein<br />

„Kinder <strong>und</strong> Jugendarbeit im Johannesviertel“<br />

fest. Nachdem dem Verein in Aussicht<br />

gestellt wurde, daß der erste Spatenstich<br />

noch 1993 vollzogen wird, ist bislang aber<br />

nichts geschehen. Dies lag unter anderem<br />

daran, daß seitens der Stadtverwaltung den<br />

jetzigen Mietern nicht oder nicht fristgerecht<br />

gekündigt wurde.<br />

Der Bau der Einrichtung hat hohe Priorität,<br />

da sich die Betreuungssituation im Johannesviertel<br />

nicht günstig darstellt. Insbesondere<br />

die sich ändernden Anforderungen der<br />

Eltern an flexiblere Betreuungsangebote,<br />

aber auch die Wünsche der Kinder nach offenen<br />

Spiel- <strong>und</strong> Freizeitangeboten, machen<br />

die Einrichtung so dringend. Der Verein Kinder-<br />

<strong>und</strong> Jugendarbeit fordert den Bau aber<br />

auch deshalb so nachdringlich, weil dort das<br />

Konzept eines Kinderhauses mit verwirklicht<br />

werden soll. „Zur Zeit findet die Kinder- <strong>und</strong><br />

Jugendarbeit auf der Straße statt. Wir haben<br />

eine Übergangslösung in den Räumen des<br />

„Sozialkritischen Arbeitskreises“ gef<strong>und</strong>en.<br />

Diese basiert aber auf der Zusage der Stadt,<br />

daß in zwei Jahren der Bau in der Viktoriastraße<br />

abgeschlossen ist“, erklärt die Vereinsvorsitzende<br />

Frau Jutta Habermann-<br />

Völkner.<br />

Außerdem möchte der Verein in die Konzeptentwicklung<br />

des Hauses einbezogen werden.<br />

Entsprechende Zusagen des Sozialdezernats<br />

liegen vor. „Wir wissen als betroffene Eltern<br />

sehr gut, wo unsere Bedürfnisse, aber auch<br />

die Bedürfnisse unserer Kinder liegen. Diese<br />

Erfahrungen möchten wir in den Planungsprozeß<br />

einbringen,“ erklärte Frau Habermann-Völkner.<br />

Verein Kinder- <strong>und</strong> Jugendarbeit<br />

im Johannesviertel<br />

Ein gutgemeinter Bärendienst<br />

Eine Nachricht aus Darmstadts<br />

türkischer Schwesterstadt Bursa:<br />

Man könnte es als Resozialisierung bezeichnen,<br />

was derzeit sechzehn „Patienten” an<br />

einer Universitätsklinik im türkischen Bursa<br />

widerfährt. Nach jahrelanger Gefangenschaft<br />

sollen sie auf das Leben in Freiheit vorbereitet<br />

werden, sollen lernen, auf eigenen Beinen<br />

zu stehen. Davon haben diese Patienten<br />

gleich vier – es handelt sich nämlich um<br />

Bären.<br />

Bis vor wenigen Wochen führten sie ein<br />

erbärmliches Leben voller Qualen: angekettet,<br />

mit einem durch die Nase gezogenen<br />

Ring, mußten sie zur Belustigung des Publikums<br />

tanzen. Mit grausamen Tricks halfen<br />

die Besitzer nach, damit die Darbietungen<br />

möglichst lebhaft aussahen. Sie schoben<br />

den Tieren beispielsweise heiße Metallplatten<br />

unter die Pfoten; auch ein schmerzhafter<br />

Darmstadts Nein zum Rhein-Main-Verkehrsverb<strong>und</strong><br />

Pläne zum RMV aus?<br />

Ein Verkehrsverb<strong>und</strong> von Marburg bis Heppenheim,<br />

von Fulda bis Bad Kreuznach, das<br />

schien bis vor kurzem ferne Utopie. Doch die<br />

in Hofheim/Taunus ansässige Gesellschaft<br />

zur Vorbereitung <strong>und</strong> Gründung des Rhein-<br />

Main-Verkehrsverb<strong>und</strong>es (RMV) arbeitet an<br />

dem bislang größten Verkehrsverb<strong>und</strong> Euro-<br />

pas. Schon ab 1.11. des frisch begonnen<br />

Jahres sollen sämtliche Angebote des ÖPNV<br />

im Geltungsbereich des Verb<strong>und</strong>es mit einer<br />

einzigen Fahr- oder Dauer<strong>net</strong>zkarte nutzbar<br />

sein. Preisliche Gestaltung, Fahrpläne <strong>und</strong><br />

Streckenangebote werden sich bis zum Jahr<br />

1998 gr<strong>und</strong>legend ändern.<br />

Möglich wird der Zusammenschluß unter<br />

anderem durch die Bahnreform <strong>und</strong> die<br />

Gründung der Bahn AG, die es künftig erlauben<br />

wird, daß auch andere Verkehrsunternehmen<br />

das vom B<strong>und</strong> in Stand gehaltene<br />

Strecken<strong>net</strong>z nutzen können. Geplant ist,<br />

Züge der B<strong>und</strong>esbahn zu mieten <strong>und</strong> Nutzungsverträge<br />

zu schließen. Der RMV oder<br />

angeschlossene Drittfirmen werden selbst<br />

Züge einsetzen – nach Fahrplanvorgaben des<br />

RMV. Der Verb<strong>und</strong> wird, laut Auskunft der<br />

Vorbereitungsgesellschaft, bald großzügig<br />

von B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Land unterstützt werden: Vom<br />

Land Hessen allein erwartet der Verb<strong>und</strong><br />

eine Erhöhung der Unterstützung für den<br />

ÖPNV von 38,2 Millionen (1992) auf 157 Millionen<br />

Mark (1995).<br />

Fünf Tarifzonen mit<br />

neuen Preisen<br />

Die neuen Preise werden sich nicht durchweg<br />

positiv für K<strong>und</strong>en auswirken. Mit nur<br />

fünf Tarifzonen sind die Weitfahrer bevorzugt.<br />

Eine Fahrt von Heppenheim nach Fulda<br />

(Tarifzone E) soll künftig 19,50 statt derzeit<br />

38 Mark kosten. Dagegen sind für Fahrten in<br />

der Zone A 2,70 Mark geplant, was den Preis<br />

bisheriger lokaler Anbieter wie der HEAG<br />

übersteigt. Auch ein Kurzstreckentarif von<br />

ca. 2 Mark für fünf Stationen könnte dies<br />

nicht ausgleichen. Minitarife wird es zwar in<br />

Kleinstädten geben, nicht aber in Darmstadt.<br />

Teurer werden Fahrten auch im Umland:<br />

Obzwar noch unklar ist, ob bereits Vororte<br />

wie Roßdorf oder Pfungstadt von Darmstadt<br />

aus gesehen zu dem Tarifgebiet B zählen<br />

werden, Seeheim oder Ober-Ramstadt<br />

gehören auf jeden Fall dazu – das bedeutet<br />

für K<strong>und</strong>Innen, daß eine Fahrt dorthin künftig<br />

5,40 Mark kostet, statt derzeit 3 Mark. An<br />

diesen Beispielen zeigt sich, daß die Tarifgestaltung<br />

zu <strong>und</strong>ifferenziert ist. Für Monatskarten<br />

kalkuliert der Verb<strong>und</strong> 90 Mark in der<br />

Tarifzone A, 132 Mark in der Tarifzone B <strong>und</strong><br />

für Jahreskarten 900 bzw. 1.320 Mark.<br />

Integraler Fahrplan zu Ende des<br />

Jahrzehnts<br />

Gute Erfahrungen sind mit einem „integralen<br />

Fahrplan” gemacht worden, der unterschiedliche<br />

Zugverbindungen an bestimmten Verkehrsknotenpunkten<br />

zu gleicher Zeit ankommen<br />

<strong>und</strong> abfahren läßt, so daß Wartezeiten<br />

weitgehend entfallen. Dies ist bereits in<br />

Darmstadt am Luisenplatz verwirklicht, wo<br />

allerdings erst ab 19 Uhr Busse <strong>und</strong> Straßenbahnen<br />

aufeinander abgestimmt sind. Im<br />

RMV-Ideal soll dieser integrale Fahrplan bis<br />

1998 im gesamten Verb<strong>und</strong>gebiet realisiert<br />

sein mit Takten von 15-, 30- <strong>und</strong> 60-minütigen<br />

Intervallen. So können sich die K<strong>und</strong>Innen<br />

den Fahrplan leicht merken.<br />

Darmstadts Pläne <strong>und</strong> Bedenken<br />

Bislang haben von 18 betroffenen Kreisen<br />

<strong>und</strong> kreisfreien Städten nur sechs Einwände<br />

gegen den Beitritt zum RMV, darunter die<br />

Stadt Darmstadt <strong>und</strong> der Kreis Darmstadt-<br />

Dieburg. Die Stadt Darmstadt begründet ihre<br />

Haltung mit steigenden Preisen im Nahbereich,<br />

allerdings laufen derzeit Verhandlungen<br />

mit dem RMV, der seine Bereitschaft<br />

erklärt, der Stadt das Subventionieren der<br />

Preise freizustellen. Weiterhin fürchtet<br />

Darmstadt eine zu starke Ausrichtung des<br />

Verb<strong>und</strong>es auf Frankfurt hin – mit einer damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Vernachlässigung der<br />

Region Südhessen.<br />

Ungeklärt ist auch der Schlüssel für das Verteilen<br />

der Einnahmen aus dem Fahrkarten<strong>und</strong><br />

Verb<strong>und</strong>markenverkauf. Nach derzeitigen<br />

Vorstellungen der Vorbereiter soll der finanzielle<br />

Ausgleich aus der Zahl der verkauften<br />

Fahrausweise <strong>und</strong> durch Fahrgastzählungen<br />

ermittelt werden. Beides ist nicht repräsentativ,<br />

so ein Einwand des Darmstädter<br />

Bürgermeisters Siebert: Wer sich auf den<br />

Verkauf von Wertmarken spezialisiert, könne<br />

profitieren, ohne gute Verbindungen anzubieten<br />

<strong>und</strong> ohne viele Fahrgäste zu befördern.<br />

Probleme bieten auch die Zählungen,<br />

denn die Fahrgäste müssen für die Verteilung<br />

erfaßt werden. Die Stadt Darmstadt hat<br />

zur Klärung ihrer Bedenken ein Gutachten<br />

von der „Hamburg Consult“ angefordert, das<br />

die Entscheidung erleichtern soll.<br />

Gerd Bausch<br />

Zug am Nasenring machte den Bären Beine.<br />

Dank der Initiative einer britischen Tierschutzorganisation<br />

hat das Leiden nun<br />

zumindest für sechzehn türkische Tanzbären<br />

ein Ende. Den Briten gelang es, die türkischen<br />

Behörden für ihr Projekt zu gewinnen.<br />

Die Polizei beschlagnahmte die Tiere. Umgerech<strong>net</strong><br />

250.000 Mark spendeten britische<br />

Tierfre<strong>und</strong>e bisher, um dieses einzigartige<br />

Projekt zu finanzieren.<br />

Zunächst werden die Bären am Institut für<br />

Tiermedizin der Universität Bursa in der<br />

Westtürkei gründlich untersucht. W<strong>und</strong>en,<br />

die durch die Nasenringe hervorgerufen worden<br />

waren, müssen ausheilen oder operativ<br />

behandelt werden. Die meisten Tiere müssen<br />

auch zum Zahnarzt, denn aufgr<strong>und</strong> der völlig<br />

falschen Ernährung sind ihre Zähne geschädigt.<br />

Im Februar sollen die Bären in ein<br />

größeres Freigehege kommen, um im Mai<br />

schließlich in ihre vorläufige neue Heimat<br />

entlassen zu werden, ein etwa zehn Hektar<br />

großes Waldgebiet in den Bergen über Bursa.<br />

Schon jetzt lernen die Bären sich selbst<br />

zu ernähren. Wurden sie früher mit Brot <strong>und</strong><br />

Süßigkeiten gefüttert, gewöhnt man sie jetzt<br />

an jene Nahrung, die ihre in der Wildnis<br />

lebenden Artgenossen verzehren: vor allem<br />

Fleisch, Nüsse <strong>und</strong> Früchte.<br />

In den dichtbewaldeten Bergen der nordwestlichen<br />

<strong>und</strong> der nordöstlichen Türkei<br />

leben schätzungsweise etwa fünftausend<br />

wilde Bären. Tierschützer vermuten, daß es<br />

in der Türkei noch r<strong>und</strong> vierzig Tanzbären<br />

gibt, ein Dutzend allein in Istanbul. Sie sollen<br />

alle möglichst bald in die Wildnis gebracht<br />

werden.<br />

Gerd Höhler<br />

Eine Million<br />

für die DKMS<br />

Die Deutsche Krebshilfe hat die<br />

Deutsche Knochenmarkspenderdatei<br />

in Tübingen bisher mit<br />

15 Millionen Mark unterstützt<br />

Einen symbolischen Scheck über eine Million<br />

Mark für Knochenmarktypisierungen hat der<br />

Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krebshilfe,<br />

Dr. Helmut Geiger, am Donnerstagabend<br />

(13.1.) in Köln während ihrer Sendung<br />

„Schreinemakers life“ in Sat 1 an Margarete<br />

Schreinemakers übergeben. Frau Schreinemakers<br />

hat den Betrag stellvertretend für die<br />

Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS)<br />

entgegengenommen. Der Betrag von 1 Millionen<br />

Mark wird zur Typisierung weiterer Blutproben<br />

potentieller Knochenmarkspender eingesetzt.<br />

Für 1 Millionen Mark können 10.000<br />

zusätzliche Knochenmarkspender gewonnen<br />

werden. Die Förderung der Deutschen Krebshilfe<br />

zum Aufbau einer Deutschen Knochenmarkspenderdatei<br />

erreicht damit einen Betrag<br />

von 15 Millionen Mark. Derzeit sind in der<br />

Tübinger Knochenmarkspenderdatei r<strong>und</strong><br />

165.000 Spendenwillige registriert. Für den<br />

Monat Februar stehen neun Transplantationen<br />

an, für die Spender über diese Datei gef<strong>und</strong>en<br />

wurden. Auch über die Deutsche Krebshilfe<br />

kann Literatur über Krebserkrankungen <strong>und</strong><br />

mögliche Behandlungswege angefordert werden:<br />

Deutsche Krebshilfe e.V., Thomas-Mann-<br />

Straße 40, 53111 Bonn.<br />

Klaus Woyda, Pressereferent<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 17<br />

Die Stadt hat der Wagenburg in der<br />

Helfmannstraße eine Frist gesetzt –<br />

bis zum 31. Januar soll sie verschwinden.<br />

Sie hat den Prozeß<br />

gegen die BewohnerInnen<br />

gewonnen, obwohl der Baubeginn<br />

für Wohnungen noch nicht festliegt<br />

<strong>und</strong> noch nicht einmal ein Bauplan<br />

vorhanden ist. Jetzt fordern die 25<br />

Menschen einen geeig<strong>net</strong>en Ersatz<br />

Die Wagenburg Klabauta soll bis 31.1.94 von<br />

dem Gelände in der Helfmannstraße verschw<strong>und</strong>en<br />

sein. So lautet die Aufforderung<br />

der Stadt Darmstadt. Unterstrichen wird diese<br />

Aufforderung von dem Gerichtsurteil, welches<br />

einem langwierigen <strong>und</strong> bemerkenswert<br />

umwegreichen Prozeß entsprungen ist.<br />

Vor Monaten hatte die Stadt Klage erhoben.<br />

Anfänglich boten die Begründungen der<br />

Räumungsklage eine breite Palette. Der damalige<br />

Liegenschaftsdezernent Grünewaldt<br />

berief sich ständig auf Beschwerden aus der<br />

Nachbarschaft, wobei er nie sagte, wer <strong>und</strong><br />

worüber sich beschwert wurde. Ganz aus der<br />

Luft gegriffene Vorwürfe (es würde Müll vergraben<br />

oder der Einwand, daß die Wagen zu<br />

bunt seien <strong>und</strong> nicht im rechten Winken<br />

stünden), wurden verständlicherweise nicht<br />

ernstgenommen.<br />

Weil sich die WagenbewohnerInnen so leicht<br />

nicht einschüchtern ließen, machte man sich<br />

von Seiten der Stadt auf die Suche nach<br />

gewichtigeren Gründen <strong>und</strong> Bestimmungen.<br />

Das hieß Bauamt, Brandschutz, Umweltamt<br />

wurden ausgesandt, Anstößiges zu finden.<br />

Alle jene Behörden, die auch mal ein Auge<br />

zudrücken bei den richtigen Leuten, zu<br />

denen Menschen, die in Bauwagen leben nun<br />

mal nicht gehören… Doch im Laufe des Prozesses<br />

fixierte sich die Stadt immer stärker<br />

auf die Begründung, es sei Wohnungsbau<br />

auf dem Gelände geplant. Obwohl ein Baubeginn<br />

ungewiß <strong>und</strong> ein Bauplan noch nicht<br />

einmal vorhanden ist, hat die Stadt nun offiziell<br />

das Recht zu räumen.<br />

Verständlich, daß sich die Wagenburg – mit<br />

immerhin 31 Wagen – auch angesichts eines<br />

solchen Gerichtsurteils nicht in Luft auflösen<br />

kann. Das haben die BewohnerInnen auch<br />

gar nicht vor, denn viele von ihnen leben<br />

schon seit Jahren auf Rädern <strong>und</strong> haben<br />

Gefallen gef<strong>und</strong>en an dieser Wohnform, die<br />

sicherlich immer nur eine individuelle<br />

Lösung sein kann:<br />

– näher an der Natur zu leben<br />

– gewohnte Ansprüche zurückzuschrauben<br />

(verantwortlicher mit Wasser <strong>und</strong> Energie<br />

umgehen, z.B. ohne Strom leben)<br />

– gemeinsame Verantwortung für die Organisation<br />

des Alltags (Müllvermeidung <strong>und</strong> -<br />

entsorgung, Wasser, Energie)<br />

– Ver<strong>net</strong>zung mit anderen Wagenprojekten<br />

– Entwicklung von selbstorganisierten<br />

Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsräumen<br />

Das können verlockende Gründe sein, die<br />

vier Wände aus Beton mit einem Gefährt auf<br />

Rädern zu vertauschen. Es gibt auch weitergehende<br />

Ideen, das Leben auf dem Wagenplatz<br />

näher an den Bedürfnissen von Natur<br />

<strong>und</strong> Umwelt zu gestalten, die sich aber nur<br />

auf einem Gelände verwirklichen ließen, das<br />

längerfristig zur Verfügung gestellt wird.<br />

Weil die Forderung nach dem Nutzungsrecht<br />

freier städtischer Flächen für Wagenplätze<br />

auch wohnungspolitisch weiterhin ein sehr<br />

relevantes Argument pro Wagenburg ist,<br />

wird das Thema mit diesem Kapitel nicht<br />

beendet sein. Die Stadt hat hier die Möglichkeit,<br />

ein Selbsthilfeprojekt zu unterstützen.<br />

In letzter Zeit fanden einige Treffen zwischen<br />

WagenbewohnerInnen <strong>und</strong> den zuständigen<br />

städtischen Amtspersonen statt. Die Stadt<br />

hat zwar Verhandlungsbereitschaft signalisiert,<br />

die Verhandlungen erweisen sich<br />

jedoch als äußerst zäh. Von Seiten der<br />

WagenburgbewohnerInnen wurden bisher<br />

bereits sieben mögliche Gelände vorgeschlagen,<br />

diese vom Liegenschaftsbeamten Fröhner<br />

allesamt abgelehnt. Von Seiten des<br />

Amtes kamen zwei Vorschläge, hiervon einer<br />

aufgr<strong>und</strong> seiner Lage zwischen mehreren<br />

Bahndämmen auf verseuchtem Gr<strong>und</strong> nicht<br />

als Wagenplatz geeig<strong>net</strong>, der andere für die<br />

31 Wagen von der Größe her leider nicht<br />

ausreichend. Nach wie vor fordern die<br />

WagenburgbewohnerInnen ein geeig<strong>net</strong>es<br />

Gelände in Darmstadt als Ersatz.<br />

Der Verein für Wagenwesen „schneller Wohnen“<br />

sucht Unterstützer für ihre Forderungen.<br />

Adresse: Helfmannstraße, 64293 Darmstadt.<br />

Wagenburg Klabauta<br />

NEPAL-TEPPICHE<br />

DARMSTADT<br />

ROSSD–RFER PLATZ


Was ist daran falsch?<br />

Klaus Feuchtinger, der Vorsitzende<br />

des Ausschusses für Umweltschutz<br />

(Grüne) schreibt zum Artikel<br />

„Gefährliche Radfahrer“ in der ZD-<br />

Ausgabe 61:<br />

Wenn schlampig recherchiert wird, bekommen<br />

selbst gutgemeinte Berichte einen<br />

boshaften Zungenschlag! Mit dem Siebert-<br />

Zitat „mit dieser Baumaßnahme kommt der<br />

Magistrat auch einem Antrag der Grünen<br />

nach“ soll der Eindruck erweckt werden,<br />

daß auf Wunsch der Grünen eine Baumaßnahme<br />

an der Heidelberger Straße in Fahrtrichtung<br />

Eberstadt ausschließlich für den<br />

motorisierten Kraftverkehr durchgeführt<br />

werden soll. Hätte sich die Autorin den von<br />

Siebert erwähnten grünen Antrag nicht erst<br />

einmal durchlesen sollen? Dann wäre ihr<br />

sicher aufgefallen, daß wir darin eine längst<br />

überfällige Entsiegelungsmaßnahme beantragt<br />

haben, um das Wurzelwerk der<br />

Straßenbäume von der Asphaltabdeckung<br />

zu befreien, um wenigstens eine Ursache<br />

für das reihenweise Absterben der dortigen<br />

Alleebäume zu beseitigen <strong>und</strong> den nachgepflanzten<br />

Bäumen bessere Überlebenschancen<br />

zu gewähren.<br />

Euer Foto zeigte übrigens eine ganz andere<br />

Stelle, die von der Maßnahme nicht betroffen<br />

ist. Das hätte man der betreffenden<br />

Magistratsvorlage unschwer entnehmen<br />

können! Erst im weiteren Verlauf der Heidelberger<br />

Straße – (da hätte die Autorin<br />

noch ein paar Schritte gehen müssen!) –<br />

folgt ein breiter asphaltierter Randstreifen,<br />

der wohl zu Zeiten benutzt wurde, als die<br />

Heidelberger Straße noch als einzige Nord-<br />

Süd-Verbindung (B3) vom Durchgangsverkehr<br />

befahren wurde. Auf diesem bilden<br />

sich tiefe Wasserlachen, die noch lange<br />

nach Regenfällen stehen bleiben, den<br />

Straßenbäumen vorenthalten werden <strong>und</strong><br />

mit den von Euch zitierten Ursachen für<br />

Aquaplaning nichts zu tun haben. Diese<br />

haben nämlich den Effekt, daß die Autos<br />

schon bei Geschwindigkeiten deutlich unter<br />

50 km/h Radfahrer <strong>und</strong> Fußgänger auf den<br />

parallel geführten Wegen in hohem Bogen<br />

bespritzen!<br />

Eben dieser Streifen soll nun zurückgebaut<br />

<strong>und</strong> – was die Autorin ebenfalls verschweigt<br />

– auch begrünt werden. Solche<br />

Rückbaumaßnahmen, verb<strong>und</strong>en mit Entsiegelung<br />

<strong>und</strong> Begrünung sowie mit mehr<br />

Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer, sollten<br />

wir uns auch in anderen Straßen Darmstadts<br />

wünschen – was ist falsch daran?<br />

Klaus Feuchtinger, Die Grünen<br />

In der Ausgabe 61 hatte unser Fotograf die Heidelberger Straße etwa zweih<strong>und</strong>ert Meter zu weit stadteinwärts aufgenommen.<br />

Auf diesem Bild ist deutlich der überflüssige Asphaltstreifen zu erkennen. Übrigens auch der parallel<br />

verlaufende Radweg – bis dorthin spritzt nach Ansicht Feuchtingers das Wasser vorbeifahrender Autos. Wie<br />

schnell wird dann gefahren? (mg/Foto Heiner Schäfer)<br />

Eine offene Antwort<br />

Hallo Klaus Feuchtinger,<br />

die Aquaplaning-Meldung stammte vom<br />

Presseamt (Nr. 11492, 12.93), das zitiert<br />

worden ist <strong>und</strong> sich wiederum auf den<br />

Magistrat, auf Michael Siebert bezog. Die<br />

Pressemeldung ist wie die sieben anderen<br />

zitierten selbstverständlich nur in Ausschnitten<br />

wiedergegeben, sonst hätte dies<br />

eine Zeitungsseite gefüllt. Der satirische<br />

Charakter, der in den offiziellen Verlautbarungen<br />

zum Vorschein kommt, dürfte auch<br />

für LeserInnen unübersehbar sein. Es handelte<br />

sich also keineswegs um eine Recherche,<br />

sondern um den zusammenfassenden<br />

Abdruck offizieller Darstellungen.<br />

Wenn das Presseamt das Aquaplaning in<br />

den Vordergr<strong>und</strong> rückt, steht dies in direktem<br />

Kontext zum Ausbau des Radwege<strong>net</strong>zes,<br />

das seit 1978 bis ins Jahr 2050 auf sich<br />

warten lassen wird. Das ist falsch.<br />

Den Fotografen haben wir noch einmal hingeschickt,<br />

denn in der Tat war das Foto<br />

nicht gegenüber der Kiesgrube, sondern<br />

weiter stadteinwärts gegenüber der Radrennbahn<br />

aufgenommen worden – wir danken<br />

für die Richtigstellung.<br />

Es sollte keineswegs „der Eindruck erweckt<br />

werden, daß auf Wunsch der Grünen eine<br />

Baumaßnahme an der Heidelberger Straße<br />

in Fahrtrichtung Eberstadt ausschließlich<br />

für den motorisierten Kraftverkehr durchgeführt<br />

werden soll.“ Wenn Siebert selbst<br />

melden läßt, zitieren wir nicht als Meinungsmacher.<br />

Das wäre falsch. Der Antrag<br />

der Grünen mag wohl andere Ziele artikulieren,<br />

was zählt ist doch das, was gemacht<br />

wird?<br />

Die Entsiegelung ist sicherlich ein lobenswerter<br />

Zug, jedoch von Begrünung stand in<br />

der Meldung nichts zu lesen, sondern: Es<br />

„wird ein Hochbordstein mit Rinne zur<br />

Ableitung des Oberflächenwassers eingebaut“<br />

– in die Kanalisation? Und wozu dann<br />

die Entsiegelung? Das wäre falsch. Die<br />

Magistratsvorlage ist der ZD im übrigen<br />

nicht zugestellt worden, womit die Verwal-<br />

tung so die Darstellung Ihrer Aktivitäten in<br />

der Öffentlichkeit selbst gestaltet.<br />

Zur Information folgende Pressemeldung<br />

vom 24.7.1990. „Für die stark befahrene<br />

Bismarckstraße ist seit langem ein durchgehender<br />

Radweg geplant… Im Haushaltsplan<br />

1990 waren für den Ausbau 100.000<br />

Mark beantragt, wurden dann aber erst für<br />

1992 vorgemerkt. … Wie Stadtrat Swyter<br />

mitteilt, wird zunächst mit geringem Aufwand<br />

<strong>und</strong> weitgehend provisorischen Mitteln<br />

versucht, den Radverkehr zu verbessern.<br />

Dabei ist bereits jetzt zu erwarten, daß<br />

die ursprünglich geschätzte Summe von<br />

100.000 Mark nicht ausreichen wird. Bis<br />

1992 wird aber eine detaillierte Kostenschätzung<br />

durchgeführt“. Es wird noch<br />

immer geplant, geschätzt <strong>und</strong> von Provisorien<br />

ist nichts zu sehen – bis 2050?<br />

Der Herausgeber<br />

BRIEFE AN DIE REDAKTION II<br />

Die deutsche Atomschmiede stoppen<br />

Ein breites Bündnis von Anti-Atom-<br />

Initiativen aus dem B<strong>und</strong>esgebiet<br />

<strong>und</strong> Österreich formiert seinen<br />

Widerstand gegen die Fortsetzung<br />

der Atomwirtschaft in Deutschland.<br />

Zentraler Angriffspunkt ist der „Siemens“-Konzern,<br />

der als Monopolist<br />

für den Bau von Atomkraftwerken<br />

die Triebfeder der deutschen Atomlobby<br />

ist. Das Bündnis der Atomkritiker<br />

ruft zum Boykott aller Siemens-<br />

Produkte auf, bis der Konzern seine<br />

Atomgeschäfte beendet<br />

Die Zukunft der Atomenergie in Deutschland<br />

ist alles andere als besiegelt; aber der Kampf<br />

um eine endgültige Entscheidung tobt. Offen<br />

<strong>und</strong> hinter verschlossenen Türen werden die<br />

Vertreter der Atomwirtschaft nicht müde,<br />

ihren politischen Einfluß für eine „Referenzanlage“<br />

eines vermeintlich neuen Reaktortyps<br />

auf deutschem Boden einzusetzen. Die<br />

neue Anlage wäre der weltweit erste Neubau<br />

eines Atomkraftwerks seit der Katastrophe<br />

von Tschernobyl.<br />

Profitieren würde in erster Linie der Siemens-Konzern.<br />

Als einziger deutscher<br />

Anbieter von „schlüsselfertigen“ Atomkraftwerken<br />

möchte er seine seit Jahren schlummernde<br />

Sparte „Energieerzeugung (KWU)“<br />

mit diesem Auftrag wieder zum Leben<br />

erwecken. Als „Referenz“ soll der Meiler vor<br />

allem ausländischen K<strong>und</strong>en erscheinen.<br />

Denn ohne ein funktionierendes Anschauungsobjekt<br />

sind Atomkraftwerke derzeit<br />

selbst in der sogenannten Dritten Welt<br />

unverkäuflich, wie Siemens-Aufsichtsratsvorsitzender<br />

Hermann Franz eingestehen<br />

mußte.<br />

Einen „qualitativen Sprung in der Sicherheit“<br />

verspricht Siemens denn auch für die neue<br />

Reaktorlinie, die sie derzeit zusammen mit<br />

der französischen Atomfirma „Framatome“<br />

entwickelt. Die „Nuclear Power International“<br />

(NPI) – gemeinsame Tochter beider<br />

Konzerne – führt das Projekt unter der<br />

Bezeichnung „European Pressurized Water<br />

Reactor“ (EPR, Europäischer Druckwasser-<br />

Reaktor). Er „soll die Erfahrungen beider<br />

Länder auf dem Gebiet der Druckwasserreaktor-Kernkraftwerke<br />

in einer gemeinsamen<br />

Weiterentwicklung zusammenführen <strong>und</strong> die<br />

deutsche Konvoi-Baulinie sowie die französische<br />

N4-Baureihe ablösen“, teilte Siemens<br />

mit. Ein revolutionär neues Atomkraftwerkskonzept<br />

ist somit nicht zu erwarten.<br />

Wirtschaftlich wichtig ist für Framatome <strong>und</strong><br />

Siemens, daß der EPR sowohl in Frankreich<br />

als auch in Deutschland genehmigungsfähig<br />

sein soll. Gemäß einem bereits mehrfach<br />

verlängerten Zeitplan sieht Siemens jetzt von<br />

einen „frühest möglichen Baubeginn“ für<br />

1998/99 vor. Dabei sind die nationalen<br />

Genehmigungsfristen bereits Bestandteil der<br />

Planung. Die „erhöhte Sicherheit des EPR“<br />

wollen seine Entwickler unter anderem<br />

„durch die Weiterentwicklung im Vorsorgebereich“<br />

erreichen. Ziel sei es, „das Eintreten<br />

von Störfällen so unwahrscheinlich zu<br />

machen, daß sie nach den Maßstäben der<br />

praktischen Vernunft ausgeschlossen werden<br />

können“, verlautete Siemens.<br />

„Etwas wirklich neues ist nicht zu erkennen“,<br />

kontert Lothar Hahn diese Versprechungen.<br />

Der Atomkraft-Experte am Öko-Institut in<br />

Ein unerträglicher Parteienstreit<br />

Darmstädter Sezession erwartet in<br />

zwei Erklärungen eine sach- <strong>und</strong><br />

fachgerechte Diskussion über die<br />

Absage der Sironi-Ausstellung<br />

Die Darmstädter Sezession<br />

verwahrt sich mit<br />

aller Entschiedenheit<br />

gegen das Ansinnen<br />

der B<strong>und</strong>estagsabgeord<strong>net</strong>en<br />

Frau Dr. Sissy<br />

Geiger, einem Neofaschisten<br />

die Ausstellungshallen der Mathildenhöhe<br />

als Selbstdarstellungsforum anzubieten.<br />

Die Diskussion um Sironi eskaliert zu einem<br />

Höhepunkt schädlicher, mittlerweile nur<br />

politischer Argumente <strong>und</strong> eifert aus in unerträglichem<br />

parteipolitischen Streit. Mit diesen<br />

Querelen wird die Darmstädter kulturelle<br />

Szene nicht nur hier, sondern darüberhinaus<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik in Mißkredit gebracht.<br />

Der Vorstand der Darmstädter Sezession<br />

Sämtliche Aktivitäten im Umkreis der zu<br />

Recht umstrittenen Sironi-Ausstellung legen<br />

die Vermutung nahe, die Darmstädter Kunstszene,<br />

federführend durch Institutionen wie<br />

die Mathildenhöhe <strong>und</strong> die Darmstädter<br />

Sezession, zu demontieren. Die parteipolitischen<br />

Auseinandersetzungen sollten auf<br />

anderen Schultern, als denen der Kunst ausgetragen<br />

werden. Ausstellungsmacher, ob<br />

die der Darmstädter Sezession oder der<br />

Mathildenhöhe, werden immer umstritten<br />

sein. Das bisherige Darmstädter Kunstgeschehen<br />

hat stets weiterreichendere Wirkung<br />

gezeigt, als die notwendige Lokalpolitik.<br />

Um schädliche, unnötige Auseinandersetzungen<br />

zu vermeiden, erwartet die Darmstädter<br />

Sezession eine sach- <strong>und</strong><br />

fachgerechte Diskussion.<br />

Der Vorstand der Darmstädter Sezession<br />

Die Zeitung für Darmstadt druckt Briefe an die Redaktion<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich unverändert.<br />

!<br />

Ausgenommen sind Schreib- <strong>und</strong><br />

Grammatikfehler sowie Wiederholungen. Für Kürzungen wird die<br />

Zustimmung der AutorInnen eingeholt. Inhaltliche auch politische<br />

Änderungen werden nicht angebracht <strong>und</strong> auch nichts hinzugefügt.<br />

Die Briefe geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.<br />

Darmstadt sieht „bislang nicht plausibel dargelegt“,<br />

weshalb Kernschmelzunfälle beim<br />

EPR deutlich seltener auftreten werden, als<br />

bei den derzeit betriebenen Druckwasser-<br />

Reaktoren.<br />

Tatsächlich kann Siemens – nach den Worten<br />

ihres Sprechers Hans-Joachim Preuss –<br />

„zu technischen Details“ wegen des frühen<br />

Planungsstands „noch nicht seriös Stellung<br />

nehmen“. Hahn wirft der Firma deshalb vor:<br />

„Man kann nicht behaupten, daß man die<br />

Ziele erreicht, ohne etwas konkretes vorzulegen.“<br />

Ähnlich vage wird die Diskussion darüber<br />

geführt, was im EPR passiert, wenn sich<br />

trotz aller „Vorsorgemaßnahmen“ ein<br />

schwerer Unfall ereig<strong>net</strong>, bei dem der Reaktorkern<br />

zu schmelzen beginnt. „Bei den<br />

Druckwasser-Reaktoren derzeitiger Bauart<br />

muß damit gerech<strong>net</strong> werden“, warnt Atomkritiker<br />

Hahn, „daß im Verlauf eines Kernschmelzunfalls<br />

der Sicherheitsbehälter<br />

bereits wenige St<strong>und</strong>en nach Unfallbeginn<br />

versagt <strong>und</strong> daß es zu massiven Radioaktivitätsfreisetzungen<br />

kommt.“<br />

Siemens-Sprecher Preuss widerspricht dieser<br />

Befürchtung, denn Betriebserfahrung<br />

<strong>und</strong> Sicherheitsforschung hätten für die<br />

deutschen Atomkraftwerke „hohe Sicherheitsreserven<br />

ausgewiesen“. Selbst bei<br />

schweren Störfällen könnten massive Radioaktivitätsfreisetzungen<br />

daher ausgeschlossen<br />

werden.<br />

„Wer das behauptet“, entgeg<strong>net</strong> ihm Hahn,<br />

„ist nicht auf dem Stand der Dinge oder will<br />

die Öffentlichkeit wider besseres Wissen täuschen.“<br />

Zwischen Gegnern <strong>und</strong> Befürwortern<br />

der Atomenergienutzung bestehe Einigkeit<br />

darüber, daß bei einem Unfall mit Kernschmelze<br />

die Freisetzung großer Radioaktivitätsmengen<br />

zu befürchten sei. Für die<br />

Beherrschung der Phänomene während<br />

eines Kernschmelzunfalls „sind im EPR-Konzept<br />

noch keine überzeugenden Lösungen<br />

beschrieben, die einer ernsthaften Überprüfung<br />

standhalten könnten“, urteilt Hahn.<br />

„Insofern ist in keiner Weise plausibel dargelegt,<br />

daß mit dem EPR das verschiedentlich<br />

vorgegebene Sicherheitsziel erreicht werden<br />

könnte.“<br />

Wenn es eine Zukunft der Atomenergie in<br />

Deutschland geben sollte, wird der Siemens-<br />

Konzern in jedem Fall der zentrale Technologielieferant<br />

sein. Nicht nur für die Kraftwerke<br />

selbst, sondern auch für die Produktion der<br />

atomaren Brennelemente besitzt Siemens in<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik faktisch ein Monopol.<br />

Das Ultragift Plutonium wird ebenfalls nur<br />

von Siemens verarbeitet. Im skandalumwitterten<br />

Brennelemente-Werk Hanau verarbeitet<br />

es der Konzern mit Uran zu den besonders<br />

gefährlichen „MOX-Brennelementen“.<br />

Zudem will Siemens die Laufzeit alter unsicherer<br />

Atomkraftwerke in den ehemaligen<br />

Ostblockstaaten durch vermeintliche technische<br />

Nachbesserungen verlängern.<br />

Das Bündnis der Anti-Atom-Initiativen hat<br />

deshalb sehr bewußt den Siemens-Konzern<br />

als Angriffspunkt gewählt. Die Atomkritiker<br />

rufen alle Verbraucherinnen <strong>und</strong> Verbraucher<br />

auf, Siemens-Produkte zu boykottieren.<br />

Damit wollen sie einen wirtschaftlichen<br />

Druck erzeugen, der den Atommonopolisten<br />

zum Ausstieg zwingt. „Wir fordern vom Siemens-Konzern,<br />

das Atomgeschäft aufzugeben<br />

<strong>und</strong> alle seine Atombetriebe zu<br />

schließen“, heißt es in ihrem Boykottaufruf.<br />

„Siemens darf weder neue Atomkraftwerke<br />

planen, entwickeln oder bauen, noch die<br />

Laufzeit bestehender Atomanlagen verlängern.<br />

Wir fordern, jede Verarbeitung von<br />

Uran <strong>und</strong> Plutonium zu beenden.“<br />

Unterzeich<strong>net</strong> wurde der Boykottaufruf bislang<br />

von mehr als siebzig Organisationen,<br />

darunter der federführende Anti-Atom-Laden<br />

Berlin, die Arbeitsstelle für Umweltfragen der<br />

Evangelischen Kirche Hessen-Nassau, der<br />

B<strong>und</strong>esverband Bürgerinitiativen Umweltschutz,<br />

die Christlichen Demokraten gegen<br />

Atomkraft, der B<strong>und</strong>esverband Bündnis<br />

90/Die Grünen, der Dachverband der Kritischen<br />

Aktionärinnen <strong>und</strong> Aktionäre, die B<strong>und</strong>esverbände<br />

der Evangelischen StudentInnengemeinden<br />

<strong>und</strong> der Katholischen Jungen<br />

Gemeinden, die Berliner Jusos, die Mütter<br />

gegen Atomkraft, die Oberösterreichische<br />

überparteiliche Plattform gegen Atomgefahr<br />

sowie der Ökologische Ärzteb<strong>und</strong> <strong>und</strong> Pax<br />

Christi.<br />

Für einen Verbraucherboykott bietet Siemens<br />

zahllose Angriffspunkte, denn von der<br />

Glühbirne bis zum Atomkraftwerk produziert<br />

der Konzern fast alles, was mit Strom zu tun<br />

hat. Größter Geschäftsbereich ist die Fern-<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 18<br />

meldetechnologie. Weltweit errichtet der<br />

Konzern für Telefongesellschaften schlüsselfertige<br />

Vermittlungsanlagen. Aber auch Endgeräte<br />

für den privaten Telefonk<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

Nebenstellenanlagen für Firmen <strong>und</strong> Behörden<br />

gehören zum Sortiment von Siemens<br />

<strong>und</strong> ihrer bedeutendsten Tochter auf diesem<br />

Gebiet, der amerikanischen Rolm. Für die<br />

digitalen Mobiltelefone der sogenannten „D-<br />

Netze“, die in zwölf europäischen Ländern<br />

betrieben werden, ist der deutsche Elektronikriese<br />

ebenfalls einer der führenden Lieferanten.<br />

Waschmaschinen, Kühlschränke, Staubsauger<br />

<strong>und</strong> andere Haushaltshilfen finden sich<br />

im Siemens-Sortiment als Produkte der<br />

„Bosch-Siemens Hausgeräte GmbH“<br />

(BSHG). Die 1967 gegründete Firma gehört<br />

je zu Hälfte den beiden Mutterkonzernen, die<br />

baugleiche Geräte unter den jeweils eigenen<br />

Firmenbezeichnungen verkaufen. Der Autoindustrie<br />

liefert Siemens elektrische <strong>und</strong><br />

elektronische Bauteile zu – für Motorsteuerung,<br />

Heizung, Klimaanlage <strong>und</strong> Airbag beispielsweise.<br />

Zumindest beim Kauf von<br />

Ersatzteilen können also auch boykottwillige<br />

Autofahrer den Atomausstieg unterstützen.<br />

Gut 13 Prozent vom Konzernumsatz trägt<br />

das Computergeschäft der „Siemens Nixdorf<br />

Informationssysteme AG“ (SNI). Fast acht<br />

Milliarden Mark Umsatz machen die Medizintechnik<br />

zum viertgrößten Siemens-Konzernbereich.<br />

Bei jeder einzelnen Kaufentscheidung<br />

in diesem Geschäftsbereich geht<br />

es um fünf- bis siebenstellige D-Mark-Beträge.<br />

Die Atomkritiker hoffen deshalb vor allem<br />

auf die Teilnahme vieler niedergelassener<br />

Ärzte am Boykott. Und daß ihr Ziel erreichbar<br />

ist, haben sie in Ihrem Aufruf beziffert: „Das<br />

Atomgeschäft betrug 1991/92 zweieinhalb<br />

Prozent vom Umsatz des gesamten Konzerns.<br />

Senken wir den Siemens-Umsatz in<br />

ähnlicher Höhe.“<br />

Mit einem konkreten Handlungsvorschlag<br />

appelliert das Boykottbündnis an die Verbraucher:<br />

„Zwingen wir Siemens, die Atombetriebe<br />

stillzulegen <strong>und</strong> in zukunftsweisende<br />

Techniken zu investieren. Verzichten wir<br />

deshalb auf Siemens-Produkte – so lange<br />

wie nötig <strong>und</strong> so konsequent wie möglich.<br />

Und informieren wir die Konzernleitung in<br />

80312 München, Wittelsbacherplatz 2,<br />

Fax: 089/2344242 über jede einzelne Kaufentscheidung<br />

gegen einen Siemens-Artikel.“<br />

Henry Mathews<br />

Weitere Informationen: Koordinationskreis<br />

Siemens-Kampagne, Postfach 610285,<br />

10924 Berlin, Fax: 030/2291822. Spenden<br />

zur Unterstützung der Boykottkampagne auf<br />

das Konto des Anti-Atom-Laden Berlin, Konto:<br />

331 68 00, bei der Bank für Sozialwirtschaft,<br />

BLZ 100 205 00.<br />

IPPNW beschließt Boykott<br />

Vergangenes Wochenende (22./23.) hat sich<br />

die „Vereinigung Internationale Ärzte für die<br />

Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) in<br />

Mainz einem Boykott gegen Siemens angeschlossen.<br />

Zunächst sollen die b<strong>und</strong>esweit<br />

10.000 IPPNW-ÄrztInnen <strong>und</strong> dann nach<br />

<strong>und</strong> nach alle niedergelassenen ÄrztInnen in<br />

Deutschland schriftlich aufgefordert werden,<br />

keine medizinisch-technischen Geräte von<br />

Siemens – wie Röntgengeräte, Zahnarztausrüstungen<br />

oder Ultraschallgeräte – mehr zu<br />

kaufen. Der Boykott soll so lange gelten, bis<br />

Siemens „auf Planung <strong>und</strong> Bau von Atomkraftwerken<br />

verzichtet <strong>und</strong> aus der Plutoniumwirtschaft<br />

aussteigt“. („FR“ vom 25.1.)<br />

Partnership<br />

for Peace<br />

Ein „Dreckfuler-Teufel“ in der ZD-<br />

Ausgabe 61<br />

Leider war es nicht, wie so oft der „Dreckfuler-Teufel“,<br />

sondern ein Abtipp-Fehler von<br />

mir, der eine Sinnentstellung des Zitats von<br />

Präsident Clinton hervorgerufen hat. Es muß<br />

natürlich „Investition“ (letzter Absatz) <strong>und</strong><br />

nicht „Invention“ heißen. Es ist von ihm wirklich<br />

Kurswechsel <strong>und</strong> nicht nur ein launiger<br />

Einfall gemeint. Clinton <strong>und</strong> seine Frau haben<br />

das Dorfbank-Modell studiert <strong>und</strong> den Initiator<br />

Prof. Yunus für den Friedens-Nobelpreis<br />

vorgeschlagen, weil es ihm gelungen ist, die<br />

Ärmsten zu Geschäftspartnerschaft – Partnership<br />

for Peace – einzuladen, <strong>und</strong> sie nicht<br />

mit Almosen zu demütigen.<br />

Ruth Ruhemann, Bürgerlobby Resultate


Das Tête-à-tête von<br />

Frau Geiger<br />

Die Stadtverord<strong>net</strong>enfraktion<br />

der Grünen ist verw<strong>und</strong>ert über das Tête-àtête<br />

der <strong>CDU</strong>-Politikerin Sissy Geiger mit<br />

einem Repräsentanten der neofaschistischen<br />

Bewegung Italiens, Bruno Zoratto.<br />

Wir können uns ihre uneingeschränkte Sympathie<br />

für dessen Beurteilung der Absage der<br />

Sironi-Ausstellung durch die Stadt Darmstadt<br />

nur damit erklären, daß sie auf diesen<br />

sogenannten Vertreter in Deutschland lebender<br />

Italiener ohne Wissen über seine politische<br />

Zugehörigkeit hereingefallen ist. Dabei<br />

belegt gerade ein solcher Vorgang besonders<br />

eindrucksvoll, daß kein Künstler im politikfreien<br />

Wolkenkuckucksheim schweben<br />

kann – selbst wenn er es wollte. Denn alle<br />

Kunst, die sich einer breiten Öffentlichkeit<br />

präsentiert, kann sich der politischen Inanspruchnahme<br />

niemals entziehen.<br />

Im übrigen gibt es auch im künstlerischen<br />

Werdegang Sironis genügend Hinweise, daß<br />

er sich bewußt politisch engagiert hat. Wie<br />

alle anderen futuristischen Künstler (außer<br />

Severini) nahm er schon 1914 an K<strong>und</strong>gebungen<br />

teil, die den Eintritt Italiens in den 1.<br />

Weltkrieg forderten <strong>und</strong> sich dabei mit Mussolini<br />

befre<strong>und</strong>ete. Außerdem wäre es ein<br />

Mißverständnis, aufgr<strong>und</strong> des damals<br />

modernen Formenrepertoires der Futuristen<br />

darauf zu schließen, daß diese noch frei von<br />

faschistischen Elementen gewesen wären.<br />

Schließlich eb<strong>net</strong>e gerade der nationalistische<br />

Ehrgeiz der modernen futuristischen<br />

Künstler schon früh dem italienischen<br />

Faschismus den Weg.<br />

Nach Ansicht der Grünen wäre deshalb eine<br />

Ausstellung sinnvoll gewesen, die eben diese<br />

Zusammenhänge umfassend beleuchtet<br />

hätte. Wir bedauern, daß diese Chance Hals<br />

über Kopf vertan wurde.<br />

Sironi:<br />

Ein Makel bleibt<br />

Mit dürftigen Argumenten<br />

versuche die SPD davon abzulenken, daß sie<br />

zusammen mit Oberbürgermeister Peter<br />

Benz ein Klima erzeugt habe, in dem es Wolbert<br />

nicht mehr verantworten wollte, eine<br />

Ausstellung des Italieners Sironi durchzuführen.<br />

Die Berufung auf die „Kunstexperten“<br />

der SPD-Fraktion wirke dabei besonders<br />

peinlich.<br />

Dazu die <strong>CDU</strong>-Fraktionsvorsitzende Karin<br />

Wolff: „Zensur heißt, die Auseinandersetzung<br />

mit einem Kunstwerk unterbinden, weil<br />

der Künstler eine falsche politische Einstellung<br />

hat.“ Noch bevor ein Bild Sironis in<br />

Darmstadt zu sehen sei, werde diese Zensur<br />

beschlossen. Hätte nicht die Bürgerschaft<br />

selbst sich ein Urteil bilden, die Werke<br />

begutachten <strong>und</strong> bewerten können, fragt die<br />

<strong>CDU</strong>, ebenso wie die Bürger frei seien, ihre<br />

Meinung zum Theaterprogramm zu äußern.<br />

Habe man nicht in Darmstadt auch schon<br />

Künstler gesehen <strong>und</strong> gehört, die sich zum<br />

Kommunismus bekannten?<br />

Mittlerweile scheint die SPD das Thema<br />

Sironi als Hebel zu benutzen, um den Direktor<br />

der Mathildenhöhe sturmreif zu<br />

schießen. Ziel dieser Aktion sei es, dem<br />

Oberbürgermeister einen Partner vom Hals<br />

zu schaffen, mit dem er sich offenbar nicht<br />

verstehe <strong>und</strong> der ihm mit seiner Kompetenz<br />

hin <strong>und</strong> wieder im Wege stehe. Die Mohrenwäsche,<br />

die die SPD versuche, habe auch<br />

den Kulturreferenten beschädigt. Am meisten<br />

habe aber der Ruf Darmstadts in dieser<br />

Sache gelitten.<br />

Badefreuden ade?<br />

Der Vorsitzende der SPD-<br />

Fraktion Horst Knechtel befürchtet, daß das<br />

Familienbad am Woog zu Beginn der Badesaison<br />

1994 noch nicht fertiggestellt <strong>und</strong><br />

geöff<strong>net</strong> sein wird. Knechtel verweist darauf,<br />

daß bereits zwei zugesagte Fertigstellungstermine,<br />

nämlich zuerst der Mai 93 <strong>und</strong> dann<br />

das Ende der Badesaison, der September<br />

93, verstrichen sind, ohne daß die Fertigstellung<br />

<strong>und</strong> Eröffnung bis jetzt ersichtlich seien.<br />

Dabei könne man die Schuld für diese<br />

Verzögerungen auch nicht darauf schieben,<br />

daß etwas Unvorhersehbares, wie es bei<br />

alten Bauwerken z.B. auch der Sanierung<br />

des Kranichsteiner Schlosses immer wieder<br />

feststellbar gewesen sei, für die Verzögerungen<br />

verantwortlich gemacht werden müsse.<br />

Sei doch das alte Bauwerk bis auf die<br />

Gr<strong>und</strong>mauern abgetragen worden <strong>und</strong> stelle<br />

das jetzt erstellte eine Kopie des ursprünglichen<br />

dar.<br />

Der Eindruck, daß der für die Bauabwicklung<br />

zuständige Dezernent Dr. Wolfgang Rösch<br />

(<strong>CDU</strong>) nicht in der Lage sei, einen solchen<br />

Bau ordentlich <strong>und</strong> innerhalb der von ihm<br />

selbst gesetzten Terminvorgaben abzuwickeln,<br />

sei inzwischen einfach nicht mehr<br />

von der Hand zu weisen. Ein besonderes<br />

Kapitel stelle in diesem Zusammenhang<br />

offensichtlich auch der Umgang von Rösch<br />

mit den von der Stadt beauftragten Architekten<br />

dar. Hier gebe es unnötige Reibungsverluste<br />

in der Zusammenarbeit durch unklare<br />

Abmachungen über zu erbringende Leistungen<br />

<strong>und</strong> Honorare. Im Fall des Familienbades<br />

sei es wohl auch so, daß Rösch den Vertrag<br />

mit dem Architekten aufgekündigt habe,<br />

weil dieser es gewagt hatte, die Mängel bei<br />

der Bauvorbereitung <strong>und</strong> Bauabwicklung<br />

öffentlich zu kritisieren. Dies seien Versuche,<br />

aus Rechthaberei berechtigte Kritik zu<br />

vermeiden <strong>und</strong> Streitereien auf Kosten der<br />

Stadt zu provozieren, die zu solchen Zeitverzögerungen<br />

führen.<br />

Kein Zeichen für<br />

jüngere Künstler<br />

Auf der letzten Sitzung der<br />

Jury wurde entschieden, wer das Mahnmal<br />

zum Gedenken an das Ende des zweiten<br />

Weltkrieges gestaltet. Thomas Duttenhöfer<br />

konnte sich mit seiner Arbeit durchsetzen,<br />

da die Mehrheit der Jury vor allem dessen<br />

Standortwahl auf dem Kapellplatz bevorzugte.<br />

Ausschlaggebend war die Stimme von<br />

Oberbürgermeister Benz.<br />

Duttenhöfer zählt zweifelsfrei zu den besten<br />

Bildhauern in Darmstadt. Nach Ansicht des<br />

Grünen Stadtverord<strong>net</strong>en Klaus Feuchtinger<br />

wurde aber die Chance verspielt, für jüngere<br />

Künstler ein Zeichen zu setzen, daß für sie in<br />

Darmstadt „noch nicht alle Fahrstühle nach<br />

oben“ von Sezessionsmitgliedern besetzt<br />

sind.<br />

Die Grüne Fraktion bedauert deshalb diese<br />

Entscheidung – insbesondere auch deshalb,<br />

weil die konkurrierenden Entwürfe ebenfalls<br />

von hohem Niveau waren. „Da im Vorfeld<br />

der Wettbewerbsausschreibung öffentlich<br />

gr<strong>und</strong>sätzliche Bedenken über den Sinn<br />

eines weiteren Mahnmales in Darmstadt<br />

erhoben wurden, hätte die Auswahl eines<br />

jungen Künstlers dem gesamten Verfahren<br />

eine neue Qualität gegeben“, so Klaus<br />

Feuchtinger weiter. Das sei von der Jurymehrheit<br />

nicht erkannt worden.<br />

Amerikanerinnen<br />

in die Frauenkommission<br />

Auf dem Neujahrsempfang<br />

der US-Streitkräfte in der Cambrai-Fritsch-<br />

Kaserne wurden nicht nur Neujahrswünsche<br />

ausgetauscht <strong>und</strong> Hände geschüttelt. Die<br />

stellvertretende Fraktionsvorsitzende der<br />

Grünen, Doris Fröhlich, nutzte die Gelegenheit,<br />

um Brigadegeneral Joseph. G. Garett<br />

den Vorschlag zu machen, Repräsentantinnen<br />

der Amerikanischen Streitkräfte bei der<br />

Bildung der Frauenkommission für Darmstadt<br />

zu berücksichtigen.<br />

Nach §72 der Hessischen Gemeindeordnung<br />

(HGO) kann der Gemeindevorstand zur dauernden<br />

Verwaltung oder Beaufsichtigung<br />

einzelner Geschäftsbereiche sowie zur Erledigung<br />

vorübergehender Aufträge Kommissionen<br />

bilden. In Darmstadt soll eine Frauenkommission<br />

den Gemeindevorstand in Fragen<br />

der Gleichstellung von Männern <strong>und</strong><br />

Frauen am Arbeitsplatz <strong>und</strong> in der Stadt<br />

beraten <strong>und</strong> Empfehlungen vorschlagen.<br />

Nach Ansicht von Doris Fröhlich sollten auf<br />

PARTEIEN - STANDPUNKTE I<br />

jeden Fall auch Vertreterinnen der Soldatinnen<br />

oder der Partnerinnen von amerikanischen<br />

Soldaten in die Arbeit der Frauenkommission<br />

einbezogen werden. „Denn das Ziel<br />

der Kommission ist es, die Situation der<br />

Frauen in Darmstadt zu verbessern. Das<br />

schließt auch die Amerikanerinnen mit ein“,<br />

so Doris Fröhlich.<br />

Sie verspricht sich davon, daß die Beziehungen<br />

zwischen deutschen <strong>und</strong> amerikanischen<br />

Frauen verbessert werden, daß Ideen<br />

ausgetauscht werden <strong>und</strong> daß die Amerikanerinnen<br />

ihre speziellen Probleme einbringen<br />

können, die sie hier in der Stadt haben.<br />

Doris Fröhlich erinnert an die Verdienste der<br />

US-Frauenbewegung für die Emanzipation<br />

<strong>und</strong> hofft auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.<br />

Brigadegeneral Garett <strong>und</strong> Oberbürgermeister<br />

Benz sagten zu, diesen Vorschlag zu<br />

unterstützen<br />

Frauenbevorm<strong>und</strong>ung<br />

bleibt<br />

Zum Urteil im Revisionsprozeß<br />

gegen Horst Theissen erklärt Heide Rühle,<br />

politische Geschäftsführerin von Bündnis<br />

90/ Die Grünen:<br />

Auch nach dem zweiten Urteil, das das<br />

Memminger Strafmaß reduzierte, gilt: Die<br />

Streichung des § 218 ist überfällig. Solange<br />

es diesen Paragraphen gibt, wird den Frauen<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik das Recht abgesprochen,<br />

über ihren Körper zu bestimmen.<br />

Das Urteil von Augsburg <strong>und</strong> die Entscheidung<br />

des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom<br />

letzten Jahr unterstreichen die Frauenpolitik<br />

dieser B<strong>und</strong>esregierung. Nichts ist übriggeblieben<br />

vom so hochgelobten Prinzip „Hilfe<br />

statt Strafe“. Die Zukunft verspricht für Mütter<br />

mit Kindern Doppel- <strong>und</strong> Dreifachbelastung<br />

ohne Aussicht auf ausreichende Versorgung<br />

<strong>und</strong> Unterbringung von Kindern, oft<br />

am Rande des Existenzminimums. Sie verspricht<br />

den Frauen, die sich diesem System<br />

nicht unterziehen wollen, diskriminierende<br />

Fragen, Einschüchterung <strong>und</strong> Konfrontation<br />

mit jeder Menge Doppelmoral. Männerurteile<br />

wie in Memmingen, Karlsruhe <strong>und</strong> Augsburg<br />

wird es auch weiter geben – es sei<br />

denn, dieser Paragraph fällt endlich.<br />

Siebert: 100 Tage<br />

Bürgermeister<br />

Der grüne Bürgermeister<br />

Michael Siebert hat seine ersten Gehversuche<br />

im Amt hinter sich. Die <strong>CDU</strong>-Fraktion<br />

bescheinigt ihm ausdrücklich, daß er sie<br />

nicht im Heu ausgestreckt verbracht hat, wie<br />

seine Wahlwerbung fürchten ließ. Vielmehr<br />

läßt der Bürgermeister keinen Tag vergehen,<br />

ohne daß er Akten <strong>und</strong> politische Vorgänge<br />

einsammelt, um sie erst einmal bei sich zu<br />

behalten <strong>und</strong> zu begutachten. Er übertrifft im<br />

„Ansichziehen“ den Alt-Oberbürgermeister<br />

Metzger.<br />

Auf diese Weise werden wesentliche Themen<br />

verschleppt:<br />

– der Bau der Arheilger B3-Umgehung, weil<br />

er Umplanungen fordert, die Millionen <strong>und</strong><br />

Jahre kosten <strong>und</strong> nur neue Prozesse zur Folge<br />

haben.<br />

– eine leistungsfähige <strong>und</strong> umweltfre<strong>und</strong>liche<br />

Energieversorgung, in vertrauensvoller<br />

Zusammenarbeit mit den Tochterunternehmen<br />

Wärmeversorgung in Kranichstein ist<br />

gefährdet.<br />

– der Marienplatz; statt städtebaulicher Pläne<br />

gibt es jetzt erst mal Parkgebührenautomaten,<br />

– Flächenrecycling im Gewerbegebiet, von<br />

Gutachtern empfohlen <strong>und</strong> für Grüne eigentlich<br />

eine Herzensangelegenheit, wird nicht<br />

weitergedacht.<br />

Fairerweise muß eingeräumt werden, so die<br />

<strong>CDU</strong>-Fraktionsvorsitzende Karin Wolff, daß<br />

Siebert Altlasten aus der Metzger-Ära wie<br />

Schlachthof <strong>und</strong> Marienplatz übernommen<br />

hat.<br />

Die Verschleppung der B3-Umgehung<br />

betreibt er mit Oberbürgermeister Benz<br />

gemeinsam <strong>und</strong> nachdrücklich.<br />

Doch die genannten Themen aus den Berei-<br />

chen Verkehr, Umwelt, Energieversorgung,<br />

Planung für die wenigen noch verfügbaren<br />

Flächen in Darmstadt, sind ein „Paket“.<br />

Wenn Notwendiges in allen diesen Feldern<br />

„ausgebremst“ wird, kommt es bald zum<br />

Stillstand der ganzen Stadtentwicklung.<br />

Kritik übt die <strong>CDU</strong> auch an der Informationspolitik<br />

des Bürgermeisters. Bei der Frage der<br />

Müllgebühren habe Siebert, vorbei an Magistrat<br />

<strong>und</strong> Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung,<br />

die Bürger über seine neuen Pläne informiert,<br />

<strong>und</strong> sich als Retter in der Krise feiern<br />

lassen. Über die PCB-Problematik dagegen<br />

berichte er weder der betroffenen Schule<br />

(Busch-Schule) noch den Mandatsträgern.<br />

PCB sei auch ein Beispiel, wie grüne Politik<br />

der vergangenen Jahre „über Nacht“ um 180<br />

Grad gewendet worden ist.<br />

Zur Fernwärmeversorgung<br />

in<br />

Kranichstein<br />

Mit einer Großen Anfrage hat<br />

die <strong>CDU</strong>-Fraktion versucht, Aufklärung über<br />

die Wärmeversorgung in Kranichstein zu<br />

erhalten. Die Antwort des Magistrats läßt an<br />

Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Auf<br />

die Frage, welche Vorsorge im städtischen<br />

Haushalt getroffen worden sei, um die Kranichsteiner<br />

Bevölkerung sicher <strong>und</strong> langfristig<br />

mit Wärme zu versorgen, lautet die lapidare<br />

Antwort „keine“.<br />

Widersprüchlich sind die Einlassungen des<br />

Versorgers: Am 7. Oktober sagt die Südhessische,<br />

„somit entfällt die mögliche Absicherung<br />

für Kranichstein im Störungsfall“, zwei<br />

Monate später zitiert Oberbürgermeister<br />

Benz die Südhessische mit der Erklärung,<br />

daß die „Versorgung in keiner Weise beeinträchtigt<br />

sei“. Wieder zwei Tage später stellt<br />

die Südhessische fest: „...kann die Wärmeversorgung<br />

nur bis plus 2 Grad gewährleistet<br />

werden“.<br />

Bisher ist es den Kranichsteinern erspart<br />

geblieben, die Nagelprobe auf diesen Widerspruch<br />

am eigenen Leibe zu erleben. Der<br />

Störfall ist nicht eingetreten, die Außentemperaturen<br />

sind mild. Dennoch bleibt ein<br />

Unbehagen zurück, die Kranichsteiner, die ja<br />

einem Fernwärme-Anschlußzwang unterliegen,<br />

können nicht sicher sein, daß auch<br />

unter ungünstigeren Umständen die Versorgung<br />

gewährleistet ist. „Wenn die Kranichsteiner<br />

in diesem Winter nicht mit klammen<br />

Fingern <strong>und</strong> kalten Füßen unter dem Weihnachtsbaum<br />

sitzen mußten, verdanken sie<br />

dies eher Petrus als der Umsicht <strong>und</strong> Fürsorge<br />

der Stadt <strong>und</strong> der politisch Verantwortlichen“,<br />

stellt die <strong>CDU</strong> fest.<br />

Nicht dramatisieren wollen<br />

die Grünen den öffentlichen Wirbel um die<br />

Fernwärmeversorgung.<br />

Seit Jahren hat sich für diese Aufgabe niemand<br />

so richtig verantwortlich gefühlt. Diese<br />

unklaren Verhältnisse waren auch ein<br />

Gr<strong>und</strong>, warum Grüne <strong>und</strong> SPD eine Regelung<br />

in ihre Koalitionsvereinbarung aufgenommen<br />

haben, die die „Förderung des<br />

Kraft-Wärme-Verb<strong>und</strong>es“ betrifft.<br />

Im Koalitionsvertrag steht: „Beteiligung der<br />

Stadt an der BHKW-GmbH durch Einbringung<br />

der Fernheizwerke <strong>und</strong> Leitungssysteme<br />

(Sicherstellung eines maßgeblichen<br />

städtischen Einflusses statt Fernheizwerkeverkauf).<br />

Bau des Fernwärmeverb<strong>und</strong>es<br />

Arheilgen/Kranichstein <strong>und</strong> Sanierung der<br />

verlustreichen Leitungsstrecken durch die<br />

BHKW GmbH bei offenen Ausschreibungen<br />

<strong>und</strong> Beteiligung der ,Hessen-Energie’.“<br />

„Als zuständiger Dezernent hat sich Michael<br />

Siebert lediglich an die Koalitionsvereinbarung<br />

gehalten <strong>und</strong> einen Vorschlag zur<br />

Umsetzung unterbreitet“, sagt Günter Mayer,<br />

der Fraktionsvorsitzende der Grünen.<br />

Laut „Darmstädter Echo“ vom 2.12.93 hat<br />

der Magistrat Bürgermeister Siebert beauftragt,<br />

Verbesserungen im Vertrag mit der<br />

Südhessischen auszuhandeln.<br />

„Deshalb verstehen wir die ganze Aufregung<br />

nicht. Siebert handelte im Einklang mit der<br />

Koalitionsvereinbarung <strong>und</strong> im Auftrag des<br />

Magistrats“, so Günter Mayer weiter. Von<br />

einem Alleingang oder Illoyalität könne deshalb<br />

keine Rede sein. Die Grünen sehen deshalb<br />

auch keinen Gr<strong>und</strong> für disziplinarische<br />

Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 19<br />

Maßnahmen, mit denen Oberbürgermeister<br />

Benz droht.<br />

Wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat,<br />

wird man sehen, daß Siebert in Sorge um<br />

das Gemeindevermögen tätig geworden ist.<br />

Und das kann man ihm nun wirklich nicht<br />

zum Vorwurf machen. Günter Mayer plädiert<br />

dafür, daß sich die Beteiligten um eine<br />

Lösung in der Sache bemühen sollten, ohne<br />

sich von Emotionen leiten zu lassen.<br />

Müll: Siebert hat<br />

zuviel versprochen<br />

Die Darmstädter sparen Müll<br />

wie die Weltmeister. 8.000 Änderungsanträge<br />

hat das Fuhr- <strong>und</strong> Reinigungsamt auf Reduzierung<br />

der Tonnen bekommen. Mindestens<br />

ein Vierteljahr wird die Umstellung<br />

dauern. Inzwischen flattern den Bürgerinnen<br />

<strong>und</strong> Bürgern Gebührenbescheide ins Haus –<br />

wegen der Erhöhung der Gr<strong>und</strong>steuer –, die<br />

den Nachlaß für die kleinere Tonnen nicht<br />

berücksichtigen. Das ärgert die Bürger, weil<br />

sie sehen, daß die Erhöhung bei der Steuer<br />

sofort greift, die Ermäßigung beim Müll aber<br />

auf sich warten läßt.<br />

„Die Toleranz der Leute ist durch die hohen<br />

Abgabelasten gesunken“, stellt die <strong>CDU</strong> fest.<br />

Bürgermeister Siebert habe sich als den<br />

Müllgebührenreformer feiern lassen, aber<br />

nicht bedacht, daß die Organisationsänderungen<br />

längeren Vorlauf brauchen. Er setzt<br />

damit nicht nur seine Ämter einem Riesendruck<br />

aus, sondern verärgert die Bürgerschaft.<br />

Die <strong>CDU</strong> hat auch Zweifel, ob die Gebührenordnung,<br />

die Siebert zugr<strong>und</strong>egelegt hat,<br />

überhaupt Bestand hat, wenn viel weniger<br />

Müllvolumen nachgefragt wird. Vielleicht<br />

müsse Siebert schon bald wieder mit einer<br />

Gebührenerhöhung auf der Matte stehen.<br />

Schließlich müsse er auch erklären, warum<br />

das Kommunale-Gebietsrechenzentrum so<br />

lange braucht, um neue Programme zu liefern.<br />

Bereits im Sommer 1993 hatte die<br />

Stadt Änderungen angemeldet, zum Beispiel<br />

die neu eingeführte Aufstellgebühr für die<br />

Tonne. Heute gibt es noch immer Probleme<br />

mit dem Programm, die zu Veränderungen<br />

führen. „Ein privater Anbieter könnte sich<br />

solche Saumseligkeit nicht leisten. Der<br />

Magistrat sollte sich einmal nach einem<br />

anderen Partner für die Abrechnung umsehen“,<br />

fordert die <strong>CDU</strong>. „Dann wäre auch die<br />

Rechtsmittelbelehrung auf der Rückseite gut<br />

lesbar gedruckt <strong>und</strong> nicht in winziger Schrift,<br />

hellgrün auf weißem Papier.<br />

Starthilfe für<br />

Tagesmüttermodell<br />

gefordert<br />

„Es tut sich was!“ Theo Ludwig,<br />

FDP-Stadtverord<strong>net</strong>er <strong>und</strong> Sigrid Dipper,<br />

als Leiterin eines Kinderheimes liberale<br />

Expertin für die Probleme der Betreuung von<br />

Kindern, sehen ihre monatelangen<br />

Bemühungen um die Einführung eines<br />

Tagesmüttermodells für den Darmstädter<br />

Raum endlich bestätigt. Zwar sei, erklärt<br />

Theo Ludwig in einer Presse-Erklärung, das<br />

Papier des Sozialdezernenten Gerd Grünewaldt<br />

eher eine Auflistung von Möglichkeiten<br />

als ein Konzept, aber immerhin zeige es,<br />

daß sich die Stadt mit dem Thema ernsthaft<br />

beschäftige.<br />

Um die Einführung eines Tagesmüttermodels<br />

in Darmstadt zu beschleunigen, werden<br />

die Liberalen zur nächsten Stadtverord<strong>net</strong>ensitzung<br />

im Februar einen Antrag einbringen,<br />

in dem die Stadt aufgefordert wird, eine<br />

„Starthilfe“ für das sich dann selbst finanzierende<br />

Projekt zu leisten. Man denke dabei,<br />

so Theo Ludwig, weniger an Geld als an<br />

einen Raum mit der notwendigen technischen<br />

Infrastruktur, wie z.B. Telefon <strong>und</strong><br />

Computer. Kostenneutralität für die Stadt<br />

bleibt für die F.D.P.-Experten Gr<strong>und</strong>voraussetzung<br />

für die Einrichtung eines Tagesmüttermodells.<br />

Für außerordentlich wichtig halten die Liberalen<br />

eine kontinuierliche Beratung <strong>und</strong><br />

Betreuung der Tagesmütter bzw. Tagesvä-<br />

☛ Fortsetzung auf folgender Seite<br />

POLSTERSTOFFE<br />

DARMSTADT<br />

ROSSDÖRFER PLATZ


ter. In dem Antrag wird deshalb der Magistrat<br />

aufgefordert, dafür zu sorgen, daß die<br />

Familienbildungsstätte ihr Seminarangebot<br />

entsprechend erweitert. Sigrid Dipper hatte<br />

bei ihren Gesprächen mit Vertretern der Firma<br />

Merck erfahren, daß für die dort eingerichtete<br />

Tagesmütterbörse Fortbildungsmöglichkeiten<br />

für Tagesmütter wünschenswert<br />

wären. Bei auftretenden Problemen<br />

sollte eine Beratungsmöglichkeit angeboten<br />

werden. Aus diesem Gr<strong>und</strong> halten es die<br />

Liberalen für unbedingt erforderlich, daß<br />

sich die Familienbildungsstätte frühzeitig auf<br />

eine solche Nachfrage einrichtet.<br />

Nur gute Standortbedingungen<br />

fördern<br />

die Wirtschaft<br />

Mit der Absicht der Stadt<br />

Darmstadt, eine Wirtschaftsförderungs-<br />

Gesellschaft zu gründen, hat sich jetzt der<br />

Wirtschaftsrat der <strong>CDU</strong> auseinandergesetzt:<br />

Das Modell sieht vor, eine GmbH für Wirtschaftsförderung<br />

zu gründen, <strong>und</strong> über<br />

einen Beirat Sachverstand aus den Wirtschaftsunternehmen<br />

einfließen zu lassen.<br />

Dazu der Wirtschaftsrat: Das Gebot der<br />

St<strong>und</strong>e seien politische Rahmenbedingungen,<br />

die Darmstadt als Dienstleistungs- <strong>und</strong><br />

Einzelhandelszentrum der Region Entwicklungschancen<br />

böten. „Was nutzen neue<br />

Investitionen mit Beiräten, Gesellschaftern<br />

<strong>und</strong> Verwaltungsräten, wenn die Rahmenbedingungen<br />

nicht stimmen“, stellt die Sektionssprecherin<br />

des Wirtschaftsrates, Dr.<br />

Dagmar Brodersen, fest. Bezeichnend sei,<br />

daß im Aufgabenkatalog der Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft<br />

das Thema Verkehr<br />

nur am Rande genannt sei. Statt einer Beratung<br />

der mittelständischen Unternehmen im<br />

Umgang mit dem Amtsschimmel, sei Entbürokratisierung<br />

angesagt. Die städtischen<br />

Ämter müßten auf den K<strong>und</strong>en zugehen,<br />

nicht umgekehrt. Das Konzept verkenne<br />

auch völlig, daß es für die beschriebenen<br />

Aufgaben längst leistungsfähige private<br />

Anbieter gebe, z. B. im Ver- <strong>und</strong> Entsorgungsbereich.<br />

Statt neuer Institutionen fordert der Wirtschaftsrat<br />

der <strong>CDU</strong>:<br />

– Ausbau der beiden Umgehungsstraßen<br />

– Kurzzeitparkplätze in der Innenstadt für<br />

K<strong>und</strong>enverkehr<br />

– Umsetzung des HTL-Gutachtens zum<br />

Flächenrecycling<br />

– Baugebiete für Einfamilienhäuser<br />

– k<strong>und</strong>enorientierte Verwaltung, kurze Bearbeitungszeiten.<br />

Wenn in der Stadt die Weichen auf „Wirtschaftsverhinderungspolitik“<br />

stünden, könnten<br />

noch so viele Wirtschaftsförderungs-<br />

Gesellschaften den Zug nicht ins Rollen<br />

bringen.<br />

Schlachthof-Verkauf<br />

noch in weiter Ferne<br />

Die Ankündigung Bürgermeister<br />

Sieberts, „im Gr<strong>und</strong>satz“ mit dem Bauverein<br />

über Verkauf <strong>und</strong> Bebauung des<br />

Schlachthofgeländes Einigkeit erzielt zu<br />

haben, wird von der FDP-Fraktion im Stadtparlament<br />

bezweifelt. Fraktionsvorsitzender<br />

Dr. Dierk Molter vermutet im Gegenteil, daß<br />

Michael Siebert wieder einmal – wie z.B. bei<br />

den Gesprächen mit Merck – „Hurra“ rufe,<br />

bevor das Verhandlungsergebnis feststehe.<br />

Die Liberalen könnten sich nicht nur nicht<br />

vorstellen, daß der Bauverein der Verteuerung<br />

des Schlachthofgeländes zustimmen<br />

werde, die dann unvermeidlich sei, wenn<br />

mehr Wohnungen gebaut würden. Sie sehen<br />

in der Aussage des Bürgermeisters, daß die<br />

Nachfrage nach Gewerbeflächen deutlich<br />

zurückgegangen sei, auch eine „erste Konsequenz<br />

der wirtschaftsfeindlichen Politik<br />

der rot-grünen Koalition“.<br />

Über das Maß der konjunkturbedingten <strong>und</strong><br />

damit vorhergehenden Zurückhaltung hinaus,<br />

so Dr. Molter, habe man es mit einer<br />

klassischen „selffulfilling prophecy“ zu tun:<br />

der ständigen rot-grünen Vorhersage, daß in<br />

Darmstadt zwar Sozialwohnungen in großer<br />

Zahl, nicht aber Gewerbeflächen benötigt<br />

würden – wie gerade auch von OB Peter<br />

Benz in seiner Stellungnahme zum Raumordnungsplan<br />

wiederholt –, entspreche Industrie,<br />

Handel <strong>und</strong> Gewerbe, indem man<br />

ins gewerbefre<strong>und</strong>lichere Umland abwandere.<br />

Dies wiederum würde von rot-grün dann<br />

triumphierend als Rückgang der „Nachfrage“<br />

interpretiert.<br />

Für zumindest stark erklärungsbedürftig hält<br />

die liberale Fraktion denn auch die Kritik Sieberts<br />

<strong>und</strong> – etwas versteckter des Oberbürgermeisters<br />

– an Plänen eines privaten Unternehmers,<br />

auf dem Gelände Schmitt &<br />

Ziegler am Nordbahnhof Wohnungen <strong>und</strong><br />

nicht Gewerbebetriebe zu planen. Anstatt<br />

sich in fremder Leute Eigentum einzumischen,<br />

so die Fraktion, solle die Koalition lieber<br />

vor der eigenen Haustüre kehren. Nach<br />

wie vor eigne sich das Schlachthofgelände<br />

hervorragend für moderne Technologie- <strong>und</strong><br />

Gewerbebetriebe. Eine solche Chance aufzugeben,<br />

bedeute einen Offenbarungseid für<br />

vorausschauende Stadtpolitik, erklärt Dr.<br />

Molter.<br />

Die Zeitung für Darmstadt druckt Parteienmeldungen<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich unverändert. Ausgenommen sind Schreib- <strong>und</strong><br />

Grammatikfehler sowie Wiederholungen. Inhaltliche auch<br />

politische Änderungen werden nicht angebracht <strong>und</strong> auch<br />

nichts hinzugefügt. Die Briefe geben nicht die Meinung der<br />

Redaktion wieder.<br />

Die Gewerkschaft<br />

tritt ab<br />

Erstmalig hat eine Gewerkschaft<br />

in einem Tarifvertrag der untertariflichen<br />

Bezahlung von Beschäftigen zugestimmt.<br />

Neueingestellte, Berufsanfänger <strong>und</strong><br />

wiedereingestellte Langzeitarbeitslose<br />

bekommen nur 90 oder 95 Prozent des<br />

Tariflohnes. Dies ist übrigens auch eine Einladung<br />

an die Unternehmer, rauszuwerfen<br />

<strong>und</strong> kostengünstig neueinzustellen.<br />

Gleicher Lohn für gleiche Leistung? Erstmalig<br />

ist, daß der Verstoß gegen dieses Gebot –<br />

tarifvertraglich festgeschrieben – nicht mehr<br />

wie bisher allein vom Geschlecht der Beschäftigen<br />

bestimmt wird, der Verstoß ist<br />

umfassend, trifft Männer wie Frauen gleichermaßen.<br />

Er trifft übrigens auch „Wessis“ <strong>und</strong><br />

„Ossis“ gleichermaßen. Der Lohnabschlag<br />

markiert also „Gleichberechtigung“, <strong>und</strong> er<br />

ist gesamtdeutsch. Welch ein Durchbruch!<br />

Ebenfalls erstmalig hat eine Gewekschaft<br />

selbst gültige Tarifverträge ausgehebelt,<br />

denn der Manteltarifvertrag in der Chemieindustrie<br />

galt bislang noch. Dies ist aber hinfällig<br />

mit der nun eröff<strong>net</strong>en Möglichkeit,<br />

eine 35-St<strong>und</strong>en-Woche ohne Lohnausgleich<br />

einzuführen oder mit der 40-St<strong>und</strong>en-<br />

Woche die gültige 37,5-St<strong>und</strong>en-Woche zu<br />

beseitigen, wobei mit dem „Abfeiern“ Überst<strong>und</strong>enzuschläge<br />

gestrichen sind. Nehmen<br />

wir den gesamten Inhalt: Die drei „Leermonate“<br />

abgerech<strong>net</strong>, für die ein Lohn-<strong>und</strong><br />

Gehaltsstopp vereinbart wurde, beträgt die<br />

Erhöhung etwa 1,4 Prozent. Werden noch<br />

die vereinbarten Arbeitszeitregelungen<br />

berücksichtigt, nähert sich der Abschluß<br />

genau der von den Unternehmern angestrebten<br />

Null. Hinzu kommt, daß der Tarifvertrag<br />

ausdrücklich den Betriebsräten<br />

zuschiebt, sich in wichtigen Fragen isoliert<br />

mit den Unternehmern <strong>und</strong> Konzernspritzen<br />

herumzuschlagen. Die Gewerkschaft tritt zur<br />

Seite bzw. ab.<br />

„Wir haben tarifpolitisches Neuland beschritten“,<br />

erklärt die Gewerkschaftsspitze<br />

zu diesem Tarifvertrag. Und die „Frankfurter<br />

Allgemeine“ spricht von „Vorbild“, von der<br />

„Freiheit der Betriebe“ <strong>und</strong> nennt das Ganze<br />

„revolutionär“. Nun wissen wir, was ein<br />

Mann wie der IG-Chemie-Vorsitzende Rappe,<br />

der den Gr<strong>und</strong>widerspruch zwischen Kapital<br />

<strong>und</strong> Arbeit aufgehoben sieht, als „Neuf<strong>und</strong>land“<br />

feiert <strong>und</strong> was das Zentralorgan<br />

der Unternehmer „revolutionär“ nennt. Sie<br />

sprechen beide vom gleichen Ding, vom<br />

Verzicht der Gewerkschaft auf die Durchsetzung<br />

der Interessen der Beschäftigen, der<br />

eigenen Mitglieder.<br />

Was dafür eingehandelt worden ist? Nichts!<br />

Irgendwelche Sprüche von „beschäftigungsfördernd“,<br />

vom „Beitrag im Kampf gegen<br />

Massenarbeitslosigkeit“, nichts sonst. Denn<br />

nichts ist verbindlich vereinbart, nichts unterschrieben,<br />

nichts haben die Chemiekonzerne<br />

zugestanden. Sie haben die Beschäftigten<br />

der Chemieindustrie über den Tisch<br />

gezogen, Rappe <strong>und</strong> die Seinen haben sie<br />

über den Tisch geschoben. Das Ergebnis ist<br />

dieser Vertrag. So werden die Gewerkschaften<br />

wirkungslos gemacht, so wird ihre Kraft<br />

abgeschafft, so werden sie gleichgeschaltet.<br />

Zugespitzt könnte man sagen: Solche Gewerkschaftshäuser<br />

brauchen von den<br />

PARTEIEN - STANDPUNKTE II Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 20<br />

Sturmabteilungen der Konzerne nicht mehr<br />

besetzt zu werden, sie sind schon übergeben<br />

worden. Erstmalig ist dieser Vertrag. Ist er<br />

auch einmalig? Daran bestehen leider Zweifel.<br />

Es wird schwer werden für die anderen<br />

Gewerkschaften, diesem „Vorbild“ an Konzernpolitik<br />

in den eigenen Reihen auszuweichen.<br />

Das wird viel Kraft kosten. Und diese<br />

Kraft kann nach Lage der Dinge nur von den<br />

Betriebsräten, aus den Betrieben kommen.<br />

Dieser Pilotabschluß à la Rappe hat großen<br />

Schaden angerichtet.<br />

Raus aus Somalia<br />

Bündnis 90/Die Grünen verurteilen<br />

aufs Schärfste die Erschießung eines<br />

unbewaff<strong>net</strong>en Somaliers durch deutsche<br />

Soldaten. Die Darstellung der Hardthöhe,<br />

das Verhalten der Deutschen „Sicherheitskräfte“<br />

entspräche den „Regeln für den Waffengebrauch<br />

im deutschen Unterstützungsverband“,<br />

kann nur als zynisch bezeich<strong>net</strong><br />

werden: Das Töten von Einbrechern ist<br />

durch nichts zu rechtfertigen <strong>und</strong> erfüllt den<br />

Tatbestand des Totschlags.<br />

Die Vorschriften für die deutschen „Sicherungskräfte“<br />

widersprechen dem Gebot für<br />

UNO-Truppen, nur zur Selbstverteidigung<br />

des eigenen Lebens zur Waffe zu greifen.<br />

Verteidigungsminister Rühe knüpft damit in<br />

fataler Weise an die Tradition Honeckers an.<br />

Der Schießbefehl für die ehemaligen DDR-<br />

Grenzsoldaten, der hier immer zu Recht verurteilt<br />

wurde, wird nun von deutschen Soldaten<br />

in Afrika selbst praktiziert.<br />

Der Schußwaffengebrauch gegen unbewaff<strong>net</strong>e<br />

Einbrecher zeigt die Destabilität <strong>und</strong><br />

Angst der in Belet Uen stationierten Soldaten.<br />

Aus dem ursprünglichen Auftrag, humanitäre<br />

Hilfe zu leisten, droht nun die faktische<br />

Umwandlung in einen Kampfauftrag<br />

zur Verteidigung deutscher Interessen <strong>und</strong><br />

deutscher „Besitztümer“ in Somalia.<br />

Bündnis 90/Die Grünen fordern den sofortigen<br />

<strong>und</strong> ersatzlosen Abzug des gesamten<br />

deutschen Kontingents aus Somalia.<br />

Ein „offener Kanal“<br />

für Darmstadt<br />

Im Jahr 1988 trat das Hessische<br />

Privatr<strong>und</strong>funkgesetz in Kraft, das die<br />

Möglichkeit vorsieht, sogenannte „offene<br />

Kanäle“ einzurichten. Diese offenen Kanäle<br />

sollen prinzipiell jederfrau <strong>und</strong> jedermann,<br />

die oder der Sendenswertes fernsehgerecht<br />

aufzubereiten vermag, zur Verfügung stehen.<br />

Damit soll verhindert werden, daß das<br />

gr<strong>und</strong>gesetzlich geschützte Recht auf Meinungs-<br />

<strong>und</strong> Informationsfreiheit nur durch<br />

die öffentlich-rechtlichen oder die kapitalstarken<br />

privaten Medienmacher ausgeübt<br />

<strong>und</strong> somit auf diese begrenzt wird. Offene<br />

Kanäle stellen die technische Infrastruktur<br />

für Einzelpersonen, aber auch Vereine, Bürgerinitiativen<br />

etc. zur Verbreitung ihrer<br />

sozialen, kulturellen, sportlichen etc. Initiativen,<br />

Meinungen <strong>und</strong> Absichten bereit. Ein<br />

Büro koordiniert die technische sowie die<br />

Programmabwicklung.<br />

Seit 1991 gibt es in Hessen einen ersten<br />

offenen Kanal in Kassel. Seine Sendetätigkeit<br />

erfreut sich wachsenden Zuspruchs bei<br />

privaten Medienmachern <strong>und</strong> den Fernsehzuschauern.<br />

Insgesamt sind seine Aktivitäten<br />

weder der Sparte „privater“, noch<br />

„öffentlich-rechtlicher“ Sendetätigkeit zuzuordnen.<br />

Nachdem die Hessische Landesregierung<br />

die Arbeit des Kasseler offenen Kanals<br />

ausgewertet hat <strong>und</strong> in einem Bericht<br />

für die Einrichtung von weiteren offenen Kanälen,<br />

nämlich in Mittel- <strong>und</strong> Südhessen plädiert,<br />

hat die SPD-Fraktion die Initiative ergriffen<br />

<strong>und</strong> wird eine Antragsinitiative zur<br />

Schaffung eines offenen Kanals in Darmstadt<br />

in die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />

am 17.2. einbringen.<br />

Fraktionsvorsitzender Horst Knechtel<br />

bezeich<strong>net</strong> dessen Schaffung angesichts der<br />

ständig weiteren Perfektionierung <strong>und</strong> Verdichtung<br />

von Massenkommunikationsmitteln<br />

als „ein Stück von demokratischer Kultur“<br />

<strong>und</strong> echte Alternative zum Meinungs<strong>und</strong><br />

Informationsmonopol relativ weniger<br />

bezahlter Kommunikatoren. Die SPD-Fraktion<br />

habe sich durch das für Medienfragen im<br />

SPD-Bezirk Hessen-Süd zuständige Vor-<br />

standsmitglied Michael Siebel ausführlich<br />

über diese Einrichtung informieren lassen.<br />

Sie würde eine erhebliche Bereicherung <strong>und</strong><br />

Belebung des kulturellen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />

Lebens in Darmstadt bedeuten. Deshalb<br />

soll der Magistrat in Gesprächen mit<br />

der Landesanstalt für den privaten R<strong>und</strong>funk<br />

eintreten, um die Voraussetzung für die Einrichtung<br />

eines offenen Kanals in Darmstadt<br />

zu klären <strong>und</strong> dessen Ansiedlung hier nach<br />

Möglichkeit zu verwirklichen.<br />

Plakate sind nicht<br />

genug<br />

Die bunten Plakate aus der<br />

Carl-Ulrich-Schule sind ein pfiffiger Beitrag<br />

zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr, weil<br />

sie einen guten Blickfang darstellen. Das allein<br />

reicht aber nicht aus, um Kinder wirksam<br />

zu schützen, stellt die Sprecherin der <strong>CDU</strong>-<br />

Fraktion Eva Ludwig fest. Ebenso notwendig<br />

sei es, unübersichtliche <strong>und</strong> gefährliche<br />

Ecken zu entschärfen. „Es muß einen eigenen<br />

‚Topf‘ für Kinderverkehrssicherheit im Haushalt<br />

geben“, fordert die <strong>CDU</strong>-Politikerin.<br />

Jetzt ist es so, daß alle Maßnahmen aus dem<br />

Titel „Verkehrsberuhigung“ bezahlt werden<br />

müssen. Die Sicherheit muß häufig hinter anderen<br />

Ausbaumaßnahmen zurückstehen, weil<br />

die Mittel nicht ausreichen. So soll die Kreuzung<br />

Hochstraße/Kiesstraße entschärft werden,<br />

um den Schulweg übersichtlicher zu machen,<br />

aber im letzten Jahr konnte nicht mehr<br />

begonnen werden, weil das Geld alle war.<br />

Eva Ludwig erinnert an eine Untersuchung<br />

des Institutes „Wohnen <strong>und</strong> Umwelt“, die<br />

bereits vor Jahren in Zusammenarbeit mit<br />

Eltern im Martinsviertel zur Kinderverkehrssicherheit<br />

gemacht worden war. „Leider ist<br />

kaum einer der guten praktischen Vorschläge<br />

aufgegriffen worden“, bedauert die <strong>CDU</strong>-<br />

Politikerin. Sie verweist auf die besonders<br />

kritische Situation in der Liebfrauenstraße,<br />

die als Schleichweg zum Rhönring benutzt<br />

wird. „Hier ist das Chaos morgens perfekt,<br />

Kinder auf dem Schulweg, Haltestelle direkt<br />

an der Ecke, über die Heinheimerstraße<br />

schießende Autos, <strong>und</strong> das alles im winterlichen<br />

Zweilicht. Mit dem Ende der Baumaßnahme<br />

sollte hier besser für die Sicherheit<br />

der Fußgänger gesorgt werden.<br />

PKK-Verbot<br />

<strong>und</strong> die Folgen<br />

Welche konkreten Folgen das<br />

von B<strong>und</strong>esinnenminister Kanther angeord<strong>net</strong>e<br />

Verbot der kurdischen Arbeiterpartei<br />

PKK <strong>und</strong> 35 weiterer Organisationen hat,<br />

erlebten Teilnehmer der diesjährigen<br />

Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in<br />

Wiesbaden. Annähernd 1.000 Menschen<br />

hatten sich am 15. Januar auf dem Luisenplatz<br />

in Wiesbaden versammelt, um Karl<br />

Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg zu gedenken,<br />

um gemeinsam zu protestieren gegen<br />

Ausbeutung, Nationalismus <strong>und</strong> Krieg. Unter<br />

ihnen auch viele ausländische Mitbürgerinnen<br />

<strong>und</strong> Mitbürger. Die Polizei zeich<strong>net</strong>e<br />

sich durch ein äußerst provokatives Auftreten<br />

aus, es wurde offen in die Menge fotografiert,<br />

viele Taschen durchwühlt. Dabei<br />

wurden bei einem kurdischen Teilnehmer<br />

aus Darmstadt einige Exemplare des „Kurdistan-Info”<br />

gef<strong>und</strong>en. Die Folge war die Aufnahme<br />

der Personalien <strong>und</strong> die Beschlagnahmung<br />

der Zeitungen. Der Einsatzleiter<br />

der Polizei erklärte uns auf unser Nachfragen,<br />

man habe den kurdischen Genossen<br />

„vor einer Straftat bewahrt”. Denn hätte man<br />

ihn beim Verteilen erwischt, hätte dies eine<br />

Strafanzeige zur Folge gehabt.<br />

Überhaupt war die Polizei gut vorbereitet, eine<br />

Liste mit kurdischen Zeitungen, Symbolen<br />

<strong>und</strong> Fahnen der PKK <strong>und</strong> anderer kurdischer<br />

Organisationen wurde von den Polizeibeamten<br />

mitgeführt. Die Vorgänge machen<br />

deutlich, was von dem tagtäglichen Gerede<br />

b<strong>und</strong>esdeutscher Politiker von Demokratie,<br />

Pressefreiheit <strong>und</strong> ähnliches zu halten ist.<br />

Und was heute mit dem Verbot der PKK vorexerziert<br />

wird, kann morgen schon andere<br />

Gruppierungen <strong>und</strong> Parteien treffen.<br />

Obwohl die DKP mit manchen Aktivitäten<br />

der PKK <strong>und</strong> anderer Organisationen nicht<br />

übereinstimmt, sehen wir in den von B<strong>und</strong>esinnenminister<br />

Kanther angeord<strong>net</strong>en<br />

Maßnahmen eine aktuelle Fortsetzung einer<br />

Politik, die 1956 mit dem Verbot der KPD<br />

<strong>und</strong> der Beschlagnahme ihres Parteieigentums<br />

begann <strong>und</strong> bis auf den heutigen Tag<br />

Repressionen <strong>und</strong> Verfolgungen von Kommunisten,<br />

Sozialisten <strong>und</strong> Linkskräften in<br />

Deutschland nach sich zieht. Mit dem von<br />

der B<strong>und</strong>esregierung sanktionierten Verbot<br />

erweist sich der sogenannte Verfassungsschutz<br />

als verlängerter Arm des türkischen<br />

Geheimdienstes <strong>und</strong> der Regierung in Ankara,<br />

die vor Mord <strong>und</strong> Terror gegen Kurden<br />

nicht zurückschrecken. Mit ihren Maßnahmen<br />

ermutigt die B<strong>und</strong>esregierung die Regierung<br />

der Türkei, mit der Bombardierung<br />

kurdischer Dörfer fortzufahren. Sie macht<br />

sich zum Komplizen des Völkermords am<br />

kurdischen Volk. Mit dem Verbot kurdischer<br />

Organisationen in der BRD wird das ganze<br />

kurdische Volk getroffen.<br />

Die Deutsche Kommunistische Partei protestiert<br />

gegen das Verbot der PKK <strong>und</strong> 35 weiterer<br />

kurdischer Organisationen in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland <strong>und</strong> fordert:<br />

– Sofortige Aufhebung des Verbots kurdischer<br />

Organisationen.<br />

– Sofortige Freigabe der Zentren, Herausgabe<br />

der beschlagnahmten Materialien <strong>und</strong> der<br />

Konten.<br />

– Sofortige Einstellung jeglicher politischer,<br />

wirtschaftlicher <strong>und</strong> militärischer Hilfe an<br />

das türkische Regime.<br />

Ortsbeiräte für<br />

Arheilgen, Kranichstein<br />

<strong>und</strong> Eberstadt<br />

Mehr Bürgernähe durch die<br />

Einrichtung von Ortsbeiräten ist das Ziel<br />

einer SPD-Initiative, die die nächste Stadtverord<strong>net</strong>enversammlumg<br />

am 17.2.<br />

beschäftigen wird. In einem gemeinsamen<br />

Antrag mit dem Koalitionspartner, den Grünen,<br />

wird der Magistrat beauftragt, rechtzeitig<br />

Vorbereitung dafür zu treffen, daß bei der<br />

Kommunalwahl 1997 nicht nur der Ortsbeirat<br />

in Wixhausen gewählt wird, sondern<br />

auch sichergestellt ist, daß in Arheilgen,<br />

Eberstadt <strong>und</strong> Kranichstein Ortsbeiräte<br />

gewählt werden können.<br />

Das Jahr 1997, so Fraktionsvorsitzender<br />

Horst Knechtel, werde deshalb genannt, weil<br />

es das Jahr der nächsten Kommunalwahlen<br />

ist. Eine frühere Installierung von Ortsbeiräten<br />

sei nach der Gesetzeslage leider nicht<br />

möglich, weil die Wahl zu den Ortsbeiräten<br />

nach den Bestimmungen der Hessischen<br />

Gemeindeordnung gemeinsam mit den<br />

Kommunalwahlen stattfinden müsse. Die<br />

SPD-Fraktion habe ausführlich über verschiedene<br />

Vorschläge diskutiert, Zwischenlösungen<br />

zu finden <strong>und</strong> provisorische<br />

Ortsbeiräte schon vor diesem Zeitpunkt einzurichten.<br />

Dafür gebe es jedoch weder eine<br />

Rechtsgr<strong>und</strong>lage noch Beispiele in anderen<br />

Kommunen. Es sei auch nicht klar, welche<br />

Mehrheitsverhältnisse solchen Gremien, die<br />

nicht als „Ortsbeiräte“ bezeich<strong>net</strong> werden<br />

dürften, zugr<strong>und</strong>e gelegt werden sollten.<br />

So habe sich gezeigt, daß bei der letzten<br />

Kommunalwahl in Wixhausen, wo es bereits<br />

einen Ortsbeirat gibt, dessen Existenz<br />

damals im Eingemeindungsvertrag festgeschrieben<br />

wurde, das Abstimmungsverhalten<br />

für den Ortsbeirat anders als das für die<br />

Stadtverod<strong>net</strong>enversammlung gewesen ist.<br />

So, daß es nicht möglich sei, automatisch<br />

die Ergebnisse der letzten Kommunalwahl<br />

im Stadtteil für die Einrichtung eines solchen<br />

Gremiums zugr<strong>und</strong>e zu legen. In dieser Diskussion,<br />

so Knechtel, sei auch festgestellt<br />

worden, daß es viele falsche, vom Gesetz<br />

her nicht zulässige Vorstellungen darüber<br />

gebe, was Ortsbeiräte sind <strong>und</strong> welche Aufgaben<br />

ihnen zufallen.<br />

Die Beschlüsse eines Ortsbeirates haben<br />

beratenden Charakter für die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung,<br />

ihre definitiven Entscheidungsmöglichkeiten<br />

seien sehr gering.<br />

Allerdings, <strong>und</strong> deshalb trete die SPD für die<br />

Schaffung neuer Ortsbeiräte ein, seien sie<br />

Instrumente zur Verbesserung der Kommunikation<br />

mit den Bürgern <strong>und</strong> zur besseren<br />

Vorbereitung der Willensbildungs- <strong>und</strong> Entscheidungsprozesse<br />

in Stadtverord<strong>net</strong>enversammlungen<br />

<strong>und</strong> Magistrat. Die SPD<br />

wolle damit auch ein von ihr gegebenes<br />

Wahlversprechen erfüllen. Da die Arbeit der<br />

Ortsbeiräte natürlich auch Geld koste, solle<br />

geprüft werden, ob für Arheilgen <strong>und</strong> Kranichstein<br />

ein gemeinsamer Ortsbeirat<br />

geschaffen werden könne.

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