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satirisch<br />
justizhörig<br />
experimentell<br />
wahrheitenliebend<br />
frei-volksherrschaftlich<br />
Freitag, 28.1.1994<br />
2. Kalenderwoche, 5. Jahrgang<br />
alle 14 Tage Tage<br />
Nummer 62<br />
Der General<br />
residiert im Grünzug<br />
Groß-Bieberau:<br />
<strong>CDU</strong>-<strong>Filz</strong> <strong>und</strong> Rechtextremismus beherrschen eine Gemeinde<br />
Was im nahen Darmstadt die Staatsanwaltschaft<br />
schon wiederholt auf<br />
den Plan gerufen hatte, die zum Hitler-<br />
Gruß erhobene Hand mit dem geschmetterten<br />
„Heil Hitler“, gehört nur 20 Kilometer<br />
weiter in dem kleinen Dorf Rodau<br />
(400 Einwohner) nahe Groß-Bieberau<br />
(4.000 Einwohner) im Landkreis Darmstadt-Dieburg<br />
wie anno dazumal zum<br />
Alltag des Heute: Holger, Sohn der Ortsvorsteherin<br />
Luise Späth (<strong>CDU</strong>) <strong>und</strong> derzeit<br />
bei der B<strong>und</strong>eswehr, darf seine Weltanschauung<br />
offen vor sich hertragen <strong>und</strong><br />
auch mal mit etwas zuviel Alkohol im<br />
Blut am Steuer sitzen, erzählt man sich<br />
laut tuschelnd im Dorf. Wo soviel deutscher<br />
Nationalstolz herrscht, fallen auch<br />
mal Schüsse auf Flüchtlingsunterkünfte<br />
(29.8.92) – eine von 18 Kugeln geht<br />
durchs Fenster <strong>und</strong> schlägt dicht neben<br />
dem Kopf einer Jugoslawin in die Wand.<br />
Da die rechtsradikalen Schützen ungeübt<br />
waren, ging man zur Tagesordnung über,<br />
denn der Bürgermeister Werner Seubert<br />
(<strong>CDU</strong>) wußte dem Parlament zu berichten,<br />
was die Polizei nicht weiß: „Das war<br />
niemand aus Groß-Bieberau“.<br />
Weniger offen, aber in der Öffentlichkeit,<br />
trifft sich in der Kneipe des Wirts Philipp<br />
Rauth in Rodau der „königlich-bayrische<br />
Stammtisch“. Über den Wirt, einen stolzen<br />
Alt-Nazi, wissen Groß-Bieberauer zu<br />
berichten, er habe sich seine Uniform<br />
damals maßschneidern <strong>und</strong> die Gäste<br />
strammstehen lassen.<br />
Ob das auch heute noch so ist?<br />
Verneinen mochte das niemand. Apropos<br />
Männerstammtisch: Christdemokratische<br />
Honoratioren treffen sich dort zum Maßbier<br />
mit ihrem Bürgermeister Seubert,<br />
der in Groß-Bieberau unter dem Spitznamen<br />
der „General“ residiert. Seine<br />
Parteifre<strong>und</strong>in Luise Späth, die heute im<br />
Parlament treu für seine Vorhaben<br />
stimmt, kündigt öffentlich bereits an, daß<br />
bei den nächsten Kommunalwahlen die<br />
Rep kandidieren werden – ob sie dann<br />
ihrer <strong>CDU</strong> untreu wird?<br />
Sie lesen<br />
3 Neu: Chronik der Ereignisse<br />
4 u. 5 Zweiter Giftgas-Prozeß: Gutachter sind nicht unabhängig<br />
6 u.7 Von Weimar nach Bonn <strong>und</strong> zurück<br />
8 Politiker plündern Stadt für Versorgungsunternehmen<br />
10 u. 11 Wie reif sind wir eigentlich? Darmstadt, Wolbert <strong>und</strong> Sironi<br />
12 u. 13 Bilder einer Ausstellung: Exklusiv bei uns<br />
15 „Beruf Neonazi“: Ein Propagandafilm<br />
17 u. 18 Briefe: Falsch oder richtig? RadfahrerInnen müssen warten<br />
Nächste Ausgabe:<br />
Bei den Grünen keimt die Angst<br />
In solchem Klima nimmt es denn auch<br />
weniger W<strong>und</strong>er, wenn eine grüne Frau,<br />
die zur Antirasissmus-Demo in Bonn per<br />
Plakat aufruft, am nächsten Tag die<br />
Droh-Schmiererei findet: „Wir kriegen<br />
Euch alle. Sieg Heil!“ (siehe Foto). Das<br />
erregt die ländlichen Gemüter ebensowenig<br />
wie das obligate „Heil Hitler“. Bei<br />
den Grünen keimt <strong>und</strong> wächst die Angst.<br />
Das kennt auch andere Gründe. Den rechten<br />
Konservativen in Groß-Bieberau war<br />
ihre sichere Mehrheit nicht sicher genug.<br />
Ein solcher Ausblick (Bild oben) war in<br />
früheren Zeiten den Feualherren vorbehalten,<br />
die ihre Zwingfesten auf Bergkuppen<br />
errichten ließen. Heute gibt es aber<br />
auch Bürgermeister – wie den Groß-Bieberauer<br />
„General“ Seubert –, die ihre<br />
Villen so zu plazieren verstehen. Noch<br />
dazu preiswert. Statt in Nachbars Wohnzimmer<br />
kann er seinen Blick nun in die<br />
Ferne schweifen lassen, von Schloß Lichtenberg<br />
bis zur Feste Otzberg <strong>und</strong> natürlich<br />
über seine Untertanen.<br />
Links auf dem Plakatständer eine der<br />
unverhüllten Drohungen der Groß-Bieberauer<br />
Faschisten – ob neu <strong>und</strong>/oder alt<br />
ist nicht bekannt. Die Polizei konnte bis<br />
heute keinen fassen. Bürgermeister Werner<br />
Seubert meint: Die sind nicht aus<br />
Groß-Bieberau. (Fotos: as)<br />
Freitag, 11.2.1994<br />
Vor der Kommunalwahl 1993 verzeich<strong>net</strong>e<br />
der Anrufbeantworter einer Grünen,<br />
der Architektin Beate Rupp (45): „Hier<br />
ist das Kommando … (unverständlich)<br />
… Beate, Du hast nicht mehr lange zu<br />
leben. Du wirst gelyncht, Du wirst<br />
gelyncht, Asylantenhure.“<br />
Die engagierte Darmstädter Kripo, angewiesen<br />
auf Hilfe aus der Bevölkerung,<br />
konnte die rechten Straftäter nicht fassen.<br />
☛ Fortsetzung Seite 2<br />
„Kaum zu glauben aber wahr“, titelte<br />
das „Groß-Bieberauer Anzeigenblatt“,<br />
<strong>und</strong> Bürgermeister Seubert sorgte frühzeitig<br />
dafür, daß in seiner Gemeinde die<br />
Stimmung gegen Flüchtlinge angeheitzt<br />
wurde. Am 21.1.1990 ließ er sich mit<br />
dem riesigen Holzscheit abbilden, um<br />
öffentlich zu demonstrieren: Damit habe<br />
ein „Asylant auf seinen Mitbewohner<br />
eingedroschen“. Weiter steht zu lesen:<br />
„So wird in Groß-Bieberau ganz offen<br />
davon gesprochen, daß sich bei Dunkelheit<br />
Frauen allein nicht mehr auf die<br />
Straße trauen“ – dies wird heute dementiert,<br />
vielmehr habe man Angst vor<br />
Rechtsextremisten. (Foto: as)<br />
Einzelpreis 2,70 DM<br />
Postfach 10 11 01, 64211 Darmstadt, Telefon 0 6151/71 98 96<br />
Der Herausgeber der ZD habe persönlich<br />
etwas gegen die SPD, verbreiten weiter<br />
ungeniert einige Darmstädter Sozialdemokraten.<br />
Sie ärgern sich über den Dauerbeschuß,<br />
dem sie in der ZD ausgesetzt sind,<br />
sehen sie sich doch wie ihr Alt-OB als<br />
„Opfer“ <strong>und</strong> nicht als Macher ihrer Polit-<br />
(Un-)tätigkeiten. Doch alles, was regiert,<br />
hat sich von allem, was recherchiert, auf<br />
die Finger <strong>und</strong> in die Geschäfte sehen zu<br />
lassen. Das paßt den Sozis nicht, <strong>und</strong> so<br />
zensieren sie munter <strong>und</strong> großherzöglich<br />
unerwünschte Presse.<br />
Ab sofort müssen sie verbreiten, auch die<br />
Staatsanwälte hätten persönlich etwas<br />
gegen Sozis. Nachdem sich die Strafanzeigen<br />
<strong>und</strong> Privatklagen Eike Eberts <strong>und</strong><br />
Volker Schmidts gegen den Herausgeber<br />
der ZD wegen „Verleumdung“ wiederum<br />
selbst als eine solche erwiesen hatten,<br />
bekam die Presse (außer dem obrigkeits-<br />
SPD-hörigen „Echo“ <strong>und</strong> der vertunteten<br />
„FAZ“) Wind davon, daß an dem Darmstädter<br />
<strong>Filz</strong> mehr dran ist als nur das<br />
schutzbehauptete persönliche Feindbild.<br />
Im Gefolge des Wiesbadener Lotto-Skandals<br />
kochte schlagartig am 20.1. breites<br />
Interesse an „rotem <strong>Filz</strong>“ hoch – wie die<br />
b<strong>und</strong>esweite „Bild“ titelte. Die Arbeit in<br />
der ZD war lahmgelegt. Pausenlos klingelte<br />
das Telefon wegen R<strong>und</strong>funk-Interviews<br />
<strong>und</strong> Hintergr<strong>und</strong>-Informationen.<br />
Ob Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher Eike Ebert<br />
auch der Staatsanwaltschaft die von ihm<br />
verwalteten Magistratsvorlagen (treffender:<br />
<strong>Filz</strong>-Nachweise) verweigern wird,<br />
wie er dies gegenüber der ZD bis jetzt<br />
erfolgreich schaffte? Immerhin konnte die<br />
ZD wegen Zensur nur über die Spitze des<br />
Eisbergs berichten.<br />
Ein Journalist wollte wissen:<br />
„Ist der Eike Ebert denn auch im <strong>Filz</strong>?“<br />
Erste Antwort: Ein Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher<br />
war gleichzeitig Direktor der überwiegend<br />
in städtischem Eigentum stehenden<br />
Stadt- <strong>und</strong> Kreissparkasse, Dank eines<br />
von den Genossen gestrickten „Lex-<br />
Ebert“, um die Gesetze halbseiden zu<br />
umschiffen. Derselbe avancierte zum B<strong>und</strong>estagsabgeord<strong>net</strong>en<br />
<strong>und</strong> gab seinen<br />
Posten bei der Sparkasse auf, nicht ohne<br />
zuvor über eine Viertelmillion vorausberech<strong>net</strong>er<br />
Rente einzusacken. Heute ist er<br />
wieder Aufsichtsratsvorsitzender in derselben<br />
Sparkasse. Über fette Dienstwagen<br />
<strong>und</strong> Reisen schweigen wir vornehmerweise.<br />
Wer, wenn nicht ein oberster Sparkassen-<br />
Kontrolleur, könnte besser für die Pfründe<br />
sorgen als derjenige, der ungeniert in aller<br />
Öffentlichkeit vorführt, wie Vorteile zu<br />
nehmen <strong>und</strong> Rente vorzeitig abzugreifen<br />
ist? Wer könnte bessere Garantie geben als<br />
ein Ober-<strong>Filz</strong>okrat, daß den Genossen-<br />
Vettern sein Wirtschaften fromme wie ihm<br />
selbst?<br />
Zweite Antwort: Die Bitte der ZD um<br />
Verfilzte Feindbilder<br />
offen<br />
bissig<br />
kritisch<br />
unabhängig<br />
überparteilich<br />
D 11485 D<br />
Zustellung der Verwaltungsvorlagen für<br />
die Vergabe von städtischen Gr<strong>und</strong>stücken<br />
<strong>und</strong> Steuergeldern für die Sozis wurde<br />
nicht erfüllt von: Oberbürgermeister<br />
Günther Metzger (SPD), Oberbürgermeister<br />
Peter Benz (SPD), Stadtkämmerer<br />
Otto Blöcker (SPD), Liegenschaftsdezernent<br />
Gert Grünewaldt (SPD), Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher<br />
Eike Ebert (SPD), Liegenschaftsausschußvorsitzendem<br />
Peter Netuschil<br />
(FDP), Rechtsamt der Stadt Darmstadt,<br />
Kommunalaufsicht des Regierungspräsidenten<br />
Dr. Horst Daum (SPD), dessen<br />
Sachbearbeiter Sabais (Sohn des sozialdemokratischen<br />
Alt-OB) <strong>und</strong> – in Folge<br />
der Koalition – Bürgermeister Michael<br />
Siebert (Grüne).<br />
… Fre<strong>und</strong>bilder<br />
Der folgende Briefwechsel mit der Kommunalaufsicht<br />
des Regierungspräsidenten<br />
gibt einen detailgetreuen Einblick in die<br />
Arbeit der Behörde. Offensichtlich werten<br />
die Beamten dort Versorgungs- <strong>und</strong> Parteiinteressen<br />
höher als bestehende Gesetze.<br />
Neben Verschleppen, Abwiegeln,<br />
Falschauskünfte erteilen, Zensieren, hohe<br />
Beamten-Gehälter kassieren <strong>und</strong> verfilzte<br />
(Partei-)Fre<strong>und</strong>e decken sind uns derzeit<br />
noch keine weiteren Eigenschaften<br />
bekannt. Der Briefwechsel ist nicht etwa<br />
Ausnahme, sondern Regel, weshalb er<br />
auch nur als exemplarischer zu verstehen<br />
ist. Weitere Schlüsse sind aus dem Folgenden<br />
zu ziehen: Wir machen darauf aufmerksam,<br />
daß es sich um keine Zeitungs-<br />
Satire handelt, die Wirklichkeit ist Satire<br />
selbst.<br />
5.3.1993 Sehr geehrter Herr Daum<br />
(z.Zt. Regierungspräsident),<br />
in den ZD-Ausgaben Nummer 43 bis 45<br />
haben wir publiziert, daß die Stadtverord<strong>net</strong>en<br />
Peter Netuschil, Volker Schmidt <strong>und</strong><br />
Eike Ebert an einer Bauherrengemeinschaft<br />
beteiligt sind, die Mittel aus öffentlichen<br />
Subventionen bezogen hat. Während<br />
Ebert eine Gegendarstellung brachte<br />
<strong>und</strong> erklärte, er sei an der Bauherrengemeinschaft<br />
nicht beteiligt, ließ Netuschil<br />
die Informationen in der Öffentlichkeit<br />
stehen. Als Vorsitzender des Liegenschaftsausschusses<br />
war er an den Beschlüssen<br />
für die Magistratsvorlage 60 aus<br />
1991 beteiligt. Volker Schmidt könnte als<br />
Mitglied im Bauausschuß teilgenommen<br />
haben, dieses entzieht sich jedoch unserer<br />
Kenntnis. Zumindest im Fall des Stadtverord<strong>net</strong>en<br />
Netuschil liegt ein Verstoß gegen<br />
§ 25 HGO vor. Wir bitten um Überprüfung<br />
<strong>und</strong> Auskunft, was Sie ermittelt haben.<br />
16.4.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />
am 5.3. hatten wir angefragt wegen eines<br />
vermuteten Verstoßes gegen §25 HGO,<br />
leider haben Sie bis heute nicht geantwortet.<br />
Ich bitte wiederholt um Auskunft <strong>und</strong><br />
erlaube mir, eine Frist bis zum 22.4. zu setzen.<br />
21.5.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />
auf mehrfache Anmahnungen unsererseits<br />
bezüglich eines vermuteten Verstoßes gegen<br />
§ 25 HGO hat Ihr Sachbearbeiter Herr<br />
Sabais am 24.3. mitgeteilt, daß „kein<br />
Handlungsbedarf“ mehr vorliege. Er<br />
schreibt, daß die Beschlüsse bereits 1991<br />
gefaßt worden <strong>und</strong> nur sechs Monate wirksam<br />
seien. Aus der Antwort geht hervor,<br />
daß Ihr Sachbearbeiter den Vorgang nicht<br />
geprüft hat. Die Magistratsvorlage mit der<br />
Nummer 60 stammt zwar aus 1991, ist jedoch<br />
erst im Januar 1993 beschlossen worden.<br />
Ist es Usus in Ihrer Behörde, Vorgänge<br />
ungeprüft bescheiden zu lassen?<br />
Des weiteren teilt die Kommunalaufsicht<br />
mit, daß wir uns an den Vorsitzenden der<br />
Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung zu wenden<br />
hätten. Erstens ist der Vorsitzende der<br />
Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung, Eike<br />
Ebert, in dem Bauprojekt aus der o.a. Magistratsvorlage<br />
selbst involviert, zum<br />
zweiten habe ich mich an Ihre Behörde gewandt,<br />
weil Sie aufsichtführend ist.<br />
Wenn Ihre Behörde die Kommunalaufsicht<br />
nicht wahrnehmen will, bitte ich um<br />
klare Auskunft, dann werde ich den Vorgang<br />
direkt an das Innenministerium weiterleiten,<br />
irgendjemand muß doch für Verstöße<br />
gegen die Hessische Gemeindeordnung<br />
zuständig sein. Bitte teilen Sie uns<br />
mit, ob die Kommunalaufsicht tätig wird.<br />
Falls die Kommunalaufsicht keine Prüfung<br />
vornimmt, bitte ich umgehend um<br />
Auskunft mit Angabe von Gründen.<br />
☛ Fortsetzung Seite 2
☛ Fortsetzung von Seite 1<br />
Frau Rupp hatte sich bereits 1990 in<br />
einem „Asylarbeitskreis“ für die r<strong>und</strong><br />
130 Flüchtlinge engagiert, die in Groß-<br />
Bieberau in 80 Containern untergebracht<br />
sind. Die Frauen helfen den Flüchtlingen<br />
bei Asylanträgen, organisieren Veranstaltungen<br />
gegen Rassismus <strong>und</strong> lösen<br />
Probleme bei der Unterbringung. Der<br />
Dorfbevölkerung jedoch bleibt es ein<br />
Rätsel, weshalb sich die Frauen um die<br />
Fremdlinge kümmern, <strong>und</strong> so gesellt sich<br />
zur Fremdenfeindlichkeit noch der perfide<br />
Verdacht sexueller Interessen – der<br />
Kreis zu Schmierereien <strong>und</strong> Drohanrufen<br />
schließt sich.<br />
Die Schmähschrift Seuberts<br />
Unverhohlen offen drohte Bürgermeister<br />
Seubert den Grünen am 4.3.93 im<br />
„Echo“, weil sie ihn wegen der Vergabe<br />
öffentlicher Aufträge angegriffen hatten:<br />
„Diesen Leuten sollte man das Handwerk<br />
legen“. Ob seine weitergehende Drohung,<br />
„alles daranzusetzen, daß die menschenverachtende<br />
Rufmordkampagne<br />
sich gegen die Urheber auswirken werde“,<br />
etwas mit dem Drohanruf zu tun hat?<br />
Die Schmähschrift Seuberts blieb ohne<br />
Reaktion in der Öffentlichkeit, denn trotz<br />
mehrfacher Zusagen druckte das „Echo“<br />
keine Gegendarstellung der Grünen – <strong>und</strong><br />
unterstützte so den Wahlkampf der <strong>CDU</strong>.<br />
Impressum<br />
Verleger <strong>und</strong> Herausgeber:<br />
Michael Grimm<br />
Unser Team :<br />
Uta Schmitt<br />
Eva Bredow<br />
Sanne Borghia<br />
Nicole Schneider<br />
Peter J. Hoffmann<br />
Rudolf Gold<br />
Ludwig v. Sinnen<br />
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Anzeigen:<br />
verantwortlich<br />
Heiner Schäfer<br />
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Redaktionsschluß<br />
für die nächste Ausgabe: 5.2.94<br />
Der General residiert…<br />
Auch andere kämpften mit harten Bandagen<br />
gegen Grün: In Rodau wurden die<br />
Plakatständer kurz <strong>und</strong> klein geschlagen<br />
– eine Strafanzeige förderte wieder nichts<br />
ans Tageslicht.<br />
General Seubert ließ sich des öfteren als<br />
Vorkämpfer gegen Grün von „Echo“-<br />
Schreiber Fritz Weber (tw) zitieren:<br />
„Hart ins Gericht ging er (Seubert, red.)<br />
mit den Praktiken der Grünen auf<br />
Gemeindeebene. Er sprach ihnen Konsensfähigkeit<br />
ab, weil sie kommunalpolitische<br />
Unruhe schürten <strong>und</strong> sogar die<br />
Nähe zum Psychoterror nicht scheuten.“<br />
(29.11.93 „DE“). Die so Geschmähten<br />
(zwei Stadtverord<strong>net</strong>e, bei 8,7 % Stimmenanteil)<br />
begehrten mit Stellungnahmen<br />
dagegen auf. Solchermaßen im B<strong>und</strong>e<br />
mit der Presse <strong>und</strong> Gesinnungsfre<strong>und</strong>en,<br />
fordert General Seubert Befehlsgehorsam<br />
im Dorf.<br />
Die Recherche sollte eigentlich genaueren<br />
Einblick in die rechte Szene geben,<br />
aber in Rodau („unser Dorf soll schöner<br />
werden“) zählt demokratische Wehrhaftigkeit<br />
nicht gerade zum Schönheitsideal,<br />
<strong>und</strong> in Groß-Bieberau ist das wichtigste<br />
Thema die „Dorferneuerung“. Der rechte<br />
Cocktail aus Nationalgefühl <strong>und</strong> Lokalpatriotismus<br />
in der Stadt (das Dorf hat<br />
Stadtrechte) wird in den Richtlinien für<br />
die Vergabe von Gr<strong>und</strong>stücken festgeschrieben<br />
(1.3.90): „Für die Aufnahme in<br />
die Vormerkliste Wohnungsbau haben<br />
Antragsteller nachzuweisen, daß ihr ständiger<br />
Wohnsitz seit mindestens sieben<br />
Jahren in Groß-Bieberau ist…“<br />
Häuslebau: Die schnelle Mark<br />
Da die Christdemokraten mit 50,6 Prozent<br />
der Stimmen <strong>und</strong> zwölf Sitzen im<br />
Parlament tun <strong>und</strong> lassen können was sie<br />
wollen, bleiben auch die Gesetze auf der<br />
Strecke, mitsamt eigenen Satzungen <strong>und</strong><br />
Richtlinien.<br />
In den Kommunen halten die PolitikerInnen<br />
das Bauwesen für ihre vordringlichste<br />
Aufgabe, so auch in Groß-Bieberau,<br />
wo Magistrat <strong>und</strong> Parlament kaum andere<br />
Themenkreise kennen, geschweige denn<br />
auf ihre Tagesordnungen setzen. Das hat<br />
neben dem Fortschrittsglauben auch ganz<br />
praktische, handfeste, ökonomische<br />
Gründe: So kommt PolitikerIn am<br />
schnellsten zu Geld. Wo Gr<strong>und</strong>stücke<br />
gedealt <strong>und</strong> Bauaufträge vergeben werden,<br />
ist die schnelle, leichte <strong>und</strong> langlebige<br />
Mark drin.<br />
Das hat auch der gelernte Staplerfahrer,<br />
B<strong>und</strong>eswehroffizier in Reserve <strong>und</strong> studierte<br />
Betriebswirt, Bürgermeister Seubert,<br />
gelernt. Mit seiner Stimmenmehrheit<br />
in Magistrat <strong>und</strong> Parlament kennt er<br />
keine Probleme, seine (auch privaten)<br />
Wünsche landläufig als Vetterleswirtschaft<br />
oder als <strong>Filz</strong> betitelt, durchzusetzen.<br />
Moralprediger, Saubermann<br />
1989 ließ der General (seit 1984 im kommunalen<br />
Dienst der Stadt Groß-Bieberau),<br />
der ansonsten als „Saubermann der<br />
Nation“ <strong>und</strong> als „Moralprediger“ gilt –<br />
zumindest nach dem zu beurteilen, was er<br />
öffentlich proklamiert – ein neues Baugebiet<br />
namens „Ober-Ramstädter Weg“<br />
vorprüfen, das am 2.11.90 beschlußreif<br />
war. Klar, daß bei einer so hohen <strong>CDU</strong>-<br />
Mehrheit das Baugebiet auf der Ackerscholle<br />
der Tante Brauer des Parteifre<strong>und</strong>es<br />
<strong>und</strong> Stadtverord<strong>net</strong>en Fritz Albrecht<br />
liegen mußte; auch klar, daß der Kaufpreis,<br />
zwischen vier bis sechs Mark für<br />
den Quadratmeter angesiedelt, plötzlich<br />
auf 50 Mark angestiegen war, <strong>und</strong> auch<br />
klar, daß Bedenken von Landschafts- <strong>und</strong><br />
Naturschützern übergangen wurden.<br />
Käufer war die Gemeinde, um Spekulation<br />
zu verhindern, wie das Verfahren<br />
öffentlich begründet wurde.<br />
Daß die Parteifre<strong>und</strong>e alle daran verdienen<br />
wollten, zeigt der weitere Fortgang.<br />
Solche Zusammenhänge sind banal, alltäglich,<br />
demokratisch üblich <strong>und</strong> einträglich,<br />
aber sie sind auch <strong>Filz</strong>-tauglich.<br />
Rechts das Haus von „General“<br />
Seubert <strong>und</strong> links der<br />
Plan des Baugebietes „Ober -<br />
Ramstädter Weg“. Deutlich<br />
ist darauf der Grünzug eingetragen,<br />
dunkel mit Kugelbäumen<br />
versehen. Die hellere<br />
Schraffur (siehe Pfeil) markiert<br />
das Gr<strong>und</strong>stück, das sich<br />
der Bürgermeister selbst als<br />
Residenz erwählt hat.<br />
Beim Dachdecken des Bürgermeisterhauses<br />
haben städtische<br />
Bedienstete wohl aus<br />
lauter Dankbarkeit geholfen<br />
– Rechnungen dafür liegen in<br />
der Stadtverwaltung jedenfalls<br />
keine vor. (Foto: as)<br />
Während Seubert noch am 6.6.90 die<br />
Bauplatzanwärter unter Hinweis auf die<br />
„Vergaberichtlinien“ anschreiben ließ,<br />
verfolgte er längst einen besseren Plan,<br />
wie er das Filetstück des neuen Baugebietes,<br />
einen der schönsten Plätze der<br />
Gemeinde mit Blick über die Landschaft,<br />
seinem Familienbesitz einverleiben<br />
könnte.<br />
Das Filetstück für den General<br />
Der Bebauungsplan von 1990 sah mitten<br />
im Baugebiet auf der Bergkuppe einen<br />
Grünzug vor. Das paßte Seubert nicht,<br />
denn dies hielt er berechtigt für den<br />
schönsten Platz <strong>und</strong> eines Generals für<br />
würdig. In zahlreichen formal penibel<br />
eingehaltenen <strong>und</strong> schriftlich belegten<br />
Behördenabläufen gelang es Seubert, ein<br />
zusätzliches Baugr<strong>und</strong>stück (Flur 407/1)<br />
im Grünzug auf der Bergkuppe ausweisen<br />
zu lassen, das er nach mehreren<br />
Änderungen des Planes schließlich im<br />
April 1992 selbst erwarb – für den<br />
erstaunlich niedrigen Preis von ca. 150<br />
Mark pro Quadratmeter.<br />
Der Preis wird jedoch in der Öffentlichkeit<br />
für „sicher“ gehalten – so die<br />
Gerüchte stimmen, ist der Bürgermeister<br />
billigst an das Gelände gekommen. Von<br />
600 bis zu 2.000 Mark liegen die Quadratmeterpreise<br />
in der Umgebung Darmstadts<br />
<strong>und</strong> gerade das traumhaft gelegene<br />
Gr<strong>und</strong>stück Seuberts müßte die obere<br />
Preisgrenze erreichen. Das Haus (siehe<br />
Foto) liegt im ehemals geplanten Grünzug,<br />
der heute nur noch als schmaler<br />
Streifen gerade ausreichend ist, um mit<br />
einer Reihe von Bäumen zum Nachbargr<strong>und</strong>stück<br />
abzugrenzen. Doch auch diese<br />
vorteilhafte Planung paßte ihm noch<br />
nicht <strong>und</strong> wieder änderte sich der Plan<br />
<strong>und</strong> sein Gr<strong>und</strong>stück wuchs in Länge <strong>und</strong><br />
Breite.<br />
Bauplätze für Parteifre<strong>und</strong>e<br />
Zwischenzeitlich versorgte er, wie sich<br />
das für ein Stadtoberhaupt gehört, 16 von<br />
ca. 34 seiner Parteifre<strong>und</strong>Innen mit Bauplätzen<br />
– wer will da nicht gern in trautem<br />
Fre<strong>und</strong>eskreise leben? Auf Anfragen<br />
nach der Vormerkliste der Anwärter für<br />
den Kauf gemeindeeigener Gr<strong>und</strong>stücke<br />
betrieb Seubert ein kleines Verwirrspiel:<br />
Mal waren es 200 BewerberInnen, mal<br />
100, ein anderes Mal 50, lediglich dem<br />
Stadtverord<strong>net</strong>en Heinrich Schmitt<br />
(SPD) gewährte er genauere Auskunft –<br />
allerdings erst im Nachhinein. Aus ihr<br />
ging hervor, daß seine Parteifre<strong>und</strong>e Rudi<br />
Lorenz (Magistratsmitglied), Heribert<br />
Lorenz (Stadtverord<strong>net</strong>er) <strong>und</strong> Werner<br />
Mattusch (ebenfalls Stadtverord<strong>net</strong>er)<br />
unter Verstoß gegen die Vergabe-Richtlinien<br />
ihre minderjährigen Kinder als<br />
Gr<strong>und</strong>stücks-KäuferInnen eingesetzt hatten.<br />
Das ist im Dorf so üblich, wenn jemand<br />
bereits schon ein Gr<strong>und</strong>stück von der<br />
Gemeinde erworben hat. Es machte den<br />
Christdemokraten auch nichts, daß die<br />
Satzung den Verkauf an unter 18jährige<br />
nicht zuläßt. Die im Parlament sitzenden<br />
Väter beteiligten sich an allen Abstimmungen,<br />
auch, wenn es um ihre „Familienangelegenheiten“<br />
ging. Der Fraktionsvorsitzende<br />
der SPD, Bernd Führer,<br />
bestätigt die „Geheimniskrämerei um die<br />
Listen“ gern, auch wenn er einen „vorsichtigen<br />
Umgang damit für erforderlich<br />
hält“.<br />
Abstimmungen in eigener Sache<br />
Abgesehen von Landschaftsbild <strong>und</strong><br />
Naturschutz, die auf der Strecke blieben,<br />
wären auch diese Vorgänge ganz alltäglich-übliche<br />
Politiker-Praxis. Doch wer<br />
so sicher im Parteisattel sitzt <strong>und</strong> in der<br />
Öffentlichkeit steht, geht noch weiter. So<br />
auch unser General. Obwohl dem des<br />
Gesetzes erfahrenen Mann bekannt sein<br />
mußte, daß er bei Entscheidungen dann<br />
nicht im Parlament anwesend sein darf,<br />
wenn über seine privaten Belange abgestimmt<br />
wird, war dies selbstverständlich.<br />
Seubert trug gar noch seine eigenen<br />
Wünsche für Änderungen des Bebauungsplanes<br />
vor. Daß seine ebenfalls<br />
begünstigten Parteifre<strong>und</strong>e die Abstimmungen<br />
nicht verließen, störte ihn nicht,<br />
ebensowenig seinen christdemokratischen<br />
Stadtverord<strong>net</strong>envorsteher Anton<br />
Weiher – bei Entscheidungen in eigener<br />
Angelegenheit zu stimmen, sichert die<br />
Mehrheiten, <strong>und</strong> außerdem könnten ja<br />
andere Stadtverord<strong>net</strong>e auf die Idee kommen,<br />
daß irgendetwas nicht koscher ist.<br />
Seuberts B<strong>und</strong>eswehr-Moral<br />
Städtische Bedienstete gehen ihrem<br />
General auch gern privat zur Hand: Ob es<br />
Aufräum- oder Gartenarbeiten sind, solch<br />
kleiner Dienste kann sich der Bürgermeister<br />
nicht „erwehren“, wie er lachend<br />
öffentlich erklärte. Dagegen wäre nichts<br />
einzuwenden, wenn die Gemeinde ihre<br />
Bediensteten gegen Entgelt auch für Privatleute<br />
arbeiten ließe, doch der Stadtverwaltung<br />
ist nichts bekannt von Rechnungen,<br />
die vom Stadtoberhaupt beglichen<br />
worden wären. Da schlägt die B<strong>und</strong>eswehr-Moral<br />
des Bürgermeisters durch:<br />
Dort ist Schütze Arsch extra für die<br />
Bedienung seiner hohen Befehlsgewaltigen<br />
abgestellt (O-Ton B<strong>und</strong>eswehr). Ob<br />
Seubert seine Offizierserfahrungen mit<br />
demokratischer Bürgermeistertätigkeit<br />
verwechselt?<br />
Die Liberalen schweigen lieber zu alledem,<br />
denn ihr Bauunternehmer Walter<br />
Liebig kassiert die öffentlichen Aufträge<br />
ein, freigestellt von lästiger Konkurrenz,<br />
da Seubert von Ausschreibungen wenig<br />
hält. Zudem ist der Bauunternehmer<br />
bestens informiert über die städtischen<br />
Planungen, denn er sitzt mit im „Planungsbeirat<br />
zur Dorferneuerung“ ebenso,<br />
wie der planende Architekt Bukatsch, ein<br />
Busenfre<strong>und</strong> des Generals, der ihm auch<br />
beim Bau seiner Residenz behilflich ist<br />
<strong>und</strong> als Planer auch der öffentlichen Bauten<br />
auftreten darf.<br />
Nach erfolgreichem Anfang…<br />
So setzten sich SPD <strong>und</strong> Grüne zusammen<br />
<strong>und</strong> beratschlagten, was zu tun sei,<br />
denn die Vorgänge sind mit den Deals am<br />
Ober-Ramstädter Weg keinesfalls am<br />
Höhepunkt, sondern erst am Anfang. Das<br />
christdemokratische Familien-Duo Albrecht/Brauer<br />
verkaufte der Gemeinde<br />
nicht nur Äcker für der Politiker Einfamilienhaus-Idyllen,<br />
sondern sackt derzeit in<br />
einem Gewerbegebiet (Schaubacher<br />
Berg) kräftig ein, wird gar zu Millionären<br />
im nächsten Wohnbaugebiet am Falltor.<br />
Zufall oder <strong>Filz</strong>? Groß-Bieberau liegt in<br />
einem Landschaftsschutzgebiet, <strong>und</strong><br />
andere Baugebiete soll es nicht mehr<br />
geben.<br />
<strong>CDU</strong>-Parteifre<strong>und</strong> Daab durfte als Baugr<strong>und</strong>geber<br />
gegen harte Mark für einen<br />
Kindergarten Wohltäter spielen <strong>und</strong><br />
erzielte mit 120 Mark je Quadratmeter<br />
Preise, die treibend sind, obwohl Seubert<br />
verkündet hatte, der Spekulation Einhalt<br />
gebieten zu wollen. Dieser Preis rief alle<br />
Landwirte auf den Plan: Seitdem wollen<br />
sie gleich behandelt sein <strong>und</strong> ebensoviel<br />
Geld für ihre Ackerflächen haben.<br />
Bei so vielen Geschäften fällt es wahrlich<br />
schwer, neben der aufwendigen Organisation<br />
für die vielen offenen Hände <strong>und</strong><br />
Taschen der vielen Parteifre<strong>und</strong>Innen<br />
auch noch einen klaren Kopf für anderes<br />
zu behalten. Beispielsweise für gesetzliche<br />
Grenzen. So ist auch der Blick für die<br />
Notwendigkeit, gegen offene rechte<br />
Gewalt anzutreten – um wenigstens den<br />
Anschein zu wahren – verschleiert von<br />
den unendlich profitablen Buchhaltereien<br />
<strong>und</strong> Rechenspielen. Das Dorf wird<br />
beherrscht von 36 christdemokratischen<br />
Parteimitgliedern. Die 100 Sozialdemokraten<br />
hatten ihren Wahlkampf vernachlässigt,<br />
<strong>und</strong> es geht um, daß auch Sozialdemokraten<br />
Seubert gewählt hätten, weil<br />
sie keinen eigenen Kanidaten zu stellen<br />
vermochten – eine Wiederwahl steht erst<br />
in zwei Jahren an.<br />
Michael Grimm<br />
Ausgabe 62 28.1.1994 · Seite 2<br />
Das Bauschild weist Bürgermeister Seubert<br />
als Bauherren aus. (Foto: as)<br />
☛ Fortsetzung von Seite 1<br />
… Fre<strong>und</strong>bilder<br />
8.11.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />
in der o.a. Angelegenheit, die nunmehr<br />
über ein halbes Jahr bei Ihrer Behörde zur<br />
Bearbeitung vorliegt, war mir am 21.6.<br />
mitgeteilt worden, es werde eine Stellungnahme<br />
des Magistrats der Stadt Darmstadt<br />
eingeholt. Soweit der Magistrat die Angelegenheit<br />
aussitzen will, könnten Zwischenberichte<br />
Ihrer Behörde zumindest<br />
anzeigen, daß keine Untätigkeit vorliegt.<br />
Die Bearbeitung nimmt erstaunlich viel<br />
Zeit in Anspruch <strong>und</strong> ist sicher nicht geeig<strong>net</strong>,<br />
das Vertrauen der Öffentlichkeit in<br />
Politik <strong>und</strong> Behörden zu stärken. Gerade<br />
von aufsichtführenden Behörden sollte eine<br />
besonders korrekte <strong>und</strong> zeitnahe Bearbeitung<br />
erwartet werden können.<br />
26.11.93 Sehr geehrter Herr Grimm,<br />
es waren keine Verstöße gegen § 25 HGO<br />
festzustellen.<br />
4.12.1993 Sehr geehrter Herr Daum,<br />
Dank für Ihre Auskunft vom 26.11.93.<br />
Nunmehr erbitte ich von Ihnen Auskunft<br />
darüber, welche Sitzungslisten, welcher<br />
städtischen Gremien von welchen Tagen<br />
vorgelegt wurden <strong>und</strong> bitte um Einsicht.<br />
7.12.1993 Sehr geehrter Herr Grimm,<br />
auf Ihr o.a. Schreiben darf ich Ihnen versichern,<br />
daß die mir von der Stadt Darmstadt<br />
vorgelegten Unterlagen für die von mir zu<br />
treffende Entscheidung eine ausreichende<br />
Gr<strong>und</strong>lage darstellten. Ein Akteneinsichtsrecht<br />
nach § 29 VwVfG steht Ihnen nicht<br />
zu, da sie nicht Beteiligter i.S.d. § 13<br />
VwVfG sind.<br />
Ergo:<br />
Betreff § 29 Verwaltungsverfahrensgesetz:<br />
„Die Behörde ist zur Gestattung des<br />
Akteneinsichtsrechts nicht verpflichtet,<br />
soweit …sie wegen der berechtigten Interessen<br />
der Beteiligten oder dritter Personen<br />
geheimgehalten werden müssen.“ Nach<br />
Meinung der Kommunalaufsicht ist demnach<br />
Vorteilnahme aus Steuermitteln, ein<br />
„berechtigtes Interesse“ der Politiker <strong>und</strong><br />
von der Kommunalaufsicht zu schützen.<br />
Betreff § 13: Der Herausgeber will auf keinen<br />
Fall Beteiligter an solchen Immobiliengeschäften<br />
zu Lasten der Steuerzahler<br />
werden (eine Zeitung am Ort im <strong>Filz</strong><br />
reicht), selbst wenn er dadurch an die<br />
Informationen käme.<br />
Neugierig geworden, leiten wir den Vorgang<br />
an den Innenminister Herbert<br />
Günther (SPD) weiter. Ob sein Ministerium<br />
vor <strong>Filz</strong> sicher ist? Ob auch die Wiesbadener<br />
wieder ein dreiviertel Jahr für eine<br />
Antwort benötigen? Vorbestellungen für<br />
die Ausgabe 75 im Oktober nimmt die ZD<br />
ab sofort entgegen. Der Herausgeber
„Manche haben keine Wohnung – macht nichts,<br />
dafür haben andere gezwungenermaßen gleich zwei“<br />
Ehepaar Maleh ist über Wohnungsamt <strong>und</strong> GWH empört<br />
„Es wird einem unmöglich gemacht,<br />
eine Sozialwohnung zu verlassen, da<br />
Kosten auf einen zukommen, die sämtliche<br />
Ersparnisse ausbeuten. Da braucht<br />
man niemandem einen Vorwurf<br />
machen, wenn er in seiner Sozialwohnung<br />
hocken bleibt, obwohl ihm diese<br />
schon lang nicht mehr zusteht.“<br />
Susanna Maleh hat ihre Sozialwohnung<br />
der „Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft<br />
Hessen“ (GWH) in der Bartningstraße<br />
– eine Zwei-Zimmerwohnung<br />
mit 61 qm für monatlich 840 Mark<br />
warm – am 3.11. mit Wirkung zum<br />
31.1.94 gekündigt, da die beiden eine<br />
größere im Mühltal gef<strong>und</strong>en hatten. An<br />
die GWH ging die Mitteilung, daß sie<br />
die alte Wohnung bereits zum 1.12. verlassen.<br />
Sie gingen davon aus, damit<br />
schnell jemandem zu helfen, der kein<br />
eigenes Dach überm Kopf hat. Und<br />
dachten dabei zum Beispiel an einen<br />
Arbeitskollegen, der obdachlos ist.<br />
Doch weit gefehlt.<br />
Ganze zwei Wochen brauchte die GWH<br />
allein, um die Kündigungsbestätigung<br />
zuzusenden (15.11.). Am 18.11. wurde<br />
den Malehs beim Amt für Wohnungswesen<br />
versichert, daß von der GWH<br />
noch keine Information über die freie<br />
Wohnung vorliege. Die gleiche Auskunft<br />
bekamen sie am 24.11. Die<br />
Freimeldung der GWH lag erst vier<br />
Wochen später, am 30.11. vor.<br />
Erst jetzt konnte das Wohnungsamt aus<br />
seinen 2.311 WohnungsbewerberInnen<br />
für öffentlich geförderten Wohnraum –<br />
davon 459 Wohnungsnotstandsfälle<br />
(Stand Ende Oktober 93) – mindestens<br />
drei BewerberInnen auswählen. Doch<br />
auch dies Amt ließ sich zwei Wochen<br />
Zeit: Die Auswahl der Bewerber habe<br />
man nach Warteliste vorgenommen.<br />
Nach welchem Schema, ob Willkür oder<br />
Schiebung dahinterstehen, das offenzulegen<br />
fordert die ZD bereits seit 1990 –<br />
bis heute ohne Erfolg.<br />
„Kriterien geben wir nicht preis“<br />
Aus dieser kleinen erwählten Gruppe<br />
darf sich die Vermieterin, in diesem Fall<br />
die GWH, jene oder jenen raussuchen,<br />
der/dem sie die Wohnung gibt. GWH-<br />
Mitarbeiterin Petra Schmidt dazu:<br />
„Unsere Kriterien geben wir gr<strong>und</strong>sätzlich<br />
nicht preis“. Und das bei 1.600<br />
Wohnungen r<strong>und</strong> um Darmstadt.<br />
Verwaltungswege brauchen ihre Zeit. In<br />
diesem Fall nahm die Entscheidung für<br />
einen Nachmieter so viel Zeit in<br />
Anspruch, daß Malehs bis zum 31.1.<br />
doppelt Miete bezahlen müssen – für die<br />
Bartningstraße <strong>und</strong> für die neue Adresse<br />
im Mühltal.<br />
Die GWH bestimmte eine Frau als<br />
Nachmieterin, die in einer Drei-Zimmer-Wohnung<br />
der GWH im Wickopweg<br />
lebt, die sie laut Kündigungsfrist<br />
erst zum 1. Mai verlassen kann - ein<br />
Wohnungsnotfall? So wird die Wohnung<br />
in der Bartningstraße wohl fünf<br />
Monate leerstehen.<br />
Die GWH-Wahl fiel nicht etwa auf jene<br />
Bewerber – die das Wohnungsamt ebenfalls<br />
vorgeschlagen hatte – die im<br />
„Hotel Mathildenhöhe“ untergebracht<br />
sind. 3.000 Mark zahlt das Sozialamt<br />
monatlich für das 6 qm große Zimmer.<br />
„Wie deckt sich das mit dem städtischen<br />
Sozialetat?“, fragt wütend Ehepaar<br />
Maleh. „Wieso bekommt jemand unsere<br />
Wohnung, der eine hat, wo doch so viele<br />
auf der Straße, in Hotels oder Pensionen<br />
sitzen?“ Am meisten erbost sind sie aber<br />
über die „Lahmarschigkeit“ der Behörde<br />
<strong>und</strong> des landeseigenen Unternehmens.<br />
ZD in eigener Sache<br />
Dieser Fall zeigt wieder einmal, daß die<br />
Vergabekriterien für Sozialwohnungen<br />
an die Öffentlichkeit gehören. Und mehr<br />
als das: Wie die Frauenbeauftragte<br />
Trautel Baur <strong>und</strong> Ute Laucks von der<br />
„Teestube“ schon länger fordern (siehe<br />
ZD-Ausgabe 57): Eine „Kontingentierung“<br />
muß her. Das heißt, das Wohnungsamt<br />
dürfte für eine Wohnung nur<br />
Bewerber aus einer bestimmten Gruppe<br />
auswählen, damit auch eine Frau aus<br />
dem Frauenhaus oder ein Obdachloser<br />
von der Straße zum Beispiel Chancen<br />
hätte. Nach erfolgreicher Vermittlung<br />
wäre dann die nächste benachteiligte<br />
Gruppe am Zug. Eva Bredow<br />
Keine Verleumdung: Schmidt verliert Prozeß gegen Herausgeber<br />
Im Namen des Volkes hatte das Landgericht<br />
Darmstadt über eine Klage des<br />
Architekten Volker Schmidt gegen den<br />
Herausgeber der ZD zu entscheiden.<br />
Volker Schmidt (SPD) klagte, um zu<br />
erreichen, daß in der ZD unter<br />
Haftandrohung <strong>und</strong> Ordnungsstrafe von<br />
500.000 Mark nicht mehr verbreitet<br />
wird: „Herr Schmidt sei ein Spekulant,<br />
der tief in den Steuersäckel gegriffen<br />
<strong>und</strong> kommunalen Subventionsbetrug<br />
begangen habe. Herr Schmidt habe als<br />
Stadtverord<strong>net</strong>er <strong>und</strong> Mitglied der Partei<br />
Kenntnisse erworben, wo welche städtischen<br />
Gr<strong>und</strong>stücke für sozialen Wohnungsbau<br />
bereitgestellt werden. Er habe<br />
Insider-Kenntnisse hemmungslos ausgeschöpft.<br />
Er würde bei Baumaßnahmen,<br />
die den sozialen Wohnungsbau<br />
betreffen, nach Fertigstellung des Baus<br />
die zuviel gezahlten Gelder über eine<br />
Erhöhung des Architektenhonorars einstecken.<br />
Er habe kommunalen Subventionsbetrug<br />
<strong>und</strong> Vorteilnahme begangen.“<br />
Die Formulierung der Unterlassungsklage<br />
– eine schlechte Kurzfassung der<br />
Ein Freibrief für 4,5 Millionen<br />
Wohnungen mit Tiefgaragen auf dem Ruthsplatz<br />
Mit dem sozialen Wohnungsbau ist das<br />
so eine Krux: Obwohl wir einen auch<br />
amtlich attestierten Wohnungsnotstand<br />
haben, der vor allem untere VerdienerInnen<br />
<strong>und</strong> Arbeitslose trifft, baut<br />
Darmstadts größter Bauherr, der Bauverein<br />
für Arbeiterwohnungen – ein<br />
Unternehmen zu 100 Prozent im Eigentum<br />
der Stadt – teure Eigentumswohnungen,<br />
Beispiel Kranichstein K6. Bauvereinschef<br />
Heinz Reinhard erklärt<br />
gegenüber der ZD, der soziale Wohnungsbau<br />
sei überhaupt nicht mehr kalkulierbar,<br />
da das Land Hessen den Bau<br />
von Tiefgaragen nicht mehr finanziere.<br />
Dies bestätigt Wiesbaden. Dennoch<br />
werden wie üblich in der heutigen automobilen<br />
Gesellschaft keine 50 Meter<br />
vom leerstehenden TH-Parkhaus entfernt<br />
auf dem Ruthsplatz (siehe Foto<br />
oben: hs) wieder Tiefgaragen gebaut.<br />
Auf Anfrage, ob der Bauverein die<br />
Berechnung für Sozial-Bauten zustellen<br />
würde, hatte Bauvereinshef Reinhard<br />
bereits im März 93 erklärt: „Sie kriegen<br />
die nicht, damit sie es mit mir so machen<br />
wie mit dem Schmidt.“ Jede eingehende<br />
Magistratsvorlage prüften wir darauf-<br />
publizierten ZD-Artikel, aufgesetzt vom<br />
gegnerischen Rechtsanwalt – bezogen<br />
sich auf die Ausgabe 49, auf den Artikel<br />
„Ein verdienstvoller, verdienender<br />
Mann“. Schmidt war namentlich nicht<br />
erwähnt („Der Name? Spielt keine Rolle,<br />
er hat viele Namen.“), deshalb,<br />
begründen die Richter, „bleibt es dem<br />
Leser völlig überlassen, ob er den Kläger<br />
(Schmidt) mit den Ausführungen in<br />
Verbindung bringen will.“<br />
Die Richter, Jaekel, Diesing <strong>und</strong> Feimer,<br />
vermochten auch in dem zweiten<br />
Artikel, „Ein Architekt greift tief in den<br />
Steuersäckel: Fälle kommunalen Subventionsbetruges?“<br />
keinen Gr<strong>und</strong> finden,<br />
eine Wiederholung unter Strafe zu<br />
stellen: „ Der Hinweis auf die erforderliche<br />
Einsichtnahme in weitere Akten<br />
macht deutlich, daß selbst die zitierte<br />
Wertung des … Fachmannes nur eine<br />
vorläufige Beurteilung sein kann.“<br />
Damit haben die Richter die Sachlage<br />
treffend erfaßt: Sämtliche Behörden <strong>und</strong><br />
Politiker verweigern der ZD die Herausgabe<br />
von Unterlagen, aus denen weitere<br />
vorteilsnehmende Geschäfte des Volker<br />
hin, ob die Berechnungen für den Ruthsplatz<br />
angefügt sind. Doch Reinhard hatte<br />
Recht behalten: Wir haben sie nicht<br />
bekommen. Am Ruthsplatz baut der<br />
Bauverein vier Sozialwohnungen in<br />
einem Altbau, die von Architekten<br />
ordentlich durchkalkuliert sind. Daneben<br />
entsteht ein Neubau für 32 Wohnungen,<br />
für die jeoch keine Berechnungen<br />
offengelegt sind. Das Land Hessen zahlt<br />
etwas über 5 Millionen, die Stadt 4,5<br />
Millionen – davon 993.000 Mark für die<br />
Tiefgaragen.<br />
Zahlreiche weitere Anfragen bei den<br />
zuständigen Dezernenten förderten<br />
Merkwürdiges ans Tageslicht: Für das<br />
Bauvorhaben gibt es zwei Magistratsvorlagen<br />
(Nr. 0619 <strong>und</strong> 0158), mehr<br />
nicht. Das heißt, unser Parlament hat<br />
darüber abgestimmt, ohne die Berechnungen<br />
zu kennen <strong>und</strong> dem Bauverein<br />
gleichsam einen Freibrief über 4,5 Millionen<br />
für den Bau ausgestellt.<br />
Es mochte auch niemand bestätigen, daß<br />
dort statt Sozial- möglicherweise auch<br />
Eigentumswohnungen errichtet werden<br />
<strong>und</strong>, wenn ja, wieviele. sb<br />
Schmidt nachweisbar werden könnten.<br />
Mit der Zensur der ZD werden sich die<br />
Gerichte demnächst auf Klage des Herausgebers<br />
befassen müssen, ist doch die<br />
Tatsache, daß die Unterlagen vorenthalten<br />
werden, der sichere Hinweis auf<br />
weitere tote H<strong>und</strong>e.<br />
Gegen Schmidt ermittelt von Amts<br />
wegen die Staatsanwaltschaft in gleicher<br />
Angelegenheit – auch wenn das<br />
„Echo“ Schmidt im O-Ton zitierte, er<br />
habe Selbstanzeige erstattet. Die angebliche<br />
Flucht nach vorn soll retten, was<br />
noch möglich ist: Das öffentliche Ansehen<br />
bis zur denkbaren Eröffnung eines<br />
Strafverfahrens; letzteres ist abhängig<br />
davon, ob es dem Staatsanwalt gelingt,<br />
die Beweise zusammenzutragen.<br />
Die Meldung im Echo war zugleich Premiere:<br />
Das Blatt hat zum ersten Mal seit<br />
März 1990 seinen LeserInnen vorgeführt,<br />
daß es eine zweite Zeitung in<br />
Darmstadt gibt. Wohl auch nur, weil<br />
„Hessischer R<strong>und</strong>funk“, „Bild“ <strong>und</strong><br />
andere ein Publizieren unumgänglich<br />
hatten werden lassen.<br />
Wir werden berichten. mg<br />
CHRONIK<br />
Ausgabe 62 28.1.1994 · Seite 3<br />
02.01.94 HESSEN-SPD: Regierungssprecher Erich Stather (SPD) wird von der Landesregierung<br />
entlassen. Außer daß Unstimmigkeiten in der<br />
Pressepolitik bestünden, mag Stather nichts sagen. Die<br />
Abfindung war offensichtlich hoch genug.<br />
04.01.94 BÜRGERKRIEG IN MEXICO. Eine Guerillabewegung namens „Zapatista“ besetzt<br />
in der mexikanischen Provinz Chiapas mehrere Städte, die<br />
Indios wehren sich gegen behördliche Übergriffe – 12.000<br />
Soldaten sollen ein Ende bereiten werden aber mit den Indios<br />
nicht fertig.<br />
05.01.94 SPD-FILZ IN WIESBADEN. Lotto-Manager Hanns-Detlev von Uckro (SPD)<br />
sackt für Mehrfachtätigkeiten hohe Summen ein: 240.000<br />
Mark Gehalt + zwei Tantiemen pro Jahr, Rente 3.111 Mark<br />
<strong>und</strong> 5.000 Mark Beratungshonorar. Staatssekretär Otto<br />
Geske (SPD) lügt wiederholt in der Öffentlichkeit, wird von<br />
seiner Finanzministerin Fugmann-Heesing (SPD) gedeckt<br />
<strong>und</strong> Ministerpräsident Eichel (SPD) schweigt; erst am 13.1.<br />
gibt er die Entlassung Geskes bekannt. Abfindungen <strong>und</strong><br />
Altersversorgung um etwa 800.000 Mark sollen seinem<br />
Vorgänger Dumschat (SPD) den vorzeitigen Abgang (5<br />
Monate) versüßt haben. Reisen, Dienstfahrzeuge, Versorgungsbezüge<br />
– die Genossen sahnen ab, wo es nur geht.<br />
12.01.94 LUFTANGRIFFE AUF SERBIEN? Nato-Gipfel in Brüssel unter Beteiligung des US-<br />
Präsidenten Bill Clinton droht Serbien. Dem dringenden<br />
Wunsch Polens, der Tschechischen Republik <strong>und</strong> Ungarns<br />
für eine Aufnahme in die Nato, folgt der Westen nicht.<br />
§ 218: Das Berufsverbot für den Frauenarzt Horst Theißen wird vom Landgericht<br />
Augsburg aufgehoben <strong>und</strong> die reduzierte Haftstrafe<br />
von eineinhalb Jahren auf Bewährung ausgesetzt.<br />
14.01.94 SPD-FILZ IN WIESBADEN. Lotto-Manager Hanns-Detlev von Uckro (SPD)<br />
fliegt von Ministerpräsidents Gnaden.<br />
DA ROCK FÜR OBDACHLOSE: Benefiz-Konzert in der Bessunger Knabenschule,<br />
der Erlös von fast 6.000 Mark geht zu je einer Hälfte an die<br />
Bahnhofsmission <strong>und</strong> an die Teestube.<br />
RECHTSRADIKALE? Ein behindertes Mädchen aus Halle behauptet von drei<br />
Skinheads überfallen worden zu sein: Sie sollen ihr ein<br />
Hakenkreuz in das Gesicht geschnitten haben – die Meldung<br />
geht um die Welt. Tags darauf demonstrieren laut Agenturen<br />
15.000 gegen rechte Gewalttäter. Später tritt die Staatsanwaltschaft<br />
an die Öffentlichkeit: Das Mädchen soll sich die<br />
NS-Rune selbst eingeritzt haben. Die ARD-Sendung „ZAK“<br />
weiß von 80 Überfällen auf Behinderte im Jahr 93.<br />
AFFÄRE BAD KLEINEN: Wolfgang Grams erschoß sich selbst, so das Fazit der<br />
Justiz, <strong>und</strong> schließt die Akten.<br />
ATOMARE WAFFEN: Die Ukraine sichert zu, ihre Atomwaffen zu vernichten.<br />
Clinton <strong>und</strong> Jelzin vereinbaren, mit ihren Atomraketen nicht<br />
mehr aufeinander zu zielen.<br />
DA STRAßENBAHN NACH KRANICHSTEIN: 60.000 Mark hat der Magistrat für ein<br />
Gutachten zur Umweltverträglichkeit bewilligt.<br />
15.01.94 NAMENLOSE SINTI UND ROMA: Eine Liste mit den Namen von 22.000 in Auschwitz<br />
ermodeten Sinti <strong>und</strong> Roma übergab deren Verbandsvorsitzender<br />
an OB Benz. Die ZD war zensiert worden, <strong>und</strong><br />
bat den Sinti <strong>und</strong> Roma-Verband um die Namen der aus<br />
Darmstadt stammenden NS-Opfer. Obwohl es 48 Jahre<br />
gedauert hat, bis dieser Wunsch geäußert worden ist,<br />
möchte der Verband noch immer nicht, daß die Namen von<br />
22 in Darmstadt Geborenen publiziert werden.<br />
17.01.94 KORRUPTES ITALIEN: Präsident Scalfaro löst das Parlament auf. Neuwahlen<br />
sollen am 27. März sein. Gegen r<strong>und</strong> ein Drittel der Parlamentarier<br />
laufen Ermittlungsverfahren wegen Korruption.<br />
18.01.94 DA POSTGEBÄUDE AM HAUPTBAHNHOF: Der 100-Millionen-Neubau vom Sommer<br />
93, paßt der Post bald nicht mehr ins Konzept. Sie<br />
schaut sich nach Mietern um.<br />
19.01.94 DA GESUNDHEITSAMT: Wegen verschiedener Pflichtverletzungen ist Chef Dr.<br />
Jürgen Altrock suspendiert worden. Vor allem Eltern hatten<br />
ihn wegen der angeblichen „Ruhr-Epidemie“ hart kritisiert.<br />
DEUTSCHE SOLDATEN IN ALLER WELT: Ein deutsches Flugzeug wurde über Bosnien<br />
beschossen – zwei Treffer zwangen zur Umkehr.<br />
KEIN HEROIN AUF KRANKENSCHEIN: Die Stadt Frankfurt darf kein Heroin an<br />
Süchtige abgeben, entschied das B<strong>und</strong>esges<strong>und</strong>heitsministerium.<br />
Schneider, vom Frankfurter Drogenreferat, nannte<br />
dies einen „Rückfall in die drogenpolitische Steinzeit“.<br />
20.01.94 DA MAHNMAL ZUM 50. JAHRESTAG DES KRIEGSENDES. Eine Jury beauftragt den<br />
Darmstädter Bildhauer Thomas Duttenhöfer mit der Ausführung.<br />
Kosten: 250.000 Mark.<br />
SPD-FILZ IN WIESBADEN. Nun tritt auch Finanzministerin An<strong>net</strong>te Fugmann-<br />
Hessing zurück. Nachfolger ist der bisherige Wirtschaftsminister<br />
Ernst Welteke, dem Lothar Klemm folgt.<br />
22.01.94 DEUTSCHE SOLDATEN IN ALLER WELT: B<strong>und</strong>eswehrsoldaten erschießen eine<br />
Somalier in Belet Uen, weil er nachts in das deutsche Tanklager<br />
habe eindringen wollen.<br />
24.01.94 KORRUPTES ITALIEN: Wahlniederlagen <strong>und</strong> Affären bereiten der Democrazia<br />
Cristiana, 45 Jahre lang Regierungspartei, das Ende <strong>und</strong><br />
eine Spaltung in Volkspartei (PPI) <strong>und</strong> Zentrum (CCD).<br />
25.01.94 CLUBHOTEL SEHR in Flammen: Brandstiftung? Das leerstehende Clubhotel<br />
bei Messel ist bis auf die Gr<strong>und</strong>mauern niedergebrannt,<br />
10.000 Liter Reinigungsmittel flossen in die Bäche.<br />
BRD-WAFFENHANDEL: Ein deutscher Frachter, der für den Irak bestimmten<br />
Raktentreibstoff an Bord hatte, ist Ende Dezember im saudiarabischen<br />
Hafen Dschidda aufgehalten worden. Mal wieder<br />
ein deutscher Waffen-Transport trotz UN-Embargo.<br />
NEUER BUNDESPRÄSIDENT?: <strong>CDU</strong>-B<strong>und</strong>esvorstand nominiert Roman Herzog,<br />
Präsident des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts zur Wahl, als<br />
Nachfolger von B<strong>und</strong>espräsident Weizsäcker .<br />
NEUER US-VERTEIDIGUNGSMINISTER wird William Perry (66), bisher stellvertrender<br />
Pentagonchef.<br />
HITLER-PLAGIAT: Hitler-Tagebücher-Fälscher Konrad Kujau bewirbt sich als<br />
Bürgermeister für seine Heimatstadt Lobau.<br />
26.01.94 VERGIFTETE NORDSEE: Auch an die schleswig-holsteinische Küste sind<br />
Päckchen mit dem giftigen Pflanzenschutzmittel „Apron<br />
plus 50 DS“ angeschwemmt worden. Im Dezember hatte<br />
der französische Frachter „Sherbro“ 88 Container davon<br />
verloren. 100.000 Tüten sollen noch in der Nordsee treiben.<br />
DA SPD-FILZ: Die <strong>CDU</strong> überlegt, einen Untersuchungsausschuß wegen der<br />
Geschäfte des Volker Schmidt (SPD) zu beantragen.<br />
01.04.94 ELEFANTEN FRESSEN WEIHNACHTSBÄUME, meldet das „DE“ am 26.1.. Darmstadts<br />
Grüne sollen beschliessen, zum 1. April einen Antrag<br />
einzubringen, daß die Stadt aus Wiederverwertungsgründen<br />
ein solches Tier anschafft. Beim Fuhr- <strong>und</strong> Reinigungsamt<br />
könnte der Stadt-Elefant namens Knecht Ruprecht Unterschlupf<br />
finden. red.
2. Irak-Giftgasprozeß:<br />
Bayer-Gutachter wollen<br />
Angeklagte entlasten<br />
Die Giftgasopfer: Von 5.000 bis zu 20.000 reichen unterschiedliche Schätzungen. Am 17. <strong>und</strong> 18. März 1988 setzte Saddam Hussein die mörderische Waffe ein. Vor Gericht<br />
stehen noch immer die Lieferanten der Produktionsanlagen von Samarra, allerdings nur wegen Verstoßes gegen das Außenwirtschaftsgesetz – nicht wegen Beihilfe zum Völkermord<br />
(Foto: Agentur)<br />
Am 17.1. 94 ist der sogenannte Irak-Giftgasprozeß<br />
vor der 13. Strafkammer des<br />
Darmstädter Landgerichts wiedereröff<strong>net</strong><br />
worden. Über ein halbes Jahr hat es damit<br />
gedauert, acht der ehemals zehn angeklagten<br />
Manager <strong>und</strong> Mitarbeiter der Firmengruppe<br />
Karl-Kolb (Dreieich) <strong>und</strong> W.E.T.<br />
(Hamburg) erneut vor Gericht zu stellen,<br />
wo sie sich wegen angeblich illegaler<br />
Exporte in den Irak zu verantworten haben<br />
– nicht etwa wegen Beihilfe zum Völkermord.<br />
Die Vorwürfe der Anklage spalten die<br />
Beschuldigten in den sogenannten Südkomplex<br />
<strong>und</strong> den Nordkomplex. Die Angeklagten<br />
des sogenannten Südkomplexes,<br />
Manager <strong>und</strong> Mitarbeiter der Karl-Kolb Firmengruppe<br />
mit Sitz in Dreieich, sollen zwischen<br />
1983 <strong>und</strong> 1985 drei Chemieanlagen<br />
in den Irak geliefert haben, die von Mitarbeiter<br />
Ewald Langer so umgebaut wurden,<br />
daß sie zur Herstellung chemischer Kampfstoffe<br />
besonders geeig<strong>net</strong> waren.<br />
Gasangriffe auf Kurden<br />
Nachdem die B<strong>und</strong>esregierung 1984 auf<br />
massiven Druck aus dem Ausland versucht<br />
hatte, die Lieferungen durch eine Verschärfung<br />
der Außenwirtschaftsverordnung zu<br />
stoppen, führten die Angeklagten Joachim<br />
Fraenzel <strong>und</strong> Helmut Maier laut Staatsanwaltschaft<br />
die Exporte über das Ausland<br />
vor, <strong>und</strong> halfen dem Irak so weiterhin beim<br />
Aufbau seiner Giftgasfabrik in Samarra.<br />
Fraenzel wird außerdem vorgeworfen, zwischen<br />
Dezember 1986 <strong>und</strong> Herbst 1988<br />
beim Export einer Anlage zur Beschichtung<br />
von Bomben gegen aggressive Chemikalien<br />
federführend tätig gewesen zu sein. In dieser<br />
Zeit erreichte der von Saddam Hussein<br />
befehligte Völkermord gegen die Kurden im<br />
eigenen Land seinen Höhepunkt: Dutzende<br />
kurdischer Dörfer <strong>und</strong> Städte wurden von<br />
der irakischen Luftwaffe mit Giftgasgranaten<br />
bombardiert. 1989, ein Jahr nachdem<br />
die Bilder verwüsteter kurdischer Städte<br />
<strong>und</strong> Dörfer durch die Weltpresse gegangen<br />
waren, nachdem allein beim Giftgasangriff<br />
auf das kurdische Halabdija nach offiziellen<br />
Angaben mindestens 5.000 Menschen<br />
grausam vergiftet worden waren, soll<br />
Fraenzel noch Ersatzteile für die Bombenbeschichtungsanlage<br />
geliefert haben.<br />
Zum Tode verurteilter Vermittler<br />
Die Angeklagten des sogenannten Nordkomplexes,<br />
die Manager der Firma W.E.T<br />
mit Sitz in Hamburg, brachten 1984 eine<br />
Maschine in den Irak, die zur Herstellung<br />
einer Bombenfertigungsstraße gedacht<br />
war. Zwei Jahre später folgte ein Kühlcontainer<br />
für die Konservierung chemischer<br />
Kampfstoffe. Der ehemalige Preussag Mitarbeiter<br />
Al Kadhi, der bei den genannten<br />
Lieferungen als Vermittler zwischen<br />
Deutschland <strong>und</strong> dem Irak fungiert hatte,<br />
soll 1986 zudem eine Bombenverschraubungsanlage<br />
in den Irak geliefert haben.<br />
1987 <strong>und</strong> 1988 führten die W.E.T. laut<br />
Anklageschrift eine Kampfstoffanlage in 28<br />
Teillieferungen in den Irak aus. Der<br />
Deutsch-lraker Al Kadhi wirkte bei dieser<br />
Ausfuhr nicht mehr mit; er war 1986 im Irak<br />
inhaftiert <strong>und</strong> zum Tode verurteilt worden,<br />
weil er – ein wahrer Geschäftsmann – Gasmasken<br />
an den Kriegsgegner des Irak, den<br />
Iran geliefert hatte. Ein Gnadengesuch<br />
Weizsäckers befreite Al Kadhi schließlich<br />
aus der Todeszelle.<br />
Der erste Giftgas-Prozeß<br />
Bei der Wiedereröffnung des Prozesses<br />
sitzt Al Kadhi nicht mehr auf der Anklagebank.<br />
Auch, wenn im Prozeß-Jargon vom<br />
„gesondert verfolgten“ Al Kadhi gesprochen<br />
wird – tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit<br />
gering, daß er sich noch einmal vor<br />
Gericht wird verantworten müssen, nachdem<br />
er im ersten Verfahren wegen mysteriöser,<br />
medizinisch nicht nachweisbarer<br />
„Absencen“ nach Hause geschickt worden<br />
war.<br />
Überhaupt war der erste Irak-Giftgasprozeß<br />
bis zu seinem oft prognostizierten <strong>und</strong><br />
schließlich doch plötzlichen Ende nicht<br />
gerade fruchtbar. Die Verteidigung hielt die<br />
Kammer mit ständigen Einstellungs-<br />
Abtrennungs - <strong>und</strong> Aussetzungsanträgen in<br />
Atem. Zur Sache wurde kaum verhandelt,<br />
<strong>und</strong> wenn es doch geschah, dann in einer<br />
Art, die Staatsanwalt Thomas Brand mit der<br />
Bemerkung kommentierte, er schätze,<br />
höchstens 5 Prozent der Verhandlungsteilnehmer<br />
verstünden die Prozeßführung des<br />
Vorsitzenden. Brands Kollege Staatsanwalt<br />
Thorer empfahl Richter Alfred Pani gar,<br />
eine Strafrechtsvorlesung des ersten<br />
Semesters zu besuchen.<br />
Als im September 1992 alle Sachverständigen<br />
beurlaubt wurden, geriet die Verhandlung<br />
zur Farce: Alle zehn Tage wurde eine<br />
kurze Hauptverhandlung anberaumt, um<br />
die Fristen zu wahren. Oft verlas die Kammer<br />
dann nur ein einziges Schriftstück,<br />
getreu der vom Richter ausgegebenen<br />
Parole: „Wir dürfen hier nicht zu viel<br />
machen.“<br />
Im November 1992 beantragte die Verteidigung<br />
mal wieder erfolglos die Aussetzung<br />
des Verfahrens, diesmal, weil das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />
die Verfassungsbeschwerde<br />
der Firma Kolb wegen der Außenwirtschaftsverordnung<br />
angenommen hatte.<br />
Auch einen Befangenheitsantrag der Verteidigung<br />
gegen die Sachverständigen Knipfelberg,<br />
Jäger <strong>und</strong> Hallmann – sie sollten<br />
vor allem die vom Nordkomplex gelieferten<br />
Anlagen begutachten – lehnte die Kammer<br />
ab.<br />
Streit um Gutachter<br />
Ende Januar 1993 stand dann fest, was alle<br />
befürchtet hatten: Der Gutachter der Staatsanwaltschaft,<br />
Professor Richarz, dessen<br />
Gutachten zur Eröffnung des Prozesses<br />
geführt hatte, bat aus ges<strong>und</strong>heitlichen<br />
Gründen um seine Entlassung. Die Staatsanwaltschaft<br />
sah zu Recht den Gr<strong>und</strong>satz<br />
der Waffengleichheit verletzt, als das<br />
Gericht verkündete, sich allein auf den<br />
Sachverständigen Prof. Dialer verlassen zu<br />
wollen. Dialer war anders als Richarz zu<br />
dem Ergebnis gekommen, die vom Südkomplex<br />
exportierten Anlagen seien für die<br />
Giftgasherstellung nicht besonders konstruiert<br />
worden. Die „besondere Konstruktion“<br />
– entscheidende Frage für die Straf-<br />
barkeit<br />
– war<br />
bis zur Verschärfung<br />
der<br />
Außenwirtschaftsverordnung<br />
1984 bedingend für die<br />
Genehmigungspflicht eines Exportes.<br />
Dialer wurde aus diesem Gr<strong>und</strong> als<br />
„Gutachter der Verteidigung“ gehandelt.<br />
Kein W<strong>und</strong>er also, daß die Staatsanwaltschaft<br />
dies Anfang Februar l993 mit einem<br />
Ablehnungsantrag gegen die drei Berufsrichter<br />
<strong>und</strong> die beiden Schöffen quittierte.<br />
Die zur Entscheidung berufene 9. Strafkammer<br />
lehnte diesen Antrag jedoch nachlässig<br />
begründet ab.<br />
Hoffnung auf neuen Prozeß<br />
Im Juni 1993 gab die Kammer unter dem<br />
Vorsitz Panis dem Antrag der Staatsanwaltschaft<br />
nach, auch Professor Dialer als Gutachter<br />
zu entbinden. Vorausgegangen war<br />
eine Anhörung des Sachverständigen für<br />
Chemieanlagen, bei der Zweifel an seiner<br />
Sachk<strong>und</strong>e aufkamen. Dialer gestand ein,<br />
sein Wissen vornehmlich aus Büchern über<br />
Pestizidherstellung entnommen zu haben,<br />
in denen jedoch wegen Geheimhaltung vieles<br />
verschwiegen werde. Dennoch kam der<br />
Entschluß der Kammer, den Prozeß abzusetzen,<br />
für die Staatsanwaltschaft überraschend.<br />
Nach Ansicht des Staatsanwalts<br />
Brand hätte ohne weiteres zunächst ohne<br />
Gutachter für Chemieanlagen verhandelt<br />
werden können. Eine Beschwerde der<br />
Staatsanwaltschaft gegen die Absetzung<br />
des Prozesses vor dem OLG Frankfurt blieb<br />
erfolglos: der Giftgasprozeß war nach fast<br />
80 Verhandlungstagen, die uns SteuerzahlerInnen<br />
zwischen drei <strong>und</strong> fünf Millionen<br />
Mark kosteten, zunächst beendet. So<br />
unglücklich war die Staatsanwaltschaft<br />
jedoch über das Platzen des Prozesses<br />
nicht; Brand verband mit einer Neueröffnung<br />
des Prozesses die Hoffnung, man<br />
werde die Verhandlung straffer führen <strong>und</strong><br />
alte Fehler vermeiden.<br />
Geeig<strong>net</strong> oder nicht?<br />
Am 17.1. war es dann soweit; der Prozeß<br />
wurde vor der gleichen Kammer des Darmstädter<br />
Landgerichts wiedereröff<strong>net</strong>. Geändert<br />
hatten sich jedoch die Vorzeichen.<br />
Bereits im Dezember 1993 war in der Presse<br />
die Rede davon, nach den neuen Gutachten<br />
sei selbst der Staatsanwalt von einem<br />
Freispruch für die Angeklagten überzeugt.<br />
Auch Richter Pani eröff<strong>net</strong>e die Verhandlung<br />
mit den Worten, die Verteidigung<br />
Fraenzels werde nun ja von der Staatsanwaltschaft<br />
übernommen. Richtig ist, daß<br />
die Gutachten der Professoren Dr. Hellmut<br />
Hoffmann (vom Verband der chemischen<br />
Industrie, Wuppertal) <strong>und</strong> Dr. Wolfgang<br />
Swodenk (von den Bayer-Werken, Odhental<br />
bei Leverkusen) zu dem Ergebnis kommen,<br />
die fraglichen Chemieanlagen seien für die<br />
Produktion der Kampfstoffe Lost, Tabun<br />
<strong>und</strong> Sarin „schlecht geeig<strong>net</strong>“ gewesen. Die<br />
beiden als Ersatz für Richarz <strong>und</strong> Dialer<br />
vom Gericht bestellten Gutachter, die früher<br />
als Manager bei der Bayer AG tätig waren,<br />
vertreten nach Angaben der Staatsanwaltschaft<br />
in ihrer nur elfseitigen Untersuchung<br />
zudem die Ansicht, der ganze in Samarra<br />
befindliche Chemie-Anlagenkomplex sei<br />
nicht für die Kampfstoffherstellung besonders<br />
konstruiert gewesen – was auf Gr<strong>und</strong><br />
des Arbeitgebers auch wenig w<strong>und</strong>ert. Vermutlich<br />
habe man auf diesen Anlagen<br />
Pflanzenschutzmittel produziert. Diesen<br />
Schluß zogen die beiden Sachverständigen<br />
vor allem aus dem Fehlen elementarer<br />
Sicherheitsvorkehrungen, ohne die eine<br />
Giftgasproduktion nicht möglich sei. Der<br />
Schweizer Gutachter Richarz war in seinem<br />
Gutachten zu der Überzeugung gekommen,<br />
daß die Anlagen zur Giftgasherstellung<br />
nicht nur geeig<strong>net</strong>, sondern sogar speziell<br />
konstruiert waren.<br />
Anklagevorwürfe<br />
unbeeinträchtigt<br />
Ein Freispruch für „die Angeklagten“ folgt<br />
jedoch auch aus dem Gutachten Swodenks<br />
(bereits im Imhausen-Prozeß als Sachverständiger<br />
tätig) <strong>und</strong> Hoffmanns (ehemaliger<br />
Berater der B<strong>und</strong>esregierung bei der<br />
Abrüstungskonferenz für Chemiewaffen<br />
1991 in Genf) keineswegs. Die Angeklagten<br />
des Nordkomplexes, Leifer, Holzer <strong>und</strong><br />
Krauskopf sind von den neuen Gutachten<br />
nicht betroffen. Eine Entlastung bringen<br />
diese lediglich für die drei Hauptangeklagten<br />
des Südkomplexes Fraenzel, Maier <strong>und</strong><br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 4<br />
Darmstädter Landgericht eröff<strong>net</strong><br />
Prozeß gegen Waffenhändler<br />
mit neuen Fachleuten<br />
Langer.<br />
Die<br />
Angeklagten der<br />
Firma Karl Kolb (Südkomplex)<br />
sind nicht aus<br />
dem Schneider. Für eine Verurteilung<br />
reicht aus, wenn die Anlagen<br />
zur Giftgasproduktion geeig<strong>net</strong> waren, ein<br />
besondere Konstruktion ist für die Genehmigungspflicht<br />
nicht erforderlich. Geschaffen<br />
wurde das „Lex Kolb“ 1984, allerdings<br />
in dem sogenannten Umlaufverschweigungsverfahren,<br />
d. h. ohne ausdrückliche<br />
Zustimmung der Minister. Ob dies zur<br />
Unwirksamkeit der Verordnung führt, soll<br />
ein für April erwartetes Urteil des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts<br />
klären. Aber auch,<br />
wenn das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht die<br />
Verordnung von 1984 für unwirksam hält,<br />
entfällt die Strafbarkeit der Manager wegen<br />
der gelieferten Anlagen nicht.<br />
BVG-Urteil wird erwartet<br />
Am 1.1.1987 wurde die Änderung der<br />
Außenwirtschaftsverordnung offiziell nachvollzogen,<br />
indem die Minister abstimmten.<br />
Die Verfassungsbeschwerde rügt allerdings<br />
nicht nur das Verfahren, sondern hält die<br />
Änderung auch materiell-rechtlich für<br />
unwirksam. So verstoße der Begriff der<br />
„Geeig<strong>net</strong>heit“, durch den auch der Export<br />
sogenannten dual-use Waren genehmigungspflichtig<br />
gemacht werden sollte,<br />
sowohl gegen den verfassungsrechtlichen<br />
Bestimmtheitsgr<strong>und</strong>satz als auch gegen<br />
das Übermaßverbot. Es ist demnach möglich,<br />
daß das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht die<br />
Änderung der Außenwirtschaftverordnung<br />
auch nach der Heilung des Verordnungsgebungsverfahrens<br />
vom 1. 1. 1987 für<br />
unwirksam hält <strong>und</strong> damit alle Kolb-Lieferungen<br />
am Maßstab der „besonderen Konstruktion“<br />
gemessen werden müssen.<br />
Betrug von Kolb<br />
Selbst dann bleibt jedoch zumindest nach<br />
Ansicht der Staatsanwaltschaft der<br />
Betrugsvorwurf unbeeinträchtigt, den die<br />
Anklageschrift gegen Maier <strong>und</strong> Fraenzel<br />
erhebt. Die beiden Kolb-Manager spiegelten<br />
Vertretern der B<strong>und</strong>esrepublik vor,<br />
ihnen stünde eine Schadensersatzforderung<br />
zu, weil sie nach 1984 zu Unrecht veranlaßt<br />
worden seien, ihre Lieferungen in<br />
den Irak zu unterlassen. In Wirklichkeit entstand<br />
der Firma kein Schaden, auch nach<br />
der Änderung der Außenwirtschaftsverordnung<br />
stellte sie ihre Lieferungen an den Irak<br />
nicht ein. Zwar kam es letztlich nicht zur<br />
Auszahlung der ausgehandelten Schadensersatzsumme<br />
<strong>und</strong> damit zur Vollendung<br />
des Betrugs, die B<strong>und</strong>esregierung hatte<br />
jedoch bereits 1,6 Millionen DM zur Erfüllung<br />
ihrer angeblichen Pflichten in den B<strong>und</strong>eshaushalt<br />
eingestellt. Allerdings kann<br />
sich die Kammer mit dem Urteil in Sachen<br />
Betrug nicht allzuviel Zeit lassen, denn nach<br />
fünf Jahren – somit Ende 1994 – verjährt<br />
diese Tat.<br />
Auf ein Neues<br />
Die Wirtschaftsstrafkammer des Darmstädter<br />
Landgerichts ist offensichtlich entschlossen,<br />
diesmal alles besser zu machen.<br />
Pani eröff<strong>net</strong>e den Prozeß daher folgerichtig<br />
mit Hinweisen zum geplanten Ablauf.<br />
Das Gericht will diesmal gleich zu Beginn<br />
des Prozesses die Gutachter hören. Die<br />
Gutachten sollen, erläuterte Pani, in der<br />
hypothetischen Annahme gehört werden,<br />
die Anklagevorwürfe träfen zu. Je nach<br />
dem, zu welchem Ergebnis die Gutachter<br />
kämen, könne das Verfahren gegen den<br />
Südkomplex „erheblich verkürzt werden“.<br />
Im Klartext: Sollte eine Strafbarkeit der<br />
Manager wegen mangelnder Eignung der<br />
gelieferten Anlagen selbst bei berechtigter<br />
Anklage zu verneinen sein, könne man sich<br />
das Nachprüfen der Anklagevorwürfe – was<br />
wurde wann, von wem geliefert – ersparen.<br />
Für den Nordkomplex wollte Pani an diesem<br />
ersten Verhandlungstag, „noch keine<br />
Prognose wagen“.<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite
☛ Fortsetzung<br />
2. Irak-Giftgasprozeß …<br />
Knapp vorbei ist auch daneben?<br />
Dafür erstaunte er die Öffentlichkeit: „Das<br />
vor einem Jahr in Richtung Staatsanwaltschaft<br />
gesprochene Wort, ,knapp vorbei ist<br />
auch daneben‘, ist, wenn auch nicht zur<br />
Gewißheit, so doch zur Wahrscheinlichkeit<br />
geworden.“ Das Gutachten stelle fest, daß<br />
die Anlagen, auf die sich die Anklage stütze,<br />
nicht die eigentlichen Produktionsanlagen<br />
für Giftgase seien, „sie sind scheinbar unter<br />
anderen Hausnummern zu finden“, erklärte<br />
Pani <strong>und</strong> spielte damit auf die Bezeichnung<br />
der einzelnen Gebäude in Samarra unter<br />
den Nummern P 4, P 7, P 8 etc. an. Eine<br />
Anklageschrift habe aber, das dürfe man<br />
nicht vergessen, auch Begrenzungsfunktion:<br />
„Man kann nicht von einem Misthaufen<br />
zum anderen springen, wenn man im<br />
ersten nichts findet“, das werde auch in der<br />
höheren Rechtsprechung immer wieder<br />
betont.<br />
Weder positiv noch negativ<br />
Staatsanwalt Brand, in der Prozeßpause<br />
nach der Bedeutung dieser Erklärung vom<br />
Richtertisch gefragt, reagierte gelassen:<br />
„Ich weiß auch nicht, wie der Vorsitzende<br />
darauf kommt. Wir haben uns auf die Anlagen<br />
konzentriert, die nach den Gutachten<br />
der Sachverständigen am ehesten sensibel<br />
waren. Wenn sich aus den jetzigen UN-Gutachten<br />
ergibt, daß andere Anlagen in<br />
Samarra sensibler waren, waren die möglicherweise<br />
anderer Herkunft, also nicht von<br />
‚unseren‘ Leuten. “ Auch Fraenzels Verteidiger,<br />
Rechtsanwalt Hild, wollte die Äußerung<br />
des Richters klargestellt wissen <strong>und</strong> der<br />
Vorsitzende beeilte sich, zu erklären: „Ich<br />
habe mich in keinster Weise darüber verhalten,<br />
die Herren hier seien an der Lieferung<br />
sensiblerer Anlagen beteiligt gewesen.<br />
Hierzu wurde nicht ermittelt, mehr kann ich<br />
positiv <strong>und</strong> negativ nicht sagen.“ Mit anderen<br />
Worten: Im Nachhinein wollte er nichts<br />
gesagt haben, hatte aber im Hinterkopf, daß<br />
die Russen eine Anlage für die Mengenproduktion<br />
des Kampfgases Lost lieferten -<br />
eine neue Erkenntnis im zweiten Prozeß.<br />
Schon mal gesehen<br />
Dieser Klarstellung des Vorsitzenden folgte<br />
der erste Antrag der Verteidigung, eine<br />
knappe St<strong>und</strong>e nach Eröffnung der Hauptverhandlung.<br />
Der Rechtsanwalt des Angeklagten<br />
W.E.T.-Managers, Peter Leifer, forderte<br />
die Kammer auf – für Beobachter des<br />
ersten Giftgasprozesses ein déja-vu-Erlebnis<br />
– das Verfahren gegen Leifer wegen örtlicher<br />
Unzuständigkeit des Darmstädter<br />
Landgerichts abzusetzen. Der sachliche<br />
Zusammenhang zwischen Nord- <strong>und</strong> Südkomplex,<br />
mit dem die Staatsanwaltschaft<br />
die Zuständigkeit des Darmstädter Landgerichts<br />
auch für die Hamburger Manager<br />
begründet hatte, sei nicht gegeben. Leifer<br />
werde daher unter Verstoß gegen das<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz sein gesetzlicher Richter entzogen;<br />
er habe einen Anspruch darauf, daß<br />
in Hamburg gegen ihn verhandelt werde.<br />
Rechtsanwalt Thiez-Bartram jammerte in<br />
der Begründung seines Antrags über die<br />
beklagenswerte Situation seines Mandanten.<br />
Dieser lebe von Arbeitslosenhilfe <strong>und</strong><br />
falle, werde erst die Arbeitslosenhilfe eingestellt,<br />
gar der Sozialhilfe anheim. Jeder Versuch<br />
Leifers, Arbeit zu finden, erweise sich<br />
bis genau zu dem Zeitpunkt hoffnungsvoll,<br />
zu dem Leifer eingestehe, an zwei Tagen<br />
der Woche, 600 km von Hamburg entfernt,<br />
einer Gerichtsverhandlung beiwohnen zu<br />
müssen. Die Regel, daß ein Eröffnungsbeschluß<br />
nicht rückgängig gemacht werden<br />
könne, müsse deshalb hier eine Ausnahme<br />
finden. Erwartungsgemäß widersprach<br />
Pani dem Antrag, der schon einmal im April<br />
1992 erfolglos gestellt worden war, auch<br />
diesmal: „Wir haben Angst, uns auf dieses<br />
Eis zu begeben. Unsere Strafprozeßordnung<br />
ist nicht so fragmentarisch wie die<br />
anglo-amerikanische. Dann heißt es, Ihr<br />
habt eure Kompetenzen, dann sprecht ihn<br />
doch um Himmelswillen frei.“<br />
EG-Recht abgelehnt<br />
Das nächste déja-vu-Erlebnis folgte auf<br />
dem Fuße. Der Angeklagte Schwarz, eher<br />
eine Nebenfigur im Giftgas-Prozeß, meldete,<br />
er fühle sich nicht so. Das Gericht gab<br />
ihm daraufhin auf, sich von der Amtsärztin<br />
untersuchen zu lassen. Danach bestand<br />
auch keine Klarheit über seinen Ges<strong>und</strong>heitszustand,<br />
weil die Amtsärztin nicht ausreichend<br />
ausgerüstet war, um ein Belastungs-EKG<br />
zu erstellen. Ohne dieses sei<br />
eine zuverlässige Diagnose aber nicht möglich.<br />
Gegen den Vorschlag Panis, die Hauptverhandlung<br />
zu schließen, bis die Untersuchung<br />
des Angeklagten in einer kardiologischen<br />
Abteilung Gewißheit gebracht habe,<br />
erhob Rechtsanwalt Hild lautstarken Protest.<br />
Er finde, erklärte der publicity-verwöhnte<br />
Anwalt, „dieses Krankheitsbild am<br />
ersten Verhandlungstag nicht sehr elegant.“<br />
Seinem Mandanten Fraenzel könne<br />
angesichts der Vorgeschichte des Prozesses<br />
nicht zugemutet werden, daß jetzt<br />
schon wieder unterbrochen werde. Schließlich<br />
habe man aus diesem Gr<strong>und</strong> selbst keinen<br />
einzigen Antrag gestellt. Hild setzte<br />
sich schließlich mit seinem Antrag durch,<br />
das Verfahren gegen Schwarz vorläufig<br />
abzutrennen <strong>und</strong> die Verhandlung fortzuführen<br />
„mit dem Risiko, daß wir alles, was<br />
wir ohne ihn machen, wiederholen müssen.“<br />
Nachdem das Gericht dem Antrag<br />
stattgegeben hatte, meldete sich Leifers<br />
Verteidiger Thiez-Bartram erneut zu Wort.<br />
Er stellte den ebenfalls nicht gerade neuen<br />
Antrag, die Hauptverhandlung auszusetzen<br />
<strong>und</strong> dem Europäischen Gerichtshof Rechtsfragen<br />
vorzulegen, die die Vereinbarkeit der<br />
Außenwirtschaftsverordnung mit geltendem<br />
EG-Recht betreffen. Einen ähnlichen<br />
Antrag des Anwalts hatte die Kammer<br />
bereits im Sommer 1992 mit der Begründung<br />
abgelehnt, die Einführung eines<br />
Genehmigungsverfahrens für Exporte verbleibe<br />
nach dem europäischen Vertragsrecht<br />
in der Kompetenz der Mitgliedstaaten.<br />
Thiez-Bartram hatte seine Hausaufgaben<br />
allerdings gemacht <strong>und</strong> sich mit der damaligen<br />
Rechtsauffassung der Kammer ausführlich<br />
auseinandergesetzt.<br />
Überflüssiger Prozeß?<br />
Einige Anwälte schlossen sich dem Antrag<br />
auf Nachfragen des Richters an, nur ein<br />
nicht genau zu identifizierender Spaßvogel<br />
aus den Reihen der Verteidigung merkte an:<br />
„Dafür müßte ich den Antrag noch einmal<br />
hören.“ Richter Pani erklärte, den Antrag<br />
noch nicht bescheiden zu wollen: Gr<strong>und</strong>lage<br />
sei, daß es sich um dual-use-Produkte<br />
handele, gerade in diesem Zusammenhang<br />
müßte man aber zunächst die Gutachten<br />
hören.<br />
Rechtsanwältin Michalke beantragte noch<br />
einmal, den Eröffnungsbeschluß auszusetzen.<br />
Sie habe sich mit ihren Kollegen überlegt,<br />
was passiert wäre, wenn das neue<br />
Gutachten schon im Ermittlungsverfahren<br />
vorgelegen hätte. Der Prozeß wäre dann<br />
schließlich nie eröff<strong>net</strong> worden. Fraglich sei<br />
nun, ob eine Möglichkeit bestehe, sich<br />
gewissermaßen in diesen Stand zurückzuversetzen.<br />
Sie wolle ihrem Mandanten, der<br />
in der Zwischenzeit schwer erkrankt sei,<br />
eine erneute Hauptverhandlung ersparen.<br />
Michalke vertrat die Ansicht, alle Tatkomplexe<br />
seien entscheidungsreif in dem Sinne,<br />
daß die sich die Anklagevorwürfe nicht<br />
bewahrheitet hätten. Da mag etwas dran<br />
sein, nicht umsonst kommen die neuen<br />
Gutachter aus Kreisen der deutschen Chemie-Industrie.<br />
Astrid Nungeßer<br />
Telekom verärgert<br />
Stadt<br />
Im Frühjahr ’92 war die Telekom an die<br />
Stadt Darmstadt herangetreten, um das<br />
Gr<strong>und</strong>stück Pallaswiesenstraße 184 mit<br />
einer Fläche von 6.437 qm zu kaufen. Das<br />
Unternehmen wollte dort zunächst ein Ausweichrechenzentrum,<br />
dann ein Informationstechnisches<br />
Zentrum unter Mitbenutzung<br />
von Infrastruktureinrichtungen eines<br />
benachbarten Rechenzentrums errichten.<br />
Da es seinen Standort Darmstadt samt der<br />
Beschäftigen ohne dieses Gr<strong>und</strong>stück<br />
gefährdet sah <strong>und</strong> dies der Stadtregierung<br />
unmißverständlich klarmachte, verwarf der<br />
Magistrat alle Bedenken <strong>und</strong> stimmte dem<br />
Verkauf des Geländes für 380 Mark pro qm<br />
am 21. 7.93 zu. Hatte die Telekom gedroht<br />
<strong>und</strong> gedrängelt, passierte daraufhin aber<br />
nichts. Erst am 8. Dezember meldete sie,<br />
nicht mehr zu kaufen <strong>und</strong> stattdessen Büroflächen<br />
anzumieten. Dies stieß im Magistrat<br />
auf Unverständnis, er fühlt sich düpiert <strong>und</strong><br />
„im Regen stehen gelassen“. OB Peter Benz<br />
(SPD): „Ein ärgerlicher Vorgang“.<br />
Volker Rinnert, Presseamt<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 5<br />
Keine Sicherheitsstandards –<br />
wie bei Hoechst<br />
Gutachter beschreiben<br />
Kampfstoffanlagen in<br />
Samarra, dabei fällt<br />
kein Wort über die<br />
Opfer<br />
Die Gutachter sollen den Juristen helfen<br />
bei der Beurteilung der Frage: Waren<br />
die Chemieanlagen im irakischen Samarra<br />
besonders „geeig<strong>net</strong> oder konstruiert“, um<br />
Kampfgase wie Tabun, Sarin oder Lost herzustellen?<br />
Die zwei neuen Gutachter Wolfgang<br />
Swodenk <strong>und</strong> Helmut Hoffmann verneinen<br />
dies.<br />
Swodenk war von 1958 bis 1986 bei dem<br />
Chemiekonzern Bayer-Leverkusen in der<br />
„Technologischen Entwicklungsabteilung“<br />
zeitweise als deren Leiter tätig. Er beschreibt<br />
die „Vielzweckanlagen“ Ali <strong>und</strong><br />
Mohamed <strong>und</strong> legt Schwerpunkte auf die<br />
Sicherheitsvorrichtungen. Ein Kessel beispielsweise<br />
war laut Swodenk mit einem<br />
Sicherheitsventil aus „Stanniolpapier“ gegen<br />
Überdruck geschützt <strong>und</strong> er zieht daraus<br />
das Fazit: „Wenn ich sehr giftige Stoffe<br />
zu verarbeiten hätte, würde ich das so nicht<br />
bauen. Ich muß darauf achten, daß den Mitarbeitern<br />
bei der Produktion nichts passiert“<br />
<strong>und</strong> vergleicht mit den Anlagen der<br />
Firma Hoechst, „wo auch keine Sicherheitsmaßnahmen<br />
vorhanden waren“. Daß der<br />
Irak an solchen Sicherheitsstandards aus<br />
Umweltschutzgründen wenig Interesse gezeigt<br />
hatte, war schon im ersten Prozeß bekannt<br />
geworden: Zum einen liegt Samarra<br />
in der Wüste, weit von der Zivilisation entfernt<br />
<strong>und</strong> während der Produktion sollen<br />
H<strong>und</strong>erte von Arbeitern erkrankt <strong>und</strong> ständig<br />
ausgewechselt worden sein. Die<br />
Giftgasanlagen in Samarra beschreibt Swodenk<br />
als „beliebteste Anlagenart, da sie für<br />
möglichst viele Produkte ausgelegt sind“.<br />
Nicht besonders konstruiert<br />
Der Gutachter versucht zu belegen, daß die<br />
Chemie-Destille („darauf können sie auch<br />
Alkohol destillieren“) in Samarra nicht geeig<strong>net</strong><br />
war, um hochwertige Produkte zu<br />
erzielen. Dünnschicht- <strong>und</strong> Vakuumverdampfer<br />
fehlen in der Anlagengruppe ebenso<br />
wie Trennbehälter – „eine schlechte Anlage“.<br />
Bei der Produktion des Kampfgases<br />
Tabun, bei dem Natrium <strong>und</strong> Natriumchlorid<br />
vermischt werden, fällt Salz an <strong>und</strong><br />
Swodenk konstatiert: „Feststoffe können<br />
zwar eingegeben, aber nicht herausgeholt<br />
werden“, weshalb er den Schluß zieht: „Die<br />
Anlage ist nicht besonders konstruiert“. Ein<br />
weiteres Argument gegen die besondere<br />
Konstruktion: „Die Substanzen in Samarra<br />
sind unrein gewonnen worden“. In der Tat<br />
sind irakische Granaten im Iran gef<strong>und</strong>en<br />
worden, die mit Sarin gefüllt waren, das als<br />
schlecht eingestuft wird. Je reiner ein Giftgas<br />
ist, desto länger behält es seine volle<br />
Wirksamkeit <strong>und</strong> ist gleichzeitig haltbarer.<br />
Technische Mängel?<br />
Für Swodenk steht auch hier wieder die Frage<br />
der Produktionssicherheit im Vordergr<strong>und</strong>.<br />
Aus der abgeschalteten Anlage können<br />
die Salze selbstverständlich entfernt<br />
werden, die Produktion dauert nur länger.<br />
Dann aber kommt der entscheidende Einwand:<br />
In der Anlage Ali hat Swodenk keine<br />
sogenannten „Zudosierschnecken“ gef<strong>und</strong>en.<br />
Dabei handelt es sich um einen mechanischen<br />
Vortrieb, der in Leitungen von<br />
Chemieanlagen eingebaut wird, für Materialien,<br />
die hochviskos, zähflüssig oder wie<br />
hier kristallin sind. „Das müssen Sie einmal<br />
überlegen, wie soll sich denn in den dünnen<br />
Leitungsrohren das Salz fortbewegen?“<br />
Diese Zudosierschnecken haben die Gutachter<br />
jedoch in den Konstruktionszeichnungen<br />
für die Anlage Achmed gef<strong>und</strong>en –<br />
die allerdings stammte aus russischer<br />
Fabrikation <strong>und</strong> dort wurde nachweislich<br />
eines Unescom-Berichtes das Kampfgas<br />
Lost, auch Senfgas genannt, produziert.<br />
Allerdings besteht technisch die Möglichkeit,<br />
bei dem Mischen der Kampfgase auch<br />
in der Anlage Ali, die Salze durch Lösungsmittel<br />
zu beseitigen. Für das Mischen von<br />
Tabun sei die Anlage „schlecht geeig<strong>net</strong>“,<br />
für Lost „möglich“, ebenso für Schwefel-<br />
Lost <strong>und</strong> Sarin.<br />
Unbefriedigende Antworten<br />
Den Juristen bereiten die Darlegungen des<br />
Gutachters Probleme: „Für den Begriff<br />
,geeig<strong>net</strong>‘ gibt es offensichtlich Abstufungen.<br />
Was macht eine solche Anlage<br />
typisch?“ will Richter Pani wissen. Die Antwort<br />
ist für Nicht-Chemiker rätselhaft <strong>und</strong><br />
Richter Sagebiel hakt nach: „Gibt es konstruktive<br />
Anlagenmerkmale, die auf die Produktion<br />
von Giftgasen schließen lassen?<br />
Beispielsweise, daß die Anlage nur für<br />
Tabun-Herstellung geeig<strong>net</strong> wäre?“ Swodenk<br />
verneint. Die Staatsanwaltschaft will<br />
mehr wissen: „Wie konnten Sie ihre Gutachten<br />
in drei Monaten erstellen, während<br />
Professor Richarz drei Jahre brauchte?<br />
Wenig überzeugend antwortete Swodenk:<br />
„Unsere Gutachten waren auf der Arbeit<br />
von Professor Richarz aufgebaut“, außerdem<br />
erkenne man auf den Plänen mehr, als<br />
wenn man vor der Anlage stehe. „Hätten die<br />
Iraki eine besser geeig<strong>net</strong>e Anlage bekommen<br />
können?“ fragt die Staatsanwaltschaft<br />
<strong>und</strong> der Gutachter stellt den deutschen Lieferanten<br />
ein schlechtes Zeugnis aus: „Ja<br />
von anderen“. Und auf die Frage nach den<br />
Sicherheitsstandards gibt Swodenk zu:<br />
„Die paar Männeken, die kann man dort in<br />
der Wüste in Schutzanzüge stecken.“ Erübrigt<br />
sich also die Frage nach der „besonderen<br />
Konstruktion“?<br />
Widersprüchliches<br />
Die Ankläger sind noch nicht zu Ende:<br />
„Spielt es denn außer wirtschaftlichen Erwägungen<br />
eine Rolle, wenn man aus einer<br />
solchen Anlage unreine Substanzen erhält –<br />
der Zweck wird damit doch so oder so<br />
erreicht?“ Und Swodek antwortet ausweichend:<br />
„Eine unreine Substanz zersetzt sich<br />
zu schnell, das gibt Lagerprobleme“. Auch<br />
der nächsten präzisen Frage weicht Swodenk<br />
aus. „Wie kann das sein, daß Professor<br />
Richarz zu einem so abwegig anderen<br />
Ergebnis kommt? Er hat gesagt, eine solche<br />
Anlage ist besonders geeig<strong>net</strong>“, fragt<br />
Staatsanwalt Brand <strong>und</strong> Swodenk: „Das ist<br />
seine Schlußfolgerung, die kann ich nicht<br />
nachvollziehen.“ Der zweite Gutachter,<br />
Hoffmann, schaltet sich ein: „Professor<br />
Richarz hat ja nicht alles gewußt – zum Beispiel<br />
wie schlecht die Qualität der Kampfgase<br />
war. Er ist wohl davon ausgegangen, daß<br />
eine Nation, die in den Krieg zieht <strong>und</strong><br />
Kampfgase braucht, daß die Nation alles<br />
verwendet, was sie bekommen kann.“ Der<br />
Gutachter meint noch: „Man muß objektiv<br />
bleiben.“ Niemand weist Hoffmann auf die<br />
unsinnige Aussage hin. Die Darstellung des<br />
Gutachters hinterläßt mehr offene Fragen<br />
<strong>und</strong> Widersprüche, als daß der Beitrag eine<br />
Klärung hätte bringen können.<br />
Schlechte Kampfgase<br />
Der zweite Gutachter Helmut Hoffmann ist<br />
ebenfalls ein Mann des Bayer-Konzerns. Er<br />
erzählt, daß er an der Erfindung von E 605<br />
<strong>und</strong> an der Entwicklung von Lost <strong>und</strong> Sarin<br />
beteiligt war. Hoffmann trägt präzise <strong>und</strong><br />
kenntnisreich vor: Kampfstoffanlagen unterscheiden<br />
sich von normalen Produktionsanlagen<br />
„nur durch Sicherheitseinrichtungen<br />
<strong>und</strong> Einhausungen“. Er weiß in Sachen<br />
Sicherheit zu berichten, daß „pro Jahr<br />
mehrere h<strong>und</strong>ert Vergiftungsfälle wegen<br />
fehlender Sicherheitseinrichtungen“ registriert<br />
wurden. „Spurenreste von Kampfstoffen<br />
haben Unescom-Leute mit hochempfindlichen<br />
Meßgeräten“ festgestellt – aber<br />
„aus der Konstruktion der Anlagen allein ist<br />
das nicht abzulesen“. Als Produktionsanlagen<br />
für Pestizide, so Hoffmann, taugten die<br />
Anlagen Ali <strong>und</strong> Mohamed nicht, da eine<br />
Phasentrennung fehlt, beziehungsweise<br />
„unverständlich ans Ende der Anlage<br />
gesetzt worden ist. In Samarra sind Anlagen<br />
gebaut worden, die nach einem Prozeß<br />
gesucht haben. Man hat viel Geld gehabt<br />
<strong>und</strong> gebaut, ohne zu wissen, was man speziell<br />
bauen will“. Dann spricht er von mangelnder<br />
Qualität der Kampfgase Sarin <strong>und</strong><br />
Tabun, die in Samarra hergestellt worden<br />
sind. „Zunächst hatte man gedacht, es<br />
wären alte Weltkriegsgase aus dem Irgendwo<br />
aufgetaucht“, aber später habe sich<br />
nachweisen lassen, daß das Sarin erst kurz<br />
vor dem Verschuß produziert wurde. Allerdings<br />
müsse man sich auch vor einem „20<br />
prozentigen Sarin“ vorsehen – die Selbstverständlichkeit<br />
<strong>und</strong> Nüchternheit <strong>und</strong> das<br />
mit Stolz vorgetragene Wissen vermitteln<br />
einen Eindruck von dem Denken solcher<br />
Fachleute – kein Wort fällt über die Opfer.<br />
Jetzt waren es die Russen<br />
Dafür aber hätten die Iraker die Herstellung<br />
von Lost beherrscht, meint Hoffmann <strong>und</strong><br />
„das ist laut Unescom-Bericht in der Russenanlage<br />
hergestellt worden“. Richter Pani<br />
lobt, in Hoffmann einen Experten zu haben,<br />
„der bei der Normsetzung für Kampfstoffanlagen<br />
für die Genfer Abrüstungsverhandlungen<br />
tätig war.“ Der Belobigte<br />
ergänzt: „Im Auftrag des Justizministeriums<br />
<strong>und</strong> des Verbandes der Chemischen<br />
Industrie“. Seine Arbeit bestand darin, die<br />
speziellen Konstruktionsmerkmale solcher<br />
Chemie-Anlagen einmal für zivile zum anderen<br />
für militärische Zwecke aufzulisten.<br />
Eine analoge Liste für die zu verarbeitenden<br />
Chemikalien allerdings wurde nicht erstellt.<br />
Die Genfer Abrüstungsverhandlungen müssen<br />
ein Flop gewesen sein, denn Pani fragt<br />
konsequent, welche Anlagenmerkmale<br />
denn speziell für die Produktion von Kampfgasen<br />
gegeben sein müßten: Hoffmanns<br />
Antwort: „Die gibt es nicht. Wir hatten<br />
gewußt, wenn man das macht, daß man alle<br />
Anlagen genehmigungspflichtig machen<br />
muß für den Export.“ Das läßt Rückschlüsse<br />
auch auf die Export-Bestimmungen zu –<br />
nach denen geurteilt werden soll.<br />
Keine besondere Konstruktion<br />
Diese einschneidend klare Aussage des<br />
Gutachters besagt: Es bedarf keiner besonderen<br />
Konstruktionsmerkmale, um auf<br />
einer chemischen Produktionsanlage<br />
Kampfgase herzustellen <strong>und</strong> er belegt dies<br />
noch einmal: „So gut wie alle normalen<br />
Chemieanlagen sind auch zur Herstellung<br />
von Lost geeig<strong>net</strong>“. Dual-use demnach at<br />
all. Problem für die Juristen: Ihr Unterscheidungsmerkmal,<br />
nach dem sie suchen,<br />
die besondere Konstruktion, gibt es demnach<br />
nur, wenn auch ein Interesse an der<br />
Sicherheit der Arbeiter vorhanden wäre.<br />
Pani fragt ganz richtig: „Wozu dann aber die<br />
Norm der besonderen Konstruktion?“<br />
Wo gibt es Chemiker?<br />
Richter Sagebiel sucht weiter nach Beweisen,<br />
daß es sich um eine Kampfstoffanlage<br />
gehandelt hat: „Wenn nicht die Anlage<br />
besonders konstruiert war, konnte der Irak<br />
die Kenntnisse für die Produktion erwerben?“<br />
Gutachter Hoffmann beschreibt, daß<br />
es von der chemischen Formel bis zur Mengenproduktion<br />
hochwertiger Kampfstoffe<br />
eines „zwei Jahre währenden Sammelns<br />
von Erfahrungen bedarf.“ Hätte der Irak<br />
einen Chemiker anheuern können? „Bei den<br />
Russen ja“, meint Hoffmann <strong>und</strong> „bei den<br />
USA gab es auch Experten; die Briten hatten<br />
die Kampfstoffproduktion schon ganz aufgegeben,<br />
die deutschen Experten waren zu<br />
alt; von der DDR wissen wir nichts <strong>und</strong><br />
auch aus Frankreich ist nichts bekannt.“<br />
„Das ist nicht zulässig“<br />
Dann geht es noch einmal um die Gesamtanlage,<br />
denn wenn keine besonderen Konstruktionsmerkmale<br />
vorhanden sein müssen,<br />
dann läßt sich möglicherweise darüber<br />
der Nachweis führen. Einer der Anwälte<br />
fragt nach der Haltbarkeit minderwertiger<br />
Kampfgase <strong>und</strong> Hoffmann spricht von<br />
„Halbwertzeiten innerhalb weniger Monate“.<br />
Allerdings hätten die Iraker nach Stabilisatoren<br />
gesucht. Die Haltbarkeit der todbringenden<br />
Gase kann jedoch auch über<br />
Kühlanlagen verlängert werden. Gutachter<br />
Hoffmann: „Je tiefer die Temperatur, desto<br />
länger sind die Chemikalien haltbar“. Sein<br />
Kollege Swodenk fällt ihm ins Wort: „Daraus<br />
kann aber nicht die Schlußfolgerung<br />
gezogen werden, weil Kühlanlagen da<br />
waren, wurde Giftgas produziert. Das ist<br />
nicht zulässig“. Sollte diese Bewertung<br />
nicht Sache der Richter sein? Die Aufgabe<br />
von Gutachtern besteht darin, technische<br />
Informationen zu geben. Resultat aus beiden<br />
Gutachten: Auf den von deutschen<br />
gelieferten Vielzweckanlagen Ali <strong>und</strong> Mohamed<br />
kann eigentlich nichts produziert werden,<br />
dafür aber Kampfgase auf der russischen<br />
Achmed – eine spezielle Konstruktion<br />
gibt es nicht, weshalb Ali <strong>und</strong> Mohamed<br />
auch Kampfstoff-Produktionsanlagen sind.<br />
M. Grimm
Zu<br />
Beginn der Weltwirtschaftskrise<br />
wollte die DVP – die Partei der<br />
Industrie <strong>und</strong> des Großbürgertums – eine<br />
der wichtigsten sozialpolitischen Errungenschaften<br />
der Weimarer Republik, die<br />
Arbeitslosenversicherung, als „Systemfehler”<br />
beseitigen, den „sozialpolitischen<br />
Pfahl aus dem Fleische des kapitalistischen<br />
Wirtschaftssystems herausreißen”<br />
(1929). In Medienkampagnen wurde der<br />
„Mißbrauch” dieser Institution angeprangert:<br />
Hotelangestellte in großen Kurorten,<br />
die nicht nur versicherungspflichtiges<br />
Gehalt, sondern enorme Trinkgelder im<br />
Sommer kassieren würden, um im Winter<br />
ganz bequem Arbeitslosengeld zu kassieren;<br />
Bauern, die ihre Söhne als Landarbeiter<br />
einstellten <strong>und</strong> sie hernach entlassen<br />
würden, damit sie Arbeitslosenunterstützung<br />
kassieren könnten.<br />
Ähnlichkeiten zu heute sind kein Zufall.<br />
Der „Umbau des Sozialstaats” BRD<br />
beginnt fast identisch.<br />
EINE GROSS ANGELEGTE MISSBRAUCHSKAM-<br />
PAGNE DER BUNDESREGIERUNG SOLL ANPRAN-<br />
GERN, NICHT NUR, WO GESPART WERDEN MUSS,<br />
SONDERN VOR ALLEM, WER AN DER WIRTSCHAFT-<br />
LICHEN KRISE DIE SCHULD TRÄGT. EBEN DIE<br />
ZAHLREICHEN „SOZIALSCHMAROTZER” DIESER<br />
GESELLSCHAFT, DIE MIT ALLER SELBSTVER-<br />
STÄNDLICHKEIT DIE SOZIALEN EINRICHTUNGEN<br />
DIESES STAATES BENUTZEN.<br />
Daß dies keine Geschenke, sondern<br />
Ergebnisse eines aus Arbeit finanzierten<br />
sozialen Sicherungssystems sind, wird<br />
geflissentlich übergangen.<br />
BUNDESKANZLER KOHLS REDE VOM SOZIALSTAAT<br />
BRD ALS „KOLLEKTIVER FREIZEITPARK” IM<br />
Ähnlichkeiten <strong>und</strong> Unterschiede sozialer Entwicklungen 1929 <strong>und</strong> 1993/94<br />
JAHR 1993 ÄHNELT NICHT ZUFÄLLIG REICHS-<br />
KANZLER VON PAPENS ANGRIFF GEGEN DEN<br />
WEIMARER STAAT ALS „WOHLFAHRTSANSTALT”<br />
IM JUNI 1932.<br />
„Bonn ist nicht Weimar” – diese allseits<br />
beliebte Floskel wird um so mehr zur<br />
Selbstberuhigung bemüht, als es nötig<br />
wäre, Ähnlichkeiten <strong>und</strong> Identitäten zu<br />
suchen, um eine neue faschistische Entwicklung<br />
zu verhindern. Doch das Gegenteil<br />
geschieht. Indem eine Binsenwahrheit<br />
strapaziert wird (Bonn ist tatsächlich nicht<br />
Weimar), erübrigt sich die Suche nach<br />
Gemeinsamkeiten, die den Faschismus<br />
haben entstehen lassen. Eine Krise der<br />
Wirtschaft, die den Zweck ihres Wirtschaftens,<br />
die Anhäufung von Kapital zur weiteren<br />
Vermehrung nicht mehr ausreichend<br />
realisieren kann, <strong>und</strong> eine gesellschaftliche<br />
Krise, die als Politik-, Partei- <strong>und</strong> Parlamentsverdrossenheit<br />
daherkommt.<br />
Auch das nicht unähnlich zu aktuellen Entwicklungen.<br />
Sodann der erste Schritt zur<br />
Krisenlösung: ran an die Arbeitskosten,<br />
ran an den Lohn in allen seinen Abteilungen,<br />
vom Arbeits- bis zum Soziallohn.<br />
„SKPWG“ HEISST DIE BONNER NOTVERORD-<br />
NUNG – „SPAR-, KONSOLIDIERUNGS- UND<br />
WACHSTUMSPROGRAMM-GESETZ” VOM OKTO-<br />
BER 93. „NOTVERORDNUNG ZUR SICHERUNG VON<br />
WIRTSCHAFT UND FINANZEN“ NANNTE BRÜNING<br />
SEINE SPAR- UND DEFLATIONSPOLITIK ZWISCHEN<br />
1930 UND 1932, DIE NEBEN EINEM RASCHEN<br />
VERFALL DER KAUFKRAFT ZU EINER EBENSO<br />
RASCHEN VERSCHÄRFUNG DER KRISE FÜR ARBEI-<br />
TENDE UND ARBEITSLOSE FÜHRTE.<br />
Nach Brünings vierter Notverordnung gab<br />
es 1932 offiziell 6,128 Millionen<br />
(geschätzt 10 Millionen) Arbeitslose in<br />
Deutschland. Dem Kabi<strong>net</strong>t Brüning folgten<br />
in noch kürzeren Abständen zwei weitere<br />
Präsidialkabi<strong>net</strong>te von Papens (sechs<br />
Monate) <strong>und</strong> Schleichers (zwei Monate),<br />
die nur noch nach Artikel 48 der Weimarer<br />
Verfassung unter Ausschaltung des Parlaments<br />
regierten, ehe am 30. Januar 1933<br />
die verfassungsmäßige Übertragung der<br />
Macht an Adolf Hitler den Faschismus etablierte.<br />
Kaum war das SKWP-Gesetz eingebracht,<br />
kündigten Kohl, Waigel, Schäuble weitere<br />
Einsparungen an. Die zweite demokratische<br />
Notverordnung, der die dritte, vierte<br />
usw. folgt?<br />
An dieser Stelle muß von einigen Unterschieden<br />
gesprochen werden. Der erste<br />
wichtige: die Wirtschaftskrise. Die Weimarer<br />
folgte einer Weltwirtschaftskrise, die<br />
nicht nur Absatzstockungen <strong>und</strong> konjunkturelle<br />
Rückgänge brachte, sondern eine<br />
tiefgreifende Akkumulationskrise war. Der<br />
übliche Krisenbehebungs-Mechanismus<br />
war durch Kapitalmangel infolge der Bankenkrise<br />
(Abzug ausländischen Kapitals<br />
aus Deutschland) <strong>und</strong> der Lasten aus den<br />
Reparationen des Versailler Vertrages<br />
nicht anwendbar. Die deutschen Kapitalbesitzer<br />
verlangten vom Staat daher einen<br />
quasi Totalschnitt in die soziale Sicherung<br />
<strong>und</strong> das kollektive Arbeits- <strong>und</strong> Tarifrecht.<br />
Die Mittel „zur Belebung der Wirtschaft”<br />
(wie die späteren Notverordnungen<br />
hießen) mußten daher nahezu ausschließlich<br />
von den Arbeitenden <strong>und</strong> Arbeitslosen<br />
im Lande geholt werden. Innerhalb von<br />
eineinhalb Jahren hatte der ADGB (Allgemeiner<br />
Deutscher Gewerkschaftsb<strong>und</strong>)<br />
Ende 1931<br />
errech<strong>net</strong>, waren die<br />
Löhne um durchschnittlich<br />
28%<br />
gesunken, um mehr<br />
als das Doppelte der<br />
gleichfalls versproche-<br />
nen Preissenkungen. Die binnenwirtschaftliche<br />
Krise war damit dramatisch<br />
verschärft worden. Der Außenhandel<br />
krankte an den Folgen der Weltwirtschaftskrise<br />
des Weltmarktes, der zum<br />
großen Teil zusammengebrochen war,<br />
zumal das Deutsche Reich nach dem verlorenen<br />
Ersten Weltkrieg nicht in den<br />
Rang einer ökonomischen Großmacht<br />
aufgestiegen war. Den erreichte es erst<br />
durch das gänzlich auf Aufrüstung <strong>und</strong><br />
territoriale sowie kriegerische Expansion<br />
ausgerichtete nationalsozialistische Programm.<br />
Und Anfang l994? Der Unterschied ist<br />
augenfällig. Die B<strong>und</strong>esrepublik ist nach<br />
wie vor die zweitgrößte Exportnation, hinter<br />
den USA, umgerech<strong>net</strong> auf die Bevölkerungszahl<br />
sogar die Nummer Eins. Die<br />
jetzige Wirtschaftskrise in der Welt ist eine<br />
konjunkturelle Absatzkrise, die nicht überall<br />
gleich tief greift. Aus den USA <strong>und</strong><br />
Großbritannien wird bereits konjunktureller<br />
Aufschwung gemeldet. Die deutsche<br />
Krise ist eine doppelte: zum einen eine verzögerte<br />
konjunkturelle in Folge der deutschen<br />
Vereinigung, zum zweiten eine aus<br />
der veränderten Lage in der Welt (nach<br />
dem Zusammenbruch des „realen Sozialismus“)<br />
durch verschärfte Konkurrenz<br />
zwischen den großen imperialistischen<br />
Zentren (Japan/Asien, USA/Nafta,<br />
Deutschland/Europa), um die Spitzentechnologien<br />
<strong>und</strong> die Märkte der Zukunft.<br />
ANDERS ALS 1929 TOBT DER KAMPF UM WELT-<br />
MARKTANTEILE AUS DEUTSCHER SICHT NICHT AUS<br />
DER POSITION DES WIRTSCHAFTLICHEN NACH-<br />
ZÜGLERS, SONDERN AUS DER KONKURRENZ UM<br />
SPITZENPLÄTZE.<br />
So der heutige Stand, niemand ist jedoch<br />
derzeit in der Lage, einigermaßen seriös<br />
<strong>und</strong> f<strong>und</strong>iert Prognosen über die weitere<br />
Entwicklung zu erstellen. So ist eine Verschärfung<br />
der Krise ebensowenig auszuschließen<br />
wie eine noch tiefergehendere<br />
Strukturkrise, die sich zu einer einschnei-<br />
denden Akkumulationskrise ausweiten<br />
könnte. Träte dieser Fall ein, würde mit<br />
Sicherheit der heute bereits deutlich<br />
erkennbare Prozeß der Faschisierung<br />
enorm verschärft werden: autoritäres,<br />
Kapitalinteressen vertretendes Regieren<br />
einerseits <strong>und</strong> die Wahlpropaganda andererseits,<br />
die Minderheiten die Schuld für<br />
die Krise zuweist, wie sie beispielhaft in<br />
der Asyldebatte deutlich geworden ist.<br />
Zwar ist die Krisenlage eine andere als in<br />
Weimarer Zeiten, doch gibt es dennoch<br />
strukturelle Ähnlichkeiten. In der heutigen<br />
Krise wird der vornehm als „Umbau des<br />
Sozialstaats” umschriebene Abbau von<br />
Lohn- <strong>und</strong> Sozialleistungen in einem Ausmaß<br />
betrieben, wie ihn die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
noch nicht erlebt hat. Nach dem Sieg der<br />
Marktwirtschaft 1989/90 auf Weltebene,<br />
soll in Zukunft auch die Sozialpolitik den<br />
Kriterien des Marktes angepaßt werden.<br />
Neben dem technologischen Wettlauf auf<br />
der internationalen Bühne beherrscht der<br />
Kampf um die Höhe (besser: Tiefe) des<br />
Lohns den Binnenmarkt. Um dies durchzusetzen,<br />
wird die nationale Einheit<br />
beschworen, die jeden heutigen sozialen<br />
Widerstand hilflos erscheinen läßt: der<br />
„Standort Deutschland”<br />
muß Weltspitze<br />
sein, dem<br />
hat sich alles<br />
andere unterzuordnen.Entsprechend<br />
schwach<br />
ist der<br />
Protest gegen soziale Einschnitte. Nicht<br />
nur strategisch aufgr<strong>und</strong> der Widerstandsbedingungen,<br />
sondern auch in den<br />
Formulierungen der Gegner des Sozialabbaus,<br />
allen voran der Gewerkschaften,<br />
weil sie keiner anderen Logik folgen.<br />
DA ES KEINE GESELLSCHAFTLICHE UND ÖKONOMI-<br />
SCHE ALTERNATIVE ZUM MARKTWIRTSCHAFTLI-<br />
CHEN RAUBZUG DES LEISTUNGSSTÄRKEREN GIBT,<br />
ORIENTIERT SICH AUCH DER SOZIALE WIDERSTAND<br />
AN DER STANDORTPOLITIK.<br />
Und das heißt: wir auf Kosten der anderen,<br />
zunächst im internationalen Rahmen <strong>und</strong><br />
sodann auch national. Was dem „Standort<br />
Deutschland” nicht nützt, schadet ihm. So<br />
beginnt der innere Raubzug bei denen, die<br />
den Standortkriterien nicht entsprechen.<br />
Kein W<strong>und</strong>er, daß es zuerst die Nichtdeutschen<br />
getroffen hat, dann die Arbeitslosen<br />
<strong>und</strong> Sozialhilfebezieher – <strong>und</strong> dann?<br />
Die heutigen Krisenbewältigungsmaßnahmen,<br />
Sparpolitik <strong>und</strong> Kürzungen, folgen<br />
nahezu identisch dem Weimarer Muster.<br />
Um investives Kapital freizusetzen, wurden<br />
damals von Notverordnung zu Notverordnung<br />
in mehreren Schritten die<br />
Arbeitslosenhilfe gekürzt, immer größere<br />
Gruppen waren betroffen, die „Fürsorge”<br />
wurde reduziert, die Zumutbarkeitsanordnungen<br />
verschärft, die Krankenversicherung<br />
verschlechtert, Verbrauchs- <strong>und</strong> Einkommenssteuern<br />
erhöht <strong>und</strong> Unternehmenssteuern<br />
gesenkt.<br />
Der Unterschied zu heute besteht im<br />
Niveau der Leistungen, nicht aber in der<br />
Tendenz, den Standort Deutschland <strong>und</strong><br />
deutsche Subventionen in der Welt zu<br />
Lasten der sozial Schwächsten zu ermöglichen.<br />
Beispiel Arbeitslosenunterstützung:<br />
gilt in der B<strong>und</strong>esrepublik die Dauer<br />
des Arbeitslosengeldbezugs mindestens<br />
ein Jahr (altersmäßig nach oben verlängert),<br />
danach Arbeitslosenhilfe praktisch<br />
auf „Lebenszeit”, zusätzlich abgesichert<br />
durch die Sozialhilfe, die vom gr<strong>und</strong>legenden<br />
Lebensbedarf ausgeht (als „Existenz-<br />
minimum” formuliert), gab es in Weimar<br />
nur 26 Wochen Arbeitslosengeld, danach<br />
setzte die sogenannte „Krisenfürsorge”<br />
für weitere 26 Wochen ein, so daß der<br />
Arbeitslose nach einem Jahr auf die magere<br />
„Fürsorge” angewiesen war. Bereits<br />
Mitte 1932 waren mehr als die Hälfte der<br />
damals 5,7 Millionen Arbeitslosen aus den<br />
Leistungen der Versicherung rausgefallen<br />
<strong>und</strong> mußten von der „Fürsorge” leben, die<br />
wiederum die kommunalen Haushalte<br />
enorm belastete.<br />
Die B<strong>und</strong>esrepublik hatte im Herbst 1993<br />
geplant, auch die Zahlungen für Arbeitslosenhilfe<br />
zu begrenzen – nach Weimarer<br />
Vorbild.<br />
ENDE 1993 WURDE DER SOZIALABBAU ERST IM<br />
LETZTEN AUGENBLICK DURCH DEN WIDERSTAND<br />
DER KOMMUNEN GEBREMST: DIE BUNDESREGIE-<br />
RUNG PLANTE, DIE ARBEITSLOSENHILFE NACH<br />
ZWEI JAHREN AUSLAUFEN ZU LASSEN, SO DASS<br />
DER HEUTIGE ARBEITSLOSE NACH ZUMEIST DREI<br />
JAHREN AUF DIE SOZIALHILFE ZURÜCKGEWORFEN<br />
WORDEN WÄRE.<br />
Angesichts der aktuellen Entwicklung<br />
dürfte klar sein, daß aufgeschoben<br />
nicht aufgehoben bedeutet. Der<br />
nächste Sparhaushalt ist in Vorbereitung.<br />
Die Tendenz ist dabei nicht<br />
neu. Bereits in den ersten beiden<br />
Jahren der „Wenderegierung”<br />
Kohl wurden Arbeitslosengeld<br />
<strong>und</strong> -hilfe gekürzt. Die jüngsten<br />
Kürzungen, vor allem der<br />
Hilfe, werden die Zahl der<br />
Sozialhilfebezieher vervielfachen.<br />
ÄHNLICH DIE ENTWICKLUNG<br />
DER SOZIALHILFE SEIT 1982: DIE KÜRZUNGS-<br />
DYNAMIK HAT EINEN STAND ERREICHT, DER DEN<br />
GRUNDGEDANKEN DER SICHERUNG DES LEBENS-<br />
BEDARFS DE FACTO AUFGEGEBEN HAT.<br />
Sozialhilfe orientiert sich immer mehr an<br />
der ausgabenpolitischen Seite, um finanzpolitische<br />
oder gar lohnpolitische Krisen<br />
zu meistern.<br />
Der erste große Anlauf gegen bisherige<br />
Sozialstandards ist „erfolgreich” gemeistert.<br />
Die Vielzahl der in die Diskussion<br />
gebrachten Vorschläge, (von der 7-Tage-<br />
Woche, dem 10- St<strong>und</strong>en-Tag, über Streichung<br />
von Urlaubsgeld bis hin zu Karenztagen),<br />
folgt der Methode „steter Tropfen<br />
höhlt den Stein”. Der nächste große Einschnitt<br />
dürfte ein knappes Jahr auf sich<br />
warten lassen. 1994 ist bekanntlich „Superwahljahr”,<br />
da verbietet sich aus Rücksichtnahme<br />
auf die Wählerstimmen so<br />
mancher Schnitt, der bereits vorbereitet ist.<br />
IM KERN GEHT ES BEI ALLEN MAßNAHMEN UM<br />
DEN LOHN, UM DIE UMVERTEILUNG<br />
GESELLSCHAFTLICHEN REICHTUMS.<br />
Macht man sich die Logik der Standortsicherung<br />
zu eigen, dann stimmen die<br />
Rechnungen, die besagen, daß diese am<br />
ehesten über das Senken der Arbeitskosten<br />
zu erreichen ist. Ein Blick auf die verschärfte<br />
weltwirtschaftliche Konkurrenz<br />
wirkt dabei überzeugend. Daß die „soziale<br />
Frage” seit einem guten Jahr so massiv in<br />
der öffentlichen Diskussion aufgeworfen<br />
wird (Sozialabbau ist „das Wort des Jahres”<br />
1993), soll diese Einsicht verallgemeinern.<br />
Denn: so sehr nach 1989 in diesem<br />
Land wieder nationale Reden<br />
geschwungen werden, die Internationalisierung<br />
von Produktion <strong>und</strong> Märkten führt<br />
auch zu einer Internationalisierung der<br />
Arbeitsmärkte. Damit sind „nationale<br />
Tarifautonomie” <strong>und</strong> die national definierten<br />
Standards von Sozialstaatlichkeit out.<br />
DER ANGRIFF AUF SOZIALHILFE, ARBEITSLOSEN-<br />
GELD UND -HILFE SOLL DAS GESAMTE LOHNGEFÜ-<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 6<br />
GE NACH UNTEN VERSCHIEBEN, MIT EINER TEN-<br />
DENZ DER ANPASSUNG AN VERGLEICHBARE STAN-<br />
DARDS DER KONKURRENTEN.<br />
„Die Wahrung des Lohnabstandgebots in<br />
der Sozialhilfe”, wie es im Papier der B<strong>und</strong>esregierung<br />
zur „Sicherung des Standorts<br />
Deutschland“ vom September 1993<br />
heißt, meint genau diese Abwärtsorientierung.<br />
Der bisherige Soziallohn ist nicht<br />
nur eine Belastung der öffentlichen Haushalte,<br />
sondern hindert auch das Absenken<br />
des Lohns auf Preise, die bislang als ausreichendes<br />
Sozialeinkommen all jener galten,<br />
die keine Arbeit haben. Die Summen,<br />
die dabei eingespart werden <strong>und</strong> die deutschen<br />
Produkte konkurrenzfähiger machen<br />
sollen, liegen bei weitem über den<br />
zweistelligen Milliarden-Beträgen, die<br />
beim Soziallohn derzeit gespart werden.<br />
Die aktuellen wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen<br />
Operationen verfolgen denn auch das Ziel:<br />
Senkung der Lohnkosten, größere Flexibilität<br />
beim Einsatz von Arbeit <strong>und</strong> die Umschichtung<br />
von konsumptiven zu produktiven<br />
Ausgaben mit dem Ziel, am Standort<br />
Deutschland kostengünstiger<br />
zu produzieren.<br />
Von Weimar nach Bonn<br />
DER NÄCHSTE GROSSE ANGRIFF GILT DEM<br />
TARIFRECHT.<br />
Auch hier ist auf veränderter Entwicklungsstufe<br />
dieses Rechts die Parallelität zu<br />
Weimar verblüffend. „Die Macht des Tarifkartells<br />
zu verringern”, schreibt die „FAZ“,<br />
böten sich „erste Reformschritte” an: „Die<br />
Abschaffung der Allgemeinverbindlichkeit”<br />
der Tarifverträge. Genau diese erfolgte<br />
auch durch Staatseingriff 1930.<br />
Konsequent geht es weiter: „Die zwingende<br />
Einführung von Öffnungsklauseln in<br />
den Tarifverträgen <strong>und</strong> die Einrichtung<br />
von Tarifgruppen für Arbeitslose.“ Letzteres<br />
ist bereits Teil des Forderungskataloges<br />
von B<strong>und</strong>eswirtschaftsminister Rexrodt<br />
(FDP) an die Tarifpartner. Geschehe<br />
dies nicht, so die <strong>CDU</strong>/CSU-B<strong>und</strong>estagsfraktion,<br />
erweise sich die „Tarifpolitik als<br />
Jobkiller”. Gesetzlich ist die B<strong>und</strong>esregierung<br />
bereits weiter. Mit dem neuen Paragraphen<br />
449h des Arbeitsförderungsgesetzes,<br />
kann künftig eine untertarifliche<br />
Mischfinanzierung aus Arbeitslosengeld<br />
<strong>und</strong> Arbeitgeberzuschuß in Umwelt-,<br />
sozialen <strong>und</strong> Jugendprojekten erfolgen.<br />
ÄHNLICHES VERFOLGT ARBEITSMINISTER BLÜM<br />
(<strong>CDU</strong>) MIT SEINER NATIONALISTISCH VOR-<br />
GETRAGENEN IDEE, STATT AUSLÄNDISCHER,<br />
MEIST ÖSTLICHER „TOURISMUS”-ARBEITER ALS<br />
ERNTEHELFER, KÜNFTIG DEUTSCHE SOZIAL-<br />
HILFEBEZIEHER ZU VERPFLICHTEN, DIE AUF DEN<br />
NIEDRIGLOHN EINEN „AUFSTOCKUNGSBETRAG”<br />
ERHALTEN KÖNNTEN.<br />
Die Tariföffnungsklauseln sind zwar noch<br />
nicht zwingend, aber zunehmend Realität.<br />
Zunächst gaben die Gewerkschaften in<br />
Ostdeutschland dem Druck der dortigen<br />
Betriebsräte nach, Sondertarife zu vereinbaren.<br />
Dann befürwortete die IG-Metall<br />
„Sonderregelungen” für das Ruhrgebiet,<br />
weil, „wer zum Arbeitsamt muß, auch<br />
Bezahlung unter Tarif” akzeptieren werde.<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite
☛ Fortsetzung<br />
Von Weimar nach Bonn …<br />
Danach kam der große Durchbruch in der<br />
Automobilindustrie <strong>und</strong> im Bergbau.<br />
Dabei sind die Vereinbarungen verwirrend<br />
unterschiedlich. Bei „Opel“ verzichten die<br />
Beschäftigten auf Lohnerhöhung <strong>und</strong><br />
Weihnachtsgeldanteile, um den „Standort<br />
zu retten”. Im Ruhrbergbau werden Freischichten<br />
gegen Lohnverzicht eingetauscht,<br />
um Entlassungen zu vermeiden.<br />
Bei „IBM“ wird bei gleichbleibendem<br />
Gehalt die Wochenarbeitszeit um zwei<br />
St<strong>und</strong>en verlängert.<br />
Die „Volkswagen AG“ (VAG) kürzt die<br />
Arbeitszeit um 20% bei gleichbleibendem<br />
Monatslohn, weil alle Lohnbestandteile<br />
wie Sonderzahlungen, Urlaubs- <strong>und</strong> Weihnachtsgeldanteile<br />
sowie Verzicht auf die<br />
Tariferhöhung als monatliche Zahlung einberech<strong>net</strong><br />
sind. Per Saldo läuft das auf ca.<br />
11% weniger Lohn hinaus. Der VAG-Vorstand<br />
sieht in der Arbeitszeitverkürzung<br />
eine flexiblere Möglichkeit des Arbeitskräfteeinsatzes,<br />
die „zusätzliche Produktivitätseffekte<br />
freisetzt”. Dieser Weg soll<br />
weitergegangen werden. Nach Verkürzung<br />
der Wochenarbeitszeit folgt das VAG-<br />
„Blockmodell” (acht oder neun Monate<br />
Arbeit im Jahr, Freizeit für Fortbildung)<br />
<strong>und</strong> das „Stafettenmodell” (Teilzeitarbeit<br />
für junge <strong>und</strong> ältere Beschäftigte). Immer<br />
steht dabei das Interesse im Vordergr<strong>und</strong>,<br />
den Beschäftigten an den Betrieb zu binden,<br />
<strong>und</strong> ihn in der Arbeitszeit optimal zu<br />
verwerten.<br />
liegt sicher richtig, wenn er das VAG-<br />
Modell als Muster dafür sieht, daß der<br />
„Flächentarifvertrag selbst auf dem Spiel<br />
steht”. Konsequenz wäre dann nicht einfach<br />
die Abschaffung jeglichen Tarifrechts,<br />
wohl aber die Aufsplittung kollektiver<br />
Tarifverträge, die auch die Funktion<br />
haben, die gewerkschaftlich schwächer<br />
organisierten Teile vor unternehmerischer<br />
Willkür zu schützen. Das Tarifrecht<br />
wäre dann letztlich vom jeweiligen Unternehmensinteresse<br />
regierbar.<br />
Wie stark sich die Unternehmerverbände<br />
in der Krise sehen, beweist der Vorstoß<br />
von Gesamtmetall, die IG-Metall in der<br />
laufenden Tarifr<strong>und</strong>e zum Verzicht auf<br />
das Urlaubsgeld aufzufordern, da dieses<br />
– so wörtlich Hauptgeschäftsführer,<br />
Kirchner – ein „Luxusbestandteil” des<br />
Tarifvertrages sei.<br />
„MEHR GEMEINSINN – WENIGER STAAT” –<br />
SO LASSEN SICH DIE GRUNDWERTE DES NEUEN<br />
<strong>CDU</strong>-PROGRAMMS AUF EINEN NENNER<br />
BRINGEN. BEIDES IST SCHWINDEL.<br />
Weder wird der Bürger künftig mit weniger<br />
Staat konfrontiert sein, im Gegenteil,<br />
vom „Lauschangriff” bis zu Gemeinschafts-<br />
<strong>und</strong> Kriegsdiensten wird er mit<br />
dem Staat zu tun haben. Noch geht es um<br />
das abstrakte Ideal eines „Sinns für die<br />
Gemeinschaft”, einer nationalen Solidarität<br />
aller für alle.<br />
DIES WIDERSPRICHT DIAMETRAL DEM KAPITALI-<br />
STISCHEN PRINZIP, DAS KONKURRENZ UND DEN<br />
VORTEIL DES „STÄRKEREN” GEGENÜBER DEM<br />
„SCHWÄCHEREN” ZUR GRUNDLAGE SEINES<br />
WIRTSCHAFTENS HAT.<br />
<strong>und</strong> zurück<br />
WIE DA GRÜNE ODER DIE „TAZ” („TEILEN IN DER<br />
KLASSE”) AUF DIE IDEE KOMMEN KÖNNEN, ES<br />
HANDELE SICH UM EINE CHANCE FÜR EINE „SOLI-<br />
DARISCHE GESELLSCHAFT”, BLEIBT RÄTSELHAFT.<br />
ALLE UNTERSCHIEDLICHEN MODELLE DER FLEXI-<br />
BILISIERUNG HABEN NUR DAS ZIEL, KOSTEN ZU<br />
SENKEN UND PRODUKTIVITÄT ZU ERHÖHEN.<br />
Sie schaffen nicht einen neuen Arbeitsplatz,<br />
was spätestens dann deutlich werden<br />
wird, wenn die Absatzflaute vorüber<br />
ist <strong>und</strong> die Beschäftigten bedarfsweise<br />
auch wieder länger arbeiten müssen.<br />
Daß jetzt auch die „Alternativen” den Produktivitätswahnsinn<br />
<strong>und</strong> seine Produkte –<br />
in diesem Fall das Auto – unterstützen <strong>und</strong><br />
von Solidarität schwafeln, wo noch mehr<br />
Konkurrenz um weniger Arbeit organisiert<br />
wird, ist eine der traurigen Entwicklungen<br />
unserer Zeit, die nur verdeutlicht, daß derzeit<br />
keine gesellschaftlich relevante Kraft<br />
ernsthaft die Vorstellungen einer solidarischen<br />
Gesellschaft verfolgt. Dann müßte<br />
wieder über Sozialismus (nicht den gewesenen<br />
„realen“) <strong>und</strong> nicht über Marktwirtschaft<br />
geredet werden. Auch in den<br />
Gewerkschaften wächst das Lager derer,<br />
die sich in das „Unvermeidliche fügen”<br />
wollen. Die Haltung erinnert fatal an die<br />
Politik des ADGB gegenüber den Weimarer<br />
Notverordnungen:<br />
„MIT ZÄHNEKNIRSCHEN MUSS DAS ÄRGSTE<br />
HINGENOMMEN WERDEN, UM DAS ALLERÄRGSTE<br />
ZU VERHÜTEN” (DEZEMBER 1931, 14 MONATE<br />
VOR DER MACHTÜBERTRAGUNG AN HITLER).<br />
Die Akzeptanz solcher Lohn-Nivellierungsmodelle<br />
wie bei der VAG hat ihren wesentlichen<br />
Gr<strong>und</strong> im relativ hohen Standard<br />
des Lohns <strong>und</strong> der sozialen Bestandteile<br />
bei der Volkswagen AG, die die höchsten<br />
Gehälter in der Industrie zahlt. Übertragen<br />
auf den gesellschaftlichen Durchschnitt<br />
wird deutlich, daß, was bei der VAG finanziell<br />
vielleicht verkraftbar ist, den Durchschnittsverdiener<br />
erheblich mehr belasten<br />
<strong>und</strong> die sozial Schwachen abstürzen lassen<br />
wird. Arbeitgeberpräsident Murrmann<br />
Wer in Fragen der Reichtumsverteilung<br />
„Gemeinsinn” verlangt, hat mit<br />
Sicherheit andere Absichten als es<br />
die demagogische Formel verheißt.<br />
„GEMEINNUTZ GEHT VOR EIGENNUTZ”<br />
WAR EIN VOLKSTÜMLICHER SLOGAN DER<br />
NAZIS, MIT DEM EIN VERMEINTLICH<br />
GEMEINSAMES INTERESSE ERZWUNGEN<br />
WERDEN SOLLTE.<br />
Die aktuelle „Wertediskussion” müht<br />
sich just an solchen Demagogien ab.<br />
Und Rexrodt fordert in seinem schon<br />
erwähnten Papier „Verantwortungsbewußtsein,<br />
Mitmenschlichkeit, Zuverlässigkeit,<br />
Treue, Pünktlichkeit, Entscheidungs<strong>und</strong><br />
Gestaltungsbereitschaft” ein. Auch<br />
die sozialdemokratische Symbolfigur<br />
preußischer Sek<strong>und</strong>ärtugenden, Helmut<br />
Schmidt, erinnert sich in dem Bestseller<br />
„Manifest für ein besseres Deutschland”<br />
zusammen mit anderen AutorInnen seiner<br />
Jugend <strong>und</strong> Reichswehrzeit: „Warum soll<br />
es uns so schwerfallen, freiwillig zur<br />
Erhaltung des inneren Friedens Verzichte<br />
zu leisten, die jeder im Falle eines Krieges<br />
selbstverständlich auf sich nimmt”.<br />
IMMER GEHT ES DABEI NICHT UM „UNS ALLE”,<br />
SONDERN DEN „UNTEREN KLASSEN” ANS LEDER.<br />
B<strong>und</strong>espräsident Weizsäcker fordert<br />
„Dienstpflicht für alle” (möglicherweise<br />
auch für Frauen) z.B. in der Entwicklungshilfe,<br />
im Umweltschutz, in den sozialen<br />
Diensten. Rexrodt wirbt allerorten für<br />
„Gemeinschaftsarbeit” unter Tarif, die<br />
zudem den Vorteil habe, anders als ABM-<br />
Tätigkeiten, keine Ansprüche auf Arbeitslosengeld<br />
nach sich zu ziehen. Der<br />
Schmidt-Schüler Voscherau (SPD) in<br />
Hamburg geht angesichts rechter Wahlerfolge<br />
sogar so weit, im „Spiegel” in Vorbereitung<br />
auf die weiter sinkende Zahl von<br />
Industriearbeitsplätzen, nicht nur eine<br />
Ausdehnung „öffentlicher Arbeitsplätze”<br />
vorzuschlagen, sondern an Arbeitszwang<br />
zu denken. Man müsse „eine Sanktion für<br />
Menschen schaffen, die arbeiten können,<br />
aber trotzdem nicht wollen”.<br />
Dabei ist, öffentlich kaum registriert, die<br />
gesetzliche Gr<strong>und</strong>lage bereits geschaffen.<br />
DURCH ÄNDERUNG EINES WÖRTCHENS IM BUN-<br />
DESSOZIALHILFEGESETZ HAT DIE BUNDESRE-<br />
GIERUNG DIE BISHERIGE SOLLVORSCHRIFT, DASS<br />
DIE TRÄGER DER SOZIALHILFE DIE BEZIEHER ZUR<br />
„GEMEINNÜTZIGEN ARBEIT” HERANZIEHEN KÖN-<br />
NEN, IN EINE MUSS-VORSCHRIFT UMGEWANDELT.<br />
Künftig haben die Kommunen die Pflicht,<br />
im Einzelfall „die Gewöhnung eines Hilfesuchenden<br />
an eine berufliche Tätigkeit<br />
besonders zu fördern oder seine Bereitschaft<br />
zur Arbeit zu prüfen”, indem „ihm<br />
für eine notwendige Dauer eine hierfür<br />
geeig<strong>net</strong>e Tätigkeit oder Maßnahmen<br />
anzubieten”, ist. Allein an der bürokratischen<br />
Leistungsfähigkeit der Kommunen<br />
wird die massenhafte Umsetzung dieses<br />
Muß heute scheitern. Von Ausnahmen<br />
abgesehen gibt es ein umfassendes Konzept<br />
für solche „gemeinnützigen” Tätigkeiten.<br />
„SO VIEL LAUB WIE DA GEFEGT WERDEN SOLL,<br />
GIBT ES NICHT MAL IM HERBST”, SPOTTETE DIE<br />
BERLINER SOZIALSENATORIN.<br />
Doch wird das Problem bleiben? Angesichts<br />
der Tatsache, daß industrielle<br />
Arbeitsplätze wegrationalisiert werden,<br />
daß nach dem Wegfall der Systemgrenze<br />
die Billiglohnproduktion vor der deutschen<br />
Haustür in Osteuropa liegt (ein gut<br />
ausgebildeter tschechischer Arbeiter<br />
erhält 15% vom Lohn eines deutschen),<br />
wird ganz offensichtlich mit einer steigenden<br />
Zahl Arbeitsloser kalkuliert. Es dürfte<br />
nur<br />
noch eine Frage der Zeit sein, bis man sich<br />
„bewährter” Rezepte nicht nur erinnert,<br />
sondern sie auch praktizieren wird.<br />
Es war die liberale Gräfin Dönhoff in der<br />
„Zeit”, die die Erinnerungen präzisierte.<br />
Nazi-Brandstifter <strong>und</strong> Mörder motivierten<br />
sie zu der Überlegung, daß man die jungen<br />
Leute im Osten „nicht ohne Arbeit” <strong>und</strong><br />
„ohne Jugendklubs” sich selbst überlassen<br />
dürfe. Was liegt da näher als ein<br />
„Dienst an der Gemeinschaft”? Dönhoff<br />
weiter:<br />
„ES IST ABSURD, WENN MAN VOR DIESER<br />
MASSNAHME ZURÜCKSCHRECKT, WEIL ANGEBLICH<br />
HITLER DEN ARBEITSDIENST ERFUNDEN HAT.<br />
ER HAT IHN GAR NICHT ERFUNDEN, ER HAT IHN<br />
NUR ZU EINER VORMILITÄRISCHEN ORGANISATION<br />
PERVERTIERT.“<br />
„Seine Konzeption, an der Helmut von<br />
Moltke <strong>und</strong> seine Fre<strong>und</strong>e vom späteren<br />
Widerstand mitgewirkt haben, war das<br />
Bestreben, Arbeiter, Bauern <strong>und</strong> Studenten<br />
in Bildungslagern zusammenzuführen.<br />
Dieser Arbeitsdienst hatte schon zur Zeit<br />
von Brüning 100.000 Mitglieder”.<br />
Im September 1932 waren exakt 144.000<br />
Jugendliche unter 25 Jahren, die einen<br />
zunächst 20- später 40-wöchigen „Freiwilligen<br />
Arbeitsdienst” (FAD) leisten mußten.<br />
Im Straßen-, Wald- <strong>und</strong> Wanderwegebau,<br />
bei der Kultivierung von Moor <strong>und</strong> Heide,<br />
beim Bau von Sportanlagen, aber auch<br />
Arbeit in Steinbrüchen <strong>und</strong> Kiesgruben<br />
wurde „systematische Arbeitsschulung”<br />
<strong>und</strong> „kollektive Selbsthilfe” eingeübt, wie<br />
es – man glaubt es kaum – der ADGB formulierte.<br />
Der FAD war Teil der ersten Brüning’schen<br />
Notverordnung vom Juni 1931<br />
<strong>und</strong> sollte der „produktiven Verwendung<br />
der Arbeitslosenunterstützung” dienen.<br />
Die Vergabe <strong>und</strong> Prüfung erfolgte durch<br />
die Arbeitsämter. Träger waren Kommunen,<br />
Körperschaften öffentlichen Rechts,<br />
Stiftungen, Kirchengemeinden, Genossenschaften,<br />
Gewerkschaften, Technische<br />
Nothilfe <strong>und</strong> Sportvereine. Der FAD geriet<br />
zum Tummelplatz deutsch-nationaler <strong>und</strong><br />
nationalsozialistischer Gruppierungen <strong>und</strong><br />
bot die Gr<strong>und</strong>lage für den Reichsarbeitsdienst<br />
der Nationalsozialisten, die ihn<br />
1935 zur gesetzlichen Dienstpflicht für<br />
jeden Jugendlichen ab 18 Jahre (Dauer:<br />
sechs Monate) machten. Ehemalige Offiziere<br />
brachten Jugendlichen häufig in<br />
großen Arbeitslagern Arbeitsdisziplin bei.<br />
Dönhoff hat recht, Hitler hat so wenig den<br />
Arbeitsdienst erf<strong>und</strong>en, wie die Arbeit, die<br />
Ausbeutung, den Krieg. Interessanter ist<br />
jedoch die Frage, ob solche Maßnahmen<br />
den Weg für die Kriegsabsichten Hitlers<br />
bereiteten. Kern der bereits seit Anfang<br />
des Jahrh<strong>und</strong>erts diskutierten Dienstverpflichtung<br />
(schon einmal 1916 als „Vaterländischer<br />
Hilfsdienst” Gesetz) war weder<br />
damals noch bei den Nationalsozialisten<br />
nur die militärische Überlegung. Drei<br />
Hauptargumente für den Arbeitsdienst<br />
waren ausschlaggebend: Neben der vormilitärischen<br />
Ausbildung waren dies<br />
pädagogische <strong>und</strong> ökonomische Erwägungen.<br />
Die pädagogische ging davon<br />
aus, <strong>und</strong> da dürfte sich Dönhoff wiederfinden,<br />
daß praktisch jede Art von Beschäftigung<br />
besser sei als Arbeitslosigkeit. Erziehung<br />
durch Arbeit galt in der Pädagogik<br />
als ein Wert, der heute wiederbelebt wird<br />
gegen eine sogenannte „permissive<br />
society” (eine sich selbst überlassene,<br />
selbst regulierende Gesellschaft). Solche<br />
Überlegungen haben immer dann Konjunktur,<br />
wenn eine Gesellschaft nichts<br />
anderes zu bieten hat.<br />
DIE NATIONALSOZIALISTEN ENTWICKELTEN<br />
DARAUS EIN SYSTEM DES „DREISCHRITTS”:<br />
„SCHULPFLICHT, ARBEITSPFLICHT,<br />
WEHRPFLICHT”, UM AM ENDE DEN TOTAL<br />
VERFÜGBAREN DEUTSCHEN STAATSBÜRGER<br />
VERFÜGBAR ZU HABEN.<br />
Auch sie wußten ihr Vorhaben als solidarischen<br />
Dienst moralisch zu begründen:<br />
„Die Schule des Arbeitsdienstes (sollte)<br />
der Jugend unseres Volkes auch die so<br />
notwendige staatsbürgerliche Erziehung<br />
zu nationaler Pflicht ... <strong>und</strong> sozialem<br />
Gemeinschaftsempfinden geben”, wie<br />
Oberst a. D. Konstantin Hierl („Beauftragter<br />
des Führers für den Arbeitsdienst”)<br />
1932 formulierte.<br />
Auch der FAD war so freiwillig nicht wie er<br />
sich ausgab. In dem Maße, wie die Gesellschaft<br />
keine Alternative ließ, wurde er<br />
angenommen. Freiwilligkeit läßt sich also<br />
auch herstellen, <strong>und</strong> der Gräfin sei’s<br />
geglaubt, sie will keinen Reichsarbeitsdienst.<br />
Zur Zeit muß man davon ausgehen,<br />
daß alle Überlegungen zwischen<br />
Dienstpflicht <strong>und</strong> „Gemeinschaftsarbeit”,<br />
die behaupten, Alternativen zu Arbeitslosigkeit<br />
zu sein, weniger gesellschaftspolitische<br />
Bedeutung haben als vielmehr ideologische.<br />
Über die Einsicht in das angeblich<br />
Notwendige kann „Gemeinschaftsarbeit“<br />
als jederzeit anwendbares Druckmittel<br />
gegen Arbeitslose fungieren.<br />
Unter den derzeitigen wirtschaftlichen<br />
Bedingungen scheint die marktwirtschaftliche<br />
Variante erfolgsträchtiger als staatlicher<br />
Zwang. In den USA beispielsweise<br />
entstanden überall dort Billigjobs, wo der<br />
Kapitaleinsatz niedrig war: Boten, Fast<br />
Food, Hausangestellte, Pflegepersonal<br />
usw. Sie kosten den verschuldeten Staat<br />
keinen Pfennig. Derzeit ist der billigste<br />
Weg zu solcher Niedriglohnarbeit noch die<br />
tarifrechtliche Regelung, die den bisherigen<br />
Schutz von Arbeitsverhältnissen aufhebt<br />
<strong>und</strong> abgestufte Arbeit unter Tarif<br />
zuläßt. In den USA ließ sich aus der Not ein<br />
Zwang zur Arbeit ohne staatlich organisierten<br />
Arbeitszwang verwirklichen. Staatliche<br />
Maßnahmen könnten ergänzend hinzukommen,<br />
sei es mit Zuckerbrot (Lohnsubventionen)<br />
oder Peitsche (Zumutbarkeitsverschärfung,<br />
Sozialkürzungen).<br />
Das SPD-Konzept, „Arbeit statt Arbeitslosigkeit<br />
zu finanzieren”, dürfte anders<br />
umgesetzt werden, als es die sozialdemokratischen<br />
Vordenker wollten. Der Reichsarbeitsdienst<br />
war eine solche Form. Vor-<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 7<br />
aussetzung dafür ist die staatskapitalistische<br />
Organisierung von Arbeitsmaßnahmen,<br />
die mehr sind als kommunal verord<strong>net</strong>es<br />
Laubharken sowie ein Konsens zwischen<br />
Politik <strong>und</strong> Großkapital. Dafür gab<br />
es schließlich schon einmal ein Vorbild in<br />
der deutschen Geschichte.<br />
Trotz allem kann keine gerade Vergleichslinie<br />
zum Nationalsozialismus gezogen<br />
werden. Allerdings liegt ein Prozeß der Faschisierung<br />
vor, der gleiche Entwicklungsstränge<br />
aufweist <strong>und</strong> eine spezifisch deutsche<br />
Kontinuität zeigt. Um einer ähnlichen<br />
Entwicklung wie 1933 vorzubeugen, bedürfte<br />
es auch der Untersuchung neuer<br />
deutscher Großmacht-, Europa-, Außen<strong>und</strong><br />
Militärpolitik ebenso wie der vergleichenden<br />
Entwicklung der Gesellschaft zu<br />
einem „faschisierten Massenbewußtsein”,<br />
das sich am offenk<strong>und</strong>igsten r<strong>und</strong> um die<br />
Pogrome von Hoyerswerda <strong>und</strong> Rostock<br />
artikuliert hat.<br />
DER UNTERSCHIED ZWISCHEN 1930 UND 1993<br />
IN DER WIRTSCHAFTS- UND ARMUTS-<br />
ENTWICKLUNG EINSCHLIEßLICH DES<br />
SOZIALABBAUS LÄSST EBENFALLS KEINE GERADE<br />
VERGLEICHSLINIE ZU, WEIL ARMUT EINE SCHWER<br />
OBJEKTIVIERBARE GRÖSSE IST.<br />
Gemessen an den kulturellen <strong>und</strong> konsumptiven<br />
Standards sind gesellschaftliche<br />
Isolierung <strong>und</strong> relative Verarmung<br />
1993 deutlich anders als 1930 zu bewerten.<br />
Hinzu tritt eine andere Komponente, die<br />
sehr deutsch ist. Der deutsch-nationale <strong>und</strong><br />
später nationalsozialistische Begriff der<br />
Herrenrasse hat sich in „modernisierter”<br />
Form bis heute erhalten. Vom „made in germany”<br />
zum Wir-müssen-selbstverständlich-überall-Spitze-sein,<br />
<strong>und</strong> wenn wir es<br />
nicht sind, dann sind in der Regel andere<br />
daran schuld, gibt es eine Kontinuität.<br />
Das Problem zwischen 1990 – als Kohl<br />
„blühende Landschaften” <strong>und</strong> „keinem<br />
wird es schlechter, vielen wird es besser<br />
gehen” versprach – <strong>und</strong> 1993 – wo allerorten<br />
Verbitterung angesichts des Ausbleibens<br />
dieses Versprechens herrscht –<br />
liegt darin, daß eine vermeintliche Selbstverständlichkeit<br />
eingeklagt wird. In der<br />
verklärten Wahrnehmung der Wiedervereinigungs-Euphorie<br />
liegt ja nicht nur D-<br />
Mark-Verdummung, sondern auch die<br />
Selbstherrlichkeit des „Wir sind ein Volk”,<br />
die Angst machen muß, wenn sie<br />
umschlägt.<br />
DER NEUE RASSISMUS IST EIN SOLCHER<br />
„VOLKSREFLEX”, DER DARAUF VERWEIST, DASS<br />
FASCHISMUS UND FASCHISIERUNG NICHT NUR<br />
EINE STAATSVERANSTALTUNG UND EINE -VER-<br />
SCHWÖRUNG VON STAAT UND KAPITAL SIND.<br />
Zwischen der Internationalisierung von<br />
Produktion, Märkten <strong>und</strong> Arbeitsmärkten<br />
<strong>und</strong> dem zunehmenden National-Bewußtsein<br />
seit 1990 besteht ein Widerspruch.<br />
1990, als das „Ende der Geschichte” nach<br />
dem Zusammenbruch des realen Sozialismus<br />
vorhergesagt wurde, mochte es kurzzeitig<br />
so scheinen, als stünde eine „Weltgesellschaft”<br />
auf der Tagesordnung. Das<br />
Gegenteil war <strong>und</strong> ist der Fall. Zunehmende<br />
Konkurrenz als notwendiger Bestandteil<br />
des Kapitalismus, verstärkt durch die<br />
Krisensituation, beherrscht das Weltgeschehen.<br />
Diese Konkurrenz wird sich mit<br />
wachsender Tendenz national organisieren<br />
<strong>und</strong> zwar nicht nur in den Verlierergesellschaften<br />
des Ostens.<br />
Kapitalistische Modernisierer wie Stoiber,<br />
die ihren Anti-Europaismus regionalistisch<br />
(was nur eine Spielart des Nationalismus<br />
ist) artikulieren, treten trotzdem für den<br />
immer schwieriger werdenden freien Welthandel<br />
ein, den ungehinderten Zugang zu<br />
Ressourcen anderswo <strong>und</strong> Deutschlands<br />
Spitzenstellung auf dem Weltmarkt, weil<br />
der Reichtum dieses Landes darauf basiert.<br />
In dem Maße, wie die Konkurrenz in internationalen<br />
Abkommen nicht mehr bruchlos<br />
regulierbar ist, entstehen neue Konflikte<br />
<strong>und</strong> Nationalismen. Das hat sich nicht<br />
zuletzt bei den GATT-Verhandlungen offenbart,<br />
sondern auch bei dem Ausrichten<br />
deutscher Interessen auf die Ostmärkte.<br />
Nationalismus eint eine „Volksgemeinschaft”,<br />
selbst bei aller Unterschiedlichkeit<br />
der Interessen, indem ein gemeinsames<br />
Ziel gesetzt wird, nämlich Deutschlands<br />
Spitzenstellung in der Welt zu erhalten –<br />
dies ist eine weitere Quelle für Faschisierung.<br />
Heiner Möller, (47) lebt als freier Autor in<br />
Hamburg.
S 8 A62 28.07.1995 14:34 Uhr Seite 1<br />
Politiker plündern Stadt für Versorgungsjobs<br />
Eigentlich sollte es nur eine Presseerklärung<br />
werden, als sich Bürgermeister<br />
Michael Siebert (Grüne)<br />
gegen parteipolitische Angriffe der<br />
<strong>CDU</strong> zur Wehr setzte: In Kranichstein<br />
müßten die Leute frieren, so der Vorwurf,<br />
weil er den Bau einer Fernwärmeleitung<br />
verhindert habe. Ein Beschluß<br />
der Südhessischen, die Fernwärmeleitung<br />
nicht zu bauen, war aber bereits vor<br />
Amtsantritt Sieberts gefaßt worden <strong>und</strong><br />
in Kranichstein friert niemand.<br />
Siebert versteht es, sich akribisch in<br />
Unterlagen einzuarbeiten – auch heute,<br />
nach seinen ersten 100 Tagen nach<br />
Amtsantritt – <strong>und</strong> weiß dann sehr wohl,<br />
was er will. Aus der beabsichtigten Verteidigung<br />
wurde eine Offensive mit<br />
voller Breitseite gegen die „Südhessische<br />
Gas <strong>und</strong> Wasser AG“.<br />
Das Unternehmen steht zu 66 Prozent<br />
im Eigentum der Stadt, weitere 26 Prozente<br />
hält die „Rhenag“, eine Tochter<br />
des Elektrizitätsgiganten „RWE“. Die<br />
Geschäftsführung der Südhessischen ist<br />
sehr genau darauf bedacht, den Gewinn<br />
für das Unternehmen zu maximieren<br />
<strong>und</strong> hatte deshalb der Stadt einen Vertrag<br />
vorgelegt, der laut Siebert einen<br />
kalkulatorischen Gewinn vor Steuern<br />
von 17% vorsieht. Solche Vertrags-Entwürfe<br />
durchlaufen die Verwaltung der<br />
Stadt, landen beim zuständigen Dezernenten,<br />
das ist heute Siebert, <strong>und</strong> der<br />
legt sie dem Magistrat vor, letztlich<br />
haben die Stadtverord<strong>net</strong>en zu<br />
beschließen.<br />
Doppelte Gebühren<br />
In der Vergangenheit kamen so für den<br />
Steuerzahler, beziehungsweise die<br />
Stadt, ungünstige Verträge heraus.<br />
Gerade die Südhessische hatte mehrfach<br />
auf diesem Weg Vorteile zu Lasten der<br />
städtischen Kassen <strong>und</strong> letztlich von uns<br />
VerbraucherInnen herausgeplündert.<br />
Ein Beispiel war der Verkauf der Kläranlagen:<br />
Nach dem Übergang auf die<br />
Südhessische stiegen die Gebühren aufs<br />
Doppelte an <strong>und</strong> Verbraucher <strong>und</strong> Stadt<br />
dürfen heute <strong>und</strong> in Zukunft kräftig zahlen.<br />
Übrigens werden wir deutlich mehr<br />
geschröpft als dies andernorts der Fall<br />
ist.<br />
So gut wie geschenkt<br />
Bürgermeister Siebert, der ohnehin<br />
schon wegen einer Wasserpreiserhöhung<br />
gegen die Südhessische auf den<br />
Klageweg gegangen war („das Verfahren<br />
ruht derzeit, denn ich habe andere<br />
Möglichkeiten als Bürgermeister“) <strong>und</strong><br />
auch öffentlich gegen den Verkauf des<br />
Umweltlabors protestiert hatte, stieß bei<br />
dem Entwurf auf wieder einmal solch<br />
einen Fall. Denn die Südhessische will<br />
die Fernheizwerke Arheilgen <strong>und</strong> Kranichstein<br />
für den Preis von 2,281 Millionen<br />
Mark kaufen, für das Gelände keinen<br />
Kaufpreis <strong>und</strong> keine Miete zahlen<br />
<strong>und</strong> obendrein ein Geschenk von 3,4<br />
Millionen nicht rückzahlbaren Zuschuß<br />
einsacken für den Bau eines Blockheizkraftwerkes,<br />
was so gut ist wie<br />
geschenkt.<br />
Lukrative Vorstandsposten<br />
Noch am selben Abend des 19.1. setzte<br />
Siebert für den darauffolgenden Vormittag<br />
eine Pressekonferenz an, denn „ich<br />
wollte die Öffentlichkeit davon informieren,<br />
daß kein Versorgungsnotstand<br />
in Kranichstein vorliegt <strong>und</strong> gleichzeitig<br />
einen Vorschlag unterbreiten.“ Das<br />
gefiel seinem Oberbürgermeister Peter<br />
Benz überhaupt nicht, „er hat mich<br />
gebeten, die Pressekonferenz abzusagen“,<br />
doch Siebert blieb dabei, er wollte<br />
sich verteidigen. Benz hatte ohnehin<br />
genug Gr<strong>und</strong> für Ärger, denn ein Interview<br />
mit Stefan Willert vom „HR 4“,<br />
das Siebert am 19.1. gegeben hatte, ist<br />
geeig<strong>net</strong>, unseren <strong>Filz</strong>-gewohnten Politikern<br />
die Zornesröte ins Gesicht zu treiben.<br />
Willert darin: „Beobachter der<br />
Darmstädter Kommunalpolitik aber<br />
wollen die Motive ausgemacht haben.<br />
Die Südhessische gehört mehrheitlich<br />
der Stadt <strong>und</strong> alle städtischen Tochterunternehmen<br />
florieren. Dort gibt es<br />
lukrative Vorstands- <strong>und</strong> Aufsichtsratsposten<br />
<strong>und</strong> der Zufall will es, auf diesen<br />
Posten findet man die gleichen Darmstädter<br />
Politiker wieder, die zuvor als<br />
Stadtverord<strong>net</strong>e <strong>und</strong> Stadträte den Ausverkauf<br />
der Stadt beschlossen haben.“<br />
Das ist in der Tat zu bestätigen, wenn<br />
auch der Ärger des OB Benz über Siebert<br />
insofern ungerechtfertigt war, als<br />
Siebert erklärt hatte, es sei ihm ein Rätsel,<br />
warum die Stadt so handele – von<br />
<strong>Filz</strong> keine Rede.<br />
Ein mächtiges Ärgernis<br />
Doch Benz <strong>und</strong> seinem Hofberichterstatter<br />
Klaus Staat vom Echo – beide<br />
eingeschworen auf SPD-Linie – war<br />
dies alles mächtiges Ärgernis. Während<br />
Benz schon von „einer wackelnden<br />
Koalition“ sprach, erdichtete Staat eine<br />
andere Wirklichkeit via Falschberichterstattung<br />
im „Echo“. Dabei hatte Siebert<br />
seine Hausaufgaben als zuständiger<br />
Umweltdezernent lediglich gründlich<br />
gemacht <strong>und</strong> städtische Interessen vertreten.<br />
Sachlich weiß er seine Politik<br />
durchaus handfest zu untermauern.<br />
Wenn die Südhessische die neue Fernwärmeleitung<br />
von Arheilgen nach Kra-<br />
Ausgabe 62 28.1.1994 · Seite 8<br />
Erster Koalitions-Krach: Siebert will <strong>Filz</strong>-Quelle Südhessische verstopfen – Benz verteidigt Politiker-Pfründe<br />
nichstein vor dem Winter hätte fertigstellen<br />
wollen, wäre es erforderlich<br />
gewesen, den Bau an zwei Stellen<br />
gleichzeitig zu beginnen. Und die Südhessische<br />
selbst – wohl wegen ihrer<br />
hohen Forderungen verunsichert – hatte<br />
den zweiten Teil der Fernwärmeleitung<br />
nach einer Aufsichtsratsitzung vom<br />
7.7.93, als Siebert noch kein Bürgermeister<br />
war, zurückgestellt. Die Unsicherheit<br />
der Südhessischen: In der rot-grünen<br />
Koalitionsvereinbarung ist anderes<br />
vorgesehen als im Vertrag. Darauf stützt<br />
sich Siebert heute <strong>und</strong> meint, „Mir geht<br />
es darum, daß die Stadt nicht wieder der<br />
Dumme ist“. Die Kontrolle, die er praktisch<br />
wahrgenommen hat, hebt ihn von<br />
seinen Magistratskollegen ab, die in der<br />
Vergangenheit immer kräftigt mitgefilzt<br />
haben.<br />
Teure Sanierung<br />
Siebert spricht von „einem dauerhaften<br />
Defizit, das bei der Stadt bleibt“ <strong>und</strong><br />
weiß dies zu begründen: Die Südhessische<br />
betreibt die Heizkraftwerke <strong>und</strong> die<br />
Fernwärmeleitung <strong>und</strong> die Stadt versorgt<br />
die Haushalte über ein Feinverteiler<strong>net</strong>z,<br />
das veraltet ist (es stammt von<br />
1968) <strong>und</strong> bei einem Wärmeverlust von<br />
25% regelmäßig Verluste bringt, denn<br />
16% erhält die Stadt lediglich an Einnahmen,<br />
einmal ganz abgesehen von der<br />
längst überfälligen Sanierung. Da keine<br />
Rückstellungen gemacht wurden, fehlen<br />
auch dafür die Gelder – von Summen bis<br />
zu 15 Millionen wird gesprochen – nach<br />
Willen der Südhessischen sollen diese<br />
Stadt <strong>und</strong> Verbraucher berappen.<br />
Die Koalitionsvereinbarung<br />
Bei der Südhessischen sitzen clevere<br />
Manager: Sie stellen ihren kalkulatorischen<br />
Gewinn von 17 Prozent einfach<br />
auf die Kostenseite, weshalb es „kein<br />
W<strong>und</strong>er ist, daß rein rechnerisch hinter-<br />
her nichts übrig bleibt“, erklärt Siebert.<br />
Um „die Kuh vom Eis zu holen“, hat er<br />
deshalb einen Vorschlag parat: Die Südhessische<br />
bekommt nicht das Geschenk<br />
von 3,4 Millionen, sondern die Stadt<br />
„soll ihre Kapitaleinlage erhöhen, denn<br />
dann bekommen wir 9% Zinsen“,<br />
immerhin etwa „300.000 Mark pro Jahr,<br />
genug, um das Netz zu sanieren <strong>und</strong><br />
kostendeckend arbeiten zu können“. Die<br />
Überlegung ist plausibel <strong>und</strong> entspricht<br />
darüber hinaus den Vereinbarungen in<br />
der rot-grünen Koalition. Darin ist verzeich<strong>net</strong>:<br />
„Sicherstellung der Unterstützung<br />
städtischer Energiepolitik durch<br />
die städtischen Gesellschaften … <strong>und</strong><br />
eines maßgeblichen städtischen Einflusses“.<br />
Ebert, ein Interessenvertreter<br />
Trotzdem war Benz sauer, drohte mit<br />
Disziplinarmaßnahmen <strong>und</strong> Eike Ebert<br />
durfte im Echo verbreiten: Der Vorschlag<br />
sei Quatsch, weder praktikabel<br />
noch angemessen <strong>und</strong> – faux pas oder<br />
Dummheit – es gebe bereits Zusagen an<br />
die Südhessische. Von wem? Weshalb?<br />
Und zu wessen Vorteil? Die Verträge<br />
sollten doch erst von Magistrat <strong>und</strong> Parlament<br />
beschlossen werden?! Ebert als<br />
ehemaliger Sparkassendirektor im<br />
Geldverteilen (<strong>und</strong> -nehmen) bestens<br />
bewandert, sitzt auch dem Aufsichtsrat<br />
der Südhessischen vor <strong>und</strong> vertritt mit<br />
dem Angriff gegen Siebert (der übrigens<br />
auch im Aufsichtsrat des Unternehmens<br />
sitzt) Unternehmensinteressen – nicht<br />
die von uns VerbraucherInnen – vertritt<br />
wohl auch noch andere Interessen, die<br />
Gr<strong>und</strong> für diesen Bericht <strong>und</strong> die detaillierte<br />
Beschreibung bilden.<br />
Versorgungsjobs<br />
Wo ist die Verbindung zwischen <strong>Filz</strong><br />
<strong>und</strong> Fernwärme-Geschäft der Südhessischen<br />
beziehungsweise der Privatisierung<br />
öffentlicher Versorgungsaufgaben<br />
zu suchen? Im Verlauf jahrzehntelanger<br />
Parteien-Herrschaft haben sich die PolitikerInnen<br />
Sicherheiten geschaffen.<br />
Wenn beispielsweise ein altgedienter<br />
Parteifre<strong>und</strong> einen gut bezahlten Job<br />
braucht oder ein Politiker nicht wiedergewählt<br />
wird oder der gutbezahlte Politiker<br />
noch immer nicht genug Geld verdient<br />
oder ein Politiker seines Jobs überdrüssig<br />
ist <strong>und</strong> ein gutes Versorgungseinkommen<br />
benötigt – dann macht es<br />
sich ausbezahlt, stehen bei einer Südhessischen,<br />
einer HEAG, einem Bauverein<br />
<strong>und</strong> anderen doch die Jobs parat. So<br />
w<strong>und</strong>ert es denn nicht, daß Benz als<br />
Oberbürgermeister laut <strong>und</strong> öffentlich<br />
fordert, daß der Magistrat nicht „mit<br />
mehreren Zungen sprechen solle“, von<br />
Alleingängen spricht <strong>und</strong> Sieb ert<br />
Illoyalität vorwirft – ein unglaublicher<br />
Vorgang, der eher an großherzögliche<br />
Zeiten denken läßt, denn an demokratische.<br />
Wenigstens in seiner Partei findet<br />
Siebert Rückendeckung: Günter Mayer<br />
versichert, „Ich stehe voll <strong>und</strong> ganz hinter<br />
dem, was der Michael macht“.<br />
In die Politik gehen – warum?<br />
In der Öffentlichkeit jammern die Politiker<br />
zwar oft <strong>und</strong> laut, die Städte hätten<br />
auf ihre reichen Töchterunternehmen<br />
keinen Einfluß mehr, doch davon glauben<br />
wir besser nur das Lamento. Beispiel:<br />
Im Bauverein-Aufsichtsrat sitzen<br />
neun Politiker aller Parteien <strong>und</strong> vier<br />
Arbeitnehmer – wer hat da das Sagen?<br />
Wohlweislich werden alle Mitglieder<br />
zum Schweigen genötigt, damit ja nichts<br />
an die Öffentlichkeit dringt. Beispielsweise<br />
darüber, wer welche Reise, welches<br />
Dienstfahrzeug <strong>und</strong> vor allem, wer<br />
welchen Job als Geschäftsführer<br />
bekommt. Das wird besonders kompliziert,<br />
wenn mehrere Parteien an demselben<br />
Strang ziehen <strong>und</strong> so die Interessen<br />
mal der <strong>CDU</strong>, mal der SPD, mal der<br />
FDP zu berücksichtigen sind. Da bedarf<br />
es denn wirklich guter Strategen eines<br />
Kalibers wie Ebert.<br />
Es werden immer mehr<br />
Alle Parteien hoffen immer, noch mehr<br />
Stimmen, noch mehr Mitglieder zu<br />
bekommen, also müssen sie konsequent<br />
dafür sorgen, daß die privaten Töchter<br />
immer mehr, immer größer <strong>und</strong> immer<br />
reicher werden. Das besaß unter der<br />
Ägide Metzger eine besondere Komponente,<br />
waren die Pfründe doch der einzige<br />
Anreiz, der SPD beizutreten – der<br />
guten Jobs, der vielen Möglichkeiten<br />
wegen – kurz dem <strong>Filz</strong> wegen. Denn<br />
sagen durften die Sozialdemokraten<br />
nichts, die Politik war ihnen von oben<br />
verord<strong>net</strong> – wozu also sollten sie in diese<br />
Partei gehen?<br />
War das die „Zusage“ Eberts an die Südhessische<br />
in Sachen Fernwärme, bevor<br />
der Magistrat, bevor die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
beschlossen hatten?<br />
Öffentlich sagen darf das niemand. Die<br />
Zinsen in Höhe von 300.000 Mark pro<br />
Jahr hätten doch schon wieder einmal<br />
für einen gut dotierten Posten hergehalten<br />
oder? Das betroffene Unternehmen,<br />
die Südhessische, hat zwar eine eigene<br />
Pressestelle, schweigt jedoch bis heute<br />
vornehm.<br />
Gefügiger Dezernent?<br />
Benz/Ebert haben auch schon angekündigt:<br />
Notfalls holen sie sich die Mehrheiten<br />
anders. Nicht bei den Grünen,<br />
sondern bei der <strong>CDU</strong>, die ebenso wie<br />
die FDP an Pfründen teilhaben darf.<br />
Benz als Oberbürgermeister wird das<br />
System schützen: Erforderlichenfalls<br />
kündigte er öffentlich an, werde er Siebert<br />
die Zuständigkeit für die Energiepolitik<br />
entziehen – ein anderer Dezernent<br />
wäre (siehe oben) gefügiger <strong>und</strong><br />
interessierter an der Pflege des Sumpfes<br />
der Parteienpfründe.<br />
Wo kämen wir denn hin…<br />
Wo kämen wir denn hin, wenn plötzlich<br />
Geld in den städtischen Kassen wäre, für<br />
Obdachlose <strong>und</strong> Wohnungssuchende<br />
Häuser gebaut werden müßten, Radwege<br />
geplant <strong>und</strong> gemalt würden, Altlastdeponien<br />
saniert werden könnten,<br />
Zuschüsse für kulturelle Institutionen<br />
(außer dem Staatstheater) vergeben werden<br />
müßten, Straßenbahnen finanzierbar<br />
würden … ?<br />
Wo kämen wir denn hin, wenn die PolitikerInnen<br />
auf einmal ernsthaft Politik<br />
machen wollten, um sich durch Kenntnisse<br />
zu profilieren, gar um ihre Karriere,<br />
um ihre Wiederwahl kämpfen müßten,<br />
um einen der nicht so zahlreichen,<br />
bezahlten Verwaltungsjobs zu kriegen?<br />
Das nächste Beispiel kommt<br />
Demnächst ist übrigens im Bauverein<br />
der Posten des Direktors (heute Heinz<br />
Reinhard, SPD) frei. Eine öffentliche<br />
Ausschreibung wird niemand lesen <strong>und</strong>,<br />
daß ein Politiker nachfolgt <strong>und</strong> welcher<br />
es wird, das steht dann in der ZD.<br />
Lastest News<br />
Am 26.1. hat der Magistrat den Verkauf<br />
der Fernheizwerke an die Südhessische<br />
beschlossen. Dieser Beschluß wird von<br />
den Fraktionsvorsitzenden der SPD <strong>und</strong><br />
Grünen mit einem gemeinsamem<br />
Antrag in der StaVo vom 17.2. blockiert<br />
werden: Sie fordern ein zweites Angebot.<br />
Das soll die BHKW-GmbH (Südhessische<br />
u. HEAG) abgeben. Damit wir<br />
einen Vergleichsangebot haben, erklärt<br />
Horst Knechtel (SDP) <strong>und</strong> meint, „die<br />
Bürger sind bereits genug mit hohen<br />
Kosten belastet <strong>und</strong> wir haben uns dann<br />
wenigstens um eine Alternative<br />
bemüht“. Michael Grimm<br />
Städtischer Handel<br />
mit privaten Adressen<br />
Auf die Gefahr vor allem für Frauen<br />
<strong>und</strong> AusländerInnen hatten wir in der<br />
Ausgabe 59 hingewiesen, nachdem<br />
die Stadt angekündigt hatte, unsere<br />
Adressen, unsere Namen <strong>und</strong> nicht<br />
genauer beschriebene persönliche<br />
Informationen auch gegen unseren<br />
Willen zu verkaufen. Wir wollten<br />
unter anderem wissen, an wen die<br />
Stadt uns veräußert (auch an rechte<br />
Parteien?) <strong>und</strong> was sie daran verdient.<br />
Zuerst kam die Antwort, unsere Fragen<br />
seien so umfangreich, daß mehr<br />
Zeit benötigt werde als die vierzehn<br />
Tage, die wir dem Amt für Einwohnerwesen<br />
benannt hatten. Dann aber,<br />
am 14.12., kam die Antwort, wir<br />
sollten uns die Gesetzestexte vornehmen.<br />
Ob Amtsleiter Schwarz wohl<br />
glaubt, im Gesetz sei verzeich<strong>net</strong>, an<br />
welche Unternehmen die Stadt<br />
Darmstadt unsere persönlichen<br />
Daten verkauft? Oder wieviel die<br />
Stadt beispielsweise damit verdient?<br />
Wer erinnert sich noch an die Volkszählung,<br />
als uns zugesichert worden<br />
war, die Daten seien nicht reidentifizierbar?<br />
Als wir besänftigt wurden,<br />
es bestünde gar kein Interesse daran,<br />
unsere persönlichen Daten weiter zu<br />
verarbeiten?<br />
Wer Auskünfte vorenthält, hat etwas<br />
zu verschweigen. Dieser neuerliche<br />
Akt von Zensur, zeigt, es kann gar<br />
nicht genug Mißtrauen gegenüber<br />
Politiker-Versprechen gehegt werden.<br />
So müssen wir unseren LeserInnen<br />
die Informationen schuldig bleiben –<br />
noch. Denn mit der fortgesetzten<br />
Zensur der rot-grünen Koalition werden<br />
sich demnächst wieder einmal<br />
die Gerichte befassen müssen. Sowie<br />
unsere Klageschrift (heute schon auf<br />
über 50 Seiten angewachsen) fertig<br />
ist <strong>und</strong> wir vielleicht gewonnen<br />
haben werden, wiederholen wir die<br />
Fragen. Bekanntlich kann so etwas<br />
lange dauern, aber wir bleiben optimistisch.<br />
Die Redaktion
Famoses Stolzieren,<br />
Fechten, Spreizen, Stolpern<br />
„Was Ihr wollt“: Ein Shakespeare für die, die ihn mögen, nicht zum Liebgewinnen<br />
Von babyrosa links bis babyblau rechts<br />
markiert Christian Steiofs Bühnenbild<br />
den Spielplatz: eine quadratische Fläche<br />
feinkörnigen Kieses mit ein paar großen<br />
<strong>und</strong> ein paar kleinen Reisekoffern. Die Farben<br />
des auf die Rückwand gemalten Regenbogens<br />
sind blaß <strong>und</strong> das Licht wird<br />
während der dreieinviertelstündigen Aufführung<br />
nie grell. Abendstimmung im Kinderzimmer,<br />
das scheint nicht verkehrt, hat<br />
uns Shakespeare mit, „Was Ihr wollt“, doch<br />
einmal mehr eine märchenhafte Geschichte<br />
zu erzählen.<br />
Viola <strong>und</strong> Sebastian, das hochherrschaftliche<br />
Geschwisterpaar, geraten in Seenot.<br />
Nach dem Schiffsuntergang kann sich Viola<br />
an die Küste Illyriens retten, so wie ihr Bruder<br />
in einiger Entfernung auch. Sie glaubt,<br />
Eine deutschdeutsche<br />
Geschichte über<br />
den Schriftsteller<br />
Wolfgang Eckert<br />
Eine Geschichte ist zu erzählen über deutsche<br />
Geschichte <strong>und</strong> jene Leute, die sie<br />
allein vertreten wollen. Die Geschichte hat<br />
mit der Sicherheitshysterie in der DDR – ja<br />
doch, der Stasi – zu tun, <strong>und</strong> mit einem Kollegen<br />
<strong>und</strong> Landsmann von mir, dem<br />
Schriftsteller Wolfgang Eckert, aus dem<br />
sächsischen Meerane. Nicht gleich gelangweilt<br />
weiterblättern; ich weiß, dem Volk<br />
wird viel zugemutet von all den Leuten, die<br />
das Hemd über der Brust aufreißen, um<br />
W<strong>und</strong>en zu zeigen oder das Herz dem<br />
gerechten, dem rächenden Dolchstoß darzubieten;<br />
vielleicht ist die Geschichte doch<br />
ganz lehrreich <strong>und</strong> ein bißchen amüsant<br />
auch <strong>und</strong> hoffentlich kaum wehleidig.<br />
E. war vor fünf<strong>und</strong>zwanzig Jahren ein junger,<br />
aufstrebender Autor. Das juckte die<br />
Stasi. Sie inszenierte ein Spiel, genannt<br />
„taktische Kombination“. Einer ihrer Feindberührungs-Agenten,<br />
genannt „Medicus“,<br />
mußte E. zufällig kennenlernen, um<br />
Gespräche zu führen, über Prag 68 <strong>und</strong> die<br />
Kafkas, Kohouts, Goldstückers. Wenig im<br />
Sinne der damals herrschenden Klasse. So<br />
wurde E. bald darauf, von zwei Männern<br />
flankiert, ohne Angabe des Fahrziels, in eine<br />
Stasi-Dienststelle verbracht. Hier wurde<br />
ihm klargemacht, daß er mit einem gefährlichen<br />
Westagenten gesprochen habe – ein<br />
Alexandra von Schwerin <strong>und</strong> Hans Weicker in „Was ihr wollt“ (Foto: B. Aumüller)<br />
er sei tot; er glaubt, sie sei tot. Sie zieht sich<br />
die Kleider ihres Zwillingsbruders an <strong>und</strong><br />
gibt sich am Hofe des Herzogs Orsino als<br />
Mann Cesario aus. Der Herzog ist in die<br />
Gräfin Olivia verliebt; diese aber nicht in<br />
ihn, sondern in seinen Boten Cesario, das<br />
heißt Viola, die ihrerseits nicht etwa die<br />
Gräfin, sondern Orsino liebt. Kompliziert<br />
wird diese einfache Liebesgeschichte durch<br />
den Mitgiftjäger Sir Andrew Bibberback, Sir<br />
Toby Gulps Alkoholismus, einen Butler<br />
namens Malvolio, der glaubt, daß ihn die<br />
Gräfin liebt <strong>und</strong> das Auftauchen des seiner<br />
Zwillingsschwester Viola zum Verwechseln<br />
ähnlich aussehenden Sebastian, den –<br />
wenn schon, denn schon – sein Retter <strong>und</strong><br />
Gefährte Antonio liebt. Soweit der Stoff, aus<br />
dem Komödien sind.<br />
Foto zum Beweis. Nun sei es E’s Pflicht, von<br />
der Republik Schaden abzuwenden; der<br />
Mann sei dingfest zu machen. Dazu müsse<br />
er nur ein Papier mit einem fremden Namen,<br />
nämlich „Dressel“, unterschreiben. Diese<br />
Unterschrift sei Pflicht. Damit könne man<br />
dem bösen Bonner Ultra eine Falle bauen.<br />
Der Westagent in Stasi-Diensten hatte<br />
damit seine Rolle beendet; dafür ließ die<br />
Dienststelle öfter von sich hören: Ob E.<br />
nichts über Schriftstellerkollegen erzählen<br />
könne? E. hörte sich diese Fragen ein paar<br />
Mal an, dann platzte er heraus: „Ihr wißt<br />
doch über alles besser Bescheid als ich.<br />
Also, was wollt ihr dann von mir? Ich kann<br />
keinem in die Augen gucken, wenn ich hinterm<br />
Rücken was über Leute sagen soll.“<br />
Fortan kam keine Dienststelle mehr. E. wurde<br />
zehn Jahre älter; wir lernten uns kennen.<br />
Beim Bier im Leipziger „Stehfest“ erzählte<br />
er, wie er für die Stasi vor Jahren mit fremdem<br />
Namen unterschreiben mußte <strong>und</strong> wie<br />
er sogar mit einem echten Westagenten,<br />
der womöglich gar nicht echt war, plauderte<br />
– gar herzlich habe ich damals über die<br />
Räuber-<strong>und</strong>-Schampampel-Spiele der Stasi<br />
gelacht. Da wußte noch niemand, daß<br />
wieder zehn Jahre später manche Saubermänner<br />
solche Geschichten mit hochroten<br />
Ohren <strong>und</strong> gekrümmten Buckeln anhören<br />
würden. Und empörte Zeigefinger bekämen.<br />
E. jedenfalls schrieb in den achtziger Jahren<br />
einen Roman über seine Heimatstadt, der<br />
ihm zwar Anerkennung, vor allem bei kleinen<br />
Leuten, einbrachte, aber bei einigen<br />
Bürgern Protest hervorrief: Wie der unser<br />
Meeran r<strong>und</strong>ermachd! Widdse machd ieber<br />
uns! Fasdd sadierisch, murmelten die Bravsten<br />
der Sachsen. Und waren vor allem<br />
Dem Regisseur Heinz Kreidl ist es gelungen,<br />
daß keine daraus wird. Nicht, daß es in dieser<br />
Inszenierung nichts zu lachen gäbe –<br />
<strong>und</strong> nicht, daß nicht gelacht würde – doch<br />
das Komische entwickelt sich als ein Reflex<br />
des Schwermütigen. Den großmäuligen<br />
Feigling Andrew Bibberback streift so der<br />
Hauch eines Ritters von der traurigen Gestalt.<br />
Wenn die Zecher mit Sir Toby lärmend<br />
durch den Kies stolpern, wird die aufgesetzte<br />
Fröhlichkeit aus der Aschermittochsperspektive<br />
analysiert. Zur melancholischen<br />
Gr<strong>und</strong>stimmung leistet die Musik von Johannes<br />
Fritsch einen wesentlichen Beitrag;<br />
Kerstin Pramschüfer, immer am Rande <strong>und</strong><br />
doch allgegenwärtig, spielt auf der Bratsche.<br />
Heinz Kreidl hat sein Hauptaugenmerk auf<br />
die differenzierte Interpretation der drei<br />
deshalb sauer,<br />
weil einer weiter<br />
das Maul aufriß,<br />
als sie es sich<br />
selbst jemals<br />
getraut hätten.<br />
Dann kam jenes<br />
Wende genannte<br />
Flattern des<br />
Mantels der Geschichte<br />
auch in<br />
Westsachsen. E.<br />
lebte auf <strong>und</strong><br />
fand als Humorist<br />
seine<br />
Geschichten<br />
überall im<br />
neudeutschen<br />
Meerane. In<br />
einem Lokalblatt<br />
schrieb<br />
er wöchentlichFeuilletons,<br />
die<br />
dem mittlerweile<br />
gewählten<br />
Deutschen<br />
Sozialen Unionsbürgermeister,<br />
der später schnell Freier<br />
Wählerführer <strong>und</strong> somit unpolitisch wurde,<br />
wenig gefielen, weil sie dessen Arbeit nicht<br />
ständig lobpriesen. Nach Meinung redlicher<br />
Provinzpolitiker, ob sie nun SED oder DSU<br />
oder drei andere Buchstaben hinter sich<br />
haben, müssen Dichter unverbrüchlich der<br />
Politik zuschreiben: eine Schleimspur, auf<br />
der die jeweils herrschende Kaste nein,<br />
nicht aus- sondern vorwärtsgleitet.<br />
Hauptfiguren Viola, Olivia <strong>und</strong> Orsino<br />
gerichtet. Unter seinem nüchternen Blick<br />
wird die Liebe in der „Männerfre<strong>und</strong>schaft“<br />
zwischen Orsino <strong>und</strong> Viola <strong>und</strong> die Liebe<br />
der Frauen Olivia <strong>und</strong> Cesario ihrer Lächerlichkeit<br />
entkleidet; auch Kapitän Antonio<br />
darf Sebastian vollkommen unpathetisch<br />
versichern, daß er ihn liebe – <strong>und</strong> selbst der<br />
unerträgliche Klassenprimus der niederen<br />
Stände, Malvolio, ist in seinem Abschied<br />
von Olivia nicht ohne Würde. Wie unerwachsene<br />
Riesen von Mario<strong>net</strong>tenfäden<br />
gezogen, zieht diese Figuren ein ihnen<br />
unbekanntes Gefühl durch die Mechanik<br />
der Komödie. In gleichem Maße, wie Kreidl<br />
nüchternen Ernst rein- <strong>und</strong> Witz aus dem<br />
Stück rausnimmt, gewinnen die Charaktere<br />
der Figuren an Plausibilität.<br />
Leider schwindet in gleichem Maße, wie die<br />
Figuren gewinnen, die Glaubwürdigkeit der<br />
Handlung: Das Stück klemmt, ohne daß wir<br />
wenigstens darüber lachen könnten.<br />
Es ist interessant anzuschauen, wie Kreidls<br />
Regiekonzept über weite Strecken hervorragend<br />
funktioniert. Daß es weite Strecken<br />
sind, hängt freilich auch damit zusammen,<br />
daß sich Kreidl anfangs nicht nur mutig,<br />
sondern tollkühn in der Tugend der Langsamkeit<br />
gefällt; die erste halbe St<strong>und</strong>e will<br />
man nicht glauben, daß man noch im Dunkeln<br />
nach Hause kommt. Die Schwermut in<br />
der Betrachtung des Verhältnisses zwischen<br />
den Geschlechtern <strong>und</strong> mit den<br />
Geschlechtern wird schließlich am Nachhaltigsten<br />
durch den Autor gestört. Shakespeare<br />
hat eine Komödie geschrieben – das<br />
läßt sich auf Dauer nur schwer ignorieren.<br />
Wenn es zum Finale kommt, kann die Regie<br />
statt, „Ende gut, alles gut“, nur noch „Viel<br />
Lärm um Nichts“ präsentieren.<br />
Mitgetragen wird Kreidls Regiekonzept<br />
neben der Musik auch von der Übersetzung.<br />
Angelika G<strong>und</strong>lach hat – weder<br />
romantisch noch sentimental – ins Zeitgenössische<br />
übersetzt. Das macht Shakespeare<br />
in der Regel aktuell <strong>und</strong> manchmal<br />
zum Gebrauchslyriker. Nein, so schön wie<br />
Schlegel-Tieck ist das nicht – soll es aber<br />
auch nicht sein. Schade, weil vermeidbar,<br />
daß Schlegel an einigen Stellen, wie zum<br />
Beispiel den Narrendialogen, treffender <strong>und</strong><br />
genauer übersetzt.<br />
Das sechzehnköpfige Ensemble agierte als<br />
Schauspielgemeinschaft auf Gegenseitigkeit:<br />
eine Gruppe von Solistinnen mit dementsprechend<br />
unterschiedlichen Leistungen.<br />
Christina Rubrucks Gräfin Olivia überzeugte<br />
als eitle Intellektuelle <strong>und</strong> wußte vor<br />
allem die Passagen mit Olivia/Cesario<br />
glaubwürdig zu gestalten; eine starke Frau<br />
Die Patriarchen der Kleinstadt<br />
Das hatte Eckert in der DDR nicht richtig<br />
beherrscht. Und das mochte er jetzt, unter<br />
neuen Bedingungen, gleich gar nicht.<br />
Doch die Provinzmachthaber vergessen<br />
nicht. Nicht sein Buch von damals. Nicht<br />
die Pointen von heute. Also suchen sie E’s<br />
Akten, öff<strong>net</strong>en diese – unberechtigt, denn<br />
E. war gar nicht mehr städtisch bedienstet –<br />
<strong>und</strong> fanden jenen Vorgang von vor einem<br />
Vierteljahrh<strong>und</strong>ert: E. war IM! Hah! Es gibt<br />
eine Unterschrift!<br />
Da mochte E. die Geschichte so erzählen,<br />
wie er sie seit Jahren erzählte: Tut nichts,<br />
der Jude wird verbrannt! (Ausspruch einer<br />
Figur namens „Patriarch“ aus einem Drama<br />
von Gotthold Ephraim Lessing, gebürtig zu<br />
Kamenz, Kleinstadt in Sachsen)<br />
Bevor E. Einsicht nehmen konnte, verging<br />
Zeit. Diese Zeit nutzten die Provinzmachthaber:<br />
E. durfte in Stadt <strong>und</strong> Landratsamt<br />
nicht lesen <strong>und</strong> nicht auftreten; E. durfte im<br />
Blättchen der Region nicht mehr veröffentlichen.<br />
Arbeitsgruppe Stadtgeschichte oder<br />
Kunstverein – bitte ohne E.! Bis in die Zeitung<br />
der Partnerstadt im tiefen Baden, nach<br />
Lörrach, reichten die langen Arme der<br />
Behörde: keine Kolumne mehr von E., dem<br />
Ober-IM!<br />
Eckert hatte keine Demut gezeigt. Nicht<br />
damals, vor den Königsthronen der Partei.<br />
Nicht heute, vor den Kanzlergebärden der<br />
Parteischickeria. Er war nicht zu Kreuze<br />
gekrochen, unters Hemde der Christenpartei;<br />
nun konnten die empörten Zeigefinger<br />
sich recken <strong>und</strong> strecken: Herr Kanzler, wir<br />
hier im tiefen Sachsen waren leider früher<br />
keine richtigen Antikommunisten, bitten<br />
dafür demütig um Vergebung – aber der<br />
Eckert ist tausendmal schlimmer als wir!<br />
Der guckt noch immer ganz frech!<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 9<br />
an diesem Abend. Timo Berndt als Orsino<br />
sucht nach wie vor seine Paraderolle als<br />
„Timo, der Göttliche“ <strong>und</strong> hat sie auch in<br />
diesem Stück wieder nicht gef<strong>und</strong>en.<br />
Solange er in seiner Bew<strong>und</strong>erung für sich<br />
selbst nicht nachläßt, haben andere keine<br />
Chance, ihn zu bew<strong>und</strong>ern.<br />
Alexandra von Schwerin <strong>und</strong> Hans-Peter<br />
Schupp als Zwillingspaar Viola <strong>und</strong> Sebastian<br />
fügten sich dagegen nahtlos in das<br />
Konzept des Regisseurs. Zwei de facto<br />
unvergleichliche Menschen machten sich –<br />
auch dank ihrer gleichen unschuldigweißen<br />
Anzüge (Kostüme: Swetlana Zwetkowa)<br />
– ähnlich <strong>und</strong> gefielen durch ein<br />
zurückhaltendes aber präzises Spiel. Wolf-<br />
Dieter Tropf kann nichts für seinen Namen<br />
<strong>und</strong> spielte dennoch nomen est omen Sir<br />
Tobias Gulp. Jürgen Hartmanns Malvolio<br />
entwickelte sich im Laufe des Abends zum<br />
Publikumsliebling. Eine Frage der Fallhöhe:<br />
Er hat ihn herrlich stark gemacht, um später<br />
richtig schwach zu werden. Daß Monika<br />
Dortschy als Maria oft mehr fatal als femme<br />
chargierte, muß der Regie zuschlechte<br />
gehalten werden; fürs TAP ist die Frau doch<br />
eigentlich zu gut (aber das Publikum nicht,<br />
dem das gefiel).<br />
Sir Andrew Bibberback wurde von Rolf Idler<br />
verkörpert, nicht schlecht. Stimmlich hatte<br />
er – wie viele seiner männlichen Kollegen –<br />
mit etwas zu kämpfen. Da nicht klar wurde,<br />
mit was, könnte es auch er gewesen sein.<br />
Bei all dem famosen Stolzieren, Wackeln,<br />
Fechten, Spreizen, Stolpern <strong>und</strong> Fallen sollte<br />
doch nicht vergessen werden, daß jenseits<br />
der Grenze der Verständlichkeit nicht<br />
immer eine Karriere als Pantomime winkt.<br />
Das rühmliche Gegenbeispiel liefert Hans<br />
Walter Klein als Narr. Mit klarer <strong>und</strong> sonorer<br />
Stimme präsentiert er beiläufig die Rolle<br />
eines Künstlers, der mit dem Pf<strong>und</strong> seiner<br />
Sprache wuchert <strong>und</strong> nach den Schillingen<br />
geht. So einer könnte sich öfter nicht nur<br />
sehen, sondern auch hören lassen. In weiteren,<br />
kleineren Rollen wirkten Ulrich Hub,<br />
Helmut Zhuber, Sebastian Hufschmidt,<br />
Hans Weicker, Matthias Scheuring, Klaus<br />
Ziemann <strong>und</strong> Hans Hübbecker mit. Das<br />
Publikum war mit allen zufrieden <strong>und</strong> spendete<br />
fre<strong>und</strong>lichen Beifall<br />
Kreidls Darmstädter, „Was ihr wollt“, ist ein<br />
auf den Kopf gestellter Shakespeare. Was<br />
wollt ihr, sagt der Regisseur den ZuschauerInnen,<br />
es ist nicht, was ihr wollt, aber es ist<br />
möglich. Ein Shakespeare für die, die ihn<br />
mögen, nicht zum Liebgewinnen.<br />
P.J. Hoffmann<br />
Weitere Aufführungen: 29. <strong>und</strong> 30. 1., 3.,4.,5., 12., 23.<br />
<strong>und</strong> 26. Februar.<br />
So radikal gelang im totalitären Staat DDR<br />
selten eine Ausgrenzung. Ein Erich Loest,<br />
längst ausgeladen andernorts, konnte 1978<br />
in Meerane lesen aus dem Buch „Es geht<br />
seinen Gang“ – weil E. das durchsetzte.<br />
Damals standen sie hinter den Gardinen,<br />
die kämpferischen Kleinstädter, die jetzt<br />
mutig ihren zentralen städtischen IM auf<br />
dem Scheiterhaufen wissen wollten: Was,<br />
keine Berichte geliefert? Tut nichts, der<br />
Jude wird verbrannt! Was, keine Kollegen<br />
angeschwärzt? Tut nichts, der Jude wird<br />
verbrannt! Was, Dekonspiration? Tut<br />
nichts, der Jude wird verbrannt! Was, von<br />
der Stasi selbst als unwillig zum Spitzeln<br />
eingestuft? Tut nichts, der Jude wird verbrannt!<br />
Mittlerweile haben Gaucks Mühlen gemahlen.<br />
Langsam, gründlich, genau abwägend.<br />
Eckerts Erinnerung war richtig. Jeder, der<br />
ernsthaft will, mag die Akten durchforsten.<br />
Doch ein Gespräch über seinen Fall – das<br />
mögen Meeraner Patriarchen bis heute<br />
nicht.<br />
Denn wir sind eine Republik, in der erste<br />
Bürgerpflicht nicht öffentliches Gespräch,<br />
sondern schnelle Aburteilung zu sein<br />
scheint. Eine Republik, die zwar ein großartiges<br />
Gr<strong>und</strong>gesetz hat, worüber sich aber<br />
ein viel gewaltigeres Gebäude aus Feigheit,<br />
Denunziantentum <strong>und</strong> Selbstgerechtigkeit<br />
erhebt.<br />
Die Bewältigung der Stasi-Geschichte ist<br />
bisweilen noch widerlicher, als die Stasi-<br />
Geschichte selbst. Und das, so scheint mir,<br />
ist doch eine ganz lustige Pointe. Dieser<br />
Meeraner Geschichte wie auch unserer<br />
deutschen Geschichte.<br />
Matthias Biskupek
Zweieinhalb St<strong>und</strong>en lang diskutierten<br />
die Darmstädter Stadtverord<strong>net</strong>en am<br />
Montag (17.1.) im Kongreßsaal über eine<br />
große Anfrage der <strong>CDU</strong>. Da war die Rede<br />
von „der deutschen Psychose“, von „Rufmord<br />
an einer untadeligen Kollegin“, von<br />
einem „kulturpolitischen Desaster“ <strong>und</strong> daß<br />
„Darmstadts Ruf in Deutschland <strong>und</strong> Italien<br />
einen großen Schaden genommen habe“ –<br />
es ging um die abgesagte Sironi-Ausstellung<br />
auf der Mathildenhöhe.<br />
Was war passiert? Dr. Klaus Wolbert, Direktor<br />
des Instituts Mathildenhöhe, wollte<br />
die renovierten Ausstellungshallen am 27.<br />
März mit ausgewählten Bildern des italienischen<br />
Malers Mario Sironi wiedereröffnen.<br />
Sironi (1885 bis 1961) war einer der Lieblingsmaler<br />
Mussolinis <strong>und</strong> gehörte, ausgehend<br />
vom Futurismus, der italienischen<br />
Künstlergruppe „Novecento“ an. In der Öffentlichkeit<br />
hieß es, Wolbert wolle die Bilder<br />
des „faschistischen Malers“ unkommentiert<br />
zeigen, einzig seine Kunst wirken lassen.<br />
Und: Oberbürgermeister Peter Benz<br />
<strong>und</strong> der SPD-Unterbezirk seien mit einer<br />
unkritischen Präsentation nicht einverstanden.<br />
Wolbert sagte daraufhin die Ausstellung<br />
im Einverständnis mit Benz am<br />
23.11.93 ab.<br />
Und wie es weiterging<br />
Doch damit war die Sache nicht zu Ende:<br />
Auf den Institutsleiter sei politischer Druck<br />
gie zu tun“, die SPD erlasse neue Kunst<strong>und</strong><br />
Denkverbote. OB Benz griff er direkt an:<br />
„Sie sind noch keine zwölf Monate im Amt<br />
<strong>und</strong> haben schon ihren ersten großen Skandal…<br />
Wir werden nicht zulassen, daß sie<br />
den Ruf Darmstadts immer weiter runterwirtschaften.“<br />
Seine Partei erwarte, daß der<br />
Schaden beseitigt <strong>und</strong> begrenzt werde.<br />
SPD: Freie Entscheidung<br />
„Sie erheben Vorwürfe, die auf ihre Partei<br />
<strong>und</strong> ihre Mitglieder viel eher zutreffen“,<br />
konterte Benz <strong>und</strong> erinnerte an Vorfälle aus<br />
der Vergangenheit: Staeck-Ausstellung,<br />
Büchnerpreis-Verleihung, Staatstheater<br />
<strong>und</strong> Hrdlickas Büchner-Woyzeck-Zyklus –<br />
damals rissen <strong>CDU</strong>-Politiker Plakate von<br />
den Wänden, verließen den Saal oder protestierten<br />
lautstark. „Wer solche Verhaltensweisen<br />
zeigt, der darf hier nicht so argumentieren,<br />
als habe er für sich die Verteidigung<br />
der Kultur gemacht.“<br />
Die Vorgänge um die Sironi-Ausstellung<br />
seien anders abgelaufen. „Die Absage war<br />
eine Entscheidung des Leiters des Instituts<br />
Mathildenhöhe, seine freie Entscheidung,<br />
<strong>und</strong> nicht nachdem ich ihn ins Gebet<br />
genommen hatte. Weder SPD noch Unterbezirk<br />
haben Druck auf Wolbert ausgeübt.“<br />
Aufnahme <strong>und</strong> Absage einer Ausstellung<br />
sei Aufgabe Wolberts <strong>und</strong> seine autonome<br />
Angelegenheit. Wolbert sei für ihn ein<br />
„untadeliger Amtsleiter“.<br />
Grüne: Wendehals Wolbert<br />
Auch Christel Thorbecke von den Grünen<br />
bezeich<strong>net</strong>e den „bestenfalls als fahrlässignaiv<br />
zu wertenden Brief von Geiger“ als<br />
„Tiefpunkt der Diskussion“. Scharfe Vorwürfe<br />
erhob sie auch gegen Wolbert: „Es<br />
wäre besser gewesen, wenn Wolbert in der<br />
Öffentlichkeit zuverlässige <strong>und</strong> kompetente<br />
Position bezogen hätte, anstatt seine Meinung<br />
täglich zu wechseln <strong>und</strong> dazu noch<br />
den Eindruck zu erwecken, doch einer<br />
gewissen Zensur ausgeliefert zu sein.“ Ihr<br />
Fazit: „Wir haben wirklich alle kein Ruhmesblatt<br />
erworben, weder Wagner, noch<br />
Benz, noch Grüne…“ „Was ist aus dieser<br />
Affäre zu lernen?“ fragte Thorbecke, „eines<br />
sicherlich, daß uns in Deutschland eine differenzierte<br />
Diskussion über das Verhältnis<br />
von Totalitarismus <strong>und</strong> Kunst schwer fällt,<br />
denn wir tragen noch immer an unserer<br />
eigenen nationalsozialistischen Geschichte“<br />
– Thorbecke ist am 3.9.48 geboren.<br />
Geiger: faschistische Methode<br />
Sissy Geiger (<strong>CDU</strong>) beharrte darauf, Wolbert<br />
habe ihrer Partei gegenüber geäußert,<br />
die Entscheidung des SPD-Unterbezirks sei<br />
der Auslöser der Absage gewesen, er habe<br />
gewußt, daß Benz die Ausstellung nicht<br />
wollte. Für sie war das Zensur <strong>und</strong> Intoleranz:<br />
„Das ist eine faschistische Methode,<br />
einen Künstler wegen seiner politischen<br />
Überzeugung auszugrenzen.“<br />
habe mir im Gegensatz zu Ebert gewünscht,<br />
daß die Ausstellung gezeigt wird.“<br />
Die Sicht Wolberts<br />
Für Wolbert freilich spielte sich die Sache<br />
völlig anders ab. Am 19.1. erklärt er<br />
gegenüber der ZD: Das italienische Kulturinstitut<br />
in Frankfurt sei vor zwei Jahren<br />
mit der Bitte an ihn herangetreten, doch<br />
eine Ausstellung über Sironi auf der Mathildenhöhe<br />
zu zeigen. Er, Wolbert, habe sich<br />
sofort bereit erklärt, diese Ausstellung in<br />
Zusammenarbeit mit einem Fre<strong>und</strong>, dem<br />
Stifter <strong>und</strong> Kunstverlagsinhaber Gabriele<br />
Mazzotta, zu machen. Ein Konzept habe es<br />
zu jener Zeit nicht gegeben. Es habe sich<br />
auch nicht um eine konfektionierte Ausstellung<br />
gehandelt, die er lediglich habe übernehmen<br />
wollen. Und: „Es ist falsch, daß ich<br />
gesagt haben soll, Metzger hat die Ausstellung<br />
geholt. Er hat inhaltlich nie in mein<br />
Programm eingegriffen, wenn er auch<br />
manchmal gesagt hat, daß es ihm nicht<br />
gefällt.“<br />
Ein inhaltlicher Eingriff<br />
Daß die Mathildenhöhe Sironi zeigen wollte,<br />
sei schon seit einem Jahr bekannt, doch<br />
erst im September, auf einer Sitzung des<br />
Kulturausschusses, sei erstmals von der<br />
Grünen Thorbecke daran Kritik geübt worden<br />
– Wolbert nennt dies den ersten Versuch<br />
überhaupt, in sein Programm „inhaltlich<br />
einzugreifen“. Ihm habe es nicht<br />
„Wie reif sind wir eigentlich?“<br />
„Diese Stadt will nichts mit Faschisten zu tun haben“: Öffentliche Streit-Debatte über die abgesagte<br />
Sironi-Ausstellung – Klaus Wolbert äußert sich<br />
ausgeübt worden, so lautete eine neue Variante,<br />
gar von Zensur war die Rede. Das<br />
Resultat: Die Geschichte uferte zu parteipolitischem<br />
Gezänk aus, dessen vorläufiger<br />
Höhepunkt ein Brief der <strong>CDU</strong>-Politikerin<br />
Sissy Geiger an Bruno Zoratto (siehe Faksimile<br />
<strong>und</strong> Artikel auf folgender Seite) <strong>und</strong><br />
eben jene parteipolitische Debatte in der<br />
Stadtverord<strong>net</strong>ensitzung (StaVo) war.<br />
Wolbert – so die Meinung Vieler – offenbarte<br />
in der Öffentlichkeit ein schwaches Bild:<br />
Heute sage er dies, morgen jenes, mal<br />
erwecke er den Eindruck, er sei zensiert<br />
worden, dann wieder erkläre er, Alt-OB<br />
Günther Metzger habe ihm die Ausstellung<br />
aufgedrückt. Darauf reagierten PolitikerInnen<br />
verschiedener Parteien mit harscher<br />
Kritik – allen voran Eike Ebert (SPD), der als<br />
Scharfmacher erklärte, Wolbert sei für die<br />
Stadt nicht länger tragbar.<br />
Aus dem Stadtparlament<br />
Mit Kritik an Wolbert wurde auch während<br />
der Stadtverord<strong>net</strong>en-Debatte nicht gespart<br />
– von Parteimitgliedern der SPD <strong>und</strong> der<br />
Grünen. Anders die <strong>CDU</strong>. Sie hielt an ihrer<br />
Sicht der Dinge fest: Auf Wolbert sei politischer<br />
Druck ausgeübt worden – von der<br />
SPD. Und Sironi sei zensiert worden. Zum<br />
ersten Mal überhaupt äußerte sich die FDP<br />
öffentlich zum Sironi-Eklat, dabei war Ruth<br />
Wagner als Vorsitzende des Kulturausschusses<br />
bereits seit September von dem<br />
Vorgang informiert.<br />
<strong>CDU</strong>: Ein Trauerspiel<br />
Michael Bergmann (<strong>CDU</strong>-Stadtverord<strong>net</strong>er)<br />
eröff<strong>net</strong>e die Debatte mit der Attacke, dieses<br />
„Darmstädter Trauerspiel … wurde inszeniert<br />
von SPD, Grünen <strong>und</strong> ,Darmstädter<br />
Echo‘.“ Bergmann sprach von Parteien-<br />
Druck auf Wolbert, davon, daß die SPD<br />
„unverhüllt ihr wahres Demokratieverständnis“<br />
zeige <strong>und</strong> orakelte, „Kunst hat<br />
mehr mit Ästhetik als mit politischer Ideolo-<br />
Im übrigen habe die Diskussion zu einer<br />
Klärung beigetragen: „Daß es in der Kunst<br />
darauf ankommt, politische <strong>und</strong> gesellschaftliche<br />
Zusammenhänge immer zu<br />
sehen, <strong>und</strong> sich nicht nur um Ästhetizismus<br />
zu kreisen… Die Kritik in anderen Zeitungen<br />
ist umgekehrt erschreckend: Dort heißt<br />
es, der italienische Faschismus sei nicht<br />
mit dem deutschen zu vergleichen. Diese<br />
Strategie der Verharmlosung ist generell<br />
gefährlich in der derzeitigen europäischen<br />
Entwicklung.“<br />
SPD-Fraktionsvorsitzender Horst Knechtel<br />
räumte ein, daß die Diskussion der Stadt<br />
sehr geschadet habe – „die hätten wir<br />
anders führen müssen“. Wolbert habe die<br />
Ausstellung von sich aus abgesagt <strong>und</strong> die<br />
Meldung im „DE“ vom 1.12. sei falsch, in<br />
der es hieß, Benz sei einer Entscheidung<br />
des SPD-Unterbezirks gefolgt. <strong>CDU</strong>-Vorsitzendem<br />
Gerhard O. Pfeffermann gegenüber<br />
behauptete Knechtel, der Unterbezirk habe<br />
beim „DE“ eine Richtigstellung gefordert –<br />
vergeblich. Das soll laut „DE“ falsch sein,<br />
bei der ZD ist auch nichts eingegangen.<br />
FDP: Peinliche Debatte<br />
„Wir haben uns dieser Debatte geschämt“<br />
erklärte Ruth Wagner das bisherige<br />
Schweigen der FDP. Wolbert habe in der<br />
Kulturausschußsitzung im September geäußert,<br />
er wolle Sironi mit biografischem<br />
<strong>und</strong> kulturhistorischem Hintergr<strong>und</strong> zeigen.<br />
Sie fragte, ob der Rückzug etwa aus<br />
Angst vor dem Beifall aus der falschen<br />
Richtung erfolgt sei. Dies dürfe kein Gr<strong>und</strong><br />
sein. „Die Ausstellung wäre eine Gelegenheit<br />
gewesen, sich mit der Ausprägung des<br />
Neofaschismus kritisch auseinanderzusetzen.<br />
Diese Gelegenheit ist verspielt.“ Als<br />
Schuldigen deutete Wagner den „Echo“-<br />
Redakteur aus, der allerdings nur berichtet<br />
hatte. Den „Gipfel dieses Skandals“ aber<br />
habe Frau Geiger „gelandet“ – „einem solchen<br />
Mann zu antworten“.<br />
SPD <strong>und</strong> „DE“ hätten gemeinsam eine Rufmordkampagne<br />
betrieben. Zu ihrem Brief<br />
an Zoratto greinte sie: das sei lediglich eine<br />
Einladung zur Teilnahme am Diaabend <strong>und</strong><br />
zur Diskussion gewesen. „Wie reif sind wir<br />
eigentlich, daß wir Angst haben vor<br />
Gesprächen?“<br />
Ebert: hymnische Ausstellungen<br />
Eike Ebert (SPD) konterte: „Die ganze Richtung<br />
paßt mir nicht – sich da weinerlich hinzustellen.<br />
Ich bin froh <strong>und</strong> stolz darauf, daß<br />
diese Ausstellung abgesagt wurde… Diese<br />
Stadt will nichts mit Faschisten zu tun<br />
haben… Als wir unseren Beschluß umsetzen<br />
wollten, da hatte Wolbert dies am Morgen<br />
schon getan. Wenn er hört, was wir<br />
abends besprochen haben, <strong>und</strong> dann reagiert,<br />
ist das keine Zensur.“<br />
Ebert über Wolbert: „Jedem Zirkel hat er<br />
etwas anderes gesagt. So geht das nicht.“<br />
Er demontierte ihn auch als Ausstellungsmacher:<br />
Bei der Adolfo Wildt-Ausstellung<br />
habe er eine Mussolini-Büste altarähnlich<br />
aufgestellt. „Wolbert neigt leider dazu, seine<br />
Ausstellungen als hymnische Verherrlichung<br />
zu zeigen.“ Daher die Befürchtung<br />
des Unterbezirks, Wolbert zeige Sironi nicht<br />
kritisch, sondern „hymnisch verherrlicht“;<br />
es hätten die „falschen Leute auf die Mathildenhöhe<br />
pilgern können“.<br />
Seidler: eine Zeitungsente<br />
Für Parteikollegin Sabine Seidler ist die<br />
Sironi-Debatte „ein Exempel, was aus einer<br />
kleinen Zeitungsente alles werden kann.“<br />
Zu Geiger sagte sie: „Das war schlicht grauenvoll,<br />
was Sie gesagt haben.“ Es gebe keine<br />
Kunst losgelöst von Politik – „Ihr Kunstverständnis<br />
kann nur zum Mißbrauch <strong>und</strong><br />
zur Vereinnahmung führen.“ Außerdem<br />
habe es auf der Sitzung des Unterbezirks<br />
keine sich durchsetzende Meinung gegeben<br />
– damit wiedersprach sie Ebert –, es sei nur<br />
leidenschaftlich diskutiert worden. „Ich<br />
gepaßt, den Maler Sironi „einseitig auf das<br />
Faschismusthema zu reduzieren“. Außerdem<br />
habe der Kulturausschuß sein Programm<br />
lediglich zur Kenntnis zu nehmen.<br />
Dennoch habe er sich bemüht, vor diesem<br />
Gremium sein Ausstellungskonzept zu<br />
erläutern, was aber nicht möglich gewesen<br />
wäre, da das Gespräch „plötzlich eine andere<br />
Ebene bekam“ <strong>und</strong> aus dem „Du“ ein<br />
„Angriff einer Parlamentarierin“ wurde, vor<br />
dem er sich „rechtfertigen“ mußte. Das<br />
habe ihn zu seiner „berühmten Äußerung:<br />
Christel, davon verstehst du nichts“ verleitet<br />
– zu der Frau eines Malers.<br />
Der Stand der Dinge im November: „Ich<br />
wollte von Sironi ausschließlich ,urbane<br />
Szenarien‘ zeigen, einen Schwerpunkt seiner<br />
Arbeit rausnehmen.“ Jene Gemälde<br />
stammen alle aus der Zeit vor dem italienischen<br />
Faschismus. „Wir hatten den Ehrgeiz,<br />
Werke zu zeigen, die bisher noch nie<br />
aus Privatsammlungen geholt worden<br />
waren, erste Kontakte waren Dank unserer<br />
guten Verbindungen zu Italien geknüpft.<br />
Auch für den Katalog hatten wir schon einige<br />
Autoren <strong>und</strong> Autorinnen bestimmt, die<br />
sich unter anderem mit der Faschismustheorie<br />
auseinandersetzen wollten.“<br />
Sironi als Faschist<br />
Hatte es in der Öffentlichkeit den Anschein,<br />
als wollte Wolbert die Ausstellung unkommentiert<br />
präsentieren, so erklärt er am<br />
19.1.: „In der Ausstellung selbst wollte ich<br />
die Kunst als Kunst zeigen. Aber selbstverständlich<br />
wäre der Komplex Sironi –<br />
Moderne – Faschismus thematisiert <strong>und</strong><br />
vermittelt worden, im Katalog, bei Führungen<br />
<strong>und</strong> Vorträgen, am Eingang auf Zeittafeln<br />
<strong>und</strong> in einem Video. Dabei wäre herauszuarbeiten<br />
gewesen, was bereits an den<br />
frühen Bildern Sironis – seinen trostlosen<br />
<strong>und</strong> melancholischen Stadtansichten –<br />
faschistisch gewesen war.“ Wer jedoch bei<br />
Wolberts Präsentation des Adolfo Wildt<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 10<br />
(Sommer 90) nach Hinweisen auf den<br />
italienischen Faschismus gesucht haben<br />
sollte, wurde enttäuscht.<br />
Das Mißverständnis hätte sich daran entzündet,<br />
so Wolbert, daß er erklärt habe, die<br />
Ausstellung nicht mit Schrifttafeln zu<br />
durchsetzen. „Das ist ein Konzept der 70er<br />
Jahre – wie ich es damals auch gemacht<br />
habe –, nämlich die Bilder im Moment des<br />
Anschauens bereits zu konterkarieren, <strong>und</strong><br />
sie zu Erläuterungen von Schrifttafeln zu<br />
degradieren.“ Und fügt hinzu: „Das wäre<br />
auch mit den Leihgebern nicht zu machen<br />
gewesen, die hätten eingewendet: ,Dann<br />
hängen Sie doch Reproduktionen auf‘.“<br />
Der Gr<strong>und</strong> für die Absage<br />
Warum sagte Wolbert die Ausstellung ab?<br />
„Die ganze Richtung der Debatte war unerträglich.<br />
Auch Mazzotta war ärgerlich über<br />
die Art der Reaktion <strong>und</strong> gab den Hinweis,<br />
daß wir mitten in Verhandlungen mit Leihgebern<br />
stecken, die sich zurückziehen würden.<br />
Die Diskussion eskalierte derart, daß<br />
es denkbar geworden war, daß zur Eröffnung<br />
sowohl rechtsradikale, neofaschistische<br />
wie antifaschistische Gruppierungen<br />
auf die Mathildenhöhe marschieren könnten.<br />
Wer hätte da ausschließen können, daß<br />
Bilder in Mitleidenschaft gezogen würden.<br />
Diese Risiken hätten wir sowohl den Leihgebern,<br />
als auch der Versicherung mitteilen<br />
müssen. Es hing noch kein einziges Bild an<br />
der Wand, <strong>und</strong> schon gab es eine Vorverurteilung.<br />
Ich hatte keine Lust mehr, die Ausstellung<br />
zu machen.“<br />
Ausdrücklich betont er, er habe sie nicht auf<br />
Druck der SPD abgesagt, der er ja selbst<br />
angehöre. Seine Entscheidung sei auch<br />
nicht etwa eine Reaktion auf die Sitzung des<br />
SPD-Unterbezirks gewesen – dieser hatte<br />
am Abend zuvor beschlossen, ihn zu einem<br />
Gespräch zu laden. „Meine Absage stand da<br />
schon fest.“ Benz sei mit einer Absage<br />
sofort einverstanden gewesen, er „stand<br />
der Ausstellung schon vorher kritisch<br />
gegenüber“.<br />
Wolbert räumt Fehler ein: „Richtiger wäre<br />
gewesen, sofort eine eigene Pressekonferenz<br />
zu machen <strong>und</strong> offiziell zu begründen,<br />
wie <strong>und</strong> warum ich Sironi zeigen werde.<br />
Vielleicht bin ich zu früh eingeknickt, aus<br />
einer deprimierten Situation heraus.“<br />
Zu Sissy Geigers Behauptung, er habe der<br />
<strong>CDU</strong> gegenüber später von Zensur gesprochen,<br />
sagt Wolbert: „Eine absolute Lüge.<br />
Das ist wirklich bitter, daß da versucht wird,<br />
parteipolitischen Profit rauszuziehen.“ Tief<br />
getroffen ist er über das, was in der Öffentlichkeit<br />
gesprochen wird: „Die wissen plötzlich<br />
alle, was ich wann gesagt habe, ohne<br />
mit mir zu sprechen. Immer mehr Leute<br />
reden mit <strong>und</strong> werfen mir einen Schlingerkurs<br />
vor.“ An diesem Bild, so Wolbert<br />
mehrfach, sei einzig die Berichterstattung<br />
im „DE“ schuld. Er habe immer eine klare<br />
Linie gehabt.<br />
„Das Vertrauensverhältnis zu Benz hat sich<br />
verstärkt <strong>und</strong> gefestigt“, meint Wolbert, der<br />
ja auch Kulturreferent ist. Kopfzerbrechen<br />
aber bereiten ihm Eberts Angriffe. „Das verstehe<br />
ich nicht. Wir kennen uns ja gut; Ebert<br />
sagte zu mir, das sei jetzt Politik, privat<br />
habe er ja eine andere Meinung.“<br />
Verärgert, deprimiert<br />
Verärgert ist Wolbert auch darüber, daß die<br />
Kritik an seiner Sironi-Ausstellung sich zu<br />
einer an seiner gesamten Arbeit, vor allem<br />
an seinen italienischen Ausstellungen, ausweitete.<br />
„Die Mathildenhöhe hat den kulturpolitischen<br />
Auftrag, den internationalen<br />
Dialog zu pflegen <strong>und</strong> mit eigenen Beiträgen<br />
<strong>und</strong> Stellungnahmen an der aktuellen<br />
Kunst-Debatte teilzunehmen“, erklärt er das<br />
Konzept. Einerseits werde die Tradition der<br />
Mathildenhöhe fortgeführt, andererseits sei<br />
das Institut offen für das Heutige. Der kulturelle<br />
Anspruch Darmstadts sei schon lange,<br />
„als geistesoffene, tolerante Stadt der<br />
Kunst zu gelten, als diskussionsoffen –<br />
denken wir an die ,Darmstädter Gespräche‘<br />
<strong>und</strong> als ein Forum für Neues – etwa für<br />
Neue Musik. Doch in der Realität sieht der<br />
Umgang mit den Kulturschaffenden doch<br />
oft anders aus.“ Verbittert sagt Wolbert:<br />
„Kritik gibt es an Ausstellungsmachern<br />
immer, daß ich hier aber nicht verstanden<br />
werde – was außerhalb ganz anders ist , das<br />
deprimiert <strong>und</strong> lähmt.“ Denn in Italien, so<br />
versichert er, hätte sein Ruf wegen des<br />
Sironi-Eklats nicht gelitten. Daß Darmstadts<br />
Ruf nicht gelitten habe, beschwören<br />
einige Politiker viel zu häufig.<br />
Eva Bredow<br />
Bilder von links nach rechts: Klaus Wolbert, Eike Ebert<br />
(Fotos: H. Schäfer), Sissy Geiger (Foto: <strong>CDU</strong>), Ruth<br />
Wagner, (Foto: FDP) Christel Thorbecke (Foto: Privat)
„Ein absolut<br />
unpolitisches Thema …“<br />
Briefwechsel Zoratto/Geiger: Erst Einladung – dann Ausladung<br />
Die Absage der Darmstädter Sironi-Ausstellung<br />
empörte den Generalrat der<br />
Auslandsitaliener (CGIE). Ratsmitglied Bruno<br />
Zoratto schickte eine Flut von Briefen an<br />
Darmstädter PolitikerInnen, schimpfte über<br />
Zensur <strong>und</strong> forderte, die Absage zurückzunehmen,<br />
da sie einen Affront gegen „die italienische<br />
Kolonie in Deutschland“ sei. Eine<br />
antwortete, die <strong>CDU</strong>-Politikerin Sissy Geiger<br />
(MdB). Stein des Anstoßes: Bruno<br />
Zoratto, so stellte sich heraus, hatte zwar<br />
als Ratsmitglied der in Deutschland lebenden<br />
Italiener geschrieben, ist aber auch<br />
Parteimitglied der faschistischen italienischen<br />
Partei „Movimento Sociale Italiano“<br />
(MSI) <strong>und</strong> deren Repräsentant in Deutschland.<br />
Zoratto stellte der ZD fre<strong>und</strong>licherweise den<br />
Schriftwechsel zur Verfügung. In einem seiner<br />
Briefe steht zu lesen, die Absage sei aus<br />
drei Gründen nicht haltbar: aus rechtlichen,<br />
politischen sowie der Internationalität.<br />
Geiger antwortete: „Ich bin mit Ihnen völlig<br />
einer Meinung: Das Verbot des Oberbürgermeisters<br />
<strong>und</strong> Kulturdezernenten dieser<br />
Stadt, die Ausstellung des Malers Sironi<br />
(1885-1961) abzusagen, ist 1. gr<strong>und</strong>gesetzwidrig…,<br />
2. erinnert es an Methoden<br />
des Nationalsozialismus, als deutsche<br />
Künstler ihrer Einstellung wegen als ,entartet’<br />
eingestuft <strong>und</strong> ausgegrenzt wurden, 3.<br />
empfinde ich es genau wie Sie auch als<br />
einen Affront gegen unsere italienischen<br />
Mitbürger.“<br />
Weiter schreibt sie: „Wie Sie wissen, war<br />
das auslösende Moment dieses Skandals<br />
ein Papier eines Parteigremiums der<br />
SPD…, was gar nicht befugt ist, in die<br />
Arbeit des Direktors einer städtischen Institution<br />
politisch einzugreifen.“<br />
Ihr Kunstverständnis offenbarend, fährt sie<br />
fort: Sironi sei kein ausgesprochener<br />
Faschist gewesen, „fand doch die Gründung<br />
der Vereinigung des ,Novecento’<br />
1919, also vor Gründung der Fasch. Partei<br />
(1921) statt. Auch sollten auf der Mathildenhöhe<br />
nur die sogenannten ,Peripherien‘<br />
<strong>und</strong> die ,Stadtlandschaften‘ ausgestellt<br />
werden, die Sironi schon um 1920 begonnen<br />
hatte, weil ihn die Isoliertheit des Menschen<br />
in der zunehmend industrialisierten<br />
Landschaft faszinierte, also ein absolut<br />
unpolitisches Thema…“<br />
Ihr Fazit: „Außer der Schande der Zensur<br />
lädt diese Regierungspartei dieser Stadt<br />
auch noch die Blamage einer völlig inkompetenten<br />
Kulturpolitik auf <strong>und</strong> verspielt so<br />
den Rest unseres ehemaligen glänzenden<br />
Rufes als Kulturstadt… Die Freiheit der<br />
Kunst, die Freiheit, Ausstellungen mit<br />
anspruchsvollem Niveau zu machen, ist zur<br />
Disposition gestellt. Der Wink eines SPD-<br />
Parteitages genügt, <strong>und</strong> schon ziehen<br />
Dezernenten <strong>und</strong> Direktoren eilfertig <strong>und</strong><br />
devot ihre Vorhaben zurück.“<br />
Da sie ihm „leider nichts Positives antworten“<br />
kann, schließt sie ihr Antwortschreiben:<br />
„Ich würde mich aber sehr freuen,<br />
wenn Sie nach Darmstadt kommen würden,<br />
um sich gemeinsam mit vielen Bürgern dieser<br />
Stadt zu unterhalten im Rahmen eines<br />
Dia-Vortrages über Sironi, der in den nächsten<br />
Wochen von Dr. Wolbert, dem Direktor<br />
der Mathildenhöhe, gehalten werden wird.“<br />
Viele Darmstädter waren entsetzt, bestenfalls<br />
amüsiert über den Schmusekurs der<br />
<strong>CDU</strong>-Politikerin mit einem Faschisten. Geiger<br />
suchte sich später zu entschuldigen, sie<br />
habe nicht gewußt, daß Zoratto der MSI<br />
angehört, was Zoratto bestätigt, denn dies<br />
„ist schließlich meine Privatsache“, erklärt<br />
er der ZD.<br />
Solch eine Schimpfkampagne habe er in<br />
den 30 Jahren, die er in Deutschland lebe,<br />
Eine Provinzposse –<br />
Recht glauben möchte man ja nicht, was<br />
sich in den vergangenen Wochen in<br />
Darmstadt abgespielt hat. Da plant der Chef<br />
der Mathildenhöhe eine umstrittene Ausstellung,<br />
umstritten, weil sich jener italienische<br />
Künstler früh zum Faschismus<br />
bekannte <strong>und</strong> zum Lieblingsmaler Mussolinis<br />
avancierte. Und plötzlich heißt es, dieser<br />
Chef wolle jene Bilder unkommentiert zeigen.<br />
Ein Schreckensbild spukt in den Köpfen<br />
herum: Eine faschistische Schau; auf<br />
unserem Musenhügel! Aufmärsche von<br />
deutschen, vereint mit italienischen Neofaschisten<br />
– zur neuen Pilgerstadt Darmstadt.<br />
Heute behauptet dieser Mann, solches<br />
Gerede sei ihm unerträglich, <strong>und</strong> überhaupt<br />
hätte er ganz einfach keine Lust mehr<br />
gehabt, diese Ausstellung für die (dummen)<br />
DarmstädterInnen zu machen. Deshalb<br />
habe er sie – aus freien Stücken –<br />
abgesagt.<br />
Verletzte Eitelkeit <strong>und</strong> Trotz? Vielleicht deshalb<br />
wirkte er so wenig überzeugend, daß<br />
ihm kaum jemand glaubte. Jetzt will er uns<br />
freilich weismachen, seine Linie sei von<br />
Anfang an klar gewesen – nur das „Echo“<br />
hätte über ihn, Tag für Tag, falsch, nur<br />
lückenhaft berichtet. Die Berichterstatter<br />
als Sündenböcke, für die eigenen Verbeugungen,<br />
Verdrehungen <strong>und</strong> Kratzfüße? Ein<br />
Schuldiger muß doch schließlich her…<br />
Er wirkte so wenig glaubhaft, daß viele viel<br />
eher glaubten, SPD <strong>und</strong> Peter Benz hätten<br />
ihn unter Druck gesetzt, zensiert.<br />
Oder aber sie munkelten über Wolberts vorauseilenden<br />
politischen Gehorsam. Wolbert<br />
habe gedacht, so jene Version, der<br />
SPD-Unterbezirk verlange eine Absage –<br />
was ja angeblich nicht stimmen soll – <strong>und</strong><br />
er sei diesem Beschluß nur um ein paar<br />
St<strong>und</strong>en zuvorgekommen.<br />
noch „nie gesehen <strong>und</strong> gehört“. Zoratto<br />
wettert: „Die ganze italienische Presse, aber<br />
auch die Presse Deutschlands hat die<br />
Darmstädter Absage kritisiert“ <strong>und</strong><br />
schimpft über den „sogenannten Bürgermeister<br />
mit seinen stalinistischen Methoden.“<br />
Deutschland kenne keinen Mittelweg, klagt<br />
er. Er <strong>und</strong> ein Parteifre<strong>und</strong> aus Groß-Zimmern,<br />
der sich Mark Jäger nennen läßt,<br />
bemühen sich, den italienischen Faschismus<br />
zu relativieren: Er sei mit dem deutschen<br />
nicht zu vergleichen, „die können<br />
sich überhaupt nicht leiden.“ Die MSI sei<br />
auch nicht ausländerfeindlich. Während die<br />
deutschen Neofaschisten brandschatzend<br />
durch die Lande zögen, hätte sich die MSI<br />
für Juden eingesetzt. Beispielsweise die<br />
Wahl in Italien eine Woche vor- oder nachzuverlegen,<br />
da an dem avisierten Wahltag<br />
Juden wegen ihres Osterfestes sonst nicht<br />
abstimmen können. Auch würde die Partei<br />
auf jüdischen Friedhöfen Kränze niederlegen.<br />
In Italien gebe es nur die Alternative<br />
zwischen Dieben – den korrupten <strong>und</strong><br />
mafiosen etablierten Parteien – <strong>und</strong> eben<br />
der MSI. Überhaupt, so drohen die beiden,<br />
seien sie demnächst die herrschende Partei<br />
Italiens, schon allein deshalb müßten sich<br />
die Darmstädter PolitikerInnen überlegen,<br />
welchen Schaden sie der Stadt mit ihrem<br />
Affront beibringen würden.<br />
OB Benz erklärte Bruno Zoratto als „unerwünschte<br />
Person“ <strong>und</strong> lud ihn wieder aus.<br />
Wolbert hat inzwischen entschieden, in seinen<br />
Räumen keinen Sironi-Vortrag zu halten:<br />
„Denn, daß Sissy Geiger eine parteipolitische<br />
Veranstaltung daraus machen will,<br />
das lasse ich nicht zu.“ vro<br />
Siehe auch Erklärungen der Darmstädter Sezession in<br />
„Briefe an die Redaktion“.<br />
Bei all dem Hickhack dachte die <strong>CDU</strong> vor<br />
allem eins: Was ein unerwartetes Geschenk –<br />
da muß sich doch kräftig parteipolitischer<br />
Profit rausschlagen lassen! Sie nämlich seien<br />
die wahren Kunst- <strong>und</strong> Demokratieverteidiger<br />
Darmstadts. Vergessen sollte ihre kunst- <strong>und</strong><br />
kulturfeindliche Attacke auf das Staatstheater<br />
sein – <strong>und</strong> nicht nur die. Die Christdemokrat-<br />
Innen gingen gegen Zensur <strong>und</strong> für Autonomie<br />
der Kunst auf die Barrikaden.<br />
Doch dann, oh Pein, vergeigte sich eine<br />
ihrer Parteikolleginnen. Nicht nur, daß sie<br />
auf jenen Brief des Italieners Zoratto als<br />
einzige aus einer ganzen Adressatenhorde<br />
antwortete. Frau Geiger war so überzeugt<br />
von der <strong>CDU</strong>-Taktik, daß sie nicht gründlich<br />
nachdachte. Und so schickte sie jenen<br />
Briefwechsel auch noch ans „Echo“. Da war<br />
es passiert; da war sie selbst die Gelackmeierte<br />
– war sie doch einem Faschisten<br />
gründlich auf den Leim gegangen. Hatte ihn<br />
gar noch nach Darmstadt eingeladen, zu<br />
einem Vortrag, von Wolbert, über Sironi,<br />
auf der Mathildenhöhe.<br />
Wir klatschen in die Hände <strong>und</strong> freuen uns,<br />
daß es der <strong>CDU</strong> nicht gelungen ist, aus dieser<br />
Kunstdebatte parteipolitisch Profit zu<br />
schlagen.<br />
Und wir warten gespannt auf den Ausgang<br />
des politischen Taktierens von Eike Ebert,<br />
Peter Benz <strong>und</strong> ihrer SPD.<br />
Auch wenn Wolbert meint, die Sironi-<br />
Debatte habe das Vertrauensverhältnis zwischen<br />
ihm <strong>und</strong> dem OB gefestigt – er irrt.<br />
Freilich, Benz hat ihn in seiner Rede vor<br />
dem Stadtparlament verteidigt, sogar<br />
gelobt. Doch ist das nur, <strong>und</strong> wiederum einzig,<br />
ein parteipolitisches Spiel – diesmal<br />
von den Sozialdemokraten. Denn Wolbert<br />
D armstadt<br />
leidet. In<br />
der europäischenKulturmetropole<br />
zwischen Nieder-<br />
Mossau <strong>und</strong> Büttelborn<br />
sind die Kostgänger des schönen<br />
Scheins vom Siechtum bedroht: Morbus<br />
Wolbert. Und wieder ist es ein toter Italiener,<br />
der nach Vergil, Varus <strong>und</strong> Vivaldi die<br />
teutonischen Hirne der nördlichen Bergstraße<br />
im Minicafé zum Schmelzen bringt:<br />
Sironi.<br />
Den Künstler als Künstler zeigen, diese<br />
schöne, alte Idee, den Künstler als Künstler<br />
einfach als Künstler zu zeigen: das hat uns<br />
in Darmstadt gefehlt, das hatten wir lange<br />
nicht. Das ist geradezu bestechend, das<br />
sticht regelrecht in die Augen, das blendet<br />
geradezu.<br />
Was konnte denn dieser Sironi dafür, daß er<br />
Faschist ist? Gar nichts. So was kann<br />
schließlich jedem passieren. Wie hieß denn<br />
noch dieser <strong>net</strong>te Kommandant. Bis heute<br />
ist ja nicht klar, wie jener Herr, dessen<br />
Geburtstag wir am 20. April feiern, Mitglied<br />
der NSDAP werden konnte. Das war übrigens<br />
der, der die Autobahnen gebaut hat.<br />
Eine gute Sache. Mindestens genauso gut<br />
wie die Bilder von Sironi, der Straßen<br />
gemalt hat <strong>und</strong> nie ADAC-Mitglied war.<br />
Dürer auch nicht; <strong>und</strong> Dürer hat Hasen<br />
gemalt, was bitteschön eine reine<br />
Geschmackssache ist.<br />
Ich komm nicht auf den Namen von diesem<br />
<strong>net</strong>ten Lagerkommandanten. Jedenfalls ist<br />
dieser Sironi ein so guter Maler, daß er<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 11<br />
ohne Ende<br />
ist bei Benz in Ungnade gefallen. Er soll<br />
gehen. Aber wie soll das funktionieren?<br />
Für solche Jobs gibt es in der SPD Parteifre<strong>und</strong><br />
<strong>und</strong> Hardliner Ebert. Und zwischen<br />
beiden eine geheime Abmachung? Ein hinterlistiger<br />
Schachzug, bei dem Benz’ Weste<br />
rein bleibt, steht er doch Wolbert öffentlich<br />
weiter bei. Statt seiner übernimmt Ebert<br />
den bösen Part – <strong>und</strong> demontiert den Ausstellungsmacher,<br />
kräftig, mit Donnerschlag.<br />
Setzt alles daran, ihn zu Fall zu bringen<br />
oder aber zum Weggang zu nötigen.<br />
Womit wir am Ende unserer Freuden sind:<br />
Die frühen Stadtlandschaften Sironis hätten<br />
wir doch allzu gerne betrachtet, kommentiert<br />
natürlich – waren wir doch allzu neugierig,<br />
zu erfahren, was an ihnen faschistisch<br />
ist <strong>und</strong> was nicht. Gerade das wäre<br />
des Ausstellungsmachers <strong>und</strong> Kulturreferenten<br />
Aufgabe gewesen: Für unsere Bildung<br />
zu sorgen. Doch schon während der<br />
Sitzung des Kulturausschusses, wo ja<br />
Erklärungsbedarf bestand, schmollte der<br />
angebliche Fachmann <strong>und</strong> versäumte. Auch<br />
Benz blieb untätig: Damals hätte er seinen<br />
Kulturreferenten darauf verpflichten sollen.<br />
Zeit war genug. Und wir sind enttäuscht<br />
über unseren Ausstellungsmacher, der so<br />
schnell aufgab <strong>und</strong> dann noch so ungeschickt…<br />
Was macht dieser Kulturreferent<br />
überhaupt? Hat er sich zur Theaterkrise je<br />
geäußert, zur Bessunger Knabenschule<br />
oder etwa zu den Heag-Hallen, für die<br />
immer noch ein Konzept zur kulturellen<br />
Nutzung fehlt?<br />
Und daß unser Darmstadt so eine schlechte<br />
Presse hatte, außerhalb, in der „Süddeutschen“<br />
<strong>und</strong> wo sonst noch überall, das<br />
schmerzt ja dann doch… Eva Bredow<br />
zumindest in<br />
Darmstadt<br />
von Tag zu<br />
Tag besser<br />
wird. Und<br />
dieser südländische<br />
Faschismus<br />
ist ja auch irgendwie ganz anders, das sollte<br />
man nicht so verbissen sehen. Die Italiener<br />
sehen das auch locker, lockerer – <strong>und</strong>,<br />
wenn man Sissy Geiger glaubt, am lockersten<br />
überhaupt. Wie kommt die eigentlich<br />
in die <strong>CDU</strong>? Bestimmt zufällig. Der Faschismus<br />
in Italien war mehr eine Folkloreveranstaltung<br />
mit viel Gesang, Trachtentanz <strong>und</strong><br />
Vino. Dieser <strong>net</strong>te Lagerkommandant, ich<br />
weiß nicht mehr, wie er hieß, war zum Beispiel<br />
ein vorbildlicher Familienvater. Kunst<br />
hat mit Politik doch nun wirklich überhaupt<br />
nichts zu tun. Laßt dem Sironi doch seine<br />
Straßen <strong>und</strong> dem Dürer seine Hasen, dann<br />
sind alle zufrieden damit. Was dem einen<br />
seine schwarze Milch der Frühe, ist dem<br />
anderen Jünger sein Straßengraben oder<br />
Schützengraben. Hauptsache es ist gut<br />
gemacht.<br />
Haben sich die Amerikaner auch gedacht<br />
<strong>und</strong> den Barbie engagiert. Es regt sich bei<br />
uns doch auch niemand darüber auf, ob<br />
wann <strong>und</strong> wie irgendein Künstler oder<br />
Künstlerin damals in der DDR mit der Stasi<br />
– oder? Wir haben ja auch nichts gegen<br />
Gewalt, sofern sie professionell ausgeübt<br />
wird. Dieser <strong>net</strong>te Lagerkommandant<br />
jedenfalls (das darf man nicht ausklammern)<br />
war privat ein Vorbild für jeden deutschen<br />
Schäferh<strong>und</strong>.<br />
P. J. Hoffmann<br />
INTERNAT. TAPETEN<br />
DARMSTADT<br />
ROSSD–RFER PLATZ
In Rom, wo die Familie des 1885 in<br />
Sassari, Sardinien, geborenen Mario<br />
Sironi wohnte, lernte der junge Maler<br />
um 1910 Giacomo Balla, Umberto Boccioni<br />
<strong>und</strong> andere Mitglieder der Avantgarde-Bewegung<br />
des Futurismus kennen.<br />
„Ein Rennwagen ist schöner als die<br />
Nike von Samothrake“ lautete einer der<br />
ästhetischen Leitsprüche in den zahllosen<br />
Manifesten der Gruppe jener Zeit.<br />
Aufgabe der Kunst wurde die Auseinandersetzung<br />
mit dem Leben in der Großstadt,<br />
dem neuen Standard der voranschreitenden<br />
Technik <strong>und</strong> die<br />
Aufsplitterung<br />
der Erfahrbarkeit<br />
von Raum<br />
<strong>und</strong> Zeit –<br />
doch<br />
„Selbstbildnis“, 1908 „Paesaggio urbano con aeroplano“, 1920<br />
man war zugleich auch nationalistisch<br />
gesonnen. Man liebte die italienische<br />
Heimat, so daß einige futuristische Gemüter,<br />
wie etwa der richtungsweisende<br />
Dichter Gabriele d’Annunzio, sich nahtlos<br />
in die faschistische Denkungsart<br />
eingliedern konnten. Nach der offiziellen<br />
Aufforderung an Sironi im Jahre 1914,<br />
sich der futuristischen Bewegung anzuschließen,<br />
schuf dieser höchst eigenwillige<br />
Portraits <strong>und</strong> Interieurszenen in der<br />
typischen, prismatischen Aufsplitterung<br />
der Farben <strong>und</strong> Formen.<br />
Um 1920 präsentieren sich die Werke<br />
Sironis dagegen in ganz anderer Weise:<br />
Dem Rausch aus Farbe <strong>und</strong> Bewegung<br />
folgen beklemmend ruhige <strong>und</strong> menschenleere<br />
Ansichten der düsteren Vorstädte,<br />
der Fabrikanlagen. In Mailand<br />
formierte sich um Sironi um 1922 die<br />
Malergruppe des „Novecento Italiano“,<br />
welche sich ohne festgelegte ästhetische<br />
Normen für die Notwendigkeit einer<br />
neuen plastischen <strong>und</strong> kompakten<br />
Malerei einsetzte – neben Sironis<br />
urbanen Landschaften<br />
kristallisieren sich in diesem<br />
Umkreis auch die monumentalen,psychologisierend<br />
gesehenen<br />
Figuren von Carlo<br />
Carrà oder die aus<br />
wenigen, leisen<br />
Gegenständen<br />
komponierten<br />
Stille-<br />
„Paesaggio urbano“, 1919 „Il camion giallo“, 1919<br />
„Paesaggio urbano“, 1922<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 12<br />
Vom Futurismus zur monumentalen Figurenmalerei<br />
Mario Sironis Leben <strong>und</strong> Werk<br />
ben des Giorgio Morandi heraus. Sironis<br />
Glaube an den ideologischen Auftrag<br />
der neuen italienischen Kunst wird vollends<br />
1933 sichtbar, als er das „Manifest<br />
der Wandmalerei“ formuliert <strong>und</strong> sich<br />
für die Notwendigkeit einer „neuen<br />
faschistischen Kunst“ ausspricht: „Die<br />
Wandmalerei ist die eigentliche Form<br />
der sozialen Malerei. Der Vorstellungskraft<br />
des Volkes kann sie besser als jede<br />
andere Form entsprechen“.<br />
Man möchte in den großfigurigen, athletischen<br />
<strong>und</strong> scheinbar klassischen Vorbildern<br />
nachempf<strong>und</strong>enen Figuren der<br />
danach von Sironi geschaffenen Werke<br />
heute bisweilen den italienischen Prototyp<br />
einer faschistisch-totalitären Kunst<br />
erkennen, die sich im Gegenzug zu dem<br />
„sozialistischen Realismus“ stalinistischer<br />
Prägung entwickelte. Nicht zu<br />
übersehen ist im Europa der dreißiger<br />
Jahren allerdings die allgemeine Tendenz<br />
zu einer klassischen, der abstrakten<br />
Moderne entgegenwirkenden Figurenmalerei,<br />
die als neue Auseinandersetzung<br />
mit der sichtbaren Realität<br />
gewertet werden kann – selbst Picasso<br />
experimentierte damals mit den Formen<br />
monumentaler Figuren.<br />
Sironis Bedeutung für die Entwicklung<br />
der modernen Malerei in Italien ist<br />
unangefochten; eine eingehende Diskussion<br />
<strong>und</strong> Bewertung seiner künstlerischen<br />
<strong>und</strong> ideologischen Position<br />
bleibt in Deutschland, wo man auch die<br />
eigene totalitäre Kunst ängstlich in<br />
Depots versteckt, jedoch weiterhin zu<br />
leisten. Sironi starb 1961 in Mailand,<br />
nachdem er die Nachkriegsjahre<br />
erschüttert durch die Auswirkungen der<br />
faschistischen Ideologie <strong>und</strong> den<br />
Selbstmord seiner Tochter durchlebt<br />
hatte. Eine erste Auseinandersetzung<br />
mit seinem Werk fand in Deutschland<br />
1988 anläßlich einer Retrospektive in<br />
Baden-Baden <strong>und</strong> Düsseldorf statt. gol
„L’allieva“, 1924<br />
„Cartoni per il mosaico del Palazzo di Giustizia“, 1936<br />
Bilder einer Ausstellung<br />
„L’lavoratori“, 1932<br />
„L’agricolttura“, 1936 „Contadini al lavoro“, 1933<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 13<br />
… die in den Ausstellungshallen der Mathildenhöhe nicht gezeigt werden (dürfen). Die ZD<br />
stellt eine Auswahl vor.<br />
Nur die urbanen Szenarien (linke Seite) wollte Dr. Klaus Wolbert in seiner Sironi-Schau präsentieren,<br />
jene düsteren, melancholischen, frühen Werke des italienischen Künstlers, die er<br />
um 1920 gemalt hat. Auf der rechten Seite sind seine späteren Werke abgebildet – darunter<br />
das Wandbild, das er 1936 für den Justizpalast in Mailand geschaffen hat.<br />
Laut Oberbürgermeister Peter Benz (SPD) hat die Absage der Ausstellung Darmstadt keine<br />
Kosten verursacht, da die Verträge mit den Leihgebern oder Transportfirmen noch nicht<br />
abgeschlossen gewesen wären. Statt mit Sironi werden die renovierten Ausstellungshallen<br />
am 27.März mit Werken von jungen Darmstädter KünstlerInnen eröff<strong>net</strong>. Titel: „Junge Kunst<br />
bei uns“. Gezeigt werden Malerei, Skulptur, Graphik, Objektkunst, Performance, Klanginstallationen<br />
<strong>und</strong> Musik.<br />
Alle Abbildungen sind dem Katalog „Sironi 1885-1961“, Verlag Gabriele Mazzotta, entnommen.<br />
Anlaß war eine Ausstellung in Milano, im Palazzo Reale, vom 4. Oktober bis 8. Dezember<br />
1985.<br />
RAUMGESTALTUNG<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
Als<br />
Zolas Roman „Germinal“ 1885<br />
erschien, häuften sich die Proteste.<br />
Zu drastisch <strong>und</strong> zersetzend schienen<br />
den Konservativen die intensiven Schilderungen<br />
des elenden Bergarbeiterlebens, zu<br />
gefährlich die Anklage des Kapitals als Hort<br />
des Bösen. Dabei hatte Zola nichts anderes<br />
niedergeschrieben, als er mit naturwissenschaftlicher<br />
Akribie im Milieu vor Ort studiert<br />
hatte. Unter dem Eindruck des blutig<br />
niedergeschlagenen Bergarbeiterstreiks in<br />
Anzin (1884) hatte er sich bei den Bergarbeitern<br />
in Nordfrankreich einquartiert, bei<br />
ihren Familien in den beengten Wohnverhältnissen,<br />
hatte den langen Arbeitstag von<br />
Männern, Frauen <strong>und</strong> Kindern beim Kohleabbau<br />
unter Tage, ihre Armut, ihren Hunger,<br />
ihre Krankheiten hautnah miterlebt.<br />
Zum erstenmal im französischen Roman,<br />
nach Ansätzen bei Eugène Sue („Mystères<br />
de Paris“, 1842), bei Victor Hugo („Les<br />
Misérables“, 1862) <strong>und</strong> den Brüdern Goncourt<br />
(„Germinie Lacerteux“, 1864), werden<br />
bei Zola die Lage des Proletariats <strong>und</strong><br />
der Gegensatz von Kapital <strong>und</strong> Arbeit<br />
anschaulich, klar <strong>und</strong> ungeschminkt vom<br />
Standpunkt sozialistischer Parteilichkeit<br />
aus geschildert. Im Gegensatz zu Zolas<br />
„L'Assommoir“ (1877), der ganz im proletarischen<br />
Milieu spielt, ohne Angehörige<br />
der herrschenden Klasse auskommt, wird<br />
in „Germinal“ beim Zusammenstoß der<br />
Interessen von Arbeitern <strong>und</strong> Grubenbesitzern<br />
der Klassengegensatz voll entfaltet,<br />
<strong>und</strong> die Ausgebeuteten präsentieren den<br />
wirtschaftlich Herrschenden ihre eigenen,<br />
proletarischen Interessen <strong>und</strong> Gerechtigkeitsvorstellungen.<br />
Zola in seinem Entwurf:<br />
„Der Roman behandelt den Aufstand der<br />
Lohnabhängigen, den Schlag gegen die<br />
Gesellschaft, die einen Moment wankt: in<br />
einem Wort, den Kampf von Arbeit <strong>und</strong><br />
Kapital.“<br />
Kleinbürgerlicher Zola?<br />
Über die Reichweite dieser Parteilichkeit<br />
des als Naturalist eingestuften Zola entbrannten<br />
in den Jahren bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />
innerhalb der Arbeiterbewegung<br />
heftige literaturtheoretische Diskussionen,<br />
die zusätzlich an unversöhnlicher Schärfe<br />
dadurch gewannen, daß sie eingeb<strong>und</strong>en<br />
waren in die unvermeidliche Auseinandersetzung<br />
mit dem Revisionismus. Gerade<br />
die Zola-Rezeption in Deutschland zeigt<br />
das. Da haben wir auf der einen Seite Friedrich<br />
Engels, der im April 1888 an Margaret<br />
Harkness schreibt, er halte Balzac „für<br />
einen weit größeren Meister des Realismus<br />
als alle Zolas passés, présents et à venir“.<br />
Auf Distanz zu Zola <strong>und</strong> den Naturalisten<br />
gehen auch Franz Mehring <strong>und</strong> Wilhelm<br />
Liebknecht, die auf Verzerrungen in den<br />
naturalistischen Schilderungen des Proletariats<br />
hinweisen. Und beim Gothaer Parteitag<br />
der SPD 1896 wenden sich mittlere<br />
Funktionäre gegen „Obszönitäten“ in der<br />
naturalistischen Literatur. Diese streng<br />
ablehnende Haltung setzt sich fort bis<br />
Georg Lukács, für den Autoren wie Sue,<br />
Hugo <strong>und</strong> auch Zola „kleinbürgerliche<br />
Oppositionelle gegen den Kapitalismus,<br />
keine proletarischen Revolutionäre“ sind,<br />
die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen<br />
Produktion hätten sie nicht durchschaut,<br />
die größeren Hintergründe <strong>und</strong><br />
ökonomischen Zusammenhänge der bürgerlichen<br />
Gesellschaft seien ihnen verschlossen<br />
geblieben.<br />
Auf der anderen Seite haben wir die positiven<br />
Äußerungen der Revisionisten, so etwa<br />
des Schriftstellers Wilhelm Bölsche, der<br />
Zolas Parteilichkeit <strong>und</strong> scharfe Gesellschaftskritik<br />
hervorhebt, die zwar keine utopischen<br />
Zukunftsbilder ausmale, aber den<br />
Leser unwillkürlich das ideale Gegenbild<br />
einer befreiten Gesellschaft entwerfen lasse.<br />
In dieser sehr frühen Debatte um das,<br />
was man später „sozialistischen Realismus“<br />
nannte, nahmen die deutschen sozialdemokratischen<br />
Arbeiter auf ihre Weise<br />
Stellung: Vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende lasen<br />
sie Zola massenweise, weil er eine große<br />
Anziehungskraft auf sie ausübte. Ganz so<br />
fremd konnten die literarischen Welten<br />
Zolas, der zwar, neben Darwin, vom Positivisten<br />
Taine beeinflußt war, aber auch ein<br />
bißchen Marx <strong>und</strong> später Fourier gelesen<br />
hatte, dem Proletariat also nicht sein. Im<br />
Gegenteil, vielen Arbeitern gab Zola gerade<br />
mit „Germinal“ einen inneren Stoß, manchen<br />
bürgerlichen Intellektuellen machte er<br />
damit zum Marxisten, hatte Einfluß auf<br />
Maxim Gorki, <strong>und</strong> in Lenins Album mit Bildern<br />
seiner Lieblingsschriftsteller lag, wie<br />
die Krupskaja erzählt, auch ein Foto von<br />
Zola, der (wie Lenin) ins Exil gehen mußte,<br />
weil er sich mit seinem Manifest „J'accuse“<br />
(„Ich klage an“, 1898) für Dreyfus eingesetzt<br />
<strong>und</strong> gegen nationalistische <strong>und</strong> antisemitische<br />
Hetze gewandt hatte.<br />
Bergarbeitermilieu<br />
„Germinal“, der Roman, der auch die deutschen<br />
Proletarier so begeisterte, ist der<br />
dreizehnte Band des 20teiligen Romanzyklus<br />
„Die Rougon-Macquart. Natur- <strong>und</strong><br />
Sozialgeschichte einer Familie unter dem<br />
zweiten Kaiserreich“. Der fünfh<strong>und</strong>ert Seiten<br />
starke Band ist übersichtlich komponiert<br />
in sieben Teilen. Die ersten beiden enthalten<br />
eine breite <strong>und</strong> intensive Milieuschilderung,<br />
quasi die Exposition des Romans,<br />
der dritte schafft einen Übergang, die restlichen<br />
Teile handeln vom Streik der Grubenarbeiter<br />
<strong>und</strong> deren Niederlage. Der Roman<br />
spielt in der Wirtschaftskrise des Jahres<br />
1868 <strong>und</strong> beginnt mit der Ankunft des<br />
Arbeit suchenden Maschinisten Etienne<br />
Lantier in Montsou. Der ortsfremde <strong>und</strong> im<br />
Bergbau unerfahrene Etienne, der in der<br />
Kohlengrube Le Voreux einen Arbeitsplatz<br />
findet, ist nicht nur Zolas Vermittlerfigur,<br />
mit dessen Augen der Leser das neue<br />
Milieu kennenlernt, sondern auch die<br />
Hauptperson des Romans.<br />
Etienne wohnt bei der vielköpfigen Familie<br />
Maheu, wo der Dreizehn-St<strong>und</strong>en-Arbeitstag<br />
morgens um vier beginnt <strong>und</strong> in<br />
drückender Enge die Betten im Schichtwechsel<br />
benutzt werden, wo Essen knapp<br />
ist, Krankheiten herrschen <strong>und</strong> Schulden<br />
drücken. Die fünfzehnjährige Maheu-Tochter<br />
Cathérine interessiert ihn, sie wird aber<br />
von seinem Konkurrenten, dem Arbeiter<br />
Chaval, in Besitz genommen. Ein starkes<br />
Mittel Zolas ist der soziale Kontrast: den<br />
hungrigen <strong>und</strong> leidenden Arbeitern stellt er<br />
die satte <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Unternehmerseite<br />
gegenüber, oder er verschränkt sie kontrastiv<br />
miteinander: die Armen betteln bei den<br />
Reichen, die Reichen besuchen mildtätiggeizig<br />
die Armen. Im Laufe von Monaten<br />
entwickelt Etienne sein Klassenbewußtsein,<br />
vor allem in der Diskussion über einen<br />
möglichen Streik. Kontrahenten sind Rasseneur,<br />
der sich mit dem Kapital vorläufig<br />
arrangieren will, <strong>und</strong> der russische Anarchist<br />
<strong>und</strong> Bakunin-Schüler Souvarine, der<br />
mit der Vernichtung von Gruben, Menschen<br />
<strong>und</strong> der ganzen „alten Welt“ in eine bessere<br />
Zukunft führen will.<br />
Der lange Streik<br />
Als die Grubenleitung die Löhne drücken<br />
will, indem sie zusätzlich zur bezahlten<br />
Kohleförderung von den Arbeitern noch<br />
mehr unbezahlte Verzimmerung der vom<br />
Einsturz bedrohten Schächte verlangt, ruft<br />
Etienne zum Streik, <strong>und</strong> er hat die große<br />
Mehrheit der Arbeiter hinter sich. Doch die<br />
örtliche, neu eingerichtete Streikkasse ist<br />
bald erschöpft, Unterstützungsgelder aus<br />
dem Ausland kommen nur spärlich, nach<br />
zwei Monaten Streik ist der Hunger total,<br />
die Streikdisziplin läßt nach, die Aktionen<br />
entgleiten Etiennes Kontrolle. Die Arbeiter<br />
zerstören die Nachbargruben, ziehen drohend<br />
vor die Häuser des Direktors Hennebeau<br />
<strong>und</strong> des Aktionärs Grégoire. Die Reaktionen<br />
von Kapital <strong>und</strong> Regierung: Belgische<br />
Arbeiter werden als Streikbrecher eingesetzt,<br />
Militär marschiert auf. Ein paar der<br />
verzweifelten <strong>und</strong> provozierten Arbeiter<br />
werfen Steine, die Soldaten schießen, es<br />
gibt Tote, unter ihnen Maheu. Die Streikenden<br />
kapitulieren <strong>und</strong> geben Etienne die<br />
Schuld am Streik, sie nehmen die Arbeit<br />
wieder auf – zu denselben schlechten<br />
Bedingungen wie vor dem Streik. Doch<br />
Souvarine verübt Sabotage, <strong>und</strong> in der apokalyptischen<br />
Schlußkatastrophe wird nach<br />
einem gigantischen Wassereinbruch die<br />
ganze Grube samt ihren Übertageeinrichtungen<br />
überflutet <strong>und</strong> verschwindet unter<br />
dem Wasser. Catherine, im letzten Augenblick<br />
noch Etiennes Geliebte geworden,<br />
wird tot geborgen. Von den unter Tage Eingeschlossenen<br />
wird nur Etienne lebend<br />
gerettet. Die Arbeit in den Gruben geht weiter,<br />
der Streik endet mit einer Niederlage,<br />
doch die nun klassenbewußteren Arbeiter<br />
werden das nächste Mal besser kämpfen.<br />
Und Etienne, „gereift durch die harten<br />
Erfahrungen in der Grube“ <strong>und</strong> mit „noch<br />
größerem Haß gegen die Bourgeoisie“,<br />
macht sich auf den Weg nach Paris, „als<br />
denkender Soldat der Revolution, der der<br />
Gesellschaft den Krieg erklärt hat.“<br />
Ein ewiger Schrei<br />
„Germinal“ ist zweifellos einer der bedeutendsten<br />
französischen Romane. Was<br />
motivierte Regisseur <strong>und</strong> Drehbuchautor<br />
Claude Berri zur filmischen Adaption? „Dieses<br />
Werk ist ein Aufschrei gegen jede Form<br />
von Sklaverei,“ sagt er <strong>und</strong> fühlt sich sei-<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 14<br />
Nach ihrem 13-St<strong>und</strong>en-Arbeitstag verlassen die Arbeiter die Gruben. Etienne Lantier (Renaud, rechts) <strong>und</strong> Maheu (Gérard Depardieu, links) (Foto: Agentur)<br />
Der Götze Kapital<br />
mästet sich<br />
mit Menschenfleisch<br />
Claude Berri verfilmt Emile Zolas Streik-Epos „Germinal“<br />
nem Vater, einem Kommunisten, verb<strong>und</strong>en.<br />
„Die vielen Toten in ,Germinal‘ sind<br />
nicht umsonst gestorben.“ Und er verweist<br />
auf aktuelle Bergarbeiterprobleme. „Ich will<br />
erreichen, daß man den ewigen Schrei, den<br />
Zola vor mehr als einem Jahrh<strong>und</strong>ert ausgestoßen<br />
hat, heute noch hört – <strong>und</strong> zwar<br />
genauso laut. Seine Botschaft der Freiheit<br />
<strong>und</strong> Liebe...“ Ein starkes <strong>und</strong> engagiert spielendes<br />
Team hat er versammelt. Renaud,<br />
der bekannte Sänger <strong>und</strong> Komponist, bisher<br />
ohne Filmerfahrung, spielt den Etienne<br />
überzeugend mit Ernst, Nachdenklichkeit<br />
<strong>und</strong> Intellekt, Sensibilität, Kraft <strong>und</strong> Würde.<br />
Euro-Star Gérard Depardieu, der in seinen<br />
Äußerungen zum Film das Gefühl für dessen<br />
politischen Gehalt vermissen läßt, muß sich<br />
in der Rolle des Familienvaters Maheu<br />
etwas kleiner machen – zum Vorteil für den<br />
Dargestellten. Miou-Miou verkörpert die<br />
ihren Mann <strong>und</strong> zwei Kinder verlierende,<br />
sich zur Revolutionärin wandelnde Maheu<br />
vor allem in ihrer Härte, in ihrem Schmerz.<br />
Judith Henry gelingt es, die ihrem brutalen<br />
Entjungferer Chaval hündisch folgende<br />
Cathérine Maheu in ihrer ewigen Unterwerfung,<br />
aber auch mit ihrer inneren<br />
„Flamme der Hoffnung“ lebendig zu machen.<br />
Der bisher mehr in Nebenrollen aufgetretene<br />
Jean-Roger Milo hat das richtige<br />
giftige Gesicht für den fiesen Macho <strong>und</strong><br />
Streikbrecher Chaval. Laurent Terzieff<br />
(Jahrgang 1935), eigentlich ein Gegentyp zu<br />
dem dreißigjährigen, mädchenhaft-zart aussehenden<br />
Souvarine, gibt dem eisig-glühenden<br />
Anarchisten etwas von Mephisto.<br />
190 Millionen Francs soll „die teuerste Produktion<br />
der französischen Kinogeschichte“<br />
gekostet haben. Drei Monate für die Konzeption<br />
der Bauten <strong>und</strong> der Ausstattung, ein<br />
ganzes Jahr für die authentische Rekonstruktion<br />
eines Dorfes mit Häusern <strong>und</strong><br />
Schächten, parallel dazu die Dreharbeiten.<br />
In einer riesigen Fabrikhalle wurden<br />
Zechengänge von r<strong>und</strong> 400 Metern<br />
Gesamtlänge gebaut <strong>und</strong> ein großes<br />
Schwimmbad für die Überschwemmungsszenen.<br />
Hat sich der Aufwand gelohnt?<br />
Reduzierte Drastik<br />
Selbstverständlich ist keine absolute historische<br />
Authentizität <strong>und</strong> Detailtreue zu<br />
erwarten, schon gar nicht bei einem Kinofilm,<br />
der sich überall verkaufen soll. Das<br />
beginnt beim Aussehen der Personen. Berris<br />
Frauen sind insgesamt hübscher als die<br />
von Zola, die Film-Cathérine ist nicht mit<br />
einem Jungen zu verwechseln, <strong>und</strong> der<br />
Film-Maheu hängen die Brüste nicht bis<br />
zum Bauch. Im Roman haben die Proletarier<br />
gelbliche Haare wegen der schlechten<br />
Seife <strong>und</strong> eine durch den Kohlestaub ruinierte<br />
Haut. Die Wohnverhältnisse sind im<br />
Film etwas geschönt, dennoch ist Zolas<br />
Bergarbeitermilieu gut getroffen. Im<br />
Roman ist vieles drastischer, extremer<br />
geschildert. Berri zeigt nicht so eindringlich<br />
Armut <strong>und</strong> Hunger der Bergarbeiter<br />
während des Streiks, die alles für ein<br />
bißchen Brot verkaufen müssen: Mobiliar,<br />
Wäsche, gar die Matratzenfüllung. Die<br />
mühselige, leidvolle Arbeit unter Tage ist<br />
geschönt; allein den bei Zola anstrengenden,<br />
kilometerlangen unterirdischen<br />
Anmarsch der ArbeiterInnen samt Hochklettern<br />
im Kamin <strong>und</strong> Waten im Wasser<br />
würden Berris SchauspielerInnen, die nur<br />
einen Spaziergang machen müssen, gar<br />
nicht durchhalten. Bei Berri schieben keine<br />
kleinen Kinder die gefüllten „H<strong>und</strong>e“ auf<br />
den Schienen durch die Stollen.<br />
Zensierter Sex<br />
Die bei Zola weltuntergangsähnliche Überflutung<br />
der Grube wirkt bei Berri wie ein<br />
besseres Hochwasser, <strong>und</strong> das r<strong>und</strong> zweiwöchige<br />
Eingeschlossensein von Etienne<br />
<strong>und</strong> Cathérine mit bis zum Hals stehendem<br />
Wasser verwandelt sich bei Berri in ein<br />
paartägiges gemütliches Abwarten im Liegen<br />
auf trockenem Gr<strong>und</strong>, das nicht<br />
begreiflich macht, warum Cathérine plötzlich<br />
an Erschöpfung sterben muß. Die Glättungen<br />
Berris betreffen auch das Verhältnis<br />
der Geschlechter. Im Buch behandeln fast<br />
alle Männer ihre Frauen zu grob, im Film gilt<br />
dies nur für Chaval, der aber ist im Roman<br />
noch viel schlimmer. Während der naturalistische<br />
Autor deutlich das freie, von bürgerlicher<br />
Sexualmoral ungebremste Liebesleben<br />
der Männer <strong>und</strong> Frauen schildert,<br />
die ihrem einzigen kostenlosen <strong>und</strong> schönen<br />
Vergnügen ungehemmt <strong>und</strong> spontan<br />
hinter jedem Busch nachgehen, legt der<br />
zeitgenössische Filmemacher über diese<br />
Obszönitäten den Mantel prüden Schweigens.<br />
Selbst die flotte Mouquette, die jeden<br />
Mann in der Grube ausprobiert, muß im<br />
Film den sex appeal unter der reichlichen<br />
Wäsche lassen.<br />
Wie üblich bei der Verfilmung dicker Wälzer,<br />
so hat auch Berri notwendigerweise die<br />
Handlungsstränge gekürzt <strong>und</strong> -Elemente<br />
zusammengezogen. Vor allem die Nebenfiguren<br />
mußten Federn lassen. So zum Beispiel<br />
der für Etiennes Schicksal nicht<br />
unwichtige elfjährige Maheu-Sohn Jeanlin,<br />
der zum Dieb <strong>und</strong> Mörder wird. Doch auch<br />
einige Hauptfiguren sind betroffen. Zola ist<br />
ein Meister in der Darstellung der Widersprüchlichkeit<br />
von Charakteren. Berris Personen<br />
aber haben, auch wenn ihnen<br />
manchmal Elemente von Nebenpersonen<br />
übertragen werden, weniger innere Widersprüche,<br />
zum Teil sind ihre negativen<br />
Eigenschaften weggelassen. Zum Beispiel<br />
hat Etienne bei Zola auch einen gewissen<br />
Führer-Ehrgeiz, andererseits aber wird er<br />
von Berri an einer Stelle überflüssigerweise<br />
in seinem Verhalten radikalisiert. Bei der<br />
Maheu fehlen die gefühllosen Züge, die sich<br />
aus dem harten Kampf gegen den Hunger<br />
ergeben <strong>und</strong> sie manchmal zur Rabenmutter<br />
machen. Die Nuancen Souvarines fehlen<br />
weitgehend. Der Wirt Rasseneur ist im Film<br />
gar nur ein eindimensionales Fragment. Die<br />
Vereinfachung <strong>und</strong> Verkürzung der Hauptpersonen<br />
betrifft auch ihre Beziehungen<br />
untereinander: Souvarines Einfluß auf die<br />
politische Bildung Etiennes ist kaum<br />
erkennbar, der politische <strong>und</strong> menschliche<br />
Konflikt zwischen Rasseneur <strong>und</strong> Etienne<br />
findet gar nicht statt.<br />
Kapitalistenmärchen<br />
Schwerer wiegen kleinere politische Ausblendungen<br />
Berris, die interne Probleme<br />
<strong>und</strong> Strategiefragen der Arbeiterbewegung<br />
betreffen: die lange Diskussion über den<br />
Beitritt der lokalen Gewerkschafter in die<br />
internationale Arbeiter-Assoziation <strong>und</strong><br />
Zolas kritische Darstellung der Gewerkschaftsfunktionäre,<br />
die sich von der Basis<br />
abzuheben beginnen. Indem Berri zwei<br />
Priester wegläßt, einen korrupten <strong>und</strong> einen<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite
evolutionären, verzichtet er auf die Darstellung<br />
der nicht unwichtigen Komplizenschaft<br />
von Kirche <strong>und</strong> Kapital. Den thematischen<br />
Kern Zolas, den Gegensatz von<br />
Arbeit <strong>und</strong> Kapital, hat Berri jedoch nicht<br />
beschädigt, <strong>und</strong> was die Stärke Zolas ist,<br />
das kontrastive Verfahren, gilt auch für den<br />
Regisseur. Zwar kann sich dieser nicht leisten,<br />
wie Zola ein <strong>und</strong> dasselbe Ereignis aus<br />
mehrfacher Perspektive zu schildern, doch<br />
die Montage der hungrigen Armen vor den<br />
leeren Tellern <strong>und</strong> der satten Reichen vor<br />
den Delikatessen ist ihm bestens gelungen.<br />
Mit konzentrierter Sorgfalt, in langen, ruhigen<br />
Einstellungen inszeniert Berri auch die<br />
aufschlußreichen Lohnverhandlungen der<br />
Arbeiter mit dem Direktor Hennebeau, der<br />
mit allen rhetorischen Tricks glänzt, unter<br />
anderem mit dem alten Kapitalistenmärchen:<br />
„Erst muß es mir gut gehen, damit es<br />
euch gut geht.“ Kommt das den Gewerkschaftern<br />
von heute nicht bekannt vor?<br />
Zwar hat Berri die bei Zola durchgängig<br />
vorhandene (utopisch-)sozialistische Perspektive<br />
im Laufe des Films etwas vernachlässigt,<br />
doch rettet er sie, indem er am<br />
Schluß, während die Kamera langsam in die<br />
Höhe steigt <strong>und</strong> den in die Weite der Landschaft<br />
schreitenden Etienne aus der Totalen<br />
zeigt, einen Erzähler aus dem Off die feierlichen,<br />
letzten Sätze aus Zolas Roman zitieren<br />
läßt, sie enden: „In der flammenden<br />
Sonne dieses Frühlingsmorgens war die<br />
Landschaft von solchem Gären erfüllt. Es<br />
drängten Menschen herauf, eine schwarze<br />
Rächerarmee, die langsam in den Furchen<br />
keimte, die für die Ernten des künftigen<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts emporwuchs <strong>und</strong> deren Keimen<br />
bald die Erde zum Bersten bringen<br />
sollte.“ Nicht zuletzt mit diesem Schluß hat<br />
Berri die Aussage aus Zolas „Germinal“ (d.<br />
i. der „Monat des Keimens“ im französischen<br />
Revolutionskalenders, 21. 3. - 19. 4.)<br />
bewahrt: den Traum von Gerechtigkeit, von<br />
der Umwälzung unsozialer gesellschaftlicher<br />
Zustände.<br />
Dabei folgen seine filmischen Mittel nur<br />
teilweise der Erzählweise Zolas, der das<br />
Kontrastverfahren im Makro- <strong>und</strong> Mikrokontext<br />
intensiver nutzt. Was bei diesem<br />
wuchtig in kurzen <strong>und</strong> langen Wellen auf<br />
<strong>und</strong> ab wogt, wirkt in Berris Sequenzenabfolge<br />
viel ruhiger. Seine Montage der Einstellungen<br />
vermeidet gern extreme Wechsel,<br />
seine Kamera mag keine Hektik, bewegt<br />
sich meist langsam <strong>und</strong> unauffällig, die<br />
Handlungsachsen liegen klar, schnelle<br />
Objektbewegungen im Bild sind nicht häufig.<br />
Vom mythisierenden Pathos Zolas (z.B.<br />
„der Götze Kapital mästet sich mit Menschenfleisch“),<br />
das an den altbiblischen<br />
Propheten Amos erinnert, setzt Berris<br />
Regie kaum etwas um. Für ein zweieinhalbstündiges<br />
Filmepos ist das eigentlich<br />
eine recht unauffällige Sprache. Berri verläßt<br />
sich offensichtlich, unterstützt von der<br />
dem 19. Jahrh<strong>und</strong>ert nachempf<strong>und</strong>enen<br />
Musik von Jean-Louis Roques, auf die<br />
Überzeugungskraft des Romanstoffs. Als<br />
filmische Adaption hat Berris „Germinal“<br />
nicht die Größe, nicht den Glanz, nicht die<br />
Ausstrahlung der literarischen Vorlage, die<br />
sie transformiert, sie bewahrt aber deren<br />
wesentliche Elemente: ihre Haupthandlung,<br />
ihre Atmosphäre, ihren historischen Gehalt,<br />
ihren Sinn, ihre revolutionäre Aussage. Und<br />
als bloßer Film, unabhängig von Zolas<br />
Roman, lohnt sich „Germinal“ in jedem Fall:<br />
die Fragen nach der Abwehr von Lohnsenkung<br />
nicht nur im Bergbau, nach dem Sinn<br />
<strong>und</strong> Ziel von Streik angesichts der drohenden<br />
Schließung von Gruben sind brandaktuell.<br />
Montsou ist Rheinhausen, Montsou<br />
ist Bischofferode. Doch wo ist der deutsche<br />
Zola?<br />
P. s.: Schade genug, daß der Darmstädter<br />
Kinomonopolist dieses Filmepos, in Frankreich<br />
der große Kinoerfolg, ins intellektuelle<br />
Aschenputteleck (zuerst ins „Classic“, dann<br />
ins „Broadway“ mit Minileinwand) versteckte,<br />
anstatt es mutig in einem größeren<br />
„Helia“-Kino dem Massenpublikum zu präsentieren.<br />
Doch es kam noch schlimmer.<br />
Nachdem in der Spätvorstellung am Samstagabend<br />
(15.1.) bereits Dürrenmatts/Geißendörfers<br />
„Justiz“ im „Broadway“<br />
für kurze Zeit die Ungerechtigkeiten<br />
launischer Technik zu spüren bekommen<br />
hatte, gab's für „Germinal“ am Sonntagnachmittag<br />
ein totales black out <strong>und</strong> für<br />
die enttäuschten <strong>und</strong> verärgerten Leute ihr<br />
Geld zurück. „J'accuse!“, rief ein erboster<br />
Romanist, der endlich wieder einmal seinen<br />
Fuß ins Kino gesetzt hatte. Der Mann sollte<br />
gehört werden!<br />
Artur Rümmler<br />
Gern sucht die Kamera<br />
Was ist das für ein Film? Was ist seine<br />
formale Konzeption? Die Kamera,<br />
sehr beweglich, macht sich zum Begleiter<br />
der Neonazis, sie folgt ihnen, sie steht<br />
neben <strong>und</strong> hinter ihnen, sitzt mit ihnen im<br />
Auto, reist mit ihnen; sie zeigt uns die Dinge<br />
<strong>und</strong> die Personen, mit denen sie zu tun<br />
haben, mit ihren Augen, aus ihrer Perspektive.<br />
Zeigt die Kamera Ewald Althans, die<br />
Hauptperson, so macht sie sich kleiner,<br />
was bei dem körperlich großen Neonazi<br />
eine gewisse Zwangsläufigkeit hat, doch<br />
geht sie in diese Bauchperspektive häufiger<br />
als nötig. Dadurch wird der Zuschauer<br />
optisch entmündigt, weil er nach oben<br />
blicken muß, <strong>und</strong> Althans monumentalisiert,<br />
über ihn gestellt <strong>und</strong> mit Autorität<br />
ausgestattet. Gerne sucht die Kamera die<br />
Nähe von Althans, klebt an ihm, zeigt ihn<br />
groß <strong>und</strong> nah, tastet sein Gesicht ab, ohne<br />
uns eine wesentliche Information zu vermitteln.<br />
Im Gegenteil, die gefühlsintensiven,<br />
suggestiven Einstellungsgrößen der<br />
Mimik von Althans ziehen uns hinein in die<br />
Welt seiner Emotionen, aber nur der Emotionen,<br />
die er der Kamera zeigen will. Einige<br />
wenige Groß- <strong>und</strong> Detailaufnahmen von<br />
Althans (Kopf, Ohr, Füße) transportieren<br />
ästhetische Wertung, vielleicht sind sie<br />
humorvoll oder ironisch gemeint, ändern<br />
aber nichts an der globalen, einfühlenden<br />
Darstellungsmethode der Kamera.<br />
Die unmittelbare Umgebung von Althans<br />
(Büro, Versammlungsraum, Straße) wird<br />
im Stil eines Amateurfilmers abgelichtet,<br />
der keine Distanz zu seinem Gegenstand<br />
hat. Die Montage der Einstellungen addiert<br />
im allgemeinen nur, schafft selten einen<br />
erhellenden Kontrast, dringt nicht in die von<br />
der Kamera gelieferte Oberflächenwirklichkeit<br />
ein, sie liefert nur den Sinn, den Althans<br />
selber präsentiert. Auch die Montage der<br />
Sequenzen unterliegt diesem Prinzip, doch<br />
indem die Sequenzen addiert werden (etwa<br />
der Wechsel von Zündel <strong>und</strong> Althans), verstärken<br />
sie die Aussagen der sich selbst<br />
darstellenden Personen. Formal gesehen,<br />
bezieht dieser Film den Standpunkt der<br />
Neonazis.<br />
Was ist die inhaltliche Konzeption des<br />
Films? Das durchgängige Prinzip heißt<br />
Selbstdarstellung, auf Kommentare wird<br />
verzichtet. Die Neonazis dürfen sagen, was<br />
sie wollen, die Regie schweigt. Die Distanzlosigkeit<br />
der Kamera ist auch die des<br />
Reporters: er mischt sich nicht ein, stellt<br />
selten Fragen, <strong>und</strong> wenn, dann dringen sie<br />
nicht in die Tiefe, erhöhen bestenfalls ein<br />
wenig die Quantität des Informationswerts,<br />
meist sind sie banal oder überflüssig. Ernst<br />
Zündel, ein großsprecherischer Kleinbürger,<br />
wird vom Reporter zusammen mit Althans<br />
in Kanada aufgesucht, darf ungestört<br />
seine Biographie ausbreiten, seinen<br />
„Widerstand“ gegen die B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland, darf ausführlich sein Büro<br />
<strong>und</strong> seine Requisiten vorführen, auch seine<br />
Telefonnummer, <strong>und</strong> wer will, kann ihn<br />
nach dem Film anrufen. Zündel öff<strong>net</strong> ein<br />
Bündel mit Briefen, doch daß merkwürdigerweise<br />
in all diesen mit Tesafilm verklebten<br />
Briefen nagelneue D-Mark-Scheine,<br />
angebliche Spenden aus Deutschland, <strong>und</strong><br />
ansonsten amerikanische Schecks stecken,<br />
bringt den Reporter nicht auf die Idee, daß<br />
der NS-Wahlkanadier den finanziellen<br />
Erfolg seiner „Bewegung“ vortäuscht, um<br />
einen Spendenfluß vorzuspiegeln, den es<br />
nicht gibt. Merkwürdig auch, daß in jedem<br />
geöff<strong>net</strong>en Brief Geld oder Scheck steckt –<br />
die Neofaschisten korrespondieren auf<br />
Geldscheinen?<br />
Da wird von der Regie viel Geschwätz vorgeführt,<br />
aber auch Zündels Propagandastrategie:<br />
Videos seien seine „große Waffe“,<br />
mit denen er die Zensur unterlaufe, den<br />
„Maulkorb“ umgehe, den man ihm umhängen<br />
wolle, sie seien die „Trägerwaffe“, mit<br />
der er die vielen nationalsozialistischen<br />
Gruppen in aller Welt zusammenfassen,<br />
„auf einen Nenner bringen“ wolle. Da dürfen<br />
Zündel <strong>und</strong> der blonde, blauäugige Althans<br />
sich uneingeschränkt gegenseitig zu<br />
großen, unverzichtbaren „Führern“ hochloben.<br />
Althans, personeller Mittelpunkt des<br />
Films, gefällt sich mit Selbstlob in seiner<br />
eitlem Selbstdarstellung als „Herrenmensch“,<br />
der die Jugend zum „orthodoxen<br />
Nationalsozialismus“ erziehen will, „so<br />
radikal wie möglich“, <strong>und</strong> stolz vergleicht er<br />
sich mit SS-Führern, „ich wäre der preußische<br />
Offizier, der Heydrich oder Himmler“.<br />
Daß der Reporter den Neonazi duzt, rückt<br />
Althans in vertrauliche Nähe. Die Sequenz<br />
mit Althans <strong>und</strong> seinen Eltern, die sich<br />
deutlich politisch von ihm absetzen <strong>und</strong> seine<br />
Vergangenheit als geltungsbedürftiges,<br />
auffallen wollendes Waldorf-Kindergartenkind<br />
beleuchten, ist die einzige, in der die<br />
Person des „Hauptdarstellers“ etwas psychologische<br />
Tiefe bekommt; politische Tiefe<br />
erhält sie nie.<br />
Den Höhepunkt von Althans‘ Auftritt in die-<br />
sem Film verlegt die Regie ins KZ Auschwitz,<br />
für den Neonazi das „Disneyland für<br />
Europa“. Dort darf Althans vor hilflosen<br />
Leuten <strong>und</strong> unbehelligt vom Reporter in der<br />
Gaskammer den Schwindel des „Leuchter-<br />
Reports“ verkünden, wonach die Vergasung<br />
der Juden hier technisch unmöglich<br />
gewesen sei. Diese strafbare „Auschwitz-<br />
Lüge“, zentrales Element in der Strategie<br />
des neofaschistischen Revisionismus, präsentiert<br />
uns die Regie unkritisch <strong>und</strong> noch<br />
dazu ohne jede Distanz gestellt. In der<br />
anschließenden Diskussion mit einem US-<br />
Juden blitzt in Althans‘ Gesicht für einen<br />
Moment etwas von seiner Gefährlichkeit<br />
auf, <strong>und</strong> seine Bemerkung, Fliegen, die ihn<br />
belästigen, <strong>und</strong> Läuse müßten „ausgerottet<br />
werden“, wirkt gar nicht doppeldeutig.<br />
Wenn Althans das Rededuell beendet <strong>und</strong><br />
sich rückwärts von der Kamera wegbewegt,<br />
dann offensichtlich aus Angst vor dem<br />
möglichen Ausbruch seines antisemitischen<br />
Hasses.<br />
Eine Dia-Vorführung von Althans über seinen<br />
Auschwitz-Auftritt wie in Bonengels<br />
Film würden ZuschauerInnen im privaten<br />
Neonazi-Kreis nicht anders erleben. Und so<br />
geht es weiter: Althans, der rassistische<br />
Witze machen darf, der im Büro des<br />
„Jugendbildungswerks“ in München beim<br />
Öffnen der Tagespost wie zufällig ein<br />
bew<strong>und</strong>erndes Zitat über Hitler findet <strong>und</strong><br />
es uns in voller Länge zum Besten geben<br />
darf; ein bekanntes, strafrechtlich verfolgtes<br />
Hetzgedicht über Asylbewerber wird<br />
eingeblendet; eine alte Bürogehilfin, deren<br />
Antisemitismus <strong>und</strong> ungebrochenes<br />
Bekenntnis zu Hitler, deren Bew<strong>und</strong>erung<br />
des Hitler-Stellvertreters Rudolf Heß von<br />
der Kamera durch einen Schwenk auf ein<br />
Foto des letzteren nostalgisch untermalt<br />
wird; Althans <strong>und</strong> kroatische <strong>und</strong> europäische<br />
Nazi-Söldner in Bosnien, die Kindern<br />
zeigen, wie man Serben abknallt. Auch der<br />
Schluß des Films ein Höhepunkt: Althans in<br />
einem Saal mit ehrfürchtigen Jugendlichen<br />
hält eine flammende Rede mit der bewegenden<br />
Fragestellung, ob „der Nationalsozialismus<br />
in Deutschland möglich“ sei, was<br />
er natürlich auch beweist, unterstützt von<br />
der Kamera, die ihn, der sich um effektive<br />
Gestik abmüht <strong>und</strong> einmal sogar das „R“<br />
rollt wie sein großes Vorbild, abfilmt wie<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 15<br />
die Nähe des Neofaschisten<br />
„Beruf Neonazi“ – Ein PR-Film über Althans würde nicht viel anders aussehen<br />
Selten hat ein politischer Film in so kurzer Zeit so viel Aufsehen<br />
erregt wie Winfried Bonengels „Beruf Neonazi“. In verschiedenen<br />
Städten aufgeführt, vom Staatsanwalt geprüft <strong>und</strong> mit<br />
Kommentierungs-Auflage versehen, vom Filmverlag mit einem<br />
Vorspann bestückt <strong>und</strong> wieder verliehen, gab es ihn am 21.1. im<br />
Kommunalen Kino Weiterstadt zu sehen. Wegen des unerwartet<br />
starken Andrangs liefen gleich zwei Vorstellungen <strong>und</strong> Diskussionen<br />
an einem Abend bis spät in die Nacht. Eine Diskussion<br />
im ausgewählten Zirkel von Journalisten, mit Regisseur Bonengel,<br />
Staatsanwalt <strong>und</strong> anderen, soll am 31.1. im Kommunalen<br />
Filmmuseum in Frankfurt klare Linien in die öffentliche Diskussion<br />
bringen.<br />
Was nicht gezeigt wird? Althans<br />
bekennt sich offen zur Gewalt <strong>und</strong><br />
Bonengel zeigt die Fascho-Helden an der<br />
kroatisch-serbischen Front; gleichzeitig<br />
darf Althans beteuern, mit Gewalt habe er<br />
nichts zu tun. Der Film läßt die Zuschauer<br />
im Glauben, daß die Wirklichkeit von Althans<br />
im Reisen, Lächeln <strong>und</strong> argumentierenden<br />
Agitieren besteht. War es Faulheit,<br />
Desinteresse, gar Absicht, daß Bonengel<br />
uns rechtsradikale Ausschreitungen gegen<br />
AusländerInnen, vielleicht auch eines Althans<br />
in Rostock oder Hoyerswerda vorenthält?<br />
Den Auschwitz-Auftritt in der Gaskammer<br />
hätte zumindest die Zwischenblende<br />
dokumentarischer Aufnahmen der Opfer<br />
gegendarstellen müssen – nicht der Moral<br />
wegen, sondern der grauenhaften<br />
Geschichte halber. Die langweilig langen<br />
Autofahrt-Szenen des Films hätten genügend<br />
Zeit für Zwischenblenden gelassen.<br />
Geschichtslosigkeit, Verdrängung deutscher<br />
Vergangenheit des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
wieder einmal mehr exemplarisch vorgeführt.<br />
Dokumentarisch? Nein, das ist der Film beileibe<br />
nicht. Szenisch durchdachte Dramaturgie<br />
<strong>und</strong> vorbereitete Einstellungen haben<br />
mit Dokumentation nichts mehr zu tun. Wir<br />
werden getäuscht <strong>und</strong> getrogen: Da wird so<br />
getan, als ob die Neofaschisten von Spenden<br />
vieler kleiner Leute leben (so an die 500<br />
bis 600 pro Jahr) <strong>und</strong> durch die Welt reisen<br />
in höherem Auftrag. Da darf ein gebürtiger<br />
Schwarzwälder (Zündel) frech in die Kamera<br />
lügen, mit Fotografiken in Kanada großes<br />
Geld gemacht zu haben. Da wird eine weltumspannende<br />
Faschisten-Organisation<br />
vorgespiegelt. So ein Objektivitäts-Ideal in<br />
Anspruch genommen wird: Abgesehen von<br />
dem dahinterstehenden gr<strong>und</strong>sätzlichen<br />
Irrtum, erweist sich Bonengels Wirklichkeit<br />
als eine hofberichterstattende, heute leider<br />
meist üblich schlechte Propaganda-<br />
Schnulze. Es hat nichts mehr mit Freiheit<br />
der Kunst oder Zensur zu tun, wenn sich die<br />
Frage aufdrängt, ob die Regie gegen den<br />
§131 Strafgesetzbuch verstoßen hat. „Verherrlichung<br />
oder Verharmlosung<br />
unmenschlicher Gewalttätigkeiten“ stellt<br />
der Gesetzgeber in Bezug auf die Menschenrechtskonventionen<br />
unter Strafe:<br />
Auschwitz ist das grauenhafte Symbol für<br />
maschinell organisierten Völkermord. Althans<br />
verleug<strong>net</strong> <strong>und</strong> verharmlost <strong>und</strong> mit<br />
ihm sein Filmregisseur Bonengel – daraus<br />
spricht eine ungeheure Menschenverachtung<br />
<strong>und</strong> Mitleidlosigkeit angesichts<br />
erschütternder Berichte <strong>und</strong> Dokumentationen<br />
über die Todesfabrik. Der Film mag in<br />
die deutsche Nachkriegsgeschichte eingehen<br />
als Zeichen für das Aufkeimen neuer<br />
Neofaschismen <strong>und</strong> ihrer unsensibel sympathisierenden<br />
Kollaborateure.<br />
eine Wochenschaukamera der dreißiger<br />
Jahre.<br />
Kein Zweifel: Bonengel geht affirmativ vor,<br />
nicht investigativ, er kopiert, statt zu kontrastieren,<br />
er filmt nur das, was er sieht,<br />
aber er bekommt nur das zu sehen, was<br />
man ihm vorführt – das führt er uns vor,<br />
unhinterfragt <strong>und</strong> <strong>und</strong>istanziert. Wir erfahren<br />
nicht viel über die Personen, nichts<br />
über Ursachen, Hintergründe, Zusammenhänge<br />
<strong>und</strong> die Folgen solchen Denkens, die<br />
in unserem Land schon zur Normalität<br />
geworden sind. Bonengels filmisches Porträt<br />
von Zündel <strong>und</strong> Althans bezieht die<br />
Position der Neonazis, es ist ihr Selbstporträt.<br />
Ein PR-Film der Neonazis würde nicht<br />
viel anders aussehen. Selbst wenn man<br />
berücksichtigt, daß die Grenze zwischen<br />
Dokumentar- <strong>und</strong> Propagandafilm für den<br />
Betrachter unklar <strong>und</strong> fließend ist, handelt<br />
es sich bei „Beruf Neonazi“ um einen Propagandafilm,<br />
weil er bestens dazu beiträgt,<br />
die Nazis zu stärken <strong>und</strong> uninformierte,<br />
neutrale oder schwankende Menschen in<br />
ihrem Sinne zu beeinflussen. „Beruf Neonazi“<br />
ist eine „Trägerwaffe“ der Nazis. Diese<br />
haben jedenfalls ihren großen Erfolg: zum<br />
erstenmal wird ihre „Auschwitz-Lüge“ in<br />
die Kinos gebracht <strong>und</strong> erreicht die Massen.<br />
Einen Vorgeschmack auf die künftige Wirkung<br />
dieses Films, die auch durch den von<br />
der Justiz zur Auflage gemachten Vorspann<br />
nicht geschmälert wird, gab die Diskussion<br />
in Weiterstadt. Unter Leitung eines freien<br />
Mitarbeiters der „Hessischen Landeszentrale<br />
für politische Bildung“, der mit seinen<br />
Fragen, statt auf die Sache zu zielen, immer<br />
wieder auf die „innere Befindlichkeit“ der<br />
ZuschauerInnen ablenkte, gerade so, als ob<br />
er Viertklässler vor sich sitzen hätte, entstand<br />
beim informierten <strong>und</strong> durchaus<br />
nicht unpolitischen Publikum viel Durch<strong>und</strong><br />
Gegeneinander. Hilflos <strong>und</strong> zum Teil<br />
recht individualistisch kreisten die Meinungen<br />
um die Frage, ob dieser Film in der vorliegenden<br />
Form der Öffentlichkeit zugänglich<br />
gemacht werden solle, <strong>und</strong> wenigen<br />
warnenden Stimmen standen viele gegenüber,<br />
die meinten, er könne durchaus in allen<br />
Kinos ohne Kommentar gezeigt werden.<br />
Langweilige Verharmlosung<br />
neuer Herrenmenschen<br />
Willi Hammann<br />
Wer den Film nicht sieht, hat nichts versäumt.<br />
Wer ihn trotzdem sehen möchte,<br />
dem sollte er kommentiert gezeigt werden –<br />
aber nicht durch einen ironisierenden Vorspann<br />
(wie er jetzt zu lesen ist), sondern<br />
durch Dokumentaraufnahmen von der Völkermord-Fabrik<br />
Auschwitz als die Verbrechensmaschinerie<br />
in Betrieb war – <strong>und</strong> vielleicht<br />
als abschreckendes Beispiel für die<br />
Strafbarkeit von Volksverhetzung <strong>und</strong><br />
Gewaltdarstellung – so sich die Gerichte<br />
damit befassen werden. Mir scheint dies<br />
unumgänglich.<br />
Nur eines darf nicht passieren: Ein Aufführungsverbot<br />
wegen des Zeigens verbotener<br />
nationalsozialistischer Symbole. Das<br />
wäre ein Bärendienst für die ohnehin wegen<br />
Zensur krakeelenden Neofaschisten.<br />
Es ist dies nicht der Ruf nach einer allgemeinen<br />
Zensur, die Strafgesetze sind ausreichend.<br />
Es ist die Notwendigkeit <strong>und</strong> das<br />
Postulat an Kunst, gleich welcher Gattung<br />
gleich welcher Entgrenzung, aufzutreten<br />
nicht als bloß ästhetische, sondern als Ausdruck<br />
gesellschaftspolitisch-historischer<br />
Entwicklungen. Dort, wo Kunst aus Bedenkenlosigkeit,<br />
Profitgier oder Unkenntnis gar<br />
Überzeugung alle Verantwortung ablegt, ist<br />
sie im Rahmen allgemeiner Gesetze auch<br />
auf diese zu verpflichten.<br />
Michael Grimm<br />
DESIGNERTEPPICHE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
war immer unbequem <strong>und</strong> wird<br />
„E es immer bleiben. Keine Freude für<br />
die, die von der Kunst angenehm unterhalten<br />
<strong>und</strong> abgelenkt werden wollen…“,<br />
notierte im Jahr 1958 Robert d’Hooghe<br />
über einen Besuch der Radziwill-Ausstellung<br />
in der Darmstädter Kunsthalle. Sein<br />
Blick scheint heute von einem vergangenen<br />
Zeitgeist geprägt. Radziwills Gemälde in<br />
ihrer rätselhaft-düsteren Stimmung <strong>und</strong><br />
ihrem magischen Realismus beschworen<br />
damals nicht nur Assoziationen an die noch<br />
greifbar nahen Schrecken der Diktatur <strong>und</strong><br />
des Krieges herauf, sondern erschienen<br />
dem Kritiker zugleich als Ausdruck eines<br />
expressiven, „deutsch“ geprägten <strong>und</strong> bis<br />
zu Albrecht Altdorfer <strong>und</strong> Caspar David<br />
Friedrich zurückreichenden Formwillens.<br />
Es ist ebenso verlockend wie gefährlich,<br />
diese Beobachtungen heute in der am gleichen<br />
Ort ausgerichteten Radziwill-Ausstellung<br />
überprüfen zu wollen – uns fehlen<br />
heute die Erfahrung <strong>und</strong> der unmittelbare<br />
Blick von damals. Die graphischen Arbeiten<br />
Radziwills lassen sich zudem offenbar<br />
kaum mit dessen Gemälden messen. Was<br />
auf der Leinwand als charakteristisch, als<br />
ausgereift <strong>und</strong> verdichtet erscheint, ist auf<br />
dem Papier oftmals eher neben oder hinter<br />
der künstlerischen Beschäftigung mit der<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong> der Form zu erkennen.<br />
Radziwill, geboren 1895 bei Oldenburg,<br />
aufgewachsen im norddeutschen, handwerklich<br />
geprägten Milieu, absolviert<br />
zunächst eine Maurerlehre, kommt dabei<br />
mit dem Zeichnen in Berührung, studiert<br />
zwei Jahre Architektur, bevor er in den<br />
Ersten Weltkrieg zieht. Nach kurzen Phasen<br />
im großstädtischen Kunstbetrieb zieht sich<br />
Radziwill immer wieder an die heimatliche<br />
Nordsee zurück. Prägend bleibt die Begegnung<br />
mit Otto Dix in Dresden, während die<br />
1933 begonnene Professur an der Düsseldorfer<br />
Akademie bereits zwei Jahre später<br />
endete – der NSDAP-Parteigenosse galt als<br />
„entartet“. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist<br />
das Interesse an Radziwills Spielart des<br />
Realismus gering, der Künstler malt in der<br />
Stille von Dangast weiter, muß den Pinsel<br />
Requiem<br />
auf die Gerechtigkeit<br />
Hans W. Geißendörfer verfilmt<br />
Dürrenmatts Roman „Justiz“ über Schweizer <strong>Filz</strong><br />
Der Schweizer Dürrenmatt, bei uns<br />
mehr als Dramatiker bekannt geworden,<br />
hat in den fünfziger Jahren vier Kriminalromane<br />
geschrieben, in denen es um<br />
das Thema Gerechtigkeit geht: „ Der Richter<br />
<strong>und</strong> sein Henker“, sein erfolgreichster<br />
Roman, „Der Verdacht“, „Das Versprechen“,<br />
ein „Requiem auf den Kriminalroman“,<br />
zuerst als Film „Es geschah am hellichten<br />
Tag“, mit Heinz Rühmann. In allen<br />
drei Romanen wird die Justiz irregeführt,<br />
die Gerechtigkeit in den Bereich der Absurdität<br />
verlegt. Den vierten, „Justiz“, begann<br />
Dürrenmatt 1957, brach 1960 die Arbeit ab<br />
<strong>und</strong> nahm sie erst 1985, auf Anregung seines<br />
Verlegers, wieder auf, schrieb den Stoff<br />
um <strong>und</strong> gab ihm einen anderen Schluß.<br />
Auch „Justiz“ ist eine Art Requiem auf den<br />
Kriminalroman, spielt mit dem Genre <strong>und</strong><br />
1971 wegen einem Augenleiden beiseite<br />
legen, stirbt schließlich 1983.<br />
Daß das Schaffen Radziwills in der Erfahrung<br />
der Moderne wurzelt, zeigen frühe<br />
Arbeiten wie die „Landschaft“ von 1923,<br />
deren rote Wegschlangenform zu einem<br />
kunterbunten Haus führt, während türkisgrüne,<br />
amöbenhafte Wolken vor einem<br />
schwarzen Himmel ziehen, fast wie eine der<br />
halbabstrakten Kompositionen von Kandinsky,<br />
in breiten Pinselzügen aquarelliert<br />
wie bei den Expressionisten. Herrscht in<br />
„Landschaft“ noch eine gewisse Ordnung<br />
der Dinge, so schwanken 1920 beim<br />
„Sturm im Bürgerhaus“ die Möbel bedrohlich,<br />
eine weiße Damenunterhose fliegt<br />
umher, die Moral löst sich auf, die Tür öff<strong>net</strong><br />
sich spaltbreit zu einem schwarzen,<br />
unerfahrbaren Schl<strong>und</strong> – ein Bild wie aus<br />
der Feder expressionistischer Literaten.<br />
Doch Radziwill bringt in der Folgezeit die<br />
Dinge vielleicht weniger konsequent aus<br />
dem Lot, als man glauben möchte. Zwar<br />
konstruiert er 1927 Ansichten mit jenen<br />
magischen Elementen wie der schräg in die<br />
Tiefe verlaufenden, verwitterten „Blauen<br />
Mauer“ vor kahlen Ästen, blinden Brandmauern<br />
<strong>und</strong> einem düsteren Himmel, die<br />
rätselhaft <strong>und</strong> existentiell wirken. Doch<br />
gleich daneben hängt eine Ansicht von<br />
Dresden aus demselben Jahr, die vor der<br />
Silhouette der Semperoper die Elbe samt<br />
einer Brücke so duftig zart <strong>und</strong> atmosphärisch<br />
in Aquarell anlegt, daß man nur<br />
noch an die berühmten Veduten von Canaletto<br />
oder die Stimmungsbilder von Caspar<br />
David Friedrich denken mag. Ungelöst<br />
scheint die Frage, ob Radziwill in diesen<br />
Blättern nur Gedanken <strong>und</strong> Erfahrungen<br />
skizzierte, die er später in seinen Gemälden<br />
konsequent verdichtete <strong>und</strong> intensivierte,<br />
oder ob etwa die gemütlich norddeutschen<br />
Landschaften mit Reetdachhäusern als<br />
eigenständig wertbare Werke des Künstlers<br />
eine zweite, solide, aber auch recht konventionell<br />
bleibende Schaffensebene andeuten.<br />
Versöhnend bleibt ein Blick auf Radziwills<br />
Zeichnungen in Kohle, Rohrfeder oder Bleistift<br />
– sie zeigen keine der bisweilen formel-<br />
Sie will Rache <strong>und</strong> er sagt: „Du sollst sie haben“. Maximilian Schell als Isaak Kohler <strong>und</strong> Anna Thalbach als<br />
Tochter Helene in Geißendörfers Verfilmung von Dürrenmatts Roman, „Justiz“. (Foto: Agentur)<br />
mit der Frage, ob sich Gerechtigkeit überhaupt<br />
herstellen lasse.<br />
Unschuldiger Mörder<br />
Der Züricher Regierungsrat <strong>und</strong> Millionär<br />
Dr. Kohler erschießt in einem renommierten<br />
<strong>und</strong> gut besetzten Restaurant vor aller<br />
Augen seelenruhig den Universitätsprofessor<br />
Winter, geht ebenso cool wieder hinaus,<br />
läßt sich später mit einem gewissen<br />
Behagen verhaften <strong>und</strong> zu zwanzig Jahren<br />
Zuchthaus verurteilen; für das Urteil<br />
bedankt er sich. Im Zuchthaus richtet er<br />
sich gemütlich ein, genießt seine Privilegien<br />
<strong>und</strong> engagiert den jungen <strong>und</strong> bis dahin<br />
erfolglosen Rechtsanwalt Felix Spät, er soll,<br />
rein theoretisch nur, mit Hilfe des Privatdetektivs<br />
Lienhardt den Fall noch einmal aufrollen<br />
unter der Annahme, Kohler sei nicht<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 16<br />
Die Tür öff<strong>net</strong> sich zu<br />
einem schwarzen Schl<strong>und</strong><br />
Aquarelle <strong>und</strong> Zeichnungen von Franz Radziwill in der Kunsthalle Darmstadt<br />
„Die blaue Mauer“ 1927, Feder <strong>und</strong> Aquarell 37,5x45,5 (Abb.: Kunsthalle)<br />
haften Farbstimmungen <strong>und</strong> der kosmischkomischen<br />
Himmelsvisionen der Aquarelle<br />
<strong>und</strong> Gouachen, sondern einen scharfen,<br />
analytischen Blick auf die Realität. Ein zerschossener<br />
Bunker, eine Klosterruine <strong>und</strong><br />
das sehnsuchtsvolle Motiv eines Schiffes<br />
der Mörder gewesen. „Das Wirkliche“, sagt<br />
der Auftraggeber, „ist nur ein Sonderfall<br />
des Möglichen <strong>und</strong> deshalb auch anders<br />
denkbar.“ Spät stimmt zu, die juristische<br />
Expertise wird ihm versüßt durch ein stattliches<br />
Honorar, lukrative Aufträge <strong>und</strong> die<br />
zärtliche Unterstützung des Kohler-Töchterchens<br />
Helene.<br />
A la Bande<br />
Doch die ganze Sache läuft ihm aus dem<br />
Ruder. Während seiner Ermittlungen lernt<br />
er eine falsche Monika Steiermann kennen,<br />
die in Wirklichkeit Daphne Winter heißt, die<br />
Tochter des Ermordeten ist, <strong>und</strong> im Auftrag<br />
der echten Monika Steiermann mit Männern<br />
ins Bett geht, weil diese als Besitzerin<br />
eines Konzerns zwar reich <strong>und</strong> mächtig ist,<br />
aber als verkrüppelte Zwergin ihre sexuellen<br />
Wünsche nur in der Phantasie ausleben<br />
kann. Nach <strong>und</strong> nach erscheint Kohler,<br />
Geschäftsführer der Konzernchefin, in der<br />
Öffentlichkeit als Unschuldiger, weil er nie<br />
ein Motiv nannte, nie die Tat zugab, die freilich<br />
von mehr als einem Dutzend Augenzeugen<br />
beobachtet worden war, <strong>und</strong> weil die<br />
Tatwaffe nie gef<strong>und</strong>en wurde. Jetzt wird ein<br />
Dr. Benno verdächtigt, befre<strong>und</strong>et mit den<br />
bereits Genannten, Kohlers Interessen vertritt<br />
nun der Staranwalt Stüssi-Leupin, <strong>und</strong><br />
es beginnt der Abstieg Späts zum „Hurenanwalt“,<br />
der sich immer mehr ins Illegale<br />
verstrickt. Es gibt einige Tote, Kohler<br />
kommt frei, <strong>und</strong> es zeigt sich, daß der<br />
Regierungsrat, ein ausgezeich<strong>net</strong>er Billardspieler,<br />
mit Spät „à la bande“ gespielt hat,<br />
um sich an den Honoratioren zu rächen, die<br />
seine Tochter vergewaltigten, vielleicht<br />
auch aus wirtschaftlichen Machtinteressen.<br />
Für Spät bleibt da nur eine verzweifelte<br />
Lösung.<br />
Schweizer <strong>Filz</strong><br />
Bei Dürrenmatt erfahren wir das alles vom<br />
Ich-Erzähler Felix Spät <strong>und</strong> im Schlußteil<br />
von einem zusätzlichen Erzähler, dem „Herausgeber“,<br />
die mit Vorausdeutungen, Vor-<br />
auf offenem Meer, aber auch Reisemotive<br />
wie römische Architekturreste in Ostia Antica<br />
werden mit wenigen, überzeugenden<br />
Strichen in ihren sichtbaren Konturen, aber<br />
ebenso in ihrem Bedeutungsgehalt als Botschafter<br />
der Vergänglichkeit, des Schei-<br />
griffen <strong>und</strong> Rückblenden auf vier Zeitebenen<br />
herumspringen. Eine kunstvoll verschachtelte,<br />
mit Reflexionen durchsetzte,<br />
den wahren Sachverhalt nach <strong>und</strong> nach enthüllende<br />
Handlung in der typischen eleganten<br />
Erzählweise Dürrenmatts, die die Satire<br />
<strong>und</strong> Groteske bevorzugt. Geld ist Macht,<br />
<strong>und</strong> Geld ist Gerechtigkeit. Was in Dürrenmatts<br />
berühmtestem Drama „Der Besuch<br />
der alten Dame“ (1956) auf die reiche, aus<br />
vielen Prothesen bestehende Claire Zachanassian<br />
konzentriert ist, die sich für eine<br />
Milliarde bei einem ganzen Dorf den Mord<br />
an ihrem ehemaligen Geliebten kauft, ist in<br />
„Justiz“ quasi auf die reiche Zwergin <strong>und</strong><br />
den gewieften Kohler verteilt. Kritisiert werden<br />
jedoch in beiden Texten Machtstrukturen,<br />
Ver<strong>net</strong>zungen <strong>und</strong> Haltungen, die juristisch,<br />
politisch <strong>und</strong> moralisch unannehmbar<br />
sind. Dürrenmatts Aussage nach seiner<br />
auch allgemeingültigen Abrechnung mit<br />
Schweizer <strong>Filz</strong> in „Justiz“ läßt er Kohler formulieren:<br />
„Die Gerechtigkeit wohnt in einer<br />
Etage, zu der die Justiz keinen Zutritt hat.“<br />
Yuppie-Typ<br />
Geißendörfers biedere <strong>und</strong> glanzlose Adaption<br />
verblaßt vor dem Roman wie eine Funzel<br />
vor der Sonne. Zwar überzeugen in seinem<br />
Team der eindrucksvoll-kompakte<br />
Maximilian Schell als hintergründig-selbstsicherer<br />
Kohler, Anna Thalbach als die stille,<br />
scheinbar naive <strong>und</strong> doch vielwissende<br />
Helene, Mathias Gnädiger als deftiger,<br />
bodenständiger Kommandant <strong>und</strong> Norbert<br />
Schwientek als das eklige Juristenschweinchen<br />
Rudolph Stüssi-Leupin, doch hat der<br />
Regisseur mit Thomas Heinze als Felix<br />
Spät, auch wenn er ihn für einen „Glücksfall“<br />
hält, einen Fehlgriff gemacht: Dieser in<br />
jedem zweiten Werbefilm präsentierte <strong>und</strong><br />
dort als Träger der Warenästhetik abgelutschte,<br />
brave <strong>und</strong> farblose Yuppie-Typ ist<br />
zu glatt <strong>und</strong> wiegt zu leicht, um die Probleme<br />
<strong>und</strong> Wandlungen Felix Späts zu verkörpern.<br />
Spät fungiert im Film nur als Opfer<br />
Kohlers, nicht als sein eventueller, wenn<br />
auch machtloser Gegenspieler, <strong>und</strong> macht<br />
Kohlers Triumph nur noch größer, was der<br />
Rolle Schells sehr entgegenkommt.<br />
Kunstlos<br />
Indem Geißendörfer, der auch das Drehbuch<br />
schrieb, auf Dürrenmatts Ich-Erzähler<br />
verzichtet, opfert er den besten Ansatz für<br />
die filmische Umsetzung dieses schwer zu<br />
transformierenden Romans. Denn nun muß<br />
terns <strong>und</strong> der Kontinuität des menschlichen<br />
Treibens umrissen.<br />
Rudolf Gold<br />
Kunsthalle Darmstadt; bis zum 27. Februar;<br />
Katalog 22 Mark<br />
er auch die kunstvoll verschachtelte Struktur<br />
der Zeitebenen aufgeben <strong>und</strong> den komplizierten<br />
Schlußteil stark vereinfachen.<br />
Anstatt aber wenigstens mit ein paar Rückblenden<br />
zu arbeiten, läßt er die Handlung<br />
uneingeschränkt sukzessiv ablaufen. Diese<br />
kunstlose Verschiebung vom Epischen des<br />
Romans ins Dramatische des Films ist ein<br />
Gr<strong>und</strong> für die Durchschnittlichkeit von<br />
Geißendörfers Produkt. Ein weiterer Gr<strong>und</strong><br />
dafür liegt im teilweisen Verzicht auf die<br />
Reproduktion dessen, was untrennbar zu<br />
Dürrenmatt gehört: Satire <strong>und</strong> vor allem<br />
Groteske. Im Roman gibt es einige Höhepunkte<br />
dieser Art, sie hätten die KinobesucherInnen<br />
erfreuen können.<br />
Zu beklagen ist weiterhin die einfallslose<br />
Ästhetik der Regie: Kamera <strong>und</strong> Montage<br />
leisten kaum Erwähnenswertes. Und last<br />
not least verschweigt Geißendörfer Dürrenmatts<br />
Kritik am Schweizer <strong>Filz</strong> <strong>und</strong> verkürzt<br />
damit die ausgeprägte politische, d. h. antikapitalistische<br />
Dimension des Buchs. Dort<br />
heißt es nach einem bösen R<strong>und</strong>umschlag<br />
durch die Schweizer Geschichte <strong>und</strong> gegen<br />
den „Betrieb, der sich unser Staat nennt,<br />
halb schon aufgekauft von fremdem Kapital“:<br />
„Unser kleines Land, so ahnt man <strong>und</strong><br />
reibt sich verblüfft die Augen, ist in Wirklichkeit<br />
von der Geschichte abgetreten, als<br />
es ins große Geschäft eintrat.“<br />
Niveauloses Handwerk<br />
Eine handwerkliche Routinearbeit Geißendörfers,<br />
der weit unter seinem eigenen<br />
Niveau geblieben ist. Seine filmische Adaption<br />
ist wesentlich flacher, kunstloser, ausdrucksloser<br />
als die literarische Vorlage.<br />
Wenn schließlich doch noch die zentrale<br />
Aussage des Romans erhalten bleibt, dann<br />
haben wir das vor allem Dürrenmatt zu verdanken.<br />
Allerdings ist diese desillusionierende<br />
Botschaft im Kino inzwischen etwas<br />
in die Jahre gekommen. Andere Regisseure<br />
(z. B. Chabrol, Damiani, Rosi) haben bessere<br />
Filme zur Entmystifizierung der herrschenden<br />
Kreise <strong>und</strong> der Macht des Geldes<br />
gedreht. Auch haben die großen „Spenden“-Skandale<br />
von Politik <strong>und</strong> Kapital im<br />
Westdeutschland der siebziger <strong>und</strong> die Korruptionsaffären<br />
im Italien der neunziger<br />
Jahre (der deutsche „Treuhand“-Skandal<br />
wird noch dazukommen) mehr als alle Filme<br />
zu dieser Entmystifizierung <strong>und</strong> zur<br />
Desillusionierung der Leute beigetragen.<br />
Artur Rümmler
Das ist ein starker Tobak …<br />
… antwortet ein Leser Karitas<br />
Hensel, die der „Schutzgemeinschaft<br />
Deutscher Wald“ Halbwissen,<br />
Halbwahrheiten <strong>und</strong> Polemik vorgeworfen<br />
hatte. Es geht um die geplante<br />
Mülldeponie im Zimmerer Wald:<br />
In der Zeitung für Darmstadt Nr. 57 vom<br />
5.11. 1993 erschien ein Bericht unter der<br />
Schlagzeile „Den Müll im Wald verstecken“.<br />
Darauf folgte ein weiterer Bericht unter der<br />
Überschrift „rot-grüne Umweltzerstörung im<br />
Zimmerer Wald“. Es war eine Antwort von<br />
Frau Karitas Hensel, Fraktionsvorsitzende<br />
„Die Grünen“ im Kreistag Darmstadt/Dieburg,<br />
auf den erstgenannten Bericht.<br />
In ihrer Antwort wirft Frau Hensel der Schutzgemeinschaft<br />
Deutscher Wald Halbwissen<br />
<strong>und</strong> Halbwahrheiten, gemixt mit viel Polemik<br />
in der Sache Hochdeponie am Grubenrand<br />
(Zimmerer Wald) vor. Das ist ein starker<br />
Tobak <strong>und</strong> Frau Hensel hat einiges vergessen.<br />
Sie hat die Stellungnahme der Schutzgemeinschaft<br />
Deutscher Wald zu der Planung<br />
nicht oder nicht aufmerksam gelesen.<br />
Leider verschweigt sie <strong>und</strong> streitet ab, daß<br />
durch die geplante Hochdeponie am Grubenrand<br />
auch das Bodendenkmal <strong>und</strong> Fossilienf<strong>und</strong>stätte<br />
Grube Messel beeinträchtigt wird,<br />
was ja auch den Planungsunterlagen festzustellen<br />
ist. Aus ästhetischen Gründen würde<br />
niemand neben einem Denkmal eine Müllkippe<br />
einrichten.<br />
Gerade „Die Grünen“ nannten die Befürworter<br />
der geplanten Mülldeponie Grube Messel<br />
zu Recht „Kulturbanausen“. Sie nannten die<br />
„Grube Messel – Prüfstein deutscher Kulturpolitik“.<br />
Der damalige Erste Kreisbeigeord<strong>net</strong>e,<br />
Herr Manfred Bäurle (Die Grünen),<br />
setzte die Unterschutzstellung <strong>und</strong> Eintragung<br />
in das Denkmalbuch für die weltbekannte<br />
Fossilienf<strong>und</strong>stätte Grube Messel<br />
durch.<br />
Selbst Frau Hensel setzte sich vehement für<br />
die Freihaltung der Grube Messel für die Forschung<br />
<strong>und</strong> Wissenschaft ein.<br />
Nun ist das alles in den rot-grünen Augen<br />
wertlos geworden <strong>und</strong> verunziert ein Natur-<br />
Eine Podiumsdiskussion im Schloßkeller<br />
zur künftigen Organisation<br />
des öffentlichen Nahverkehrs<br />
Am 20.12. fand die erste Veranstaltung im<br />
Rahmen des neuen Konzepts des<br />
„Schloßkellers” statt: Neben Musik- <strong>und</strong><br />
Theaterveranstaltungen sollen künftig aktuelle<br />
<strong>und</strong> politische Veranstaltungen das Profil<br />
des unterirdischen Domizils schärfen. Und<br />
das in einem Moment, wo das zugespitzte<br />
Zeitgeschehen auch die Apolitischen wieder<br />
aus dem Schlaf rütteln sollte, so die Veranstalter.<br />
Aus aktuellem Anlaß – nämlich das Nein der<br />
Stadt Darmstadt <strong>und</strong> des Kreises Darmstadt-<br />
Dieburg zum geplanten Rhein-Main-Verkehrsverb<strong>und</strong><br />
(RMV) – wurde im Schloßkeller<br />
dazu eine Podiumsdiskussion organisiert.<br />
Bürgermeister Michael Siebert (Grüne), Gerd<br />
Stanek von der „Gesellschaft zur Vorbereitung<br />
<strong>und</strong> Gründung des RMV“, Volker Blees<br />
vom Verkehrsreferat des AStA der THD <strong>und</strong><br />
Christian Brinkmann von der Fahrgastinitiative<br />
„PRO BAHN“, der die Veranstaltung<br />
moderierte, waren der Einladung des AStA<br />
gefolgt, um über die künftige Organisation<br />
des öffentlichen Nahverkehrs (ÖPNV) im<br />
Rhein-Main-Gebiet zu diskutieren.<br />
✁<br />
Briefe:<br />
An die<br />
Postfach 10 11 01<br />
64211 Darmstadt<br />
Telefax 06151 / 71 98 97<br />
<strong>und</strong> Bodendenkmal mit einer Mülldeponie.<br />
Leider wurde schon in früheren Jahren an<br />
den Grubenrändern, teilweise illegal, mit<br />
Ablagerungen die Grube verunstaltet <strong>und</strong><br />
geschädigt. Es macht für die Besucher der<br />
Grube Messel ein schlechtes Bild, wenn in<br />
unmittelbarer <strong>und</strong> bedrohlicher Nähe Müll<br />
abgekippt wird. Frau Hensel <strong>und</strong> andere<br />
müssen sich fragen lassen, ob so „rot-grüne<br />
Kulturpolitik“ aussieht.<br />
Selbst eine in Aussicht gestellte Verkleinerung<br />
der Deponie, die aufgr<strong>und</strong> bekannter<br />
Fakten unglaubwürdig ist, kann an dieser<br />
Tatsache nichts ändern. Die sogenannte<br />
Umplanung der Deponie ist wiederum eine<br />
Fehlplanung. So fordert z. B. der Umweltminister<br />
Fischer mehr Deponien zu bauen, da<br />
es Engpässe für Deponiestandorte gäbe. In<br />
der Praxis sieht eben alles anders aus als am<br />
grünen Tisch. Wer glaubt da noch an eine<br />
Verkleinerung <strong>und</strong> Laufzeitverkürzung der<br />
Deponie?<br />
Das Gegenteil wird der Fall sein <strong>und</strong> in späteren<br />
Jahren wird noch mehr Wald für Deponie-Anschlußflächen<br />
in Anspruch genommen<br />
werden. Ob die Auflagen, wie im<br />
Raumordnungsverfahren vorgegeben, für<br />
die geplante Haldendeponie überhaupt eingehalten<br />
werden können, ist zudem noch<br />
völlig offen. Wer behauptet, diese Deponie<br />
sei sicher <strong>und</strong> umweltverträglich, belügt sich<br />
selbst <strong>und</strong> die Öffentlichkeit.<br />
Die PolitikerInnen sollten die Planungsunterlagen<br />
mit akribischer Genauigkeit <strong>und</strong> aufmerksam<br />
studieren. Schließlich sind sie die<br />
Entscheidungsträger, die darüber befinden,<br />
ob in diesem Fall wieder Millionenbeträge<br />
(auf Kosten der Bürger) bedenkenlos verschleudert<br />
werden. Sie sollten deswegen die<br />
Kritik zu dieser Planung <strong>und</strong> Standort sehr<br />
ernst nehmen, um glaubwürdig zu bleiben.<br />
Nach korrekter Anwendung von Natur- <strong>und</strong><br />
Denkmalschutzgesetzen sowie der „Technischen<br />
Anleitung Siedlungsabfall“ ist diese<br />
Deponie so nicht zulässig. Man darf<br />
gespannt sein, was die Genehmigungsbehörde<br />
daraus macht.<br />
Willy Mößle<br />
BRIEFE AN DIE REDAKTION I<br />
Jugendarbeit auf der Straße Klabauta sucht<br />
neue Bleibe<br />
Der Bau der Kindertagesstätte im<br />
Johannesviertel verzögert sich,<br />
obwohl die Stadt die Zusage<br />
machte, noch 1993 erfolge der erste<br />
Spatenstich:<br />
Der Bau der Kindertagesstätte im Johannesviertel<br />
auf dem Gelände Viktoriastraße 34<br />
verzögert sich offenbar. Dies stellt der Verein<br />
„Kinder <strong>und</strong> Jugendarbeit im Johannesviertel“<br />
fest. Nachdem dem Verein in Aussicht<br />
gestellt wurde, daß der erste Spatenstich<br />
noch 1993 vollzogen wird, ist bislang aber<br />
nichts geschehen. Dies lag unter anderem<br />
daran, daß seitens der Stadtverwaltung den<br />
jetzigen Mietern nicht oder nicht fristgerecht<br />
gekündigt wurde.<br />
Der Bau der Einrichtung hat hohe Priorität,<br />
da sich die Betreuungssituation im Johannesviertel<br />
nicht günstig darstellt. Insbesondere<br />
die sich ändernden Anforderungen der<br />
Eltern an flexiblere Betreuungsangebote,<br />
aber auch die Wünsche der Kinder nach offenen<br />
Spiel- <strong>und</strong> Freizeitangeboten, machen<br />
die Einrichtung so dringend. Der Verein Kinder-<br />
<strong>und</strong> Jugendarbeit fordert den Bau aber<br />
auch deshalb so nachdringlich, weil dort das<br />
Konzept eines Kinderhauses mit verwirklicht<br />
werden soll. „Zur Zeit findet die Kinder- <strong>und</strong><br />
Jugendarbeit auf der Straße statt. Wir haben<br />
eine Übergangslösung in den Räumen des<br />
„Sozialkritischen Arbeitskreises“ gef<strong>und</strong>en.<br />
Diese basiert aber auf der Zusage der Stadt,<br />
daß in zwei Jahren der Bau in der Viktoriastraße<br />
abgeschlossen ist“, erklärt die Vereinsvorsitzende<br />
Frau Jutta Habermann-<br />
Völkner.<br />
Außerdem möchte der Verein in die Konzeptentwicklung<br />
des Hauses einbezogen werden.<br />
Entsprechende Zusagen des Sozialdezernats<br />
liegen vor. „Wir wissen als betroffene Eltern<br />
sehr gut, wo unsere Bedürfnisse, aber auch<br />
die Bedürfnisse unserer Kinder liegen. Diese<br />
Erfahrungen möchten wir in den Planungsprozeß<br />
einbringen,“ erklärte Frau Habermann-Völkner.<br />
Verein Kinder- <strong>und</strong> Jugendarbeit<br />
im Johannesviertel<br />
Ein gutgemeinter Bärendienst<br />
Eine Nachricht aus Darmstadts<br />
türkischer Schwesterstadt Bursa:<br />
Man könnte es als Resozialisierung bezeichnen,<br />
was derzeit sechzehn „Patienten” an<br />
einer Universitätsklinik im türkischen Bursa<br />
widerfährt. Nach jahrelanger Gefangenschaft<br />
sollen sie auf das Leben in Freiheit vorbereitet<br />
werden, sollen lernen, auf eigenen Beinen<br />
zu stehen. Davon haben diese Patienten<br />
gleich vier – es handelt sich nämlich um<br />
Bären.<br />
Bis vor wenigen Wochen führten sie ein<br />
erbärmliches Leben voller Qualen: angekettet,<br />
mit einem durch die Nase gezogenen<br />
Ring, mußten sie zur Belustigung des Publikums<br />
tanzen. Mit grausamen Tricks halfen<br />
die Besitzer nach, damit die Darbietungen<br />
möglichst lebhaft aussahen. Sie schoben<br />
den Tieren beispielsweise heiße Metallplatten<br />
unter die Pfoten; auch ein schmerzhafter<br />
Darmstadts Nein zum Rhein-Main-Verkehrsverb<strong>und</strong><br />
Pläne zum RMV aus?<br />
Ein Verkehrsverb<strong>und</strong> von Marburg bis Heppenheim,<br />
von Fulda bis Bad Kreuznach, das<br />
schien bis vor kurzem ferne Utopie. Doch die<br />
in Hofheim/Taunus ansässige Gesellschaft<br />
zur Vorbereitung <strong>und</strong> Gründung des Rhein-<br />
Main-Verkehrsverb<strong>und</strong>es (RMV) arbeitet an<br />
dem bislang größten Verkehrsverb<strong>und</strong> Euro-<br />
pas. Schon ab 1.11. des frisch begonnen<br />
Jahres sollen sämtliche Angebote des ÖPNV<br />
im Geltungsbereich des Verb<strong>und</strong>es mit einer<br />
einzigen Fahr- oder Dauer<strong>net</strong>zkarte nutzbar<br />
sein. Preisliche Gestaltung, Fahrpläne <strong>und</strong><br />
Streckenangebote werden sich bis zum Jahr<br />
1998 gr<strong>und</strong>legend ändern.<br />
Möglich wird der Zusammenschluß unter<br />
anderem durch die Bahnreform <strong>und</strong> die<br />
Gründung der Bahn AG, die es künftig erlauben<br />
wird, daß auch andere Verkehrsunternehmen<br />
das vom B<strong>und</strong> in Stand gehaltene<br />
Strecken<strong>net</strong>z nutzen können. Geplant ist,<br />
Züge der B<strong>und</strong>esbahn zu mieten <strong>und</strong> Nutzungsverträge<br />
zu schließen. Der RMV oder<br />
angeschlossene Drittfirmen werden selbst<br />
Züge einsetzen – nach Fahrplanvorgaben des<br />
RMV. Der Verb<strong>und</strong> wird, laut Auskunft der<br />
Vorbereitungsgesellschaft, bald großzügig<br />
von B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Land unterstützt werden: Vom<br />
Land Hessen allein erwartet der Verb<strong>und</strong><br />
eine Erhöhung der Unterstützung für den<br />
ÖPNV von 38,2 Millionen (1992) auf 157 Millionen<br />
Mark (1995).<br />
Fünf Tarifzonen mit<br />
neuen Preisen<br />
Die neuen Preise werden sich nicht durchweg<br />
positiv für K<strong>und</strong>en auswirken. Mit nur<br />
fünf Tarifzonen sind die Weitfahrer bevorzugt.<br />
Eine Fahrt von Heppenheim nach Fulda<br />
(Tarifzone E) soll künftig 19,50 statt derzeit<br />
38 Mark kosten. Dagegen sind für Fahrten in<br />
der Zone A 2,70 Mark geplant, was den Preis<br />
bisheriger lokaler Anbieter wie der HEAG<br />
übersteigt. Auch ein Kurzstreckentarif von<br />
ca. 2 Mark für fünf Stationen könnte dies<br />
nicht ausgleichen. Minitarife wird es zwar in<br />
Kleinstädten geben, nicht aber in Darmstadt.<br />
Teurer werden Fahrten auch im Umland:<br />
Obzwar noch unklar ist, ob bereits Vororte<br />
wie Roßdorf oder Pfungstadt von Darmstadt<br />
aus gesehen zu dem Tarifgebiet B zählen<br />
werden, Seeheim oder Ober-Ramstadt<br />
gehören auf jeden Fall dazu – das bedeutet<br />
für K<strong>und</strong>Innen, daß eine Fahrt dorthin künftig<br />
5,40 Mark kostet, statt derzeit 3 Mark. An<br />
diesen Beispielen zeigt sich, daß die Tarifgestaltung<br />
zu <strong>und</strong>ifferenziert ist. Für Monatskarten<br />
kalkuliert der Verb<strong>und</strong> 90 Mark in der<br />
Tarifzone A, 132 Mark in der Tarifzone B <strong>und</strong><br />
für Jahreskarten 900 bzw. 1.320 Mark.<br />
Integraler Fahrplan zu Ende des<br />
Jahrzehnts<br />
Gute Erfahrungen sind mit einem „integralen<br />
Fahrplan” gemacht worden, der unterschiedliche<br />
Zugverbindungen an bestimmten Verkehrsknotenpunkten<br />
zu gleicher Zeit ankommen<br />
<strong>und</strong> abfahren läßt, so daß Wartezeiten<br />
weitgehend entfallen. Dies ist bereits in<br />
Darmstadt am Luisenplatz verwirklicht, wo<br />
allerdings erst ab 19 Uhr Busse <strong>und</strong> Straßenbahnen<br />
aufeinander abgestimmt sind. Im<br />
RMV-Ideal soll dieser integrale Fahrplan bis<br />
1998 im gesamten Verb<strong>und</strong>gebiet realisiert<br />
sein mit Takten von 15-, 30- <strong>und</strong> 60-minütigen<br />
Intervallen. So können sich die K<strong>und</strong>Innen<br />
den Fahrplan leicht merken.<br />
Darmstadts Pläne <strong>und</strong> Bedenken<br />
Bislang haben von 18 betroffenen Kreisen<br />
<strong>und</strong> kreisfreien Städten nur sechs Einwände<br />
gegen den Beitritt zum RMV, darunter die<br />
Stadt Darmstadt <strong>und</strong> der Kreis Darmstadt-<br />
Dieburg. Die Stadt Darmstadt begründet ihre<br />
Haltung mit steigenden Preisen im Nahbereich,<br />
allerdings laufen derzeit Verhandlungen<br />
mit dem RMV, der seine Bereitschaft<br />
erklärt, der Stadt das Subventionieren der<br />
Preise freizustellen. Weiterhin fürchtet<br />
Darmstadt eine zu starke Ausrichtung des<br />
Verb<strong>und</strong>es auf Frankfurt hin – mit einer damit<br />
verb<strong>und</strong>enen Vernachlässigung der<br />
Region Südhessen.<br />
Ungeklärt ist auch der Schlüssel für das Verteilen<br />
der Einnahmen aus dem Fahrkarten<strong>und</strong><br />
Verb<strong>und</strong>markenverkauf. Nach derzeitigen<br />
Vorstellungen der Vorbereiter soll der finanzielle<br />
Ausgleich aus der Zahl der verkauften<br />
Fahrausweise <strong>und</strong> durch Fahrgastzählungen<br />
ermittelt werden. Beides ist nicht repräsentativ,<br />
so ein Einwand des Darmstädter<br />
Bürgermeisters Siebert: Wer sich auf den<br />
Verkauf von Wertmarken spezialisiert, könne<br />
profitieren, ohne gute Verbindungen anzubieten<br />
<strong>und</strong> ohne viele Fahrgäste zu befördern.<br />
Probleme bieten auch die Zählungen,<br />
denn die Fahrgäste müssen für die Verteilung<br />
erfaßt werden. Die Stadt Darmstadt hat<br />
zur Klärung ihrer Bedenken ein Gutachten<br />
von der „Hamburg Consult“ angefordert, das<br />
die Entscheidung erleichtern soll.<br />
Gerd Bausch<br />
Zug am Nasenring machte den Bären Beine.<br />
Dank der Initiative einer britischen Tierschutzorganisation<br />
hat das Leiden nun<br />
zumindest für sechzehn türkische Tanzbären<br />
ein Ende. Den Briten gelang es, die türkischen<br />
Behörden für ihr Projekt zu gewinnen.<br />
Die Polizei beschlagnahmte die Tiere. Umgerech<strong>net</strong><br />
250.000 Mark spendeten britische<br />
Tierfre<strong>und</strong>e bisher, um dieses einzigartige<br />
Projekt zu finanzieren.<br />
Zunächst werden die Bären am Institut für<br />
Tiermedizin der Universität Bursa in der<br />
Westtürkei gründlich untersucht. W<strong>und</strong>en,<br />
die durch die Nasenringe hervorgerufen worden<br />
waren, müssen ausheilen oder operativ<br />
behandelt werden. Die meisten Tiere müssen<br />
auch zum Zahnarzt, denn aufgr<strong>und</strong> der völlig<br />
falschen Ernährung sind ihre Zähne geschädigt.<br />
Im Februar sollen die Bären in ein<br />
größeres Freigehege kommen, um im Mai<br />
schließlich in ihre vorläufige neue Heimat<br />
entlassen zu werden, ein etwa zehn Hektar<br />
großes Waldgebiet in den Bergen über Bursa.<br />
Schon jetzt lernen die Bären sich selbst<br />
zu ernähren. Wurden sie früher mit Brot <strong>und</strong><br />
Süßigkeiten gefüttert, gewöhnt man sie jetzt<br />
an jene Nahrung, die ihre in der Wildnis<br />
lebenden Artgenossen verzehren: vor allem<br />
Fleisch, Nüsse <strong>und</strong> Früchte.<br />
In den dichtbewaldeten Bergen der nordwestlichen<br />
<strong>und</strong> der nordöstlichen Türkei<br />
leben schätzungsweise etwa fünftausend<br />
wilde Bären. Tierschützer vermuten, daß es<br />
in der Türkei noch r<strong>und</strong> vierzig Tanzbären<br />
gibt, ein Dutzend allein in Istanbul. Sie sollen<br />
alle möglichst bald in die Wildnis gebracht<br />
werden.<br />
Gerd Höhler<br />
Eine Million<br />
für die DKMS<br />
Die Deutsche Krebshilfe hat die<br />
Deutsche Knochenmarkspenderdatei<br />
in Tübingen bisher mit<br />
15 Millionen Mark unterstützt<br />
Einen symbolischen Scheck über eine Million<br />
Mark für Knochenmarktypisierungen hat der<br />
Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krebshilfe,<br />
Dr. Helmut Geiger, am Donnerstagabend<br />
(13.1.) in Köln während ihrer Sendung<br />
„Schreinemakers life“ in Sat 1 an Margarete<br />
Schreinemakers übergeben. Frau Schreinemakers<br />
hat den Betrag stellvertretend für die<br />
Deutsche Knochenmarkspenderdatei (DKMS)<br />
entgegengenommen. Der Betrag von 1 Millionen<br />
Mark wird zur Typisierung weiterer Blutproben<br />
potentieller Knochenmarkspender eingesetzt.<br />
Für 1 Millionen Mark können 10.000<br />
zusätzliche Knochenmarkspender gewonnen<br />
werden. Die Förderung der Deutschen Krebshilfe<br />
zum Aufbau einer Deutschen Knochenmarkspenderdatei<br />
erreicht damit einen Betrag<br />
von 15 Millionen Mark. Derzeit sind in der<br />
Tübinger Knochenmarkspenderdatei r<strong>und</strong><br />
165.000 Spendenwillige registriert. Für den<br />
Monat Februar stehen neun Transplantationen<br />
an, für die Spender über diese Datei gef<strong>und</strong>en<br />
wurden. Auch über die Deutsche Krebshilfe<br />
kann Literatur über Krebserkrankungen <strong>und</strong><br />
mögliche Behandlungswege angefordert werden:<br />
Deutsche Krebshilfe e.V., Thomas-Mann-<br />
Straße 40, 53111 Bonn.<br />
Klaus Woyda, Pressereferent<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 17<br />
Die Stadt hat der Wagenburg in der<br />
Helfmannstraße eine Frist gesetzt –<br />
bis zum 31. Januar soll sie verschwinden.<br />
Sie hat den Prozeß<br />
gegen die BewohnerInnen<br />
gewonnen, obwohl der Baubeginn<br />
für Wohnungen noch nicht festliegt<br />
<strong>und</strong> noch nicht einmal ein Bauplan<br />
vorhanden ist. Jetzt fordern die 25<br />
Menschen einen geeig<strong>net</strong>en Ersatz<br />
Die Wagenburg Klabauta soll bis 31.1.94 von<br />
dem Gelände in der Helfmannstraße verschw<strong>und</strong>en<br />
sein. So lautet die Aufforderung<br />
der Stadt Darmstadt. Unterstrichen wird diese<br />
Aufforderung von dem Gerichtsurteil, welches<br />
einem langwierigen <strong>und</strong> bemerkenswert<br />
umwegreichen Prozeß entsprungen ist.<br />
Vor Monaten hatte die Stadt Klage erhoben.<br />
Anfänglich boten die Begründungen der<br />
Räumungsklage eine breite Palette. Der damalige<br />
Liegenschaftsdezernent Grünewaldt<br />
berief sich ständig auf Beschwerden aus der<br />
Nachbarschaft, wobei er nie sagte, wer <strong>und</strong><br />
worüber sich beschwert wurde. Ganz aus der<br />
Luft gegriffene Vorwürfe (es würde Müll vergraben<br />
oder der Einwand, daß die Wagen zu<br />
bunt seien <strong>und</strong> nicht im rechten Winken<br />
stünden), wurden verständlicherweise nicht<br />
ernstgenommen.<br />
Weil sich die WagenbewohnerInnen so leicht<br />
nicht einschüchtern ließen, machte man sich<br />
von Seiten der Stadt auf die Suche nach<br />
gewichtigeren Gründen <strong>und</strong> Bestimmungen.<br />
Das hieß Bauamt, Brandschutz, Umweltamt<br />
wurden ausgesandt, Anstößiges zu finden.<br />
Alle jene Behörden, die auch mal ein Auge<br />
zudrücken bei den richtigen Leuten, zu<br />
denen Menschen, die in Bauwagen leben nun<br />
mal nicht gehören… Doch im Laufe des Prozesses<br />
fixierte sich die Stadt immer stärker<br />
auf die Begründung, es sei Wohnungsbau<br />
auf dem Gelände geplant. Obwohl ein Baubeginn<br />
ungewiß <strong>und</strong> ein Bauplan noch nicht<br />
einmal vorhanden ist, hat die Stadt nun offiziell<br />
das Recht zu räumen.<br />
Verständlich, daß sich die Wagenburg – mit<br />
immerhin 31 Wagen – auch angesichts eines<br />
solchen Gerichtsurteils nicht in Luft auflösen<br />
kann. Das haben die BewohnerInnen auch<br />
gar nicht vor, denn viele von ihnen leben<br />
schon seit Jahren auf Rädern <strong>und</strong> haben<br />
Gefallen gef<strong>und</strong>en an dieser Wohnform, die<br />
sicherlich immer nur eine individuelle<br />
Lösung sein kann:<br />
– näher an der Natur zu leben<br />
– gewohnte Ansprüche zurückzuschrauben<br />
(verantwortlicher mit Wasser <strong>und</strong> Energie<br />
umgehen, z.B. ohne Strom leben)<br />
– gemeinsame Verantwortung für die Organisation<br />
des Alltags (Müllvermeidung <strong>und</strong> -<br />
entsorgung, Wasser, Energie)<br />
– Ver<strong>net</strong>zung mit anderen Wagenprojekten<br />
– Entwicklung von selbstorganisierten<br />
Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsräumen<br />
Das können verlockende Gründe sein, die<br />
vier Wände aus Beton mit einem Gefährt auf<br />
Rädern zu vertauschen. Es gibt auch weitergehende<br />
Ideen, das Leben auf dem Wagenplatz<br />
näher an den Bedürfnissen von Natur<br />
<strong>und</strong> Umwelt zu gestalten, die sich aber nur<br />
auf einem Gelände verwirklichen ließen, das<br />
längerfristig zur Verfügung gestellt wird.<br />
Weil die Forderung nach dem Nutzungsrecht<br />
freier städtischer Flächen für Wagenplätze<br />
auch wohnungspolitisch weiterhin ein sehr<br />
relevantes Argument pro Wagenburg ist,<br />
wird das Thema mit diesem Kapitel nicht<br />
beendet sein. Die Stadt hat hier die Möglichkeit,<br />
ein Selbsthilfeprojekt zu unterstützen.<br />
In letzter Zeit fanden einige Treffen zwischen<br />
WagenbewohnerInnen <strong>und</strong> den zuständigen<br />
städtischen Amtspersonen statt. Die Stadt<br />
hat zwar Verhandlungsbereitschaft signalisiert,<br />
die Verhandlungen erweisen sich<br />
jedoch als äußerst zäh. Von Seiten der<br />
WagenburgbewohnerInnen wurden bisher<br />
bereits sieben mögliche Gelände vorgeschlagen,<br />
diese vom Liegenschaftsbeamten Fröhner<br />
allesamt abgelehnt. Von Seiten des<br />
Amtes kamen zwei Vorschläge, hiervon einer<br />
aufgr<strong>und</strong> seiner Lage zwischen mehreren<br />
Bahndämmen auf verseuchtem Gr<strong>und</strong> nicht<br />
als Wagenplatz geeig<strong>net</strong>, der andere für die<br />
31 Wagen von der Größe her leider nicht<br />
ausreichend. Nach wie vor fordern die<br />
WagenburgbewohnerInnen ein geeig<strong>net</strong>es<br />
Gelände in Darmstadt als Ersatz.<br />
Der Verein für Wagenwesen „schneller Wohnen“<br />
sucht Unterstützer für ihre Forderungen.<br />
Adresse: Helfmannstraße, 64293 Darmstadt.<br />
Wagenburg Klabauta<br />
NEPAL-TEPPICHE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSD–RFER PLATZ
Was ist daran falsch?<br />
Klaus Feuchtinger, der Vorsitzende<br />
des Ausschusses für Umweltschutz<br />
(Grüne) schreibt zum Artikel<br />
„Gefährliche Radfahrer“ in der ZD-<br />
Ausgabe 61:<br />
Wenn schlampig recherchiert wird, bekommen<br />
selbst gutgemeinte Berichte einen<br />
boshaften Zungenschlag! Mit dem Siebert-<br />
Zitat „mit dieser Baumaßnahme kommt der<br />
Magistrat auch einem Antrag der Grünen<br />
nach“ soll der Eindruck erweckt werden,<br />
daß auf Wunsch der Grünen eine Baumaßnahme<br />
an der Heidelberger Straße in Fahrtrichtung<br />
Eberstadt ausschließlich für den<br />
motorisierten Kraftverkehr durchgeführt<br />
werden soll. Hätte sich die Autorin den von<br />
Siebert erwähnten grünen Antrag nicht erst<br />
einmal durchlesen sollen? Dann wäre ihr<br />
sicher aufgefallen, daß wir darin eine längst<br />
überfällige Entsiegelungsmaßnahme beantragt<br />
haben, um das Wurzelwerk der<br />
Straßenbäume von der Asphaltabdeckung<br />
zu befreien, um wenigstens eine Ursache<br />
für das reihenweise Absterben der dortigen<br />
Alleebäume zu beseitigen <strong>und</strong> den nachgepflanzten<br />
Bäumen bessere Überlebenschancen<br />
zu gewähren.<br />
Euer Foto zeigte übrigens eine ganz andere<br />
Stelle, die von der Maßnahme nicht betroffen<br />
ist. Das hätte man der betreffenden<br />
Magistratsvorlage unschwer entnehmen<br />
können! Erst im weiteren Verlauf der Heidelberger<br />
Straße – (da hätte die Autorin<br />
noch ein paar Schritte gehen müssen!) –<br />
folgt ein breiter asphaltierter Randstreifen,<br />
der wohl zu Zeiten benutzt wurde, als die<br />
Heidelberger Straße noch als einzige Nord-<br />
Süd-Verbindung (B3) vom Durchgangsverkehr<br />
befahren wurde. Auf diesem bilden<br />
sich tiefe Wasserlachen, die noch lange<br />
nach Regenfällen stehen bleiben, den<br />
Straßenbäumen vorenthalten werden <strong>und</strong><br />
mit den von Euch zitierten Ursachen für<br />
Aquaplaning nichts zu tun haben. Diese<br />
haben nämlich den Effekt, daß die Autos<br />
schon bei Geschwindigkeiten deutlich unter<br />
50 km/h Radfahrer <strong>und</strong> Fußgänger auf den<br />
parallel geführten Wegen in hohem Bogen<br />
bespritzen!<br />
Eben dieser Streifen soll nun zurückgebaut<br />
<strong>und</strong> – was die Autorin ebenfalls verschweigt<br />
– auch begrünt werden. Solche<br />
Rückbaumaßnahmen, verb<strong>und</strong>en mit Entsiegelung<br />
<strong>und</strong> Begrünung sowie mit mehr<br />
Sicherheit für alle Verkehrsteilnehmer, sollten<br />
wir uns auch in anderen Straßen Darmstadts<br />
wünschen – was ist falsch daran?<br />
Klaus Feuchtinger, Die Grünen<br />
In der Ausgabe 61 hatte unser Fotograf die Heidelberger Straße etwa zweih<strong>und</strong>ert Meter zu weit stadteinwärts aufgenommen.<br />
Auf diesem Bild ist deutlich der überflüssige Asphaltstreifen zu erkennen. Übrigens auch der parallel<br />
verlaufende Radweg – bis dorthin spritzt nach Ansicht Feuchtingers das Wasser vorbeifahrender Autos. Wie<br />
schnell wird dann gefahren? (mg/Foto Heiner Schäfer)<br />
Eine offene Antwort<br />
Hallo Klaus Feuchtinger,<br />
die Aquaplaning-Meldung stammte vom<br />
Presseamt (Nr. 11492, 12.93), das zitiert<br />
worden ist <strong>und</strong> sich wiederum auf den<br />
Magistrat, auf Michael Siebert bezog. Die<br />
Pressemeldung ist wie die sieben anderen<br />
zitierten selbstverständlich nur in Ausschnitten<br />
wiedergegeben, sonst hätte dies<br />
eine Zeitungsseite gefüllt. Der satirische<br />
Charakter, der in den offiziellen Verlautbarungen<br />
zum Vorschein kommt, dürfte auch<br />
für LeserInnen unübersehbar sein. Es handelte<br />
sich also keineswegs um eine Recherche,<br />
sondern um den zusammenfassenden<br />
Abdruck offizieller Darstellungen.<br />
Wenn das Presseamt das Aquaplaning in<br />
den Vordergr<strong>und</strong> rückt, steht dies in direktem<br />
Kontext zum Ausbau des Radwege<strong>net</strong>zes,<br />
das seit 1978 bis ins Jahr 2050 auf sich<br />
warten lassen wird. Das ist falsch.<br />
Den Fotografen haben wir noch einmal hingeschickt,<br />
denn in der Tat war das Foto<br />
nicht gegenüber der Kiesgrube, sondern<br />
weiter stadteinwärts gegenüber der Radrennbahn<br />
aufgenommen worden – wir danken<br />
für die Richtigstellung.<br />
Es sollte keineswegs „der Eindruck erweckt<br />
werden, daß auf Wunsch der Grünen eine<br />
Baumaßnahme an der Heidelberger Straße<br />
in Fahrtrichtung Eberstadt ausschließlich<br />
für den motorisierten Kraftverkehr durchgeführt<br />
werden soll.“ Wenn Siebert selbst<br />
melden läßt, zitieren wir nicht als Meinungsmacher.<br />
Das wäre falsch. Der Antrag<br />
der Grünen mag wohl andere Ziele artikulieren,<br />
was zählt ist doch das, was gemacht<br />
wird?<br />
Die Entsiegelung ist sicherlich ein lobenswerter<br />
Zug, jedoch von Begrünung stand in<br />
der Meldung nichts zu lesen, sondern: Es<br />
„wird ein Hochbordstein mit Rinne zur<br />
Ableitung des Oberflächenwassers eingebaut“<br />
– in die Kanalisation? Und wozu dann<br />
die Entsiegelung? Das wäre falsch. Die<br />
Magistratsvorlage ist der ZD im übrigen<br />
nicht zugestellt worden, womit die Verwal-<br />
tung so die Darstellung Ihrer Aktivitäten in<br />
der Öffentlichkeit selbst gestaltet.<br />
Zur Information folgende Pressemeldung<br />
vom 24.7.1990. „Für die stark befahrene<br />
Bismarckstraße ist seit langem ein durchgehender<br />
Radweg geplant… Im Haushaltsplan<br />
1990 waren für den Ausbau 100.000<br />
Mark beantragt, wurden dann aber erst für<br />
1992 vorgemerkt. … Wie Stadtrat Swyter<br />
mitteilt, wird zunächst mit geringem Aufwand<br />
<strong>und</strong> weitgehend provisorischen Mitteln<br />
versucht, den Radverkehr zu verbessern.<br />
Dabei ist bereits jetzt zu erwarten, daß<br />
die ursprünglich geschätzte Summe von<br />
100.000 Mark nicht ausreichen wird. Bis<br />
1992 wird aber eine detaillierte Kostenschätzung<br />
durchgeführt“. Es wird noch<br />
immer geplant, geschätzt <strong>und</strong> von Provisorien<br />
ist nichts zu sehen – bis 2050?<br />
Der Herausgeber<br />
BRIEFE AN DIE REDAKTION II<br />
Die deutsche Atomschmiede stoppen<br />
Ein breites Bündnis von Anti-Atom-<br />
Initiativen aus dem B<strong>und</strong>esgebiet<br />
<strong>und</strong> Österreich formiert seinen<br />
Widerstand gegen die Fortsetzung<br />
der Atomwirtschaft in Deutschland.<br />
Zentraler Angriffspunkt ist der „Siemens“-Konzern,<br />
der als Monopolist<br />
für den Bau von Atomkraftwerken<br />
die Triebfeder der deutschen Atomlobby<br />
ist. Das Bündnis der Atomkritiker<br />
ruft zum Boykott aller Siemens-<br />
Produkte auf, bis der Konzern seine<br />
Atomgeschäfte beendet<br />
Die Zukunft der Atomenergie in Deutschland<br />
ist alles andere als besiegelt; aber der Kampf<br />
um eine endgültige Entscheidung tobt. Offen<br />
<strong>und</strong> hinter verschlossenen Türen werden die<br />
Vertreter der Atomwirtschaft nicht müde,<br />
ihren politischen Einfluß für eine „Referenzanlage“<br />
eines vermeintlich neuen Reaktortyps<br />
auf deutschem Boden einzusetzen. Die<br />
neue Anlage wäre der weltweit erste Neubau<br />
eines Atomkraftwerks seit der Katastrophe<br />
von Tschernobyl.<br />
Profitieren würde in erster Linie der Siemens-Konzern.<br />
Als einziger deutscher<br />
Anbieter von „schlüsselfertigen“ Atomkraftwerken<br />
möchte er seine seit Jahren schlummernde<br />
Sparte „Energieerzeugung (KWU)“<br />
mit diesem Auftrag wieder zum Leben<br />
erwecken. Als „Referenz“ soll der Meiler vor<br />
allem ausländischen K<strong>und</strong>en erscheinen.<br />
Denn ohne ein funktionierendes Anschauungsobjekt<br />
sind Atomkraftwerke derzeit<br />
selbst in der sogenannten Dritten Welt<br />
unverkäuflich, wie Siemens-Aufsichtsratsvorsitzender<br />
Hermann Franz eingestehen<br />
mußte.<br />
Einen „qualitativen Sprung in der Sicherheit“<br />
verspricht Siemens denn auch für die neue<br />
Reaktorlinie, die sie derzeit zusammen mit<br />
der französischen Atomfirma „Framatome“<br />
entwickelt. Die „Nuclear Power International“<br />
(NPI) – gemeinsame Tochter beider<br />
Konzerne – führt das Projekt unter der<br />
Bezeichnung „European Pressurized Water<br />
Reactor“ (EPR, Europäischer Druckwasser-<br />
Reaktor). Er „soll die Erfahrungen beider<br />
Länder auf dem Gebiet der Druckwasserreaktor-Kernkraftwerke<br />
in einer gemeinsamen<br />
Weiterentwicklung zusammenführen <strong>und</strong> die<br />
deutsche Konvoi-Baulinie sowie die französische<br />
N4-Baureihe ablösen“, teilte Siemens<br />
mit. Ein revolutionär neues Atomkraftwerkskonzept<br />
ist somit nicht zu erwarten.<br />
Wirtschaftlich wichtig ist für Framatome <strong>und</strong><br />
Siemens, daß der EPR sowohl in Frankreich<br />
als auch in Deutschland genehmigungsfähig<br />
sein soll. Gemäß einem bereits mehrfach<br />
verlängerten Zeitplan sieht Siemens jetzt von<br />
einen „frühest möglichen Baubeginn“ für<br />
1998/99 vor. Dabei sind die nationalen<br />
Genehmigungsfristen bereits Bestandteil der<br />
Planung. Die „erhöhte Sicherheit des EPR“<br />
wollen seine Entwickler unter anderem<br />
„durch die Weiterentwicklung im Vorsorgebereich“<br />
erreichen. Ziel sei es, „das Eintreten<br />
von Störfällen so unwahrscheinlich zu<br />
machen, daß sie nach den Maßstäben der<br />
praktischen Vernunft ausgeschlossen werden<br />
können“, verlautete Siemens.<br />
„Etwas wirklich neues ist nicht zu erkennen“,<br />
kontert Lothar Hahn diese Versprechungen.<br />
Der Atomkraft-Experte am Öko-Institut in<br />
Ein unerträglicher Parteienstreit<br />
Darmstädter Sezession erwartet in<br />
zwei Erklärungen eine sach- <strong>und</strong><br />
fachgerechte Diskussion über die<br />
Absage der Sironi-Ausstellung<br />
Die Darmstädter Sezession<br />
verwahrt sich mit<br />
aller Entschiedenheit<br />
gegen das Ansinnen<br />
der B<strong>und</strong>estagsabgeord<strong>net</strong>en<br />
Frau Dr. Sissy<br />
Geiger, einem Neofaschisten<br />
die Ausstellungshallen der Mathildenhöhe<br />
als Selbstdarstellungsforum anzubieten.<br />
Die Diskussion um Sironi eskaliert zu einem<br />
Höhepunkt schädlicher, mittlerweile nur<br />
politischer Argumente <strong>und</strong> eifert aus in unerträglichem<br />
parteipolitischen Streit. Mit diesen<br />
Querelen wird die Darmstädter kulturelle<br />
Szene nicht nur hier, sondern darüberhinaus<br />
in der B<strong>und</strong>esrepublik in Mißkredit gebracht.<br />
Der Vorstand der Darmstädter Sezession<br />
Sämtliche Aktivitäten im Umkreis der zu<br />
Recht umstrittenen Sironi-Ausstellung legen<br />
die Vermutung nahe, die Darmstädter Kunstszene,<br />
federführend durch Institutionen wie<br />
die Mathildenhöhe <strong>und</strong> die Darmstädter<br />
Sezession, zu demontieren. Die parteipolitischen<br />
Auseinandersetzungen sollten auf<br />
anderen Schultern, als denen der Kunst ausgetragen<br />
werden. Ausstellungsmacher, ob<br />
die der Darmstädter Sezession oder der<br />
Mathildenhöhe, werden immer umstritten<br />
sein. Das bisherige Darmstädter Kunstgeschehen<br />
hat stets weiterreichendere Wirkung<br />
gezeigt, als die notwendige Lokalpolitik.<br />
Um schädliche, unnötige Auseinandersetzungen<br />
zu vermeiden, erwartet die Darmstädter<br />
Sezession eine sach- <strong>und</strong><br />
fachgerechte Diskussion.<br />
Der Vorstand der Darmstädter Sezession<br />
Die Zeitung für Darmstadt druckt Briefe an die Redaktion<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich unverändert.<br />
!<br />
Ausgenommen sind Schreib- <strong>und</strong><br />
Grammatikfehler sowie Wiederholungen. Für Kürzungen wird die<br />
Zustimmung der AutorInnen eingeholt. Inhaltliche auch politische<br />
Änderungen werden nicht angebracht <strong>und</strong> auch nichts hinzugefügt.<br />
Die Briefe geben nicht die Meinung der Redaktion wieder.<br />
Darmstadt sieht „bislang nicht plausibel dargelegt“,<br />
weshalb Kernschmelzunfälle beim<br />
EPR deutlich seltener auftreten werden, als<br />
bei den derzeit betriebenen Druckwasser-<br />
Reaktoren.<br />
Tatsächlich kann Siemens – nach den Worten<br />
ihres Sprechers Hans-Joachim Preuss –<br />
„zu technischen Details“ wegen des frühen<br />
Planungsstands „noch nicht seriös Stellung<br />
nehmen“. Hahn wirft der Firma deshalb vor:<br />
„Man kann nicht behaupten, daß man die<br />
Ziele erreicht, ohne etwas konkretes vorzulegen.“<br />
Ähnlich vage wird die Diskussion darüber<br />
geführt, was im EPR passiert, wenn sich<br />
trotz aller „Vorsorgemaßnahmen“ ein<br />
schwerer Unfall ereig<strong>net</strong>, bei dem der Reaktorkern<br />
zu schmelzen beginnt. „Bei den<br />
Druckwasser-Reaktoren derzeitiger Bauart<br />
muß damit gerech<strong>net</strong> werden“, warnt Atomkritiker<br />
Hahn, „daß im Verlauf eines Kernschmelzunfalls<br />
der Sicherheitsbehälter<br />
bereits wenige St<strong>und</strong>en nach Unfallbeginn<br />
versagt <strong>und</strong> daß es zu massiven Radioaktivitätsfreisetzungen<br />
kommt.“<br />
Siemens-Sprecher Preuss widerspricht dieser<br />
Befürchtung, denn Betriebserfahrung<br />
<strong>und</strong> Sicherheitsforschung hätten für die<br />
deutschen Atomkraftwerke „hohe Sicherheitsreserven<br />
ausgewiesen“. Selbst bei<br />
schweren Störfällen könnten massive Radioaktivitätsfreisetzungen<br />
daher ausgeschlossen<br />
werden.<br />
„Wer das behauptet“, entgeg<strong>net</strong> ihm Hahn,<br />
„ist nicht auf dem Stand der Dinge oder will<br />
die Öffentlichkeit wider besseres Wissen täuschen.“<br />
Zwischen Gegnern <strong>und</strong> Befürwortern<br />
der Atomenergienutzung bestehe Einigkeit<br />
darüber, daß bei einem Unfall mit Kernschmelze<br />
die Freisetzung großer Radioaktivitätsmengen<br />
zu befürchten sei. Für die<br />
Beherrschung der Phänomene während<br />
eines Kernschmelzunfalls „sind im EPR-Konzept<br />
noch keine überzeugenden Lösungen<br />
beschrieben, die einer ernsthaften Überprüfung<br />
standhalten könnten“, urteilt Hahn.<br />
„Insofern ist in keiner Weise plausibel dargelegt,<br />
daß mit dem EPR das verschiedentlich<br />
vorgegebene Sicherheitsziel erreicht werden<br />
könnte.“<br />
Wenn es eine Zukunft der Atomenergie in<br />
Deutschland geben sollte, wird der Siemens-<br />
Konzern in jedem Fall der zentrale Technologielieferant<br />
sein. Nicht nur für die Kraftwerke<br />
selbst, sondern auch für die Produktion der<br />
atomaren Brennelemente besitzt Siemens in<br />
der B<strong>und</strong>esrepublik faktisch ein Monopol.<br />
Das Ultragift Plutonium wird ebenfalls nur<br />
von Siemens verarbeitet. Im skandalumwitterten<br />
Brennelemente-Werk Hanau verarbeitet<br />
es der Konzern mit Uran zu den besonders<br />
gefährlichen „MOX-Brennelementen“.<br />
Zudem will Siemens die Laufzeit alter unsicherer<br />
Atomkraftwerke in den ehemaligen<br />
Ostblockstaaten durch vermeintliche technische<br />
Nachbesserungen verlängern.<br />
Das Bündnis der Anti-Atom-Initiativen hat<br />
deshalb sehr bewußt den Siemens-Konzern<br />
als Angriffspunkt gewählt. Die Atomkritiker<br />
rufen alle Verbraucherinnen <strong>und</strong> Verbraucher<br />
auf, Siemens-Produkte zu boykottieren.<br />
Damit wollen sie einen wirtschaftlichen<br />
Druck erzeugen, der den Atommonopolisten<br />
zum Ausstieg zwingt. „Wir fordern vom Siemens-Konzern,<br />
das Atomgeschäft aufzugeben<br />
<strong>und</strong> alle seine Atombetriebe zu<br />
schließen“, heißt es in ihrem Boykottaufruf.<br />
„Siemens darf weder neue Atomkraftwerke<br />
planen, entwickeln oder bauen, noch die<br />
Laufzeit bestehender Atomanlagen verlängern.<br />
Wir fordern, jede Verarbeitung von<br />
Uran <strong>und</strong> Plutonium zu beenden.“<br />
Unterzeich<strong>net</strong> wurde der Boykottaufruf bislang<br />
von mehr als siebzig Organisationen,<br />
darunter der federführende Anti-Atom-Laden<br />
Berlin, die Arbeitsstelle für Umweltfragen der<br />
Evangelischen Kirche Hessen-Nassau, der<br />
B<strong>und</strong>esverband Bürgerinitiativen Umweltschutz,<br />
die Christlichen Demokraten gegen<br />
Atomkraft, der B<strong>und</strong>esverband Bündnis<br />
90/Die Grünen, der Dachverband der Kritischen<br />
Aktionärinnen <strong>und</strong> Aktionäre, die B<strong>und</strong>esverbände<br />
der Evangelischen StudentInnengemeinden<br />
<strong>und</strong> der Katholischen Jungen<br />
Gemeinden, die Berliner Jusos, die Mütter<br />
gegen Atomkraft, die Oberösterreichische<br />
überparteiliche Plattform gegen Atomgefahr<br />
sowie der Ökologische Ärzteb<strong>und</strong> <strong>und</strong> Pax<br />
Christi.<br />
Für einen Verbraucherboykott bietet Siemens<br />
zahllose Angriffspunkte, denn von der<br />
Glühbirne bis zum Atomkraftwerk produziert<br />
der Konzern fast alles, was mit Strom zu tun<br />
hat. Größter Geschäftsbereich ist die Fern-<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 18<br />
meldetechnologie. Weltweit errichtet der<br />
Konzern für Telefongesellschaften schlüsselfertige<br />
Vermittlungsanlagen. Aber auch Endgeräte<br />
für den privaten Telefonk<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />
Nebenstellenanlagen für Firmen <strong>und</strong> Behörden<br />
gehören zum Sortiment von Siemens<br />
<strong>und</strong> ihrer bedeutendsten Tochter auf diesem<br />
Gebiet, der amerikanischen Rolm. Für die<br />
digitalen Mobiltelefone der sogenannten „D-<br />
Netze“, die in zwölf europäischen Ländern<br />
betrieben werden, ist der deutsche Elektronikriese<br />
ebenfalls einer der führenden Lieferanten.<br />
Waschmaschinen, Kühlschränke, Staubsauger<br />
<strong>und</strong> andere Haushaltshilfen finden sich<br />
im Siemens-Sortiment als Produkte der<br />
„Bosch-Siemens Hausgeräte GmbH“<br />
(BSHG). Die 1967 gegründete Firma gehört<br />
je zu Hälfte den beiden Mutterkonzernen, die<br />
baugleiche Geräte unter den jeweils eigenen<br />
Firmenbezeichnungen verkaufen. Der Autoindustrie<br />
liefert Siemens elektrische <strong>und</strong><br />
elektronische Bauteile zu – für Motorsteuerung,<br />
Heizung, Klimaanlage <strong>und</strong> Airbag beispielsweise.<br />
Zumindest beim Kauf von<br />
Ersatzteilen können also auch boykottwillige<br />
Autofahrer den Atomausstieg unterstützen.<br />
Gut 13 Prozent vom Konzernumsatz trägt<br />
das Computergeschäft der „Siemens Nixdorf<br />
Informationssysteme AG“ (SNI). Fast acht<br />
Milliarden Mark Umsatz machen die Medizintechnik<br />
zum viertgrößten Siemens-Konzernbereich.<br />
Bei jeder einzelnen Kaufentscheidung<br />
in diesem Geschäftsbereich geht<br />
es um fünf- bis siebenstellige D-Mark-Beträge.<br />
Die Atomkritiker hoffen deshalb vor allem<br />
auf die Teilnahme vieler niedergelassener<br />
Ärzte am Boykott. Und daß ihr Ziel erreichbar<br />
ist, haben sie in Ihrem Aufruf beziffert: „Das<br />
Atomgeschäft betrug 1991/92 zweieinhalb<br />
Prozent vom Umsatz des gesamten Konzerns.<br />
Senken wir den Siemens-Umsatz in<br />
ähnlicher Höhe.“<br />
Mit einem konkreten Handlungsvorschlag<br />
appelliert das Boykottbündnis an die Verbraucher:<br />
„Zwingen wir Siemens, die Atombetriebe<br />
stillzulegen <strong>und</strong> in zukunftsweisende<br />
Techniken zu investieren. Verzichten wir<br />
deshalb auf Siemens-Produkte – so lange<br />
wie nötig <strong>und</strong> so konsequent wie möglich.<br />
Und informieren wir die Konzernleitung in<br />
80312 München, Wittelsbacherplatz 2,<br />
Fax: 089/2344242 über jede einzelne Kaufentscheidung<br />
gegen einen Siemens-Artikel.“<br />
Henry Mathews<br />
Weitere Informationen: Koordinationskreis<br />
Siemens-Kampagne, Postfach 610285,<br />
10924 Berlin, Fax: 030/2291822. Spenden<br />
zur Unterstützung der Boykottkampagne auf<br />
das Konto des Anti-Atom-Laden Berlin, Konto:<br />
331 68 00, bei der Bank für Sozialwirtschaft,<br />
BLZ 100 205 00.<br />
IPPNW beschließt Boykott<br />
Vergangenes Wochenende (22./23.) hat sich<br />
die „Vereinigung Internationale Ärzte für die<br />
Verhütung des Atomkrieges“ (IPPNW) in<br />
Mainz einem Boykott gegen Siemens angeschlossen.<br />
Zunächst sollen die b<strong>und</strong>esweit<br />
10.000 IPPNW-ÄrztInnen <strong>und</strong> dann nach<br />
<strong>und</strong> nach alle niedergelassenen ÄrztInnen in<br />
Deutschland schriftlich aufgefordert werden,<br />
keine medizinisch-technischen Geräte von<br />
Siemens – wie Röntgengeräte, Zahnarztausrüstungen<br />
oder Ultraschallgeräte – mehr zu<br />
kaufen. Der Boykott soll so lange gelten, bis<br />
Siemens „auf Planung <strong>und</strong> Bau von Atomkraftwerken<br />
verzichtet <strong>und</strong> aus der Plutoniumwirtschaft<br />
aussteigt“. („FR“ vom 25.1.)<br />
Partnership<br />
for Peace<br />
Ein „Dreckfuler-Teufel“ in der ZD-<br />
Ausgabe 61<br />
Leider war es nicht, wie so oft der „Dreckfuler-Teufel“,<br />
sondern ein Abtipp-Fehler von<br />
mir, der eine Sinnentstellung des Zitats von<br />
Präsident Clinton hervorgerufen hat. Es muß<br />
natürlich „Investition“ (letzter Absatz) <strong>und</strong><br />
nicht „Invention“ heißen. Es ist von ihm wirklich<br />
Kurswechsel <strong>und</strong> nicht nur ein launiger<br />
Einfall gemeint. Clinton <strong>und</strong> seine Frau haben<br />
das Dorfbank-Modell studiert <strong>und</strong> den Initiator<br />
Prof. Yunus für den Friedens-Nobelpreis<br />
vorgeschlagen, weil es ihm gelungen ist, die<br />
Ärmsten zu Geschäftspartnerschaft – Partnership<br />
for Peace – einzuladen, <strong>und</strong> sie nicht<br />
mit Almosen zu demütigen.<br />
Ruth Ruhemann, Bürgerlobby Resultate
Das Tête-à-tête von<br />
Frau Geiger<br />
Die Stadtverord<strong>net</strong>enfraktion<br />
der Grünen ist verw<strong>und</strong>ert über das Tête-àtête<br />
der <strong>CDU</strong>-Politikerin Sissy Geiger mit<br />
einem Repräsentanten der neofaschistischen<br />
Bewegung Italiens, Bruno Zoratto.<br />
Wir können uns ihre uneingeschränkte Sympathie<br />
für dessen Beurteilung der Absage der<br />
Sironi-Ausstellung durch die Stadt Darmstadt<br />
nur damit erklären, daß sie auf diesen<br />
sogenannten Vertreter in Deutschland lebender<br />
Italiener ohne Wissen über seine politische<br />
Zugehörigkeit hereingefallen ist. Dabei<br />
belegt gerade ein solcher Vorgang besonders<br />
eindrucksvoll, daß kein Künstler im politikfreien<br />
Wolkenkuckucksheim schweben<br />
kann – selbst wenn er es wollte. Denn alle<br />
Kunst, die sich einer breiten Öffentlichkeit<br />
präsentiert, kann sich der politischen Inanspruchnahme<br />
niemals entziehen.<br />
Im übrigen gibt es auch im künstlerischen<br />
Werdegang Sironis genügend Hinweise, daß<br />
er sich bewußt politisch engagiert hat. Wie<br />
alle anderen futuristischen Künstler (außer<br />
Severini) nahm er schon 1914 an K<strong>und</strong>gebungen<br />
teil, die den Eintritt Italiens in den 1.<br />
Weltkrieg forderten <strong>und</strong> sich dabei mit Mussolini<br />
befre<strong>und</strong>ete. Außerdem wäre es ein<br />
Mißverständnis, aufgr<strong>und</strong> des damals<br />
modernen Formenrepertoires der Futuristen<br />
darauf zu schließen, daß diese noch frei von<br />
faschistischen Elementen gewesen wären.<br />
Schließlich eb<strong>net</strong>e gerade der nationalistische<br />
Ehrgeiz der modernen futuristischen<br />
Künstler schon früh dem italienischen<br />
Faschismus den Weg.<br />
Nach Ansicht der Grünen wäre deshalb eine<br />
Ausstellung sinnvoll gewesen, die eben diese<br />
Zusammenhänge umfassend beleuchtet<br />
hätte. Wir bedauern, daß diese Chance Hals<br />
über Kopf vertan wurde.<br />
Sironi:<br />
Ein Makel bleibt<br />
Mit dürftigen Argumenten<br />
versuche die SPD davon abzulenken, daß sie<br />
zusammen mit Oberbürgermeister Peter<br />
Benz ein Klima erzeugt habe, in dem es Wolbert<br />
nicht mehr verantworten wollte, eine<br />
Ausstellung des Italieners Sironi durchzuführen.<br />
Die Berufung auf die „Kunstexperten“<br />
der SPD-Fraktion wirke dabei besonders<br />
peinlich.<br />
Dazu die <strong>CDU</strong>-Fraktionsvorsitzende Karin<br />
Wolff: „Zensur heißt, die Auseinandersetzung<br />
mit einem Kunstwerk unterbinden, weil<br />
der Künstler eine falsche politische Einstellung<br />
hat.“ Noch bevor ein Bild Sironis in<br />
Darmstadt zu sehen sei, werde diese Zensur<br />
beschlossen. Hätte nicht die Bürgerschaft<br />
selbst sich ein Urteil bilden, die Werke<br />
begutachten <strong>und</strong> bewerten können, fragt die<br />
<strong>CDU</strong>, ebenso wie die Bürger frei seien, ihre<br />
Meinung zum Theaterprogramm zu äußern.<br />
Habe man nicht in Darmstadt auch schon<br />
Künstler gesehen <strong>und</strong> gehört, die sich zum<br />
Kommunismus bekannten?<br />
Mittlerweile scheint die SPD das Thema<br />
Sironi als Hebel zu benutzen, um den Direktor<br />
der Mathildenhöhe sturmreif zu<br />
schießen. Ziel dieser Aktion sei es, dem<br />
Oberbürgermeister einen Partner vom Hals<br />
zu schaffen, mit dem er sich offenbar nicht<br />
verstehe <strong>und</strong> der ihm mit seiner Kompetenz<br />
hin <strong>und</strong> wieder im Wege stehe. Die Mohrenwäsche,<br />
die die SPD versuche, habe auch<br />
den Kulturreferenten beschädigt. Am meisten<br />
habe aber der Ruf Darmstadts in dieser<br />
Sache gelitten.<br />
Badefreuden ade?<br />
Der Vorsitzende der SPD-<br />
Fraktion Horst Knechtel befürchtet, daß das<br />
Familienbad am Woog zu Beginn der Badesaison<br />
1994 noch nicht fertiggestellt <strong>und</strong><br />
geöff<strong>net</strong> sein wird. Knechtel verweist darauf,<br />
daß bereits zwei zugesagte Fertigstellungstermine,<br />
nämlich zuerst der Mai 93 <strong>und</strong> dann<br />
das Ende der Badesaison, der September<br />
93, verstrichen sind, ohne daß die Fertigstellung<br />
<strong>und</strong> Eröffnung bis jetzt ersichtlich seien.<br />
Dabei könne man die Schuld für diese<br />
Verzögerungen auch nicht darauf schieben,<br />
daß etwas Unvorhersehbares, wie es bei<br />
alten Bauwerken z.B. auch der Sanierung<br />
des Kranichsteiner Schlosses immer wieder<br />
feststellbar gewesen sei, für die Verzögerungen<br />
verantwortlich gemacht werden müsse.<br />
Sei doch das alte Bauwerk bis auf die<br />
Gr<strong>und</strong>mauern abgetragen worden <strong>und</strong> stelle<br />
das jetzt erstellte eine Kopie des ursprünglichen<br />
dar.<br />
Der Eindruck, daß der für die Bauabwicklung<br />
zuständige Dezernent Dr. Wolfgang Rösch<br />
(<strong>CDU</strong>) nicht in der Lage sei, einen solchen<br />
Bau ordentlich <strong>und</strong> innerhalb der von ihm<br />
selbst gesetzten Terminvorgaben abzuwickeln,<br />
sei inzwischen einfach nicht mehr<br />
von der Hand zu weisen. Ein besonderes<br />
Kapitel stelle in diesem Zusammenhang<br />
offensichtlich auch der Umgang von Rösch<br />
mit den von der Stadt beauftragten Architekten<br />
dar. Hier gebe es unnötige Reibungsverluste<br />
in der Zusammenarbeit durch unklare<br />
Abmachungen über zu erbringende Leistungen<br />
<strong>und</strong> Honorare. Im Fall des Familienbades<br />
sei es wohl auch so, daß Rösch den Vertrag<br />
mit dem Architekten aufgekündigt habe,<br />
weil dieser es gewagt hatte, die Mängel bei<br />
der Bauvorbereitung <strong>und</strong> Bauabwicklung<br />
öffentlich zu kritisieren. Dies seien Versuche,<br />
aus Rechthaberei berechtigte Kritik zu<br />
vermeiden <strong>und</strong> Streitereien auf Kosten der<br />
Stadt zu provozieren, die zu solchen Zeitverzögerungen<br />
führen.<br />
Kein Zeichen für<br />
jüngere Künstler<br />
Auf der letzten Sitzung der<br />
Jury wurde entschieden, wer das Mahnmal<br />
zum Gedenken an das Ende des zweiten<br />
Weltkrieges gestaltet. Thomas Duttenhöfer<br />
konnte sich mit seiner Arbeit durchsetzen,<br />
da die Mehrheit der Jury vor allem dessen<br />
Standortwahl auf dem Kapellplatz bevorzugte.<br />
Ausschlaggebend war die Stimme von<br />
Oberbürgermeister Benz.<br />
Duttenhöfer zählt zweifelsfrei zu den besten<br />
Bildhauern in Darmstadt. Nach Ansicht des<br />
Grünen Stadtverord<strong>net</strong>en Klaus Feuchtinger<br />
wurde aber die Chance verspielt, für jüngere<br />
Künstler ein Zeichen zu setzen, daß für sie in<br />
Darmstadt „noch nicht alle Fahrstühle nach<br />
oben“ von Sezessionsmitgliedern besetzt<br />
sind.<br />
Die Grüne Fraktion bedauert deshalb diese<br />
Entscheidung – insbesondere auch deshalb,<br />
weil die konkurrierenden Entwürfe ebenfalls<br />
von hohem Niveau waren. „Da im Vorfeld<br />
der Wettbewerbsausschreibung öffentlich<br />
gr<strong>und</strong>sätzliche Bedenken über den Sinn<br />
eines weiteren Mahnmales in Darmstadt<br />
erhoben wurden, hätte die Auswahl eines<br />
jungen Künstlers dem gesamten Verfahren<br />
eine neue Qualität gegeben“, so Klaus<br />
Feuchtinger weiter. Das sei von der Jurymehrheit<br />
nicht erkannt worden.<br />
Amerikanerinnen<br />
in die Frauenkommission<br />
Auf dem Neujahrsempfang<br />
der US-Streitkräfte in der Cambrai-Fritsch-<br />
Kaserne wurden nicht nur Neujahrswünsche<br />
ausgetauscht <strong>und</strong> Hände geschüttelt. Die<br />
stellvertretende Fraktionsvorsitzende der<br />
Grünen, Doris Fröhlich, nutzte die Gelegenheit,<br />
um Brigadegeneral Joseph. G. Garett<br />
den Vorschlag zu machen, Repräsentantinnen<br />
der Amerikanischen Streitkräfte bei der<br />
Bildung der Frauenkommission für Darmstadt<br />
zu berücksichtigen.<br />
Nach §72 der Hessischen Gemeindeordnung<br />
(HGO) kann der Gemeindevorstand zur dauernden<br />
Verwaltung oder Beaufsichtigung<br />
einzelner Geschäftsbereiche sowie zur Erledigung<br />
vorübergehender Aufträge Kommissionen<br />
bilden. In Darmstadt soll eine Frauenkommission<br />
den Gemeindevorstand in Fragen<br />
der Gleichstellung von Männern <strong>und</strong><br />
Frauen am Arbeitsplatz <strong>und</strong> in der Stadt<br />
beraten <strong>und</strong> Empfehlungen vorschlagen.<br />
Nach Ansicht von Doris Fröhlich sollten auf<br />
PARTEIEN - STANDPUNKTE I<br />
jeden Fall auch Vertreterinnen der Soldatinnen<br />
oder der Partnerinnen von amerikanischen<br />
Soldaten in die Arbeit der Frauenkommission<br />
einbezogen werden. „Denn das Ziel<br />
der Kommission ist es, die Situation der<br />
Frauen in Darmstadt zu verbessern. Das<br />
schließt auch die Amerikanerinnen mit ein“,<br />
so Doris Fröhlich.<br />
Sie verspricht sich davon, daß die Beziehungen<br />
zwischen deutschen <strong>und</strong> amerikanischen<br />
Frauen verbessert werden, daß Ideen<br />
ausgetauscht werden <strong>und</strong> daß die Amerikanerinnen<br />
ihre speziellen Probleme einbringen<br />
können, die sie hier in der Stadt haben.<br />
Doris Fröhlich erinnert an die Verdienste der<br />
US-Frauenbewegung für die Emanzipation<br />
<strong>und</strong> hofft auf eine erfolgreiche Zusammenarbeit.<br />
Brigadegeneral Garett <strong>und</strong> Oberbürgermeister<br />
Benz sagten zu, diesen Vorschlag zu<br />
unterstützen<br />
Frauenbevorm<strong>und</strong>ung<br />
bleibt<br />
Zum Urteil im Revisionsprozeß<br />
gegen Horst Theissen erklärt Heide Rühle,<br />
politische Geschäftsführerin von Bündnis<br />
90/ Die Grünen:<br />
Auch nach dem zweiten Urteil, das das<br />
Memminger Strafmaß reduzierte, gilt: Die<br />
Streichung des § 218 ist überfällig. Solange<br />
es diesen Paragraphen gibt, wird den Frauen<br />
in der B<strong>und</strong>esrepublik das Recht abgesprochen,<br />
über ihren Körper zu bestimmen.<br />
Das Urteil von Augsburg <strong>und</strong> die Entscheidung<br />
des B<strong>und</strong>esverfassungsgerichts vom<br />
letzten Jahr unterstreichen die Frauenpolitik<br />
dieser B<strong>und</strong>esregierung. Nichts ist übriggeblieben<br />
vom so hochgelobten Prinzip „Hilfe<br />
statt Strafe“. Die Zukunft verspricht für Mütter<br />
mit Kindern Doppel- <strong>und</strong> Dreifachbelastung<br />
ohne Aussicht auf ausreichende Versorgung<br />
<strong>und</strong> Unterbringung von Kindern, oft<br />
am Rande des Existenzminimums. Sie verspricht<br />
den Frauen, die sich diesem System<br />
nicht unterziehen wollen, diskriminierende<br />
Fragen, Einschüchterung <strong>und</strong> Konfrontation<br />
mit jeder Menge Doppelmoral. Männerurteile<br />
wie in Memmingen, Karlsruhe <strong>und</strong> Augsburg<br />
wird es auch weiter geben – es sei<br />
denn, dieser Paragraph fällt endlich.<br />
Siebert: 100 Tage<br />
Bürgermeister<br />
Der grüne Bürgermeister<br />
Michael Siebert hat seine ersten Gehversuche<br />
im Amt hinter sich. Die <strong>CDU</strong>-Fraktion<br />
bescheinigt ihm ausdrücklich, daß er sie<br />
nicht im Heu ausgestreckt verbracht hat, wie<br />
seine Wahlwerbung fürchten ließ. Vielmehr<br />
läßt der Bürgermeister keinen Tag vergehen,<br />
ohne daß er Akten <strong>und</strong> politische Vorgänge<br />
einsammelt, um sie erst einmal bei sich zu<br />
behalten <strong>und</strong> zu begutachten. Er übertrifft im<br />
„Ansichziehen“ den Alt-Oberbürgermeister<br />
Metzger.<br />
Auf diese Weise werden wesentliche Themen<br />
verschleppt:<br />
– der Bau der Arheilger B3-Umgehung, weil<br />
er Umplanungen fordert, die Millionen <strong>und</strong><br />
Jahre kosten <strong>und</strong> nur neue Prozesse zur Folge<br />
haben.<br />
– eine leistungsfähige <strong>und</strong> umweltfre<strong>und</strong>liche<br />
Energieversorgung, in vertrauensvoller<br />
Zusammenarbeit mit den Tochterunternehmen<br />
Wärmeversorgung in Kranichstein ist<br />
gefährdet.<br />
– der Marienplatz; statt städtebaulicher Pläne<br />
gibt es jetzt erst mal Parkgebührenautomaten,<br />
– Flächenrecycling im Gewerbegebiet, von<br />
Gutachtern empfohlen <strong>und</strong> für Grüne eigentlich<br />
eine Herzensangelegenheit, wird nicht<br />
weitergedacht.<br />
Fairerweise muß eingeräumt werden, so die<br />
<strong>CDU</strong>-Fraktionsvorsitzende Karin Wolff, daß<br />
Siebert Altlasten aus der Metzger-Ära wie<br />
Schlachthof <strong>und</strong> Marienplatz übernommen<br />
hat.<br />
Die Verschleppung der B3-Umgehung<br />
betreibt er mit Oberbürgermeister Benz<br />
gemeinsam <strong>und</strong> nachdrücklich.<br />
Doch die genannten Themen aus den Berei-<br />
chen Verkehr, Umwelt, Energieversorgung,<br />
Planung für die wenigen noch verfügbaren<br />
Flächen in Darmstadt, sind ein „Paket“.<br />
Wenn Notwendiges in allen diesen Feldern<br />
„ausgebremst“ wird, kommt es bald zum<br />
Stillstand der ganzen Stadtentwicklung.<br />
Kritik übt die <strong>CDU</strong> auch an der Informationspolitik<br />
des Bürgermeisters. Bei der Frage der<br />
Müllgebühren habe Siebert, vorbei an Magistrat<br />
<strong>und</strong> Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung,<br />
die Bürger über seine neuen Pläne informiert,<br />
<strong>und</strong> sich als Retter in der Krise feiern<br />
lassen. Über die PCB-Problematik dagegen<br />
berichte er weder der betroffenen Schule<br />
(Busch-Schule) noch den Mandatsträgern.<br />
PCB sei auch ein Beispiel, wie grüne Politik<br />
der vergangenen Jahre „über Nacht“ um 180<br />
Grad gewendet worden ist.<br />
Zur Fernwärmeversorgung<br />
in<br />
Kranichstein<br />
Mit einer Großen Anfrage hat<br />
die <strong>CDU</strong>-Fraktion versucht, Aufklärung über<br />
die Wärmeversorgung in Kranichstein zu<br />
erhalten. Die Antwort des Magistrats läßt an<br />
Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: Auf<br />
die Frage, welche Vorsorge im städtischen<br />
Haushalt getroffen worden sei, um die Kranichsteiner<br />
Bevölkerung sicher <strong>und</strong> langfristig<br />
mit Wärme zu versorgen, lautet die lapidare<br />
Antwort „keine“.<br />
Widersprüchlich sind die Einlassungen des<br />
Versorgers: Am 7. Oktober sagt die Südhessische,<br />
„somit entfällt die mögliche Absicherung<br />
für Kranichstein im Störungsfall“, zwei<br />
Monate später zitiert Oberbürgermeister<br />
Benz die Südhessische mit der Erklärung,<br />
daß die „Versorgung in keiner Weise beeinträchtigt<br />
sei“. Wieder zwei Tage später stellt<br />
die Südhessische fest: „...kann die Wärmeversorgung<br />
nur bis plus 2 Grad gewährleistet<br />
werden“.<br />
Bisher ist es den Kranichsteinern erspart<br />
geblieben, die Nagelprobe auf diesen Widerspruch<br />
am eigenen Leibe zu erleben. Der<br />
Störfall ist nicht eingetreten, die Außentemperaturen<br />
sind mild. Dennoch bleibt ein<br />
Unbehagen zurück, die Kranichsteiner, die ja<br />
einem Fernwärme-Anschlußzwang unterliegen,<br />
können nicht sicher sein, daß auch<br />
unter ungünstigeren Umständen die Versorgung<br />
gewährleistet ist. „Wenn die Kranichsteiner<br />
in diesem Winter nicht mit klammen<br />
Fingern <strong>und</strong> kalten Füßen unter dem Weihnachtsbaum<br />
sitzen mußten, verdanken sie<br />
dies eher Petrus als der Umsicht <strong>und</strong> Fürsorge<br />
der Stadt <strong>und</strong> der politisch Verantwortlichen“,<br />
stellt die <strong>CDU</strong> fest.<br />
Nicht dramatisieren wollen<br />
die Grünen den öffentlichen Wirbel um die<br />
Fernwärmeversorgung.<br />
Seit Jahren hat sich für diese Aufgabe niemand<br />
so richtig verantwortlich gefühlt. Diese<br />
unklaren Verhältnisse waren auch ein<br />
Gr<strong>und</strong>, warum Grüne <strong>und</strong> SPD eine Regelung<br />
in ihre Koalitionsvereinbarung aufgenommen<br />
haben, die die „Förderung des<br />
Kraft-Wärme-Verb<strong>und</strong>es“ betrifft.<br />
Im Koalitionsvertrag steht: „Beteiligung der<br />
Stadt an der BHKW-GmbH durch Einbringung<br />
der Fernheizwerke <strong>und</strong> Leitungssysteme<br />
(Sicherstellung eines maßgeblichen<br />
städtischen Einflusses statt Fernheizwerkeverkauf).<br />
Bau des Fernwärmeverb<strong>und</strong>es<br />
Arheilgen/Kranichstein <strong>und</strong> Sanierung der<br />
verlustreichen Leitungsstrecken durch die<br />
BHKW GmbH bei offenen Ausschreibungen<br />
<strong>und</strong> Beteiligung der ,Hessen-Energie’.“<br />
„Als zuständiger Dezernent hat sich Michael<br />
Siebert lediglich an die Koalitionsvereinbarung<br />
gehalten <strong>und</strong> einen Vorschlag zur<br />
Umsetzung unterbreitet“, sagt Günter Mayer,<br />
der Fraktionsvorsitzende der Grünen.<br />
Laut „Darmstädter Echo“ vom 2.12.93 hat<br />
der Magistrat Bürgermeister Siebert beauftragt,<br />
Verbesserungen im Vertrag mit der<br />
Südhessischen auszuhandeln.<br />
„Deshalb verstehen wir die ganze Aufregung<br />
nicht. Siebert handelte im Einklang mit der<br />
Koalitionsvereinbarung <strong>und</strong> im Auftrag des<br />
Magistrats“, so Günter Mayer weiter. Von<br />
einem Alleingang oder Illoyalität könne deshalb<br />
keine Rede sein. Die Grünen sehen deshalb<br />
auch keinen Gr<strong>und</strong> für disziplinarische<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 19<br />
Maßnahmen, mit denen Oberbürgermeister<br />
Benz droht.<br />
Wenn sich die ganze Aufregung gelegt hat,<br />
wird man sehen, daß Siebert in Sorge um<br />
das Gemeindevermögen tätig geworden ist.<br />
Und das kann man ihm nun wirklich nicht<br />
zum Vorwurf machen. Günter Mayer plädiert<br />
dafür, daß sich die Beteiligten um eine<br />
Lösung in der Sache bemühen sollten, ohne<br />
sich von Emotionen leiten zu lassen.<br />
Müll: Siebert hat<br />
zuviel versprochen<br />
Die Darmstädter sparen Müll<br />
wie die Weltmeister. 8.000 Änderungsanträge<br />
hat das Fuhr- <strong>und</strong> Reinigungsamt auf Reduzierung<br />
der Tonnen bekommen. Mindestens<br />
ein Vierteljahr wird die Umstellung<br />
dauern. Inzwischen flattern den Bürgerinnen<br />
<strong>und</strong> Bürgern Gebührenbescheide ins Haus –<br />
wegen der Erhöhung der Gr<strong>und</strong>steuer –, die<br />
den Nachlaß für die kleinere Tonnen nicht<br />
berücksichtigen. Das ärgert die Bürger, weil<br />
sie sehen, daß die Erhöhung bei der Steuer<br />
sofort greift, die Ermäßigung beim Müll aber<br />
auf sich warten läßt.<br />
„Die Toleranz der Leute ist durch die hohen<br />
Abgabelasten gesunken“, stellt die <strong>CDU</strong> fest.<br />
Bürgermeister Siebert habe sich als den<br />
Müllgebührenreformer feiern lassen, aber<br />
nicht bedacht, daß die Organisationsänderungen<br />
längeren Vorlauf brauchen. Er setzt<br />
damit nicht nur seine Ämter einem Riesendruck<br />
aus, sondern verärgert die Bürgerschaft.<br />
Die <strong>CDU</strong> hat auch Zweifel, ob die Gebührenordnung,<br />
die Siebert zugr<strong>und</strong>egelegt hat,<br />
überhaupt Bestand hat, wenn viel weniger<br />
Müllvolumen nachgefragt wird. Vielleicht<br />
müsse Siebert schon bald wieder mit einer<br />
Gebührenerhöhung auf der Matte stehen.<br />
Schließlich müsse er auch erklären, warum<br />
das Kommunale-Gebietsrechenzentrum so<br />
lange braucht, um neue Programme zu liefern.<br />
Bereits im Sommer 1993 hatte die<br />
Stadt Änderungen angemeldet, zum Beispiel<br />
die neu eingeführte Aufstellgebühr für die<br />
Tonne. Heute gibt es noch immer Probleme<br />
mit dem Programm, die zu Veränderungen<br />
führen. „Ein privater Anbieter könnte sich<br />
solche Saumseligkeit nicht leisten. Der<br />
Magistrat sollte sich einmal nach einem<br />
anderen Partner für die Abrechnung umsehen“,<br />
fordert die <strong>CDU</strong>. „Dann wäre auch die<br />
Rechtsmittelbelehrung auf der Rückseite gut<br />
lesbar gedruckt <strong>und</strong> nicht in winziger Schrift,<br />
hellgrün auf weißem Papier.<br />
Starthilfe für<br />
Tagesmüttermodell<br />
gefordert<br />
„Es tut sich was!“ Theo Ludwig,<br />
FDP-Stadtverord<strong>net</strong>er <strong>und</strong> Sigrid Dipper,<br />
als Leiterin eines Kinderheimes liberale<br />
Expertin für die Probleme der Betreuung von<br />
Kindern, sehen ihre monatelangen<br />
Bemühungen um die Einführung eines<br />
Tagesmüttermodells für den Darmstädter<br />
Raum endlich bestätigt. Zwar sei, erklärt<br />
Theo Ludwig in einer Presse-Erklärung, das<br />
Papier des Sozialdezernenten Gerd Grünewaldt<br />
eher eine Auflistung von Möglichkeiten<br />
als ein Konzept, aber immerhin zeige es,<br />
daß sich die Stadt mit dem Thema ernsthaft<br />
beschäftige.<br />
Um die Einführung eines Tagesmüttermodels<br />
in Darmstadt zu beschleunigen, werden<br />
die Liberalen zur nächsten Stadtverord<strong>net</strong>ensitzung<br />
im Februar einen Antrag einbringen,<br />
in dem die Stadt aufgefordert wird, eine<br />
„Starthilfe“ für das sich dann selbst finanzierende<br />
Projekt zu leisten. Man denke dabei,<br />
so Theo Ludwig, weniger an Geld als an<br />
einen Raum mit der notwendigen technischen<br />
Infrastruktur, wie z.B. Telefon <strong>und</strong><br />
Computer. Kostenneutralität für die Stadt<br />
bleibt für die F.D.P.-Experten Gr<strong>und</strong>voraussetzung<br />
für die Einrichtung eines Tagesmüttermodells.<br />
Für außerordentlich wichtig halten die Liberalen<br />
eine kontinuierliche Beratung <strong>und</strong><br />
Betreuung der Tagesmütter bzw. Tagesvä-<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite<br />
POLSTERSTOFFE<br />
DARMSTADT<br />
ROSSDÖRFER PLATZ
ter. In dem Antrag wird deshalb der Magistrat<br />
aufgefordert, dafür zu sorgen, daß die<br />
Familienbildungsstätte ihr Seminarangebot<br />
entsprechend erweitert. Sigrid Dipper hatte<br />
bei ihren Gesprächen mit Vertretern der Firma<br />
Merck erfahren, daß für die dort eingerichtete<br />
Tagesmütterbörse Fortbildungsmöglichkeiten<br />
für Tagesmütter wünschenswert<br />
wären. Bei auftretenden Problemen<br />
sollte eine Beratungsmöglichkeit angeboten<br />
werden. Aus diesem Gr<strong>und</strong> halten es die<br />
Liberalen für unbedingt erforderlich, daß<br />
sich die Familienbildungsstätte frühzeitig auf<br />
eine solche Nachfrage einrichtet.<br />
Nur gute Standortbedingungen<br />
fördern<br />
die Wirtschaft<br />
Mit der Absicht der Stadt<br />
Darmstadt, eine Wirtschaftsförderungs-<br />
Gesellschaft zu gründen, hat sich jetzt der<br />
Wirtschaftsrat der <strong>CDU</strong> auseinandergesetzt:<br />
Das Modell sieht vor, eine GmbH für Wirtschaftsförderung<br />
zu gründen, <strong>und</strong> über<br />
einen Beirat Sachverstand aus den Wirtschaftsunternehmen<br />
einfließen zu lassen.<br />
Dazu der Wirtschaftsrat: Das Gebot der<br />
St<strong>und</strong>e seien politische Rahmenbedingungen,<br />
die Darmstadt als Dienstleistungs- <strong>und</strong><br />
Einzelhandelszentrum der Region Entwicklungschancen<br />
böten. „Was nutzen neue<br />
Investitionen mit Beiräten, Gesellschaftern<br />
<strong>und</strong> Verwaltungsräten, wenn die Rahmenbedingungen<br />
nicht stimmen“, stellt die Sektionssprecherin<br />
des Wirtschaftsrates, Dr.<br />
Dagmar Brodersen, fest. Bezeichnend sei,<br />
daß im Aufgabenkatalog der Wirtschaftsförderungs-Gesellschaft<br />
das Thema Verkehr<br />
nur am Rande genannt sei. Statt einer Beratung<br />
der mittelständischen Unternehmen im<br />
Umgang mit dem Amtsschimmel, sei Entbürokratisierung<br />
angesagt. Die städtischen<br />
Ämter müßten auf den K<strong>und</strong>en zugehen,<br />
nicht umgekehrt. Das Konzept verkenne<br />
auch völlig, daß es für die beschriebenen<br />
Aufgaben längst leistungsfähige private<br />
Anbieter gebe, z. B. im Ver- <strong>und</strong> Entsorgungsbereich.<br />
Statt neuer Institutionen fordert der Wirtschaftsrat<br />
der <strong>CDU</strong>:<br />
– Ausbau der beiden Umgehungsstraßen<br />
– Kurzzeitparkplätze in der Innenstadt für<br />
K<strong>und</strong>enverkehr<br />
– Umsetzung des HTL-Gutachtens zum<br />
Flächenrecycling<br />
– Baugebiete für Einfamilienhäuser<br />
– k<strong>und</strong>enorientierte Verwaltung, kurze Bearbeitungszeiten.<br />
Wenn in der Stadt die Weichen auf „Wirtschaftsverhinderungspolitik“<br />
stünden, könnten<br />
noch so viele Wirtschaftsförderungs-<br />
Gesellschaften den Zug nicht ins Rollen<br />
bringen.<br />
Schlachthof-Verkauf<br />
noch in weiter Ferne<br />
Die Ankündigung Bürgermeister<br />
Sieberts, „im Gr<strong>und</strong>satz“ mit dem Bauverein<br />
über Verkauf <strong>und</strong> Bebauung des<br />
Schlachthofgeländes Einigkeit erzielt zu<br />
haben, wird von der FDP-Fraktion im Stadtparlament<br />
bezweifelt. Fraktionsvorsitzender<br />
Dr. Dierk Molter vermutet im Gegenteil, daß<br />
Michael Siebert wieder einmal – wie z.B. bei<br />
den Gesprächen mit Merck – „Hurra“ rufe,<br />
bevor das Verhandlungsergebnis feststehe.<br />
Die Liberalen könnten sich nicht nur nicht<br />
vorstellen, daß der Bauverein der Verteuerung<br />
des Schlachthofgeländes zustimmen<br />
werde, die dann unvermeidlich sei, wenn<br />
mehr Wohnungen gebaut würden. Sie sehen<br />
in der Aussage des Bürgermeisters, daß die<br />
Nachfrage nach Gewerbeflächen deutlich<br />
zurückgegangen sei, auch eine „erste Konsequenz<br />
der wirtschaftsfeindlichen Politik<br />
der rot-grünen Koalition“.<br />
Über das Maß der konjunkturbedingten <strong>und</strong><br />
damit vorhergehenden Zurückhaltung hinaus,<br />
so Dr. Molter, habe man es mit einer<br />
klassischen „selffulfilling prophecy“ zu tun:<br />
der ständigen rot-grünen Vorhersage, daß in<br />
Darmstadt zwar Sozialwohnungen in großer<br />
Zahl, nicht aber Gewerbeflächen benötigt<br />
würden – wie gerade auch von OB Peter<br />
Benz in seiner Stellungnahme zum Raumordnungsplan<br />
wiederholt –, entspreche Industrie,<br />
Handel <strong>und</strong> Gewerbe, indem man<br />
ins gewerbefre<strong>und</strong>lichere Umland abwandere.<br />
Dies wiederum würde von rot-grün dann<br />
triumphierend als Rückgang der „Nachfrage“<br />
interpretiert.<br />
Für zumindest stark erklärungsbedürftig hält<br />
die liberale Fraktion denn auch die Kritik Sieberts<br />
<strong>und</strong> – etwas versteckter des Oberbürgermeisters<br />
– an Plänen eines privaten Unternehmers,<br />
auf dem Gelände Schmitt &<br />
Ziegler am Nordbahnhof Wohnungen <strong>und</strong><br />
nicht Gewerbebetriebe zu planen. Anstatt<br />
sich in fremder Leute Eigentum einzumischen,<br />
so die Fraktion, solle die Koalition lieber<br />
vor der eigenen Haustüre kehren. Nach<br />
wie vor eigne sich das Schlachthofgelände<br />
hervorragend für moderne Technologie- <strong>und</strong><br />
Gewerbebetriebe. Eine solche Chance aufzugeben,<br />
bedeute einen Offenbarungseid für<br />
vorausschauende Stadtpolitik, erklärt Dr.<br />
Molter.<br />
Die Zeitung für Darmstadt druckt Parteienmeldungen<br />
gr<strong>und</strong>sätzlich unverändert. Ausgenommen sind Schreib- <strong>und</strong><br />
Grammatikfehler sowie Wiederholungen. Inhaltliche auch<br />
politische Änderungen werden nicht angebracht <strong>und</strong> auch<br />
nichts hinzugefügt. Die Briefe geben nicht die Meinung der<br />
Redaktion wieder.<br />
Die Gewerkschaft<br />
tritt ab<br />
Erstmalig hat eine Gewerkschaft<br />
in einem Tarifvertrag der untertariflichen<br />
Bezahlung von Beschäftigen zugestimmt.<br />
Neueingestellte, Berufsanfänger <strong>und</strong><br />
wiedereingestellte Langzeitarbeitslose<br />
bekommen nur 90 oder 95 Prozent des<br />
Tariflohnes. Dies ist übrigens auch eine Einladung<br />
an die Unternehmer, rauszuwerfen<br />
<strong>und</strong> kostengünstig neueinzustellen.<br />
Gleicher Lohn für gleiche Leistung? Erstmalig<br />
ist, daß der Verstoß gegen dieses Gebot –<br />
tarifvertraglich festgeschrieben – nicht mehr<br />
wie bisher allein vom Geschlecht der Beschäftigen<br />
bestimmt wird, der Verstoß ist<br />
umfassend, trifft Männer wie Frauen gleichermaßen.<br />
Er trifft übrigens auch „Wessis“ <strong>und</strong><br />
„Ossis“ gleichermaßen. Der Lohnabschlag<br />
markiert also „Gleichberechtigung“, <strong>und</strong> er<br />
ist gesamtdeutsch. Welch ein Durchbruch!<br />
Ebenfalls erstmalig hat eine Gewekschaft<br />
selbst gültige Tarifverträge ausgehebelt,<br />
denn der Manteltarifvertrag in der Chemieindustrie<br />
galt bislang noch. Dies ist aber hinfällig<br />
mit der nun eröff<strong>net</strong>en Möglichkeit,<br />
eine 35-St<strong>und</strong>en-Woche ohne Lohnausgleich<br />
einzuführen oder mit der 40-St<strong>und</strong>en-<br />
Woche die gültige 37,5-St<strong>und</strong>en-Woche zu<br />
beseitigen, wobei mit dem „Abfeiern“ Überst<strong>und</strong>enzuschläge<br />
gestrichen sind. Nehmen<br />
wir den gesamten Inhalt: Die drei „Leermonate“<br />
abgerech<strong>net</strong>, für die ein Lohn-<strong>und</strong><br />
Gehaltsstopp vereinbart wurde, beträgt die<br />
Erhöhung etwa 1,4 Prozent. Werden noch<br />
die vereinbarten Arbeitszeitregelungen<br />
berücksichtigt, nähert sich der Abschluß<br />
genau der von den Unternehmern angestrebten<br />
Null. Hinzu kommt, daß der Tarifvertrag<br />
ausdrücklich den Betriebsräten<br />
zuschiebt, sich in wichtigen Fragen isoliert<br />
mit den Unternehmern <strong>und</strong> Konzernspritzen<br />
herumzuschlagen. Die Gewerkschaft tritt zur<br />
Seite bzw. ab.<br />
„Wir haben tarifpolitisches Neuland beschritten“,<br />
erklärt die Gewerkschaftsspitze<br />
zu diesem Tarifvertrag. Und die „Frankfurter<br />
Allgemeine“ spricht von „Vorbild“, von der<br />
„Freiheit der Betriebe“ <strong>und</strong> nennt das Ganze<br />
„revolutionär“. Nun wissen wir, was ein<br />
Mann wie der IG-Chemie-Vorsitzende Rappe,<br />
der den Gr<strong>und</strong>widerspruch zwischen Kapital<br />
<strong>und</strong> Arbeit aufgehoben sieht, als „Neuf<strong>und</strong>land“<br />
feiert <strong>und</strong> was das Zentralorgan<br />
der Unternehmer „revolutionär“ nennt. Sie<br />
sprechen beide vom gleichen Ding, vom<br />
Verzicht der Gewerkschaft auf die Durchsetzung<br />
der Interessen der Beschäftigen, der<br />
eigenen Mitglieder.<br />
Was dafür eingehandelt worden ist? Nichts!<br />
Irgendwelche Sprüche von „beschäftigungsfördernd“,<br />
vom „Beitrag im Kampf gegen<br />
Massenarbeitslosigkeit“, nichts sonst. Denn<br />
nichts ist verbindlich vereinbart, nichts unterschrieben,<br />
nichts haben die Chemiekonzerne<br />
zugestanden. Sie haben die Beschäftigten<br />
der Chemieindustrie über den Tisch<br />
gezogen, Rappe <strong>und</strong> die Seinen haben sie<br />
über den Tisch geschoben. Das Ergebnis ist<br />
dieser Vertrag. So werden die Gewerkschaften<br />
wirkungslos gemacht, so wird ihre Kraft<br />
abgeschafft, so werden sie gleichgeschaltet.<br />
Zugespitzt könnte man sagen: Solche Gewerkschaftshäuser<br />
brauchen von den<br />
PARTEIEN - STANDPUNKTE II Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 20<br />
Sturmabteilungen der Konzerne nicht mehr<br />
besetzt zu werden, sie sind schon übergeben<br />
worden. Erstmalig ist dieser Vertrag. Ist er<br />
auch einmalig? Daran bestehen leider Zweifel.<br />
Es wird schwer werden für die anderen<br />
Gewerkschaften, diesem „Vorbild“ an Konzernpolitik<br />
in den eigenen Reihen auszuweichen.<br />
Das wird viel Kraft kosten. Und diese<br />
Kraft kann nach Lage der Dinge nur von den<br />
Betriebsräten, aus den Betrieben kommen.<br />
Dieser Pilotabschluß à la Rappe hat großen<br />
Schaden angerichtet.<br />
Raus aus Somalia<br />
Bündnis 90/Die Grünen verurteilen<br />
aufs Schärfste die Erschießung eines<br />
unbewaff<strong>net</strong>en Somaliers durch deutsche<br />
Soldaten. Die Darstellung der Hardthöhe,<br />
das Verhalten der Deutschen „Sicherheitskräfte“<br />
entspräche den „Regeln für den Waffengebrauch<br />
im deutschen Unterstützungsverband“,<br />
kann nur als zynisch bezeich<strong>net</strong><br />
werden: Das Töten von Einbrechern ist<br />
durch nichts zu rechtfertigen <strong>und</strong> erfüllt den<br />
Tatbestand des Totschlags.<br />
Die Vorschriften für die deutschen „Sicherungskräfte“<br />
widersprechen dem Gebot für<br />
UNO-Truppen, nur zur Selbstverteidigung<br />
des eigenen Lebens zur Waffe zu greifen.<br />
Verteidigungsminister Rühe knüpft damit in<br />
fataler Weise an die Tradition Honeckers an.<br />
Der Schießbefehl für die ehemaligen DDR-<br />
Grenzsoldaten, der hier immer zu Recht verurteilt<br />
wurde, wird nun von deutschen Soldaten<br />
in Afrika selbst praktiziert.<br />
Der Schußwaffengebrauch gegen unbewaff<strong>net</strong>e<br />
Einbrecher zeigt die Destabilität <strong>und</strong><br />
Angst der in Belet Uen stationierten Soldaten.<br />
Aus dem ursprünglichen Auftrag, humanitäre<br />
Hilfe zu leisten, droht nun die faktische<br />
Umwandlung in einen Kampfauftrag<br />
zur Verteidigung deutscher Interessen <strong>und</strong><br />
deutscher „Besitztümer“ in Somalia.<br />
Bündnis 90/Die Grünen fordern den sofortigen<br />
<strong>und</strong> ersatzlosen Abzug des gesamten<br />
deutschen Kontingents aus Somalia.<br />
Ein „offener Kanal“<br />
für Darmstadt<br />
Im Jahr 1988 trat das Hessische<br />
Privatr<strong>und</strong>funkgesetz in Kraft, das die<br />
Möglichkeit vorsieht, sogenannte „offene<br />
Kanäle“ einzurichten. Diese offenen Kanäle<br />
sollen prinzipiell jederfrau <strong>und</strong> jedermann,<br />
die oder der Sendenswertes fernsehgerecht<br />
aufzubereiten vermag, zur Verfügung stehen.<br />
Damit soll verhindert werden, daß das<br />
gr<strong>und</strong>gesetzlich geschützte Recht auf Meinungs-<br />
<strong>und</strong> Informationsfreiheit nur durch<br />
die öffentlich-rechtlichen oder die kapitalstarken<br />
privaten Medienmacher ausgeübt<br />
<strong>und</strong> somit auf diese begrenzt wird. Offene<br />
Kanäle stellen die technische Infrastruktur<br />
für Einzelpersonen, aber auch Vereine, Bürgerinitiativen<br />
etc. zur Verbreitung ihrer<br />
sozialen, kulturellen, sportlichen etc. Initiativen,<br />
Meinungen <strong>und</strong> Absichten bereit. Ein<br />
Büro koordiniert die technische sowie die<br />
Programmabwicklung.<br />
Seit 1991 gibt es in Hessen einen ersten<br />
offenen Kanal in Kassel. Seine Sendetätigkeit<br />
erfreut sich wachsenden Zuspruchs bei<br />
privaten Medienmachern <strong>und</strong> den Fernsehzuschauern.<br />
Insgesamt sind seine Aktivitäten<br />
weder der Sparte „privater“, noch<br />
„öffentlich-rechtlicher“ Sendetätigkeit zuzuordnen.<br />
Nachdem die Hessische Landesregierung<br />
die Arbeit des Kasseler offenen Kanals<br />
ausgewertet hat <strong>und</strong> in einem Bericht<br />
für die Einrichtung von weiteren offenen Kanälen,<br />
nämlich in Mittel- <strong>und</strong> Südhessen plädiert,<br />
hat die SPD-Fraktion die Initiative ergriffen<br />
<strong>und</strong> wird eine Antragsinitiative zur<br />
Schaffung eines offenen Kanals in Darmstadt<br />
in die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung<br />
am 17.2. einbringen.<br />
Fraktionsvorsitzender Horst Knechtel<br />
bezeich<strong>net</strong> dessen Schaffung angesichts der<br />
ständig weiteren Perfektionierung <strong>und</strong> Verdichtung<br />
von Massenkommunikationsmitteln<br />
als „ein Stück von demokratischer Kultur“<br />
<strong>und</strong> echte Alternative zum Meinungs<strong>und</strong><br />
Informationsmonopol relativ weniger<br />
bezahlter Kommunikatoren. Die SPD-Fraktion<br />
habe sich durch das für Medienfragen im<br />
SPD-Bezirk Hessen-Süd zuständige Vor-<br />
standsmitglied Michael Siebel ausführlich<br />
über diese Einrichtung informieren lassen.<br />
Sie würde eine erhebliche Bereicherung <strong>und</strong><br />
Belebung des kulturellen <strong>und</strong> gesellschaftlichen<br />
Lebens in Darmstadt bedeuten. Deshalb<br />
soll der Magistrat in Gesprächen mit<br />
der Landesanstalt für den privaten R<strong>und</strong>funk<br />
eintreten, um die Voraussetzung für die Einrichtung<br />
eines offenen Kanals in Darmstadt<br />
zu klären <strong>und</strong> dessen Ansiedlung hier nach<br />
Möglichkeit zu verwirklichen.<br />
Plakate sind nicht<br />
genug<br />
Die bunten Plakate aus der<br />
Carl-Ulrich-Schule sind ein pfiffiger Beitrag<br />
zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr, weil<br />
sie einen guten Blickfang darstellen. Das allein<br />
reicht aber nicht aus, um Kinder wirksam<br />
zu schützen, stellt die Sprecherin der <strong>CDU</strong>-<br />
Fraktion Eva Ludwig fest. Ebenso notwendig<br />
sei es, unübersichtliche <strong>und</strong> gefährliche<br />
Ecken zu entschärfen. „Es muß einen eigenen<br />
‚Topf‘ für Kinderverkehrssicherheit im Haushalt<br />
geben“, fordert die <strong>CDU</strong>-Politikerin.<br />
Jetzt ist es so, daß alle Maßnahmen aus dem<br />
Titel „Verkehrsberuhigung“ bezahlt werden<br />
müssen. Die Sicherheit muß häufig hinter anderen<br />
Ausbaumaßnahmen zurückstehen, weil<br />
die Mittel nicht ausreichen. So soll die Kreuzung<br />
Hochstraße/Kiesstraße entschärft werden,<br />
um den Schulweg übersichtlicher zu machen,<br />
aber im letzten Jahr konnte nicht mehr<br />
begonnen werden, weil das Geld alle war.<br />
Eva Ludwig erinnert an eine Untersuchung<br />
des Institutes „Wohnen <strong>und</strong> Umwelt“, die<br />
bereits vor Jahren in Zusammenarbeit mit<br />
Eltern im Martinsviertel zur Kinderverkehrssicherheit<br />
gemacht worden war. „Leider ist<br />
kaum einer der guten praktischen Vorschläge<br />
aufgegriffen worden“, bedauert die <strong>CDU</strong>-<br />
Politikerin. Sie verweist auf die besonders<br />
kritische Situation in der Liebfrauenstraße,<br />
die als Schleichweg zum Rhönring benutzt<br />
wird. „Hier ist das Chaos morgens perfekt,<br />
Kinder auf dem Schulweg, Haltestelle direkt<br />
an der Ecke, über die Heinheimerstraße<br />
schießende Autos, <strong>und</strong> das alles im winterlichen<br />
Zweilicht. Mit dem Ende der Baumaßnahme<br />
sollte hier besser für die Sicherheit<br />
der Fußgänger gesorgt werden.<br />
PKK-Verbot<br />
<strong>und</strong> die Folgen<br />
Welche konkreten Folgen das<br />
von B<strong>und</strong>esinnenminister Kanther angeord<strong>net</strong>e<br />
Verbot der kurdischen Arbeiterpartei<br />
PKK <strong>und</strong> 35 weiterer Organisationen hat,<br />
erlebten Teilnehmer der diesjährigen<br />
Luxemburg-Liebknecht-Demonstration in<br />
Wiesbaden. Annähernd 1.000 Menschen<br />
hatten sich am 15. Januar auf dem Luisenplatz<br />
in Wiesbaden versammelt, um Karl<br />
Liebknecht <strong>und</strong> Rosa Luxemburg zu gedenken,<br />
um gemeinsam zu protestieren gegen<br />
Ausbeutung, Nationalismus <strong>und</strong> Krieg. Unter<br />
ihnen auch viele ausländische Mitbürgerinnen<br />
<strong>und</strong> Mitbürger. Die Polizei zeich<strong>net</strong>e<br />
sich durch ein äußerst provokatives Auftreten<br />
aus, es wurde offen in die Menge fotografiert,<br />
viele Taschen durchwühlt. Dabei<br />
wurden bei einem kurdischen Teilnehmer<br />
aus Darmstadt einige Exemplare des „Kurdistan-Info”<br />
gef<strong>und</strong>en. Die Folge war die Aufnahme<br />
der Personalien <strong>und</strong> die Beschlagnahmung<br />
der Zeitungen. Der Einsatzleiter<br />
der Polizei erklärte uns auf unser Nachfragen,<br />
man habe den kurdischen Genossen<br />
„vor einer Straftat bewahrt”. Denn hätte man<br />
ihn beim Verteilen erwischt, hätte dies eine<br />
Strafanzeige zur Folge gehabt.<br />
Überhaupt war die Polizei gut vorbereitet, eine<br />
Liste mit kurdischen Zeitungen, Symbolen<br />
<strong>und</strong> Fahnen der PKK <strong>und</strong> anderer kurdischer<br />
Organisationen wurde von den Polizeibeamten<br />
mitgeführt. Die Vorgänge machen<br />
deutlich, was von dem tagtäglichen Gerede<br />
b<strong>und</strong>esdeutscher Politiker von Demokratie,<br />
Pressefreiheit <strong>und</strong> ähnliches zu halten ist.<br />
Und was heute mit dem Verbot der PKK vorexerziert<br />
wird, kann morgen schon andere<br />
Gruppierungen <strong>und</strong> Parteien treffen.<br />
Obwohl die DKP mit manchen Aktivitäten<br />
der PKK <strong>und</strong> anderer Organisationen nicht<br />
übereinstimmt, sehen wir in den von B<strong>und</strong>esinnenminister<br />
Kanther angeord<strong>net</strong>en<br />
Maßnahmen eine aktuelle Fortsetzung einer<br />
Politik, die 1956 mit dem Verbot der KPD<br />
<strong>und</strong> der Beschlagnahme ihres Parteieigentums<br />
begann <strong>und</strong> bis auf den heutigen Tag<br />
Repressionen <strong>und</strong> Verfolgungen von Kommunisten,<br />
Sozialisten <strong>und</strong> Linkskräften in<br />
Deutschland nach sich zieht. Mit dem von<br />
der B<strong>und</strong>esregierung sanktionierten Verbot<br />
erweist sich der sogenannte Verfassungsschutz<br />
als verlängerter Arm des türkischen<br />
Geheimdienstes <strong>und</strong> der Regierung in Ankara,<br />
die vor Mord <strong>und</strong> Terror gegen Kurden<br />
nicht zurückschrecken. Mit ihren Maßnahmen<br />
ermutigt die B<strong>und</strong>esregierung die Regierung<br />
der Türkei, mit der Bombardierung<br />
kurdischer Dörfer fortzufahren. Sie macht<br />
sich zum Komplizen des Völkermords am<br />
kurdischen Volk. Mit dem Verbot kurdischer<br />
Organisationen in der BRD wird das ganze<br />
kurdische Volk getroffen.<br />
Die Deutsche Kommunistische Partei protestiert<br />
gegen das Verbot der PKK <strong>und</strong> 35 weiterer<br />
kurdischer Organisationen in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland <strong>und</strong> fordert:<br />
– Sofortige Aufhebung des Verbots kurdischer<br />
Organisationen.<br />
– Sofortige Freigabe der Zentren, Herausgabe<br />
der beschlagnahmten Materialien <strong>und</strong> der<br />
Konten.<br />
– Sofortige Einstellung jeglicher politischer,<br />
wirtschaftlicher <strong>und</strong> militärischer Hilfe an<br />
das türkische Regime.<br />
Ortsbeiräte für<br />
Arheilgen, Kranichstein<br />
<strong>und</strong> Eberstadt<br />
Mehr Bürgernähe durch die<br />
Einrichtung von Ortsbeiräten ist das Ziel<br />
einer SPD-Initiative, die die nächste Stadtverord<strong>net</strong>enversammlumg<br />
am 17.2.<br />
beschäftigen wird. In einem gemeinsamen<br />
Antrag mit dem Koalitionspartner, den Grünen,<br />
wird der Magistrat beauftragt, rechtzeitig<br />
Vorbereitung dafür zu treffen, daß bei der<br />
Kommunalwahl 1997 nicht nur der Ortsbeirat<br />
in Wixhausen gewählt wird, sondern<br />
auch sichergestellt ist, daß in Arheilgen,<br />
Eberstadt <strong>und</strong> Kranichstein Ortsbeiräte<br />
gewählt werden können.<br />
Das Jahr 1997, so Fraktionsvorsitzender<br />
Horst Knechtel, werde deshalb genannt, weil<br />
es das Jahr der nächsten Kommunalwahlen<br />
ist. Eine frühere Installierung von Ortsbeiräten<br />
sei nach der Gesetzeslage leider nicht<br />
möglich, weil die Wahl zu den Ortsbeiräten<br />
nach den Bestimmungen der Hessischen<br />
Gemeindeordnung gemeinsam mit den<br />
Kommunalwahlen stattfinden müsse. Die<br />
SPD-Fraktion habe ausführlich über verschiedene<br />
Vorschläge diskutiert, Zwischenlösungen<br />
zu finden <strong>und</strong> provisorische<br />
Ortsbeiräte schon vor diesem Zeitpunkt einzurichten.<br />
Dafür gebe es jedoch weder eine<br />
Rechtsgr<strong>und</strong>lage noch Beispiele in anderen<br />
Kommunen. Es sei auch nicht klar, welche<br />
Mehrheitsverhältnisse solchen Gremien, die<br />
nicht als „Ortsbeiräte“ bezeich<strong>net</strong> werden<br />
dürften, zugr<strong>und</strong>e gelegt werden sollten.<br />
So habe sich gezeigt, daß bei der letzten<br />
Kommunalwahl in Wixhausen, wo es bereits<br />
einen Ortsbeirat gibt, dessen Existenz<br />
damals im Eingemeindungsvertrag festgeschrieben<br />
wurde, das Abstimmungsverhalten<br />
für den Ortsbeirat anders als das für die<br />
Stadtverod<strong>net</strong>enversammlung gewesen ist.<br />
So, daß es nicht möglich sei, automatisch<br />
die Ergebnisse der letzten Kommunalwahl<br />
im Stadtteil für die Einrichtung eines solchen<br />
Gremiums zugr<strong>und</strong>e zu legen. In dieser Diskussion,<br />
so Knechtel, sei auch festgestellt<br />
worden, daß es viele falsche, vom Gesetz<br />
her nicht zulässige Vorstellungen darüber<br />
gebe, was Ortsbeiräte sind <strong>und</strong> welche Aufgaben<br />
ihnen zufallen.<br />
Die Beschlüsse eines Ortsbeirates haben<br />
beratenden Charakter für die Stadtverord<strong>net</strong>enversammlung,<br />
ihre definitiven Entscheidungsmöglichkeiten<br />
seien sehr gering.<br />
Allerdings, <strong>und</strong> deshalb trete die SPD für die<br />
Schaffung neuer Ortsbeiräte ein, seien sie<br />
Instrumente zur Verbesserung der Kommunikation<br />
mit den Bürgern <strong>und</strong> zur besseren<br />
Vorbereitung der Willensbildungs- <strong>und</strong> Entscheidungsprozesse<br />
in Stadtverord<strong>net</strong>enversammlungen<br />
<strong>und</strong> Magistrat. Die SPD<br />
wolle damit auch ein von ihr gegebenes<br />
Wahlversprechen erfüllen. Da die Arbeit der<br />
Ortsbeiräte natürlich auch Geld koste, solle<br />
geprüft werden, ob für Arheilgen <strong>und</strong> Kranichstein<br />
ein gemeinsamer Ortsbeirat<br />
geschaffen werden könne.