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Als<br />
Zolas Roman „Germinal“ 1885<br />
erschien, häuften sich die Proteste.<br />
Zu drastisch <strong>und</strong> zersetzend schienen<br />
den Konservativen die intensiven Schilderungen<br />
des elenden Bergarbeiterlebens, zu<br />
gefährlich die Anklage des Kapitals als Hort<br />
des Bösen. Dabei hatte Zola nichts anderes<br />
niedergeschrieben, als er mit naturwissenschaftlicher<br />
Akribie im Milieu vor Ort studiert<br />
hatte. Unter dem Eindruck des blutig<br />
niedergeschlagenen Bergarbeiterstreiks in<br />
Anzin (1884) hatte er sich bei den Bergarbeitern<br />
in Nordfrankreich einquartiert, bei<br />
ihren Familien in den beengten Wohnverhältnissen,<br />
hatte den langen Arbeitstag von<br />
Männern, Frauen <strong>und</strong> Kindern beim Kohleabbau<br />
unter Tage, ihre Armut, ihren Hunger,<br />
ihre Krankheiten hautnah miterlebt.<br />
Zum erstenmal im französischen Roman,<br />
nach Ansätzen bei Eugène Sue („Mystères<br />
de Paris“, 1842), bei Victor Hugo („Les<br />
Misérables“, 1862) <strong>und</strong> den Brüdern Goncourt<br />
(„Germinie Lacerteux“, 1864), werden<br />
bei Zola die Lage des Proletariats <strong>und</strong><br />
der Gegensatz von Kapital <strong>und</strong> Arbeit<br />
anschaulich, klar <strong>und</strong> ungeschminkt vom<br />
Standpunkt sozialistischer Parteilichkeit<br />
aus geschildert. Im Gegensatz zu Zolas<br />
„L'Assommoir“ (1877), der ganz im proletarischen<br />
Milieu spielt, ohne Angehörige<br />
der herrschenden Klasse auskommt, wird<br />
in „Germinal“ beim Zusammenstoß der<br />
Interessen von Arbeitern <strong>und</strong> Grubenbesitzern<br />
der Klassengegensatz voll entfaltet,<br />
<strong>und</strong> die Ausgebeuteten präsentieren den<br />
wirtschaftlich Herrschenden ihre eigenen,<br />
proletarischen Interessen <strong>und</strong> Gerechtigkeitsvorstellungen.<br />
Zola in seinem Entwurf:<br />
„Der Roman behandelt den Aufstand der<br />
Lohnabhängigen, den Schlag gegen die<br />
Gesellschaft, die einen Moment wankt: in<br />
einem Wort, den Kampf von Arbeit <strong>und</strong><br />
Kapital.“<br />
Kleinbürgerlicher Zola?<br />
Über die Reichweite dieser Parteilichkeit<br />
des als Naturalist eingestuften Zola entbrannten<br />
in den Jahren bis zur Jahrh<strong>und</strong>ertwende<br />
innerhalb der Arbeiterbewegung<br />
heftige literaturtheoretische Diskussionen,<br />
die zusätzlich an unversöhnlicher Schärfe<br />
dadurch gewannen, daß sie eingeb<strong>und</strong>en<br />
waren in die unvermeidliche Auseinandersetzung<br />
mit dem Revisionismus. Gerade<br />
die Zola-Rezeption in Deutschland zeigt<br />
das. Da haben wir auf der einen Seite Friedrich<br />
Engels, der im April 1888 an Margaret<br />
Harkness schreibt, er halte Balzac „für<br />
einen weit größeren Meister des Realismus<br />
als alle Zolas passés, présents et à venir“.<br />
Auf Distanz zu Zola <strong>und</strong> den Naturalisten<br />
gehen auch Franz Mehring <strong>und</strong> Wilhelm<br />
Liebknecht, die auf Verzerrungen in den<br />
naturalistischen Schilderungen des Proletariats<br />
hinweisen. Und beim Gothaer Parteitag<br />
der SPD 1896 wenden sich mittlere<br />
Funktionäre gegen „Obszönitäten“ in der<br />
naturalistischen Literatur. Diese streng<br />
ablehnende Haltung setzt sich fort bis<br />
Georg Lukács, für den Autoren wie Sue,<br />
Hugo <strong>und</strong> auch Zola „kleinbürgerliche<br />
Oppositionelle gegen den Kapitalismus,<br />
keine proletarischen Revolutionäre“ sind,<br />
die Entwicklungsgesetze der kapitalistischen<br />
Produktion hätten sie nicht durchschaut,<br />
die größeren Hintergründe <strong>und</strong><br />
ökonomischen Zusammenhänge der bürgerlichen<br />
Gesellschaft seien ihnen verschlossen<br />
geblieben.<br />
Auf der anderen Seite haben wir die positiven<br />
Äußerungen der Revisionisten, so etwa<br />
des Schriftstellers Wilhelm Bölsche, der<br />
Zolas Parteilichkeit <strong>und</strong> scharfe Gesellschaftskritik<br />
hervorhebt, die zwar keine utopischen<br />
Zukunftsbilder ausmale, aber den<br />
Leser unwillkürlich das ideale Gegenbild<br />
einer befreiten Gesellschaft entwerfen lasse.<br />
In dieser sehr frühen Debatte um das,<br />
was man später „sozialistischen Realismus“<br />
nannte, nahmen die deutschen sozialdemokratischen<br />
Arbeiter auf ihre Weise<br />
Stellung: Vor der Jahrh<strong>und</strong>ertwende lasen<br />
sie Zola massenweise, weil er eine große<br />
Anziehungskraft auf sie ausübte. Ganz so<br />
fremd konnten die literarischen Welten<br />
Zolas, der zwar, neben Darwin, vom Positivisten<br />
Taine beeinflußt war, aber auch ein<br />
bißchen Marx <strong>und</strong> später Fourier gelesen<br />
hatte, dem Proletariat also nicht sein. Im<br />
Gegenteil, vielen Arbeitern gab Zola gerade<br />
mit „Germinal“ einen inneren Stoß, manchen<br />
bürgerlichen Intellektuellen machte er<br />
damit zum Marxisten, hatte Einfluß auf<br />
Maxim Gorki, <strong>und</strong> in Lenins Album mit Bildern<br />
seiner Lieblingsschriftsteller lag, wie<br />
die Krupskaja erzählt, auch ein Foto von<br />
Zola, der (wie Lenin) ins Exil gehen mußte,<br />
weil er sich mit seinem Manifest „J'accuse“<br />
(„Ich klage an“, 1898) für Dreyfus eingesetzt<br />
<strong>und</strong> gegen nationalistische <strong>und</strong> antisemitische<br />
Hetze gewandt hatte.<br />
Bergarbeitermilieu<br />
„Germinal“, der Roman, der auch die deutschen<br />
Proletarier so begeisterte, ist der<br />
dreizehnte Band des 20teiligen Romanzyklus<br />
„Die Rougon-Macquart. Natur- <strong>und</strong><br />
Sozialgeschichte einer Familie unter dem<br />
zweiten Kaiserreich“. Der fünfh<strong>und</strong>ert Seiten<br />
starke Band ist übersichtlich komponiert<br />
in sieben Teilen. Die ersten beiden enthalten<br />
eine breite <strong>und</strong> intensive Milieuschilderung,<br />
quasi die Exposition des Romans,<br />
der dritte schafft einen Übergang, die restlichen<br />
Teile handeln vom Streik der Grubenarbeiter<br />
<strong>und</strong> deren Niederlage. Der Roman<br />
spielt in der Wirtschaftskrise des Jahres<br />
1868 <strong>und</strong> beginnt mit der Ankunft des<br />
Arbeit suchenden Maschinisten Etienne<br />
Lantier in Montsou. Der ortsfremde <strong>und</strong> im<br />
Bergbau unerfahrene Etienne, der in der<br />
Kohlengrube Le Voreux einen Arbeitsplatz<br />
findet, ist nicht nur Zolas Vermittlerfigur,<br />
mit dessen Augen der Leser das neue<br />
Milieu kennenlernt, sondern auch die<br />
Hauptperson des Romans.<br />
Etienne wohnt bei der vielköpfigen Familie<br />
Maheu, wo der Dreizehn-St<strong>und</strong>en-Arbeitstag<br />
morgens um vier beginnt <strong>und</strong> in<br />
drückender Enge die Betten im Schichtwechsel<br />
benutzt werden, wo Essen knapp<br />
ist, Krankheiten herrschen <strong>und</strong> Schulden<br />
drücken. Die fünfzehnjährige Maheu-Tochter<br />
Cathérine interessiert ihn, sie wird aber<br />
von seinem Konkurrenten, dem Arbeiter<br />
Chaval, in Besitz genommen. Ein starkes<br />
Mittel Zolas ist der soziale Kontrast: den<br />
hungrigen <strong>und</strong> leidenden Arbeitern stellt er<br />
die satte <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>e Unternehmerseite<br />
gegenüber, oder er verschränkt sie kontrastiv<br />
miteinander: die Armen betteln bei den<br />
Reichen, die Reichen besuchen mildtätiggeizig<br />
die Armen. Im Laufe von Monaten<br />
entwickelt Etienne sein Klassenbewußtsein,<br />
vor allem in der Diskussion über einen<br />
möglichen Streik. Kontrahenten sind Rasseneur,<br />
der sich mit dem Kapital vorläufig<br />
arrangieren will, <strong>und</strong> der russische Anarchist<br />
<strong>und</strong> Bakunin-Schüler Souvarine, der<br />
mit der Vernichtung von Gruben, Menschen<br />
<strong>und</strong> der ganzen „alten Welt“ in eine bessere<br />
Zukunft führen will.<br />
Der lange Streik<br />
Als die Grubenleitung die Löhne drücken<br />
will, indem sie zusätzlich zur bezahlten<br />
Kohleförderung von den Arbeitern noch<br />
mehr unbezahlte Verzimmerung der vom<br />
Einsturz bedrohten Schächte verlangt, ruft<br />
Etienne zum Streik, <strong>und</strong> er hat die große<br />
Mehrheit der Arbeiter hinter sich. Doch die<br />
örtliche, neu eingerichtete Streikkasse ist<br />
bald erschöpft, Unterstützungsgelder aus<br />
dem Ausland kommen nur spärlich, nach<br />
zwei Monaten Streik ist der Hunger total,<br />
die Streikdisziplin läßt nach, die Aktionen<br />
entgleiten Etiennes Kontrolle. Die Arbeiter<br />
zerstören die Nachbargruben, ziehen drohend<br />
vor die Häuser des Direktors Hennebeau<br />
<strong>und</strong> des Aktionärs Grégoire. Die Reaktionen<br />
von Kapital <strong>und</strong> Regierung: Belgische<br />
Arbeiter werden als Streikbrecher eingesetzt,<br />
Militär marschiert auf. Ein paar der<br />
verzweifelten <strong>und</strong> provozierten Arbeiter<br />
werfen Steine, die Soldaten schießen, es<br />
gibt Tote, unter ihnen Maheu. Die Streikenden<br />
kapitulieren <strong>und</strong> geben Etienne die<br />
Schuld am Streik, sie nehmen die Arbeit<br />
wieder auf – zu denselben schlechten<br />
Bedingungen wie vor dem Streik. Doch<br />
Souvarine verübt Sabotage, <strong>und</strong> in der apokalyptischen<br />
Schlußkatastrophe wird nach<br />
einem gigantischen Wassereinbruch die<br />
ganze Grube samt ihren Übertageeinrichtungen<br />
überflutet <strong>und</strong> verschwindet unter<br />
dem Wasser. Catherine, im letzten Augenblick<br />
noch Etiennes Geliebte geworden,<br />
wird tot geborgen. Von den unter Tage Eingeschlossenen<br />
wird nur Etienne lebend<br />
gerettet. Die Arbeit in den Gruben geht weiter,<br />
der Streik endet mit einer Niederlage,<br />
doch die nun klassenbewußteren Arbeiter<br />
werden das nächste Mal besser kämpfen.<br />
Und Etienne, „gereift durch die harten<br />
Erfahrungen in der Grube“ <strong>und</strong> mit „noch<br />
größerem Haß gegen die Bourgeoisie“,<br />
macht sich auf den Weg nach Paris, „als<br />
denkender Soldat der Revolution, der der<br />
Gesellschaft den Krieg erklärt hat.“<br />
Ein ewiger Schrei<br />
„Germinal“ ist zweifellos einer der bedeutendsten<br />
französischen Romane. Was<br />
motivierte Regisseur <strong>und</strong> Drehbuchautor<br />
Claude Berri zur filmischen Adaption? „Dieses<br />
Werk ist ein Aufschrei gegen jede Form<br />
von Sklaverei,“ sagt er <strong>und</strong> fühlt sich sei-<br />
Nummer 62 · 28.1.1994 · Seite 14<br />
Nach ihrem 13-St<strong>und</strong>en-Arbeitstag verlassen die Arbeiter die Gruben. Etienne Lantier (Renaud, rechts) <strong>und</strong> Maheu (Gérard Depardieu, links) (Foto: Agentur)<br />
Der Götze Kapital<br />
mästet sich<br />
mit Menschenfleisch<br />
Claude Berri verfilmt Emile Zolas Streik-Epos „Germinal“<br />
nem Vater, einem Kommunisten, verb<strong>und</strong>en.<br />
„Die vielen Toten in ,Germinal‘ sind<br />
nicht umsonst gestorben.“ Und er verweist<br />
auf aktuelle Bergarbeiterprobleme. „Ich will<br />
erreichen, daß man den ewigen Schrei, den<br />
Zola vor mehr als einem Jahrh<strong>und</strong>ert ausgestoßen<br />
hat, heute noch hört – <strong>und</strong> zwar<br />
genauso laut. Seine Botschaft der Freiheit<br />
<strong>und</strong> Liebe...“ Ein starkes <strong>und</strong> engagiert spielendes<br />
Team hat er versammelt. Renaud,<br />
der bekannte Sänger <strong>und</strong> Komponist, bisher<br />
ohne Filmerfahrung, spielt den Etienne<br />
überzeugend mit Ernst, Nachdenklichkeit<br />
<strong>und</strong> Intellekt, Sensibilität, Kraft <strong>und</strong> Würde.<br />
Euro-Star Gérard Depardieu, der in seinen<br />
Äußerungen zum Film das Gefühl für dessen<br />
politischen Gehalt vermissen läßt, muß sich<br />
in der Rolle des Familienvaters Maheu<br />
etwas kleiner machen – zum Vorteil für den<br />
Dargestellten. Miou-Miou verkörpert die<br />
ihren Mann <strong>und</strong> zwei Kinder verlierende,<br />
sich zur Revolutionärin wandelnde Maheu<br />
vor allem in ihrer Härte, in ihrem Schmerz.<br />
Judith Henry gelingt es, die ihrem brutalen<br />
Entjungferer Chaval hündisch folgende<br />
Cathérine Maheu in ihrer ewigen Unterwerfung,<br />
aber auch mit ihrer inneren<br />
„Flamme der Hoffnung“ lebendig zu machen.<br />
Der bisher mehr in Nebenrollen aufgetretene<br />
Jean-Roger Milo hat das richtige<br />
giftige Gesicht für den fiesen Macho <strong>und</strong><br />
Streikbrecher Chaval. Laurent Terzieff<br />
(Jahrgang 1935), eigentlich ein Gegentyp zu<br />
dem dreißigjährigen, mädchenhaft-zart aussehenden<br />
Souvarine, gibt dem eisig-glühenden<br />
Anarchisten etwas von Mephisto.<br />
190 Millionen Francs soll „die teuerste Produktion<br />
der französischen Kinogeschichte“<br />
gekostet haben. Drei Monate für die Konzeption<br />
der Bauten <strong>und</strong> der Ausstattung, ein<br />
ganzes Jahr für die authentische Rekonstruktion<br />
eines Dorfes mit Häusern <strong>und</strong><br />
Schächten, parallel dazu die Dreharbeiten.<br />
In einer riesigen Fabrikhalle wurden<br />
Zechengänge von r<strong>und</strong> 400 Metern<br />
Gesamtlänge gebaut <strong>und</strong> ein großes<br />
Schwimmbad für die Überschwemmungsszenen.<br />
Hat sich der Aufwand gelohnt?<br />
Reduzierte Drastik<br />
Selbstverständlich ist keine absolute historische<br />
Authentizität <strong>und</strong> Detailtreue zu<br />
erwarten, schon gar nicht bei einem Kinofilm,<br />
der sich überall verkaufen soll. Das<br />
beginnt beim Aussehen der Personen. Berris<br />
Frauen sind insgesamt hübscher als die<br />
von Zola, die Film-Cathérine ist nicht mit<br />
einem Jungen zu verwechseln, <strong>und</strong> der<br />
Film-Maheu hängen die Brüste nicht bis<br />
zum Bauch. Im Roman haben die Proletarier<br />
gelbliche Haare wegen der schlechten<br />
Seife <strong>und</strong> eine durch den Kohlestaub ruinierte<br />
Haut. Die Wohnverhältnisse sind im<br />
Film etwas geschönt, dennoch ist Zolas<br />
Bergarbeitermilieu gut getroffen. Im<br />
Roman ist vieles drastischer, extremer<br />
geschildert. Berri zeigt nicht so eindringlich<br />
Armut <strong>und</strong> Hunger der Bergarbeiter<br />
während des Streiks, die alles für ein<br />
bißchen Brot verkaufen müssen: Mobiliar,<br />
Wäsche, gar die Matratzenfüllung. Die<br />
mühselige, leidvolle Arbeit unter Tage ist<br />
geschönt; allein den bei Zola anstrengenden,<br />
kilometerlangen unterirdischen<br />
Anmarsch der ArbeiterInnen samt Hochklettern<br />
im Kamin <strong>und</strong> Waten im Wasser<br />
würden Berris SchauspielerInnen, die nur<br />
einen Spaziergang machen müssen, gar<br />
nicht durchhalten. Bei Berri schieben keine<br />
kleinen Kinder die gefüllten „H<strong>und</strong>e“ auf<br />
den Schienen durch die Stollen.<br />
Zensierter Sex<br />
Die bei Zola weltuntergangsähnliche Überflutung<br />
der Grube wirkt bei Berri wie ein<br />
besseres Hochwasser, <strong>und</strong> das r<strong>und</strong> zweiwöchige<br />
Eingeschlossensein von Etienne<br />
<strong>und</strong> Cathérine mit bis zum Hals stehendem<br />
Wasser verwandelt sich bei Berri in ein<br />
paartägiges gemütliches Abwarten im Liegen<br />
auf trockenem Gr<strong>und</strong>, das nicht<br />
begreiflich macht, warum Cathérine plötzlich<br />
an Erschöpfung sterben muß. Die Glättungen<br />
Berris betreffen auch das Verhältnis<br />
der Geschlechter. Im Buch behandeln fast<br />
alle Männer ihre Frauen zu grob, im Film gilt<br />
dies nur für Chaval, der aber ist im Roman<br />
noch viel schlimmer. Während der naturalistische<br />
Autor deutlich das freie, von bürgerlicher<br />
Sexualmoral ungebremste Liebesleben<br />
der Männer <strong>und</strong> Frauen schildert,<br />
die ihrem einzigen kostenlosen <strong>und</strong> schönen<br />
Vergnügen ungehemmt <strong>und</strong> spontan<br />
hinter jedem Busch nachgehen, legt der<br />
zeitgenössische Filmemacher über diese<br />
Obszönitäten den Mantel prüden Schweigens.<br />
Selbst die flotte Mouquette, die jeden<br />
Mann in der Grube ausprobiert, muß im<br />
Film den sex appeal unter der reichlichen<br />
Wäsche lassen.<br />
Wie üblich bei der Verfilmung dicker Wälzer,<br />
so hat auch Berri notwendigerweise die<br />
Handlungsstränge gekürzt <strong>und</strong> -Elemente<br />
zusammengezogen. Vor allem die Nebenfiguren<br />
mußten Federn lassen. So zum Beispiel<br />
der für Etiennes Schicksal nicht<br />
unwichtige elfjährige Maheu-Sohn Jeanlin,<br />
der zum Dieb <strong>und</strong> Mörder wird. Doch auch<br />
einige Hauptfiguren sind betroffen. Zola ist<br />
ein Meister in der Darstellung der Widersprüchlichkeit<br />
von Charakteren. Berris Personen<br />
aber haben, auch wenn ihnen<br />
manchmal Elemente von Nebenpersonen<br />
übertragen werden, weniger innere Widersprüche,<br />
zum Teil sind ihre negativen<br />
Eigenschaften weggelassen. Zum Beispiel<br />
hat Etienne bei Zola auch einen gewissen<br />
Führer-Ehrgeiz, andererseits aber wird er<br />
von Berri an einer Stelle überflüssigerweise<br />
in seinem Verhalten radikalisiert. Bei der<br />
Maheu fehlen die gefühllosen Züge, die sich<br />
aus dem harten Kampf gegen den Hunger<br />
ergeben <strong>und</strong> sie manchmal zur Rabenmutter<br />
machen. Die Nuancen Souvarines fehlen<br />
weitgehend. Der Wirt Rasseneur ist im Film<br />
gar nur ein eindimensionales Fragment. Die<br />
Vereinfachung <strong>und</strong> Verkürzung der Hauptpersonen<br />
betrifft auch ihre Beziehungen<br />
untereinander: Souvarines Einfluß auf die<br />
politische Bildung Etiennes ist kaum<br />
erkennbar, der politische <strong>und</strong> menschliche<br />
Konflikt zwischen Rasseneur <strong>und</strong> Etienne<br />
findet gar nicht statt.<br />
Kapitalistenmärchen<br />
Schwerer wiegen kleinere politische Ausblendungen<br />
Berris, die interne Probleme<br />
<strong>und</strong> Strategiefragen der Arbeiterbewegung<br />
betreffen: die lange Diskussion über den<br />
Beitritt der lokalen Gewerkschafter in die<br />
internationale Arbeiter-Assoziation <strong>und</strong><br />
Zolas kritische Darstellung der Gewerkschaftsfunktionäre,<br />
die sich von der Basis<br />
abzuheben beginnen. Indem Berri zwei<br />
Priester wegläßt, einen korrupten <strong>und</strong> einen<br />
☛ Fortsetzung auf folgender Seite