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84<br />
Unter dem Blätterdach einer Eiche saßen<br />
zwei Raupen und blinzelten in <strong>die</strong> tiefstehende<br />
Sonne. »Wir müssen uns bald<br />
verwandeln«, sagte <strong>die</strong> eine. »Ja«, antwortete<br />
<strong>die</strong> andere. »Weißt du schon,<br />
wie du einmal aussehen wirst?«, fuhr sie<br />
fort. »Ich werde bestimmt etwas Schönes«,wisperte<br />
sie, schloss<br />
ihre kleinen<br />
Knopfaugen,<br />
sah noch einmal<br />
ihr buntschillerndes,<br />
vom Wassertropfen verzerrtes<br />
Spiegelbild und versank danach, wie ihre<br />
Raupenschwester, in einen langen und<br />
tiefen Schlaf.<br />
Von geheimen Kräften geschoben, begann<br />
sich ihr Inneres und Äußeres umzuformen.<br />
Unter fester, doch biegsamer Hülle wuchsen<br />
hauchzarte Flügel, spinnwebfeine<br />
Fühler und Beine. Und während sie nichts<br />
(NICHT FÜR MUTIGe)<br />
Es war Herbst geworden. Längst<br />
waren <strong>die</strong> Schwalben gen Süden<br />
gezogen, <strong>die</strong> Nächte begannen<br />
kühl zu werden und der Wind<br />
wehte manchmal schon rau.<br />
Von Harald Schleuter<br />
»Ich werde bestimmt etwas<br />
Schönes«, wisperte sie, …<br />
davon spürte, wachte <strong>die</strong> Natur, dass<br />
auch in <strong>die</strong>sem Wunder alles den richtigen<br />
Platz einnahm. Als <strong>die</strong> Frühlingssonne <strong>die</strong><br />
große Eiche erwärmte, begannen sich <strong>die</strong><br />
Schmetterlinge zu bewegen. Leise, wie<br />
aus der Ferne, drang ein Stimmchen zu unseremSchmetterling.<br />
»Es ist Zeit,<br />
Bruder; wir müssen<br />
hinaus!« »Woher<br />
weißt du, dass<br />
wir schon vollkommen<br />
sind?«, fragte unser Freund besorgt.<br />
»Ich spüre einfach, dass ich hinaus muss«,<br />
erwiderte der erste und begann, sich aus<br />
der Puppenhülle zu befreien. Leises Knistern<br />
und Rascheln verriet, dass er aus seiner<br />
alten Behausung schlüpfte.<br />
»Es ist hell, ganz ungeheuer hell«, drängte<br />
jetzt das Stimmchen. »Und ich habe Flügel,<br />
wunderschöne Flügel mit blauen und<br />
roten Punkten! Ich bin ein Pfauenauge!<br />
Komm! In <strong>die</strong> Sonne!« Ich warte lieber<br />
noch, dachte unser Freund. Wer weiß, wie<br />
das Leben da draußen ist. Vielleicht bin ich<br />
noch gar nicht fertig mit allem, vielleicht ist<br />
heute der falsche Tag. Ein bisschen und<br />
nur aus Neugier drückte er gegen <strong>die</strong> Hülle,<br />
ganz sacht, aber als er ein helles Knistern<br />
vernahm, zog er sich erschrocken zurück,<br />
gab acht, der dünnen zerbrechlichen<br />
Wand, <strong>die</strong> ihn vom neuen Leben trennte,<br />
nicht zu nahe zu kommen.<br />
So saß er, eingeklemmt von Vorsicht und<br />
Angst und wartete auf <strong>die</strong> Rückkunft des<br />
Mutigen. Der aber genoss den Tag, taumelte<br />
von Blüte zu Blüte, nippte hie und<br />
schlürfte da und vergaß in all der Freude<br />
den einstigen Gefährten. Erst am darauffolgenden<br />
Tag brachte ihn der Abendwind<br />
zur alten Eiche zurück. Halb belustigt, halb<br />
besorgt und erstaunt blickte er auf <strong>die</strong> unscheinbar<br />
graue Hülle, in der sein Freund<br />
noch immer eingeschlossen war. »He«,<br />
rief er übermütig, »steckst du etwa immer<br />
noch da drin?«<br />
»Bist du endlich da«, antwortete unser<br />
Puppenschmetterling. »Warum hast du so<br />
lange nichts von dir hören lassen?« Deutlich<br />
schwangen Unmut und Vorwurf in seiner<br />
Frage. »Weil es hier draußen so aufregend<br />
schön ist«, antwortete der frohe<br />
Schmetterling. »Weil der Wind weht, weil<br />
es Nektar und ganz viele Freunde gibt und<br />
vielleicht auch, weil ich fliegen kann und<br />
mich verliebt habe.«<br />
»Was heißt verliebt?«, fragte der Eingeschlossene.<br />
»Und was ist mit dem Wind?<br />
Ist das nicht etwas gefährlich für unsere<br />
Flügel?« »Der Wind ist schön«, antwortete<br />
der erste, »nur wenn er zu stark bläst,<br />
weht er dich fort, und dann musst du dich<br />
anstrengen, um anzukommen, wo du ankommen<br />
wolltest.« »Also ist<br />
es da draußen aufregend,<br />
anstrengend und sehr windig«,<br />
fasste der Puppenschmetterling<br />
den Bericht<br />
zusammen. »Du stellst zu<br />
viele Fragen; herauskommen<br />
musst du wie alle Schmetterlinge, <strong>die</strong> es<br />
je auf <strong>die</strong>ser Erde gegeben hat, herauskommen<br />
mussten. Eine Weile schwiegen<br />
<strong>die</strong> beiden. »Morgen«, sagte der Puppenschmetterling.<br />
»Morgen.» Doch dann<br />
fügte er gleich ein »Vielleicht« an, weil er<br />
Angst vor seinem eigenen Mut bekommen<br />
hatte.<br />
Als das Pfauenauge nun sah, dass all sein<br />
Zureden umsonst war, flog es traurig davon.<br />
Ich kann ihn doch jetzt nicht im Stich<br />
lassen, dachte es. Wenn er es jetzt nicht<br />
schafft, schafft er es vielleicht nie. Es war<br />
noch nicht weit geflogen, als es auf einer<br />
Enzianblüte einen zitronengelben Falter sitzen<br />
sah. »He, Zitrone«, rief das Pfauenauge.<br />
»Hilfst du mir, meinen Freund aus der<br />
Puppenhülle zu befreien?« »Wieso denn?«<br />
fragte der Falter überrascht. »Er schafft<br />
es nicht allein. Vielleicht hat er auch ein<br />
bisschen Angst vor der Welt, ich weiß<br />
es nicht.«<br />
Eine Etage unter der blauen Enzianblüte<br />
saß eine Hummel auf einem breiten Blatt<br />
und sonnte sich. »Wer hat denn Angst<br />
vor der Welt«, brummte sie. »Das gibt es<br />
doch gar nicht!« »Doch, doch«, wisperte<br />
das Pfauenauge, wobei seine langen<br />
Fühler vor Aufregung zitterten und sein<br />
Stimmchen sich fast überschlug. »Doch,<br />
doch«, wieder<strong>holt</strong>e es, wollte noch mehr<br />
erklären, aber da brummte <strong>die</strong> dicke Hummel<br />
schon: »Ach was, flieg voraus und<br />
zeige mir, wo er sitzt.« Ihre durchsichtigen<br />
Silberflügel surrten, für einen Moment<br />
schien sie still in der Luft zu stehen,<br />
dann aber schoss sie mit einem Ruck in<br />
<strong>die</strong> Höhe.<br />
»Ich komme mit«, rief der zitronengelbe<br />
Falter. »Ich auch, ich auch«, sagte eine<br />
große, grüne Heuschrecke, <strong>die</strong> ganz in der<br />
Nähe auf einem Grashalm zirpend alles<br />
mit angehört hatte. So machten sich der<br />
Schmetterling, der Zitronenfalter, <strong>die</strong> Hummel<br />
und <strong>die</strong> große, grüne Heuschrecke auf<br />
den Weg. Als sie über den Teich flogen,<br />
gesellten sich zu ihnen zwei blaue, schlanke<br />
Libellen, <strong>die</strong> mit ihren vier in der Sonne<br />
»Was heißt verliebt?«, fragte der Einge-<br />
schlossene. »Und was ist mit dem Wind?<br />
Ist das nicht etwas gefährlich für unsere<br />
Flügel?« …<br />
gläsern schimmernden Flügeln den anderen<br />
immer ein Stück voraus waren und<br />
deshalb oft anhalten und warten mussten,<br />
um sie nicht aus den Augen zu verlieren.<br />
Über einer Wiese stießen ein Kohlweißling,<br />
ein Marienkäferchen und ein Maikäfer<br />
dazu, und schließlich, als sie an der alten<br />
Eiche angekommen waren, hatte sich eine<br />
große Schar Schmetterlinge, Falter und<br />
Bienen, Heuschrecken und Käfer mit<br />
ihnen vereinigt.<br />
»Hier«, sagte das Pfauenauge und wies<br />
mit seinen Fühlern auf <strong>die</strong> graue Hülle am<br />
Ast der Eiche. »Da drin steckt er.« Sofort<br />
versuchten <strong>die</strong> Hummel und <strong>die</strong> große<br />
Heuschrecke, mit ihren kräftigen Kiefern<br />
und Beinen <strong>die</strong> Behausung des Ängstlichen<br />
zu zerbrechen. »Haltet ein! So geht<br />
es nicht«, rief das Marienkäferchen, und<br />
musste sich ordentlich anstrengen, um<br />
sich Gehör zu verschaffen. »Wir haben<br />
uns doch alle aus unseren Larven- und<br />
Puppenhüllen allein befreit. Wir können<br />
ihm raten, aber herauskommen muss er<br />
aus eigener Kraft.« Da hielten Hummel<br />
und Heuschrecke inne und berieten sich<br />
mit den anderen. »Recht hat das Marienkäferchen«,<br />
sagten <strong>die</strong> meisten. »Tun<br />
muss er es selbst!«<br />
»Anstrengen musst du dich«, riefen <strong>die</strong><br />
Libellen, <strong>die</strong> Bienen und alle an der alten<br />
Eiche Versammelten. »Dann schaffst du<br />
es! Bestimmt!« Das sagte nun jeder auf<br />
seine besondere Weise: Die Hummel<br />
brummte, <strong>die</strong> Bienen summten, <strong>die</strong> Heuschrecken<br />
und Grillen zirpten, <strong>die</strong> Libellen,<br />
Schmetterlinge und Käfer wisperten. Jede<br />
einzelne Stimme war leise, aber im Chor<br />
vereint, klangen sie so laut, dass sie durch<br />
<strong>die</strong> verkrustete Behausung des eingeschlossenen<br />
Schmetterlings drangen und<br />
ihn wachrüttelten.<br />
Wenn es so viele geschafft haben, dachte<br />
er, dann muss ich es auch versuchen.<br />
Und während draußen seine Freunde riefen,<br />
presste er seinen Körper gegen <strong>die</strong><br />
alte Hülle. Ohne zu fragen, ob <strong>die</strong> Sonne<br />
scheine oder der Wind wehe, stemmte<br />
er sich mit aller Kraft – bis er das Knistern<br />
wieder hörte und schließlich<br />
ein lautes Krachen.<br />
Da wichen plötzlich Enge<br />
und Dunkelheit, tauchte er<br />
in <strong>die</strong> Helligkeit des Tages,<br />
umströmten ihn <strong>die</strong> Wärme<br />
der Sonne und der Jubel seiner Freunde.<br />
So saß er eine Weile wie geblendet und<br />
betäubt auf dem Ast der alten Eiche. Dann<br />
aber öffnete er <strong>die</strong> Augen, sah seine filigranen<br />
Fühler und Beine, seine prächtigen<br />
Flügel, sah <strong>die</strong> Bäume und Blätter und <strong>die</strong><br />
blühende Wiese tief unter sich. »Oh, ist<br />
das schön hier«, flüsterte er und war auf<br />
einmal so glücklich wie nie zuvor. Freudig<br />
und aufgeregt gratulierten ihm alle, <strong>die</strong><br />
gekommen waren. »Ich danke <strong>euch</strong>«, rief<br />
er noch ganz benommen. »Wie kann ich<br />
<strong>euch</strong> nur danken?!«, und Freudentränen<br />
tropften aus seinen Augen. »Lasst uns<br />
davon erzählen«, schlug das Marienkäferchen<br />
vor, und alle stimmten ihm zu.<br />
Lachend und jubilierend flog <strong>die</strong> bunte<br />
Schar davon. Höher und immer höher<br />
segelten sie vom leisen Wind getragen<br />
über das Grün der Wiesen dem Blau des<br />
Himmels entgegen. Ja, ich muss es allen<br />
sagen, dachte unser Schmetterling. Und<br />
so erfuhren es bald <strong>die</strong> Tiere des Waldes<br />
und der Wiese, <strong>die</strong> Vögel unter dem Himmel<br />
und <strong>die</strong> Frösche im Teich, wie es dem<br />
ängstlichen Schmetterling gelungen war,<br />
sich zu befreien und mit den Freunden<br />
glücklich zu sein.<br />
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