Heft 2/2005 - Offene Kirche Württemberg
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24. April 1915 – ein Trauma auch<br />
für Assyrer und Aramäer<br />
Anerkennung als „Völkermord“<br />
Bei den Assyrern spricht man von<br />
„Shato d’ sheifo“, vom „Jahr des<br />
Schwertes“ und jeder Assyrer weiß, dass<br />
es sich hier sich um die Vernichtung<br />
seines Volkes 1915 handelt. Die Öffentlichkeit<br />
bei uns weiß, wenn überhaupt,<br />
vor allem von dem Völkermord an den<br />
Armeniern, weniger davon, dass auch<br />
die Assyrer und Aramäer, die syrischen<br />
Christen im Tur Abdin im Südosten der<br />
Türkei, in gleicher Weise Ziel dieser<br />
Vernichtung durch die damals regierenden<br />
Jungtürken waren. In vielen<br />
Gedenkveranstaltungen wurde in vielen<br />
Ländern an das Massaker der Armenier<br />
erinnert, weniger an das der Assyrer<br />
und Aramäer. Beide, Armenier und<br />
Assyrer fordern bis heute ihr Recht.<br />
Beide setzen sich dafür ein – was bis<br />
heute in vielen Ländern noch nicht<br />
geschehen ist – dass die Vertreibung von<br />
Armeniern und Assyrern mit Hunderttausenden<br />
Toten ein „Völkermord“ war<br />
und so auch anerkannt wird, vor allem<br />
von der Türkei.<br />
Tilman Zülch von der „Gesellschaft für<br />
bedrohte Völker“ schrieb in einem<br />
offenen Brief an die Abgeordneten des<br />
Deutschen Bundestages am 20. April<br />
<strong>2005</strong>, einen Tag vor der Behandlung<br />
eines Antrags der CDU/CSU im Bundestag<br />
zu den Vertreibungen und Massakern<br />
an den Armeniern vor 90 Jahren:<br />
„16 nationale Gesetzgeber, unter ihnen<br />
die französische Nationalversammlung,<br />
die italienische Abgeordnetenkammer,<br />
das kanadische House of Commons, die<br />
russische Staatsduma, das amerikanische<br />
Repräsentantenhaus oder der Vatikan,<br />
haben sich nicht davor gescheut, durch<br />
Entschließungen oder Gesetze diese<br />
Verbrechen als Völkermord (Genozid)<br />
an bis zu 1,4 Millionen Armeniern und<br />
bis zu 500.000 assyrisch aramäischen<br />
Horst Oberkampfi<br />
○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○ ○<br />
Am 24. April jährte sich zum 90. Mal der Völkermord an den armenischen<br />
Christen. 1,4 Millionen Armenier sollen bei diesem Völkermord ums Leben<br />
gekommen sein. Aber nicht nur die Armenier, sondern auch die Assyrer,<br />
Aramäer und Chaldäer sind von diesem Genozid betroffen gewesen. Die Zahl<br />
der Getöteten geht in die Hunderttausende. Wie der Missionar Dr. Johannes<br />
Lepsius, der Gründer der deutschen Orientmission in seinen Berichten damals<br />
erwähnte, handelte es sich nicht nur um eine Vernichtung der Armenier,<br />
sondern um eine Ausrottung der Christen. Die Jungtürken wollten das Land<br />
„türkisieren“, also gleichsam säubern von allen ethnischen und religiösen<br />
Minderheiten, die anders waren als sie.<br />
Christen international zu bestätigen. Im<br />
übrigen haben gerade deutsche Persönlichkeiten<br />
– so der Missionar Dr.<br />
Johannes Lepsius, der jüdische Dichter<br />
Franz Werfel oder der Gründer des<br />
Wandervogels, Hoffmann – die Weltöffentlichkeit<br />
damals alarmiert oder den<br />
Genozid an den Armeniern bekannt<br />
gemacht.“ Im Antrag der CDU/ CSU<br />
wurde der Begriff „Völkermord“ nicht<br />
verwendet. Die deutsche Bundesregierung<br />
schweigt bis auf den heutigen Tag,<br />
vielleicht aus Rücksicht auf die vielen<br />
türkischen Mitbürger in unserem Land<br />
und aus Rücksicht auf die guten politischen<br />
und wirtschaftlichen Kontakte zur<br />
Türkei. Das damalige deutsche Reich<br />
hatte übrigens 1915 ebenfalls gute<br />
Beziehungen zur damaligen türkischen<br />
Regierung und schwieg zu den Vorgängen,<br />
von denen es Kenntnis haben<br />
musste.<br />
Zivilcourage eines syrischen Pfarrers<br />
In der Türkei ist es bis auf den heutigen<br />
Tag äußerst schwierig bis gefährlich,<br />
vom Völkermord an den Armeniern und<br />
Assyrern zu sprechen. Die Türkei beruft<br />
sich auf den § 312 des türkischen<br />
Rechts, in dem sinngemäß steht: Wer<br />
von Völkermord redet, begeht Landesverrat<br />
und wird hart bestraft. Aktuell<br />
wurde dies im Interview, das der<br />
syrische Pfarrer Yussuf Akbulut aus<br />
Diyarbakir im Oktober 2000 privat der<br />
türkischen Zeitung Hürriyet gab und das<br />
auch als Video heimlich aufgezeichnet<br />
und dann im türkischen Fernsehen<br />
gezeigt wurde. Er sagte dort u.a., dass<br />
die Behauptungen über den Völkermord<br />
an den Armeniern richtig seien, und<br />
dass auch seine Glaubensbrüder davon<br />
betroffen gewesen sind. „Nicht nur die<br />
Armenier, auch die Syrer sind damals<br />
mit der Begründung, dass sie Christen<br />
sind, dem Völkermord ausgesetzt<br />
gewesen. Die Syrer wurden in Scharen<br />
ermordet. Und bei diesem Massaker<br />
wurden die Kurden genutzt.“ Dank der<br />
Beteiligung von Beobachtern aus dem<br />
Ausland wurde Pfarrer Akbulut am<br />
5.4.2001 in der dritten Verhandlung<br />
schließlich freigesprochen. Der Vorwurf<br />
wegen angeblicher Volksverhetzung<br />
wurde überraschend fallen gelassen.<br />
Damit ist aber das Problem des Völkermordes<br />
an armenischen und syrischen<br />
Christen von 1915 noch längst nicht<br />
erledigt. Die türkische Regierung und<br />
die türkische Gesellschaft werden sich,<br />
wenn sie in die EU wollen, diesem<br />
besonderen Problem ihrer Vergangenheitsbewältigung<br />
stellen müssen. Schon<br />
lange wird gefordert, alle historischen<br />
Fakten und Dokumente der Öffentlichkeit<br />
zugänglich zu machen, damit die<br />
Vorgänge von 1915 aufgearbeitet und<br />
neu bewertet werden können. Dann<br />
müssen auch die Bestimmungen aus<br />
dem „Lausanner Vertrag“ von 1923<br />
anerkannt werden, in denen den<br />
nichtmuslimischen Bürgern der Türkei<br />
Gleichstellung, religiöse Freiheit und<br />
Toleranz zugestanden werden. Leider ist<br />
die heutige Realität in der Türkei noch<br />
weit entfernt von diesem damals<br />
wegweisenden Vertrag.<br />
Begegnungen mit Zeitzeugen<br />
Im Rahmen meiner Besuche im Tur<br />
Abdin und im Nordirak bin ich 1999 im<br />
armenischen Dorf Azverok im Nordirak<br />
auf Nachkommen von Überlebenden<br />
gestoßen, die 1915 ihr Leben retten<br />
konnten und in den heutigen Nordirak<br />
geflüchtet waren. Unsere Landeskirche<br />
hat diesen armenischen Christen den<br />
Bau einer <strong>Kirche</strong> ermöglicht, um ihren<br />
Glauben wieder feiern zu können, denn<br />
1991 wurde ihre <strong>Kirche</strong> vom irakischen<br />
Diktator<br />
Saddam<br />
zerstört.<br />
Vor Jahren<br />
begegnete ich<br />
im Dorf<br />
Ayinvert im<br />
Tur Abdin<br />
einer alten<br />
Frau – sie ist<br />
inzwischen<br />
gestorben –<br />
die mir<br />
folgendes<br />
erzählte: „Sieh dir diese <strong>Kirche</strong> an. Sie<br />
war 1915 Zufluchtsort von tausenden<br />
von Christen, die ihr Leben vor den<br />
Jungtürken retten konnten“. Sie hielt<br />
Nr. 2, Juni <strong>2005</strong> OFFENE KIRCHE<br />
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