12.05.2014 Aufrufe

Wirtschaftswoche Ausgabe vom 2014-05-12 (Vorschau)

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Neue Serie<br />

Die Zukunft<br />

der Industrie<br />

15 Technologien,<br />

die Deutschland<br />

neuen Wohlstand<br />

bringen<br />

20<br />

<strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong>|Deutschland €5,00<br />

2 0<br />

4 1 98065 8<strong>05</strong>008<br />

Deutsche Bank<br />

Der Höllenjob des Anshu Jain<br />

Kalte Progression<br />

Hoffen auf SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />

Warum das Risiko steigt.<br />

Wie Sie Ihr Depot absichern<br />

Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />

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Einblick<br />

Die Verhandlungen zum transatlantischen Freihandel<br />

stocken. Die Deutschen fürchten die Freiheit,<br />

obwohl sie gewinnen könnten. Von Roland Tichy<br />

Angst vor Hühnern<br />

FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

AmHähnchen haben sich schon<br />

Männer die Zähne ausgebissen,<br />

deren Namen wir heute ehrfürchtig<br />

im Geschichtsbuch lesen.<br />

Konrad Adenauer, Charles de Gaulle<br />

und John F. Kennedy – Männer, die weder<br />

die Sowjets, die Nazis oder den Mann im<br />

Mond fürchteten, scheiterten an Hühnern,<br />

tiefgekühlten Schenkeln, Flügeln<br />

und Brüsten; genauer gesagt: an der Frage,<br />

ob und wie diese ohne Zollschranken<br />

tiefgekühlt den Atlantik überqueren dürfen.<br />

Die Protokolle zum Élysée-Vertrag,<br />

als deutsch-französisches Freundschaftsabkommen<br />

einer der Grundpfeiler der<br />

EU, dokumentieren umfangreiche und<br />

knochenharte Auseinandersetzungen zur<br />

Hähnchen-Importfrage. Der europäischamerikanische<br />

Freihandel scheiterte damals<br />

daran. Seither ist die Welt größer<br />

und bunter geworden. Aber dass die<br />

Amerikaner ihre Hähnchen zum Abtöten<br />

böser Bakterien in Chlor tunken, ist noch<br />

immer ein Importhindernis. Neu dazugekommen<br />

sind Risiken, die Europäer anfallen,<br />

sollten sie zu Hause genmodifizierten<br />

Mais essen, der ihnen beim<br />

USA-Urlaub so schmeckt.<br />

Die andere Seite ist nicht weniger pingelig.<br />

Europas Autos müssen wegen Italiens<br />

verwinkelter Gassen die Außenspiegel<br />

einklappen können – was im Land der unendlichen<br />

Prärie unnötig ist. Und Rohmilchkäse<br />

gilt dort als so gefährlich wie<br />

hierzulande hormonbehandelter Schinken.<br />

Ja, der Teufel liegt eben immer im Detail.<br />

Frankreichs Filmindustrie fürchtet<br />

sich vor Hollywood. Und in den USA darf<br />

der Blinker am Heck rot, in Europa muss er<br />

gelb sein.<br />

Neu indes ist: Nicht nur einzelne Wirtschaftsinteressen<br />

machen gegen das<br />

Freihandelsabkommen mobil – auch<br />

viele selbst ermächtigte Verbände, Verbraucherschützer<br />

und NGOs haben bereits<br />

Hunderttausende Unterschriften gesammelt.<br />

Dabei wären gerade die Deutschen die<br />

Nutznießer des Freihandels: Als Exportnation<br />

beweisen die Deutschen tagtäglich,<br />

dass sie nichts mehr fürchten müssen außer<br />

willkürliche Zollschranken. Auch das<br />

Schiedsgerichtsverfahren im Rahmen des<br />

Freihandels, das Investitionen vor willkürlichen<br />

Gesetzesänderungen schützen soll,<br />

bewahrt die Deutschen und ihre Direktinvestitionen<br />

von sagenhaften 1,196 Billionen<br />

Euro rund um den Globus vor dem Zugriff<br />

gieriger Politiker. Investitionsschutzabkommen,<br />

die früher deutsche<br />

Unternehmen vor den Kleptokratien in<br />

Entwicklungsländern schützen sollten,<br />

werden heute abgelehnt. Auch Deutschland<br />

hat vergessen, dass Investitionen, die<br />

auf Jahrzehnte angelegt sind, vor dem willkürlichen<br />

Zugriff der Politik geschützt<br />

werden müssen, weil Investoren eines<br />

brauchen: langfristigstabile Rahmenbedingungen.<br />

Die deutsche Energiepolitik<br />

beispielsweise hat mittlerweile das Verlässlichkeitsniveau<br />

der Politik von Simbabwe.<br />

DER KRIEG DER WELT<br />

Daher würde tatsächlich das transatlantische<br />

Freihandelsabkommen Europa wieder<br />

dazu bringen, die lästige und überflüssige,<br />

in der Summe schädliche Regelungswut<br />

zu überprüfen, die mal Glühbirnen<br />

und Staubsaugermotoren, mal Desinfektionsmittel<br />

oder Autospiegel zwangsnormiert.<br />

Der britische Historiker Niall Ferguson<br />

zeigt in seinem Werk „Krieg der Welt – Was<br />

ging schief im 20. Jahrhundert?“: Um 1900<br />

war die Welt so offen, so globalisiert und so<br />

vernetzt, wie sie es erst heute wieder ist. In<br />

der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg<br />

wurden allüberall Schutzzölle, Überregulierung,<br />

Besteuerung und Defizitfinanzierung<br />

eingeführt – und der<br />

Wohlstand der Welt schrumpfte noch<br />

schneller, verschärfte die innenpolitischen<br />

Krisen bis zur Katastrophe. Noch am besten<br />

kam das britische Empire davon, weil<br />

es in sich eine riesige Freihandelszone war.<br />

Am ärgsten traf die Krise kleinere, auf sich<br />

zurückgeworfene Binnenwirtschaften wie<br />

Deutschland und Italien – die dann den<br />

Raubzug nach Lebensraum antraten. Freiheit<br />

ist eben auch immer Handlungsfreiheit<br />

– und Öffnung der Märkte wohlstandssteigernd.<br />

n<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 3<br />

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Überblick<br />

Menschen der Wirtschaft<br />

6 Seitenblick Das Ein-Kilometer-Hochhaus<br />

8 Steuerhinterziehung: BaFin torpediert<br />

Selbstanzeigen von Steuersündern<br />

9 Burger King: Dramatischer Absturz |<br />

Schwarzarbeit: Höherer Schaden<br />

10 Interview: Friedensnobelpreisträger Al Gore<br />

prophezeit Europas Niedergang<br />

<strong>12</strong> Qatar Airways: Zweifel am A380 | MBB<br />

Clean Energy: Angst um Anleihe | Berliner<br />

Schloss: Steuergeld statt Spenden<br />

14 Chefsessel | Start-up QLearning<br />

16 Chefbüro Jürgen Leiße, Deutschland-Chef<br />

des Lebensmittelmultis Mondelez<br />

Politik&Weltwirtschaft<br />

18 Steuern Wie sich die Bundesregierung an<br />

den Arbeitnehmern noch bereichern will<br />

21 Ortstermin Jungunternehmer trifft auf SPD<br />

22 Landwirtschaft Bauern verdienen mit<br />

ihren Kühen wieder richtig Geld<br />

24 Indien Im Wettstreit der asiatischen Wirtschaftsmächte<br />

hinkt das Land hinterher.<br />

Bringt der Machtwechsel die Wende? | Interview:<br />

Unternehmer Anand Mahindra über<br />

wirtschaftspolitische Defizite seines Landes<br />

32 Forum Europaparlamentarier Alexander<br />

Graf Lambsdorff über Verteilungskämpfe in<br />

der Energiepolitik<br />

33 Global Briefing | Berlin intern<br />

Der Volkswirt<br />

34 Kommentar | New Economics<br />

35 Konjunktur Deutschland<br />

36 Rohstoffradar Die Krise in der Ukraine<br />

treibt die Preise<br />

37 Denkfabrik ifo-Präsident Hans-Werner<br />

Sinn attackiert die Strategie der EZB<br />

Unternehmen&Märkte<br />

38 Deutsche Bank Zwei Jahre nach dem Start<br />

ist noch nicht klar, ob Anshu Jain der richtige<br />

Chef für das Geldinstitut ist | Die Bank greift<br />

bei Verfehlungen jetzt hart durch<br />

46 Interview: Rupert Stadler Der Audi-Chef<br />

erhöht beim Dreikampf die Drehzahl<br />

49 Media-Saturn Dem nächsten Chef der Elektronikkette<br />

droht ein Drei-Fronten-Krieg<br />

50 Merckle Adolf Merckles Sohn Ludwig hat<br />

den Pharmahändler Phoenix gerettet. Doch<br />

nun gefährdet der Erbe den Erfolg wieder<br />

52 Friedberg Wie eine Schraubenfabrikantin<br />

den Strukturwandel gemeistert hat<br />

54 Bayer Nach der jüngsten Übernahme sondiert<br />

Konzernchef Marijn Dekkers weitere<br />

Coups. Doch Kaufkandidaten sind rar<br />

56 CTS Eventim Der Ticket-Riese baut seine<br />

Macht aus und will offenbar nach Übersee<br />

59 Interview: Trevor Edwards Der Nike-<br />

Marken-Chef attackiert den Konkurrenten<br />

Adidas vor der Fußball-WM in Brasilien<br />

Titel Dax an der Decke<br />

China schwächelt, die Gewinnmargen<br />

vieler Unternehmen sind ausgereizt,<br />

und die Ukraine-Krise ist längst nicht<br />

gelöst:Nach fünf Jahren Hausse steigt<br />

an der Börse das Risiko. Wie Anleger<br />

ihr Depot jetzt vor möglichen Rückschlägen<br />

schützen. Seite 76<br />

Zahmer Tiger<br />

Anshu Jain ist nach zwei<br />

Jahren an der Spitze der<br />

Deutschen Bank ein<br />

Fremder geblieben. Von<br />

Beginn an stand er auf<br />

der Kippe. Sein Job ist<br />

ein Wettlauf gegen seine<br />

Vergangenheit.<br />

Seite 38<br />

Geld her!<br />

Die neue Steuerschätzung<br />

zeigt:Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang<br />

Schäuble schwimmt in<br />

den kommenden Jahren<br />

im Geld. Nun wächst<br />

der Druck auf Berlin, die<br />

Steuerzahler in dieser<br />

Legislaturperiode zu entlasten<br />

– zumindest bei<br />

der kalten Progression.<br />

Seite 18<br />

TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />

4 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: LAIF/STEFAN KRÖGER, LAIF/DOMINIK BUTZMANN, PR; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />

Neue Serie: Zukunft der Industrie<br />

Selbstfahrende Autos, smarte Roboter, mobiles Internet – 15 Technologien<br />

entscheiden über Deutschlands künftigen Wohlstand. Eine<br />

exklusive Studie verrät, wie wir den Umbruch schaffen. Seite 60<br />

Einen Schlag mehr<br />

Mehr Engagement, höhere Rendite: warum es sich für Arbeitgeber<br />

lohnt, ihre Angestellten am Kapital des Unternehmens zu beteiligen.<br />

Und warum Angestellte das Angebot annehmen sollten. Seite 70<br />

Jungbrunnen<br />

Gesundheit ist der<br />

Deutschen höchstes Gut.<br />

Luxushotels wie das<br />

Oceano auf Teneriffa laden<br />

zu Sesamölmassagen<br />

oder zum Entspannungsbad<br />

im hauseigenen Spa.<br />

Seite 98<br />

Nr. 20, <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong><br />

Technik&Wissen<br />

60 Serie Zukunft der Industrie 15 Innovationen<br />

haben das Zeug, die Wirtschaft radikal<br />

zu verändern | Interview: Der Präsident<br />

der Fraunhofer-Gesellschaft, Reimund Neugebauer,<br />

fordert ein europäisches Google<br />

Management&Erfolg<br />

70 Mitarbeiterbeteiligung Warum es sich für<br />

Arbeitgeber lohnt, ihre Angestellten am<br />

Kapital des Unternehmens zu beteiligen<br />

74 Kolumne: Sprengers Spitzen Wertschätzung<br />

muss neu interpretiert werden<br />

Geld&Börse<br />

76 Spezial Aktien Die Risiken an den<br />

Börsen nehmen zu. Anleger sollten ihr<br />

Depot absichern<br />

86 Steuerhinterziehung Wie deutsche Fahnder<br />

Schwarzgeld-Anleger jagen, die ihr Geld<br />

schon früh aus der Schweiz abgezogen haben<br />

88 US-Aktien Wasser wird weltweit knapp.<br />

Das eröffnet Chancen<br />

90 Steuern und Recht Kindergeld | Lebensversicherung<br />

| Besteuerung von Gold-<br />

Wertpapieren | Eigenbedarfskündigung |<br />

Widerruf bei Internet-Bestellung<br />

92 Geldwoche Kommentar: Von Shortsellern<br />

lernen | Trend der Woche: Neue Internet-<br />

Blase platzt | Dax-Aktien: Bayer | Hitliste:<br />

Exotenbörsen | Aktien: Conoco Phillips,<br />

Hawesko | Anleihe: COE Bank | Chartsignal:<br />

US-Dollar | Investmentfonds: Metzler<br />

European Growth | Nachgefragt:Vermögensverwalter<br />

Bert Flossbach warnt vor Hochfrequenzhandel<br />

Perspektiven&Debatte<br />

98 Urlaub Kliniken setzen auf Luxus, Hotels<br />

auf medizinische Anwendungen<br />

102 Kost-Bar<br />

Rubriken<br />

3 Einblick, 104 Leserforum,<br />

1<strong>05</strong> Firmenindex | Impressum, 106 Ausblick<br />

n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />

weltweit auf iPad oder iPhone:<br />

Diese Woche erklären wir, warum<br />

es sich für Arbeitgeber lohnt,<br />

Angestellte am Kapital zu<br />

beteiligen. Außerdem<br />

gibt es wieder einen<br />

360-Grad-Einblick ins<br />

Chefbüro.<br />

wiwo.de/apps<br />

n ADAC Der krisengebeutelte Autoclub<br />

debattiert auf seiner Hauptversammlung<br />

in Saarbrücken, wie<br />

man das verlorene Vertrauen zurückgewinnen<br />

kann. wiwo.de/adac<br />

facebook.com/<br />

wirtschaftswoche<br />

twitter.com/<br />

wiwo<br />

plus.google.com/<br />

+wirtschaftswoche<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 5<br />

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Seitenblick<br />

WOLKENKRATZER<br />

Ein Kilometer Hochhaus<br />

Es soll das höchste Haus der Welt werden - der Kingdom Tower in<br />

Saudi-Arabien. Deutsche Unternehmen wetteifern um Aufträge für<br />

den milliardenschweren Prestigebau.<br />

Die höchsten Häuser der Welt<br />

Empire State<br />

Building<br />

381 Meter<br />

New York<br />

1930–1931<br />

Sears Tower<br />

442 Meter<br />

Chicago<br />

1970–1974<br />

Petronas Towers<br />

452 Meter<br />

Kuala Lumpur<br />

1992–1998<br />

Taipei 101<br />

508 Meter<br />

Taipeh<br />

1999–2004<br />

Schwergewicht Eigentlich sollte der Kingdom Tower<br />

1,6 Kilometer hoch werden. Dies aber ließ der<br />

Boden nicht zu. Selbst die Schrumpfversion wird<br />

fast eine Million Tonnen wiegen.<br />

Burj Khalifa<br />

828 Meter<br />

Dubai<br />

2004–2010<br />

Sky City<br />

838 Meter<br />

Changsha/China<br />

geplant<br />

Kingdom Tower<br />

1007 Meter<br />

Dschidda<br />

im Bau<br />

1000 m<br />

900 m<br />

800 m<br />

700 m<br />

600 m<br />

500 m<br />

400 m<br />

300 m<br />

200 m<br />

100 m<br />

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1007Meter wird der Kingdom<br />

Tower im saudischen Dschidda hoch<br />

sein und damit das erste Haus der Welt, das<br />

die Ein-Kilometer-Marke durchbricht. In<br />

diesen Tagen beginnen die Hochhausarbeiten<br />

an dem 1,2 Milliarden Dollar teuren Projekt.<br />

Auf 200 Etagen entstehen Hotels, Wohnungen,<br />

Büros und Läden. Der Einzug ist für 2018<br />

geplant. Angetrieben wird es <strong>vom</strong> saudischen<br />

Prinzen al-Walid ibn Talal Al Saud. Generalunternehmer<br />

ist die Bin-Laden-Gruppe,<br />

gegründet von Osama Bin Ladens Vater.<br />

300Pfähle hat die bayrische<br />

Tiefbaufirma Bauer 110 Meter tief in den<br />

Boden getrieben, um den Kingdom Tower zu<br />

verankern. Auch andere deutsche Unternehmen<br />

wollen an dem Prestigebau mitwirken,<br />

darunter Putzmeister. Der baden-württembergische<br />

Mittelständler hatte schon für das<br />

bisher höchste Haus der Welt, Burj Khalifa<br />

in Dubai, die Betonpumpen geliefert. Und<br />

Duravit möchte den Superwolkenkratzer wie<br />

bereits das Burj Khalifa mit Toiletten und<br />

Bidets ausrüsten.<br />

40Millionen Euro will Thyssen-<br />

Krupp in einen 244 Meter hohen Wolkenkratzer<br />

investieren – in Rottweil im<br />

Schwarzwald. Dort will der Essener Konzern<br />

Aufzüge für Superwolkenkratzer testen –<br />

beim Kingdom Tower kommt er aber nicht<br />

zum Zuge. Hier setzte sich Branchenkreisen<br />

zufolge der deutsch-finnische Konkurrent<br />

Kone durch. Er entwickelte ein Kohlefaserkabel,<br />

mit dem Aufzüge einen Höhenunterschied<br />

von einem Kilometer überwinden<br />

können. thomas.stoelzel@wiwo.de<br />

FOTO: JEDDAH ECONOMIC COMPANY/ADRIAN SMITH + GORDON GILL ARCHITECTURE,<br />

DESIGN ARCHITECTS OF THE PROJECT: ADRIAN SMITH AND GORDON GILL<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 7<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

Bringt Banker in<br />

Bredouille<br />

BaFin-Chefin König<br />

FINANZAUFSICHT<br />

Schlag gegen Steuersünder<br />

Die Finanzaufsicht BaFin torpediert<br />

die strafbefreiende Selbstanzeige<br />

für Steuersünder – ohne Debatte auf<br />

dem kurzen Dienstweg.<br />

Eigentlich ist Elke König als Präsidentin der<br />

Finanzaufsicht BaFin die Chefin einer Behörde. Die<br />

Kontrolleurin erlässt keine Gesetze, sondern achtet<br />

darauf, dass andere – vor allem Banken – sie hierzulande<br />

einhalten. Nun aber torpediert ihre Behörde<br />

ein Gesetz, auf dessen Erhalt sich die Bundesländer<br />

gerade erst geeinigt haben: den Paragrafen in der<br />

Abgabenordnung, der einem Steuersünder erlaubt,<br />

sich selbst anzuzeigen und damit straffrei davonzukommen.<br />

Wer den Weg wählt, muss seine kompletten<br />

Finanzen offenlegen. Ein Teilgeständnis reicht<br />

nicht. Hierfür brauchen Steuersünder aber meist<br />

die Hilfe ihrer Banker. Die wissen am besten, wie<br />

viel Geld wo angelegt und wann genau es wohin<br />

transferiert wurde. Doch den Berater des Vertrauens<br />

einzubinden kann jetzt gefährlich werden.<br />

Grund ist ein Rundschreiben, das die BaFin am<br />

5. März verschickt hat. Es führt offenbar dazu, dass<br />

Banker die Kunden, die sich selbst anzeigen<br />

wollen, wegen Verdachts auf Geldwäsche den<br />

Kriminalämtern melden.<br />

Dazu sind die Banker laut BaFin-Schreiben verpflichtet,<br />

wenn „nicht auszuschließen ist“, dass<br />

über ihren Arbeitgeber Transaktionen gelaufen<br />

sind, die mit der Steuerhinterziehung im Zusammenhang<br />

stehen. Das wird ein Banker wohl nie<br />

ausschließen können, zumal er keine Beweise für<br />

eine Geldwäsche haben muss. Es reichen schon<br />

Hinweise, dass es so gewesen sein könnte. „Doch<br />

genau das kann ein Banker im Einzelfall ja gar nicht<br />

prüfen“, sagt ein Bankvorstand. „Um sich nicht<br />

selbst strafbar zu machen, wird er deshalb im Zweifelsfall<br />

immer eine Verdachtsanzeige abgeben.“<br />

Damit wird die Selbstanzeige faktisch bedeutungslos:<br />

Sobald der Banker die Anzeige einreiche,<br />

sei die Tat einer Strafverfolgungsbehörde bekannt,<br />

sagt Christian Rosinus von der Kanzlei AC Tischendorf.<br />

Eine Selbstanzeige sei aber nur so lange strafbefreiend,<br />

wie die Tat entweder unentdeckt sei oder<br />

der Täter zumindest davon ausgehen könne, dass<br />

er noch nicht aufgeflogen sei. Beides dürfte künftig<br />

in vielen Fällen nicht mehr gegeben sein sein.<br />

Die BaFin ist sich der Folgen ihres Schreibens<br />

durchaus bewusst. „Es ist nicht zu verkennen“, teilt<br />

die Aufsichtsbehörde in einer Stellungnahme mit,<br />

dass die Verwaltungspraxis in Verbindung mit dem<br />

Geldwäschegesetz Auswirkungen auf eine beabsichtigte<br />

Selbstanzeige von Bankkunden haben<br />

könne.<br />

Im Klartext: Die BaFin hat damit die strafbefreiende<br />

Selbstanzeige praktisch abgeschafft – auf dem<br />

kleinen Dienstweg, ohne Bundestagsdebatte.<br />

melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt<br />

Erledigt<br />

Steuerstrafverfahren,<br />

die aufgrund von Selbstanzeigen<br />

eingestellt<br />

wurden<br />

8172<br />

2009<br />

16014 16<strong>05</strong>9<br />

Quelle:Deutscher Bundestag<br />

11900<br />

2010 2011 20<strong>12</strong><br />

FOTOS: LAIF/CHRISTOPH PAPSCH, PR, PLAINPICTURE/HIROYA MINAKUCHI<br />

8 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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BURGER KING<br />

Dramatischer Absturz<br />

Vor gut einem Jahr hat Burger<br />

King 91 Filialen dem Franchisenehmer<br />

Yi-Ko Holding<br />

überlassen, seither reißt der Ärger<br />

nicht ab, wie die Wirtschafts-<br />

Woche berichtete. Nachdem<br />

auch RTL die skandalösen Zustände<br />

aufzeigte, laufen Burger<br />

King die Kunden weg. Nur 15<br />

Prozent aller potenziellen<br />

Kunden würden dort jetzt einen<br />

Hamburger bestellen, ergab<br />

eine Analyse des Meinungsforschers<br />

YouGov. Der Wert hat<br />

sich binnen Kurzem halbiert.<br />

„Auch das Image ist im freien<br />

Fall“, sagt YouGov-Manager Markus<br />

Braun. Auf einer Skala von<br />

plus 100 bis minus 100 stürzte<br />

der Image-Wert von plus 5,7 auf<br />

minus 29,5 Punkte ab. Schichtleiter<br />

berichten von „dramatischen<br />

Umsatzeinbußen“. Auch<br />

Andreas Bork, Deutschland-<br />

Chef von Burger King, räumte<br />

Rückgänge ein und versucht<br />

nun, die Probleme zu lösen.<br />

Noch in dieser Woche trifft er<br />

sich mit Vertretern der Gewerkschaft<br />

NGG. Sie wollen über die<br />

Arbeitsbedingungen und die<br />

vielen Kündigungen reden, die<br />

Yi-Ko gegen Betriebsräte aussprach.<br />

In rund 300 Fällen hatte<br />

die NGG Mitarbeitern der Burgerkette<br />

geholfen, nicht oder<br />

zu spät gezahlte Löhne und<br />

Zuschläge einzuklagen. Etwa<br />

zwei Drittel der Verfahren sind<br />

noch offen. „Unser Ziel ist es,<br />

für einen Großteil der Fälle eine<br />

schnelle, einvernehmliche<br />

Lösung innerhalb der nächsten<br />

sechs Wochen zu finden“, teilt<br />

Burger King jetzt mit.<br />

Das Unternehmen verzichtet<br />

dabei künftig auf den umstrittenen<br />

Rechtsanwalt Helmut<br />

Naujoks, den Yi-Ko angeheuert<br />

hatte. Der auf die „Kündigung<br />

der Unkündbaren“ spezialisierte<br />

Jurist werde nicht mehr<br />

beschäftigt, so Burger King.<br />

Kunden flüchten<br />

Deutschland-Chef Bork<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

Aufgeschnappt<br />

Wal verhökert Ein fettes Angebot<br />

stellte die kanadische Gemeinde<br />

St. George bei Ebay ein: einen<br />

zwölf Meter langen Pottwal. Er<br />

war angeschwemmt worden,<br />

starb, doch dem Dorf fehlte das<br />

Geld zum Abtransport. Dutzende<br />

Gebote gingen ein, das höchste<br />

lag bei 2000 Dollar. Dann stoppte<br />

Ebay die Auktion. Tiere – tot<br />

oder lebendig – dürfen dort nicht<br />

versteigert werden.<br />

Medaillen versilbert Die Erinnerung<br />

an ihre Siege kann ihr niemand<br />

nehmen, ihre Medaillen<br />

gibt Sandra Völker notgedrungen<br />

ab. Rund 400 Auszeichnungen<br />

versteigert die ehemalige<br />

Spitzenschwimmerin im Internet,<br />

darunter auch die Silbermedaille,<br />

die sie bei den Olympischen<br />

Spielen 1996 in Atlanta<br />

gewonnen hat. 100 000 Euro erhofft<br />

sich die 40-Jährige durch<br />

die Auktionen. Dann käme sie<br />

aus der Privatinsolvenz heraus.<br />

SCHWARZARBEIT<br />

Höherer<br />

Schaden<br />

Schwarzarbeiter haben den<br />

deutschen Staat im vergangenen<br />

Jahr um rund 777 Millionen<br />

Euro geschädigt, etwa durch die<br />

Nichtzahlung von Sozialbeiträgen.<br />

20<strong>12</strong> hatte der Schaden<br />

knapp 752 Millionen betragen.<br />

Allein die Finanzkontrolle<br />

Schwarzarbeit (FKS) überprüfte<br />

2013 etwa 64 000 Arbeitgeber,<br />

davon rund 25 300 Baubetriebe.<br />

Gegen die Sünder verhängten<br />

die Zollprüfer von Bundesfinanzminister<br />

Wolfgang<br />

Schäuble (CDU) Geldbußen<br />

in Höhe von 44,7 Millionen Euro.<br />

Das geht aus Stellungnahmen<br />

des Ministeriums auf Anfragen<br />

der Grünen-Fraktion im<br />

Bundestag hervor. 20<strong>12</strong> hatte<br />

die FKS 66 000 Firmen kontrolliert<br />

und damit 2000 mehr als<br />

2013, aber weniger Bußgeld<br />

kassiert:41,3 Millionen Euro.<br />

Von 2015 an soll die FKS auch<br />

überwachen, ob Firmen den<br />

Mindestlohn zahlen. Die grüne<br />

Abgeordnete Beate Müller-<br />

Gemmeke kritisiert, mit 6481<br />

Planstellen könne die FKS „weder<br />

ihrer Aufgabe noch die Bundesregierung<br />

ihrer Schutzfunktion<br />

für die Beschäftigten<br />

gerecht werden“.<br />

max.haerder@wiwo.de I Berlin<br />

* gerundet; Quelle: Parteiangaben<br />

Wenig Aufwand für Brüssel<br />

Kosten der Wahlkampagnen (in Millionen Euro)*<br />

Europawahl 2009<br />

Europawahl <strong>2014</strong><br />

Bundestagswahl 2013<br />

10 10 20 11 11 23 1 2 6 3 3 6 1 1 4 2 2<br />

IN EIGENER SACHE<br />

Neues, schlankes Logo<br />

Die markanten roten Quadrate<br />

bleiben. Aber nach fast 20<br />

Jahren war es an der Zeit, das<br />

bekannte zweizeilige Logo der<br />

WirtschaftsWoche ein wenig<br />

zu überarbeiten. US-Zeitschriftendesigner<br />

Mario Garcia hatte<br />

es 1996 entwickelt. Nun wurde<br />

der Klassiker von Creative<br />

Director Holger<br />

Windfuhr und<br />

dem bekannten<br />

britischen Logodesigner<br />

Miles Newlyn behutsam<br />

modernisiert – ohne dass<br />

der Wiedererkennungswert<br />

leidet. Die Schrift kommt nun<br />

deutlich schlanker daher, von<br />

einigen horizontalen Serifen<br />

befreit. Kleine Diagonalen unterstreichen<br />

den dynamischen<br />

und frischen Gesamteindruck.<br />

Ihre Meinung? Wir<br />

freuen uns auf Ihr<br />

Feedback.<br />

wiwo@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 9<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

FLOSKELCHECK<br />

Kalte<br />

Progression<br />

Der Frühling naht, die kalte<br />

Jahreszeit geht. Und wenn es<br />

nach Sigmar Gabriel geht,<br />

geht bald auch die kalte<br />

Progression. Dann wird es<br />

wärmer in Deutschland.<br />

Schließlich will die SPD eine<br />

Fortschrittspartei sein. Die<br />

eiskalte Progression spielt<br />

zwar dem Finanzminister in<br />

die Karten, aber „Mehr Netto<br />

<strong>vom</strong> Brutto“ ist gerechter.<br />

Wer hat’s erfunden? Okay,<br />

die FDP. Nun ja, besser gut<br />

geklaut als schlecht selbst<br />

erfunden. Schließlich will<br />

die SPD eine Gerechtigkeitspartei<br />

sein. Und wenn einem<br />

außerdem die Kanzlerin<br />

sonst schon alle Themen<br />

weggenommen hat...<br />

Schließlich will die SPD<br />

wieder kanzlerfähig werden.<br />

Und Siggi Pop den Sessel<br />

mit der ganz hohen Lehne<br />

besetzen. Daher ist die<br />

Bekämpfung der kalten Progression<br />

für den SPD-Chef<br />

wichtig – der Finanzminister<br />

ist ja von der Konkurrenz...<br />

DER FLOSKELCHECKER<br />

Hans Gerzlich, 47, Diplom-<br />

Ökonom, ehemaliger Marketing-Referent<br />

und heute<br />

Wirtschaftskabarettist und<br />

Bürocomedian.<br />

INTERVIEW Al Gore<br />

»Europa steht vor einem<br />

historischen Niedergang«<br />

Der Friedensnobelpreisträger und frühere<br />

US-Vizepräsident beklagt Fehler in der Euro-Politik<br />

und hofft auf ein Freihandelsabkommen.<br />

Herr Gore, Sie haben analysiert,<br />

wie sich die Welt politisch<br />

ändert, und prognostizieren:<br />

Die USA verlieren an Macht,<br />

Nationalstaaten an Gewicht.<br />

Fühlen Sie sich durch die<br />

Ukraine-Krise bestätigt?<br />

Ich bin sehr besorgt über die Situation<br />

dort. Mir wäre lieber, ich<br />

läge falsch. Fakt ist:Russland<br />

testet seine Grenzen aus und<br />

spürt wenig Gegenwind. Das<br />

Land sucht seine Rolle in einer<br />

Welt, in der die machtpolitischen<br />

Verhältnisse in Bewegung<br />

sind. Die USA im Westen<br />

und China im Osten sind feste<br />

Größen. Russland fühlt sich zu<br />

klein im Konzert der Großen.<br />

Die Ukraine ist da eine willkommene<br />

Spielwiese, da das Land<br />

innerlich zerrissen ist.<br />

Wie lässt sich die Gewalt in der<br />

Ostukraine eindämmen?<br />

Dank der engen wirtschaftlichen<br />

Verflechtungen ist auch<br />

Russland unter Druck. Die<br />

Wirtschaft schwächelt, die<br />

Börsen sind abgestürzt. Russlands<br />

Präsident Putin spielt ein<br />

gefährliches Spiel. Das müssen<br />

wir ihm klarmachen – und ihn<br />

auffordern, mäßigend auf die<br />

Separatisten einzuwirken.<br />

Wie bewerten Sie die Rolle<br />

Europas – in einem Konflikt,<br />

der direkt an den Außengrenzen<br />

der Europäischen<br />

Union tobt?<br />

Europa steht in meinen Augen<br />

an der Schwelle zu einem historischen<br />

Verlust an Macht, Einfluss<br />

und Perspektiven. Ausgangspunkt<br />

war die Schaffung<br />

der Euro-Zone, bei der es die<br />

Politik verpasst hat, die notwendige<br />

finanzpolitische Integration<br />

herbeizuführen. Aus diesem<br />

Versäumnis heraus entwickelte<br />

DER WELTRETTER<br />

Al Gore, 66, ist Autor, Berater<br />

und NGO-Gründer. Für seinen<br />

Einsatz für den Klimaschutz<br />

erhielt der ehemalige Vizepräsident<br />

der USA den Friedensnobelpreis.<br />

Am Montag erscheint<br />

sein neues Buch „Die Zukunft –<br />

Sechs Kräfte, die unsere Welt<br />

verändern“.<br />

sich eine schwere politische<br />

und wirtschaftliche Krise, die<br />

bis heute nicht gelöst ist. Es ist<br />

für mich daher keine Überraschung,<br />

dass Europa den<br />

Russen wenig entgegenzusetzen<br />

hat.<br />

Die EU und die USA verhandeln<br />

über einen gemeinsamen<br />

Binnenmarkt. Könnte das<br />

Freihandelsabkommen den<br />

Niedergang der USA und der<br />

EU abmildern?<br />

Ich bin seit jeher ein Verfechter<br />

des Freihandels und würde es<br />

sehr begrüßen, wenn Europa<br />

und die USA einen gemeinsamen<br />

Binnenmarkt schüfen. So<br />

entstünden auf beiden Seiten<br />

des Atlantiks viele Jobs, und es<br />

würde ein bisschen den Verlust<br />

der Arbeitsplätze kompensie-<br />

ren, die durch den Einsatz von<br />

Maschinen sowie durch die<br />

Verlagerung von Jobs in Niedriglohnländer<br />

verloren gegangen<br />

sind.<br />

Die Gespräche werden überschattet<br />

von der Abhöraffäre<br />

des US-Geheimdienstes NSA.<br />

Wie bewerten Sie die Überwachung<br />

der Bürger im Inland<br />

und im Ausland durch die US-<br />

Regierung?<br />

Die USA spionieren im großen<br />

Stil, nicht nur die NSA. Telefone<br />

werden abgehört, Zollbeamte<br />

dürfen Dateien von privaten<br />

Computern kopieren – ohne jeden<br />

Verdacht. Die Regierung<br />

bezuschusst Kameras, die – auf<br />

Streifenwagen montiert – die<br />

Nummernschilder sämtlicher<br />

Autos fotografieren, die ihnen<br />

begegnen. Die Angst vor Terroranschlägen<br />

dient als Rechtfertigung<br />

für ein Maß an staatlicher<br />

Überwachung, das noch<br />

vor wenigen Jahren die meisten<br />

Amerikaner schockiert hätte.<br />

Sie fordern seit Langem mehr<br />

Umweltschutz. Fakt ist: Die<br />

globalen Treibhausgase steigen<br />

weiter. Was ist zu tun?<br />

Wir müssen den Übergang zu<br />

einer kohlenstoffarmen Welt<br />

beschleunigen. Ich schlage vor,<br />

eine CO 2 -Steuer einzuführen,<br />

die den für die globale Erderwärmung<br />

verantwortlichen<br />

Treibhausgas-Emissionen einen<br />

angemessenen Marktpreis<br />

zuweist. Gekoppelt werden sollte<br />

das mit niedrigen Grenzwerten<br />

für Emissionen.<br />

Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />

lehnt zu strenge Grenzwerte<br />

etwa beim CO 2 -Ausstoß von<br />

Neuwagen mit Blick auf die<br />

heimischen Autobauer ab.<br />

Ich verstehe, dass Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel unter enormem<br />

Druck der Wirtschaft steht.<br />

Deutschland ist in vielen Punkten<br />

beim Klimaschutz – etwa<br />

beim Ausbau der erneuerbaren<br />

Energien – Vorreiter. Aber im<br />

Verkehr müssen wir umweltfreundlicher<br />

werden. Da müssen<br />

wir mehr tun, in den USA<br />

und auch in Deutschland.<br />

tim.rahmann@wiwo.de<br />

ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER; FOTO: PR<br />

10 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

QATAR AIRWAYS<br />

Zweifel am<br />

Super-Airbus<br />

Angst ums Hemd der Passagiere<br />

Qatar-Chef Al Baker<br />

Bisher hat Airbus-Chef Tom<br />

Enders für seinen Riesenflieger<br />

A380 nur 180 sichere Bestellungen<br />

erhalten – zu wenig, um<br />

jemals die Entwicklungskosten<br />

von geschätzt bis zu 15 Milliarden<br />

Euro zu verdienen. Da zieht<br />

Akbar Al Baker auch noch<br />

über den Superjumbo her. „Der<br />

A380 war ein effizientes Flugzeug<br />

bei einem Ölpreis von 30<br />

bis 40 Dollar pro Barrel“, sagt<br />

der Chef der Nobellinie Qatar<br />

Airways aus dem Emirat Katar.<br />

Er selbst hat 13 Exemplare geordert,<br />

aber das bremst ihn nicht<br />

in seiner Kritik. „Jetzt bei einem<br />

Ölpreis von weit über 100 Dollar<br />

ist die Maschine bestenfalls<br />

ein schwieriges Flugzeug, und<br />

auf extrem langen Strecken verliert<br />

man mit ihm leicht das<br />

letzte Hemd“, kritisiert Al Baker.<br />

Er will sein Urteil nicht ändern,<br />

obwohl Airbus jetzt diskutiert,<br />

ob die Triebwerke durch<br />

effizientere Motoren der neuen<br />

Generation ersetzt werden sollen.<br />

„Das“, sagt Akbar, „spart am<br />

Ende nur ein bis zwei Prozent<br />

der Betriebskosten und lohnt<br />

den Aufwand nicht.“<br />

ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />

TOP-TERMINE VOM <strong>12</strong>.<strong>05</strong>. BIS 18.<strong>05</strong>.<br />

<strong>12</strong>.<strong>05</strong>. DGB Der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes<br />

(DGB) in Berlin wählt am Montag<br />

einen neuen Vorsitzenden. Kandidat ist Reiner<br />

Hoffmann, 58. Amtsinhaber Michael Sommer, 62,<br />

tritt nicht mehr an.<br />

13.<strong>05</strong>. Bankenrecht Der Bundesgerichtshof verhandelt<br />

am Dienstag darüber, ob Banken und Sparkassen<br />

von Kunden ein Bearbeitungsentgelt fordern dürfen,<br />

wenn die einen Darlehensvertrag abschließen.<br />

Rundfunkgebühr Der Verfassungsgerichtshof<br />

Rheinland-Pfalz entscheidet, ob die Anfang 2013<br />

eingeführte Zwangsabgabe für den Rundfunk<br />

rechtmäßig ist. Zwei Tage später, am Donnerstag,<br />

verkündet der Bayerische Verfassungsgerichtshof<br />

sein Urteil zum neuen Rundfunkbeitrag.<br />

14.<strong>05</strong>. Porsche Das Landgericht Braunschweig<br />

verhandelt am Mittwoch<br />

über Klagen von Fonds und Anlegern,<br />

die von Porsche Schadensersatz<br />

von insgesamt 2<strong>12</strong> Millionen<br />

Euro fordern. Hintergrund ist der gescheiterte Plan<br />

von Porsche, 2008/09 VW zu übernehmen.<br />

15.<strong>05</strong>. Konjunktur Das Statistische Bundesamt berichtet<br />

am Donnerstag über das deutsche Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) im ersten Quartal. Im vierten Quartal<br />

war es gegenüber dem Vorquartal um 0,4 Prozent<br />

gestiegen und gegenüber dem Vorjahresquartal<br />

um 1,3 Prozent. Über das BIP der Euro-Länder<br />

informiert die EU-Behörde Eurostat.<br />

18.<strong>05</strong>. Mindestlohn Die Schweizer stimmen am Sonntag<br />

darüber ab, ob das Land einen gesetzlichen<br />

Mindestlohn von 22 Franken (rund 18 Euro) pro<br />

Stunde einführen soll. In Deutschland gilt von 2015<br />

an ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro.<br />

MBB CLEAN ENERGY<br />

Angst um Anleihe<br />

In die Liste notleidender Mittelstandsanleihen<br />

wie Zamek<br />

oder Strenesse reiht sich<br />

womöglich auch MBB Clean<br />

Energy ein. Das bayrische<br />

Unternehmen sammelte<br />

2013 bei Anlegern 72 Millionen<br />

Euro ein. Das Geld sollte<br />

in bestehende Wind- und<br />

Solarparks fließen. Am Dienstag<br />

sagte MBB-Clean-Energy-<br />

Chef Eckhart Misera die<br />

erstmals fällige Zinszahlung<br />

von 4,5 Millionen Euro ab. Er<br />

will die Auszahlung „zeitnah“<br />

nachholen. Das hänge von<br />

einem neuen Investor ab.<br />

Skeptische Anleihegläubiger<br />

fürchten hingegen um ihr Geld.<br />

Denn wofür Misera die 72 Millionen<br />

Euro ausgegeben hat, ist<br />

unklar. Jedenfalls nicht für angeblich<br />

schon abgeschlossene<br />

Geschäfte. So dementierte der<br />

BERLINER SCHLOSS<br />

Steuergeld<br />

statt Spenden<br />

Der Nachbau des Berliner<br />

Schlosses droht den Steuerzahler<br />

stärker zu belasten als kalkuliert.<br />

Insgesamt soll es 619 Millionen<br />

Euro kosten, davon<br />

Wirtschaft hält sich zurück<br />

Modell des Berliner Schlosses<br />

sollen 109 Millionen Euro aus<br />

Spenden finanziert werden.<br />

Bisher gingen laut Bundesbauministerium<br />

aber nur 17,6 Millionen<br />

Euro an Spenden ein.<br />

Bleibt es bei der Zurückhaltung<br />

bis zur Fertigstellung 2018,<br />

könnte der Bund gezwungen<br />

sein, nachzuschießen. Eigentlich<br />

soll er nur 478 Millionen<br />

Euro zahlen. 32 Millionen Euro<br />

übernimmt die Stadt Berlin.<br />

Für Arbeiten an Fassade und<br />

Kuppel „benötigen wir in diesem<br />

und im nächsten Jahr weitere<br />

Millionenspenden“, so die<br />

Stiftung Berliner Schloss. Bisher<br />

lägen „keine größeren Spendenzusagen<br />

aus dem Kreis der<br />

deutschen Wirtschaft vor“.<br />

christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />

US-Maschinenbaukonzern<br />

Dresser-Rand im Februar den<br />

von MBB Clean Energy angekündigten<br />

Erwerb von drei Solarparks<br />

auf Sizilien. Und den<br />

Windpark Nulvi-Tergo auf Sardinien,<br />

den Misera im September<br />

2013 erworben haben will,<br />

führt der angebliche Verkäufer<br />

Fri-el immer noch im eigenen<br />

Portfolio. MBB Clean Energy erklärt<br />

auf Anfrage, dass sich der<br />

Kauf dieser Parks „aufgrund der<br />

Gespräche mit Großinvestoren<br />

verzögert“ habe.<br />

harald.schumacher@wiwo.de, mario brück<br />

FOTOS: GETTY IMAGES/BLOOMBERG, BLOOMBERG/PETER FOLEY, LAIF/ZENIT/LANGROCK<br />

<strong>12</strong> Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft<br />

CHEFSESSEL<br />

START-UP<br />

SIEMENS<br />

Lisa Davis, 50, leitet von<br />

August an das Energiegeschäft<br />

des Münchner Technologiekonzerns<br />

sowie dessen<br />

Aktivitäten in Nord- und<br />

Südamerika. Derzeit führt<br />

die Chemie-Ingenieurin die<br />

Strategieabteilung des britisch-niederländischen<br />

Ölkonzerns<br />

Shell und sitzt dem<br />

Aufsichtsrat von Shell<br />

Deutschland vor. Bei Siemens<br />

löst sie Michael Süß,<br />

50, ab. Der Personalwechsel<br />

ist Teil eines breit angelegten<br />

Programms, mit dem Siemens-Chef<br />

Joe Kaeser, 56,<br />

das Unternehmen zu alter<br />

Stärke zurückführen will. In<br />

den vergangenen Jahren waren<br />

die Münchner im Vergleich<br />

zu General Electric bei<br />

Rendite und Innovationen<br />

zurückgefallen. Davis soll<br />

neue Akzente setzen.<br />

BEIERSDORF<br />

May Shana’a wird Anfang Oktober<br />

Entwicklungschefin des<br />

Hamburger Kosmetikkonzerns.<br />

Der bisherige Leiter der Hautforschung,<br />

Klaus-Peter Wittern,<br />

gilt bei Beiersdorf als Ikone, seit<br />

1977 arbeitet er schon beim Nivea-Hersteller.<br />

Wittern war es,<br />

der den hauteigenen Q10 als<br />

Wirkstoff in Hautpflegeprodukten<br />

entdeckte und das Nivea<br />

Black & White Deo entwickelte,<br />

die erfolgreichsten Produktneuheit<br />

in der über 130-jährigen<br />

Firmenhistorie. Shana’a war<br />

mehr als 20 Jahre lang im Bereich<br />

der Körperpflege und Kosmetik<br />

tätig. Zuletzt leitete sie die<br />

Forschungs- und Entwicklungsabteilung<br />

der amerikanischen<br />

Chemiefirma Ashland Specialty<br />

Ingredients. Zuvor war sie in<br />

den Forschungsabteilungen<br />

von Johnson & Johnson (bebe)<br />

sowie bei Unilever (Dove).<br />

SAP<br />

Vishal Sikka, 46, Technikvorstand<br />

des Softwarekonzerns, ist<br />

zurückgetreten – „aus persönlichen<br />

Gründen“, so SAP. Für<br />

Sikka rücken Vertriebschef Rob<br />

Enslin, 51, und Bernd Luekert,<br />

46, Chef der Anwendungsentwicklung,<br />

in den Vorstand auf.<br />

Sikka galt als Schützling von<br />

SAP-Gründer Hasso Plattner,<br />

70, der betonte: „Unsere<br />

Freundschaft bleibt bestehen.“<br />

WiWo-Reise zu Start-ups<br />

Wollten Sie schon immer<br />

einmal den experimentellen<br />

Gründergeist der Berliner<br />

Start-up-Szene – natürlich<br />

außerhalb des Regierungsviertels<br />

– persönlich und live<br />

erleben? Sich von neuen<br />

Geschäftsideen inspirieren<br />

lassen? Dann melden Sie<br />

sich umgehend an für die<br />

einmalige WirtschaftsWoche<br />

Start-up-Tour am 13. Juni<br />

dieses Jahres.<br />

Alle Details zu dieser<br />

exklusiven Erkundungsreise<br />

finden Sie im Internet unter:<br />

www.wiwo.de/startup<br />

QLEARNING<br />

Büffeln per Smartphone<br />

Wie viele Studenten ärgerte sich Korbinian Weisser (2. Reihe<br />

Mitte) über die Materialien zur Vorbereitung einer Klausur. Gemeinsam<br />

mit seinem Kommilitonen Felix Klühr (ganz links) entwarf<br />

der angehende Betriebswirt eigene Tests zum Üben. „Es wäre<br />

schade um die Arbeit, wenn die nach uns keiner weiternutzt“, sagte<br />

sich Weisser. Da zwei andere Studenten für ihren Kurs eine Smartphone-App<br />

programmieren mussten, taten sie sich zusammen.<br />

Nach dem Uni-Abschluss gründeten sie das Start-up QLearning.<br />

Mit ihrer kostenlosen App bieten sie nun Studenten Multiple-<br />

Choice-Tests und andere Materialien zur Prüfungsvorbereitung<br />

an. Der Schwerpunkt liegt auf Wirtschaftswissenschaften, Materialien<br />

für Ingenieure und Naturwissenschaftler sollen verstärkt<br />

hinzukommen. Die Inhalte sind auf spezifische Kurse zugeschnitten<br />

und werden von Studenten erstellt, die diese erfolgreich<br />

absolviert haben. Geld verdient QLearning mit Werbung von<br />

Unternehmen wie Deloitte, Roland Berger oder Rewe.<br />

Unter den 45 Hochschulen sind auch erste Institute aus anderen<br />

Ländern, so aus der Schweiz und aus den Niederlanden.<br />

Weisser will in weitere<br />

Fakten zum Start<br />

Team momentan 15 Mitarbeiter<br />

Angebot derzeit Materialien für<br />

220 Kurse an 45 Hochschulen<br />

Finanzierung von der Deutschen<br />

Telekom, K5 Venture und M-Investar<br />

mehrere Hunderttausend Euro<br />

europäische Staaten<br />

expandieren. „Speziell in<br />

Großbritannien und in<br />

Skandinavien, aber auch<br />

ein wenig in Polen, Frankreich,<br />

Italien oder Spanien“,<br />

kündigt der Unternehmensgründer<br />

an.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />

14 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />

Jürgen Leiße<br />

Deutschland-Chef des Lebensmittelmultis Mondelez<br />

Noch prangt Jacobs auf dem<br />

blauen Banner, das im Chefbüro<br />

hängt. „Nur die großen geschäftstreibenden<br />

Marken stehen<br />

darauf“, sagt Jürgen Leiße,<br />

51, der die Geschäfte des amerikanischen<br />

Lebensmittelriesen<br />

Mondelez in Deutschland, Österreich<br />

und der Schweiz leitet.<br />

Milka-Schokolade, Philadelphia-Käse<br />

und Oreo-Kekse gehören<br />

ebenso dazu wie Jacobs<br />

und Tassimo. Doch die beiden<br />

Kaffeemarken kann Leiße bald<br />

streichen. Mondelez bringt sie<br />

in das Unternehmen Jacobs<br />

Douwe Egberts ein, das der<br />

Konzern jetzt mit der niederländischen<br />

Kaffeefirma D.E.Masters<br />

Blenders gründet. Hinter<br />

ihr steht die deutsche Unternehmerfamilie<br />

Reimann.<br />

Seit Sommer<br />

2010 residiert Leiße<br />

im Chefbüro in Bremen,<br />

gemeinsam mit<br />

dem hiesigen Finanzchef<br />

und dem Chefjuristen.<br />

Die letzten<br />

Einzelbüros wurden<br />

360 Grad<br />

In unseren App-<br />

<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />

Sie an dieser<br />

Stelle ein interaktives<br />

360°-Bild<br />

20<strong>12</strong> aufgelöst. „Sie passen<br />

nicht mehr zu der Art und Weise,<br />

wie wir operieren wollen:<br />

transparent und schnell“, sagt<br />

Leiße. „Wir haben einen anderen<br />

Kommunikationsstil als<br />

früher.“ Dazu trügen nicht nur<br />

Notebooks und Smartphones<br />

bei, sondern eben auch die<br />

Form der Büros. „Die Leute verstehen<br />

sich ganz anders, wenn<br />

sie keine Wände zwischen<br />

sich haben“,<br />

lobt Leiße. Genauso<br />

wichtig ist ihm sein<br />

„Tagesjournal“. So<br />

nennt er die Kladde,<br />

die er fast immer bei<br />

sich trägt. „Ich schreibe<br />

permanent mit“,<br />

zumal er in Konferenzen sein<br />

Smartphone ausschaltet und<br />

auf seinen Laptop verzichtet.<br />

„Der Respekt gegenüber den<br />

Kollegen gebührt es, dass man<br />

in Besprechungen nicht permanent<br />

mit dem iPhone operiert.“<br />

Komplett abschalten kann<br />

Leiße zu Hause – am Herd. „Kochen<br />

hat was Entspannendes“,<br />

sagt Leiße. „Ich probiere viel<br />

aus. Manchmal freut sich meine<br />

Familie, manchmal nicht. Mit<br />

seiner Frau und seinem fünfjährigen<br />

Sohn wohnt er in<br />

einem Bremer Vorort „mit dörflichem<br />

Charakter“, wie Leiße<br />

betont. Aber „in weniger als<br />

20 Minuten bin ich im Büro“.<br />

hermann.olbermann@wiwo.de<br />

FOTO: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

16 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Wolfgang, rück die<br />

Kohle raus!<br />

STEUERN | Die neue Steuerschätzung belegt: Der Staat schwimmt geradezu im Geld.<br />

Noch weigert sich der Bundesfinanzminister, die durch kalte Progression geschröpften<br />

Arbeitnehmer in Deutschland zu entlasten. Doch der Druck auf Wolfgang Schäuble<br />

wächst – auch aus der SPD und den Gewerkschaften.<br />

Der Silvester-Klassiker „Dinner<br />

for one“ lässt grüßen. „Same<br />

procedure as last year“, fragt<br />

der getreue Diener seine Chefin.<br />

Und Miss Angie antwortet<br />

wie stets: „Same procedure as every year,<br />

Wolfgang!“<br />

Finanzminister Schäuble kann sich vorerst<br />

darauf einrichten, dass Kanzlerin Angela<br />

Merkel beim traditionell eingeübten<br />

Ablauf bleibt: Mögen die Hochrechnungen<br />

der Steuerschätzer auch immer weiter<br />

steigende Einnahmen hergeben, es bleibt<br />

beim strengen Nein auf die Frage, ob die<br />

Bürger nicht endlich wenigstens etwas von<br />

dem zurückbekommen könnten, was sie<br />

durch die sogenannte kalte Progression zu<br />

viel beim Finanzamt abliefern müssen.<br />

Dieses Mal setzte Miss Angie sogar noch<br />

einen drauf. Ihr fehle die „Fantasie“, um<br />

sich vorzustellen, wie sich eine Rückgabe<br />

des Extra-Inkassos überhaupt finanzieren<br />

ließe.<br />

Seit Donnerstag vergangener Woche bedarf<br />

es freilich keiner blumigen Vorstellungskraft<br />

mehr, denn der Beweis liegt<br />

Schwarz auf Weiß vor: Dank des Wirtschaftswachstums<br />

und der Preissteigerungen<br />

sprudeln die Steuereinnahmen unvermindert<br />

weiter. Bis zum Ende des Prognosezeitraums<br />

2018 summiert sich das Plus<br />

für Bund, Länder und Kommunen im Vergleich<br />

zu diesem Jahr auf über 240 Milliarden<br />

Euro. Allein im Jahr 2018 stehen ihnen<br />

dann satte 96 Milliarden mehr zur Verfügung.<br />

Das sind noch einmal 16,4 Milliarden<br />

Euro mehr als bei der letzten Steuerschätzung<br />

im vergangenen November kalkuliert.<br />

Die Stadtkämmerer und Finanzminister<br />

eilen von Rekord zu Rekord.<br />

Es läuft und läuft und läuft...<br />

Einnahmen desStaates ausder kalten<br />

Progression beider Einkommensteuer*<br />

2011<br />

20<strong>12</strong><br />

2013<br />

<strong>2014</strong><br />

2015<br />

2016<br />

2017<br />

2,9<br />

5,7<br />

7,6<br />

9,2<br />

<strong>12</strong>,2<br />

* in Milliarden Euro; Quelle: Bund der Steuerzahler<br />

15,7<br />

18,7<br />

Doch Schäuble rechnet sich trickreich<br />

arm. Nicht mit Bedauern, eher mit stiller<br />

Zufriedenheit stellt der Kassenwart fest,<br />

dass „entgegen vieler Spekulationen“ nun<br />

doch kein Geld für Steuerentlastungen in<br />

Sicht sei, „keinerlei Spielraum“. Für das laufende<br />

Jahr ergebe sich sogar ein kleiner<br />

Rückgang bei den Einnahmen. Und natürlich<br />

habe man für die Berechnungen noch<br />

nicht einmal „Verschlechterungen aus den<br />

geopolitischen Entwicklungen“ einkalkuliert.<br />

Ein möglicher Konjunktureinbruch<br />

durch die Ukraine-Krise ist also gedanklich<br />

noch zusätzlich abzuziehen.<br />

Statt mit der November-Prognose vergleicht<br />

er die am Donnerstag vorgestellte<br />

Schätzung lieber mit dem Eckwertebeschluss<br />

für den <strong>2014</strong>er-Bundeshaushalt<br />

und der mittelfristigen Finanzplanung<br />

<strong>vom</strong> März. Da hatte die Regierung schon<br />

mit höheren Einnahmen kalkuliert – aber<br />

auch mit höherem Finanzbedarf. Denn die<br />

neue schwarz-rote Regierung hat in ihrem<br />

Koalitionsvertrag etliche neue <strong>Ausgabe</strong>n<br />

festgeschrieben, die finanziert sein wollen:<br />

für Bildung und Forschung, für soziale Förderung<br />

und Straßenbau, für Entwicklungshilfe<br />

und Wohnungsbau. Nur für die Steuerzahler,<br />

deren Belastung durch die kalte<br />

Progression von Jahr zu Jahr wächst, bleibt<br />

wieder nichts übrig. Die Steuerquote steigt.<br />

Bei historisch niedriger Geldentwertung<br />

von unter zwei Prozent pro Jahr klingt ein<br />

steuerlicher Inflationsausgleich vielleicht<br />

zunächst vernachlässigbar. Beim genauen<br />

Nachrechnen entpuppt sich die kalte Progression<br />

aber als gigantische Umverteilung<br />

von Privat zum Staat. Gerechnet seit dem<br />

Jahr 2010, addieren sich die Sonderlasten<br />

der Bürger und kleinen Unternehmen, die<br />

beispielsweise als GbR oder Einzelkaufmann<br />

nach der Einkommensteuertabelle<br />

abkassiert werden, auf gigantische 72 Milliarden<br />

Euro, hat das Steuerzahlerinstitut errechnet.<br />

Allein in dieser Legislaturperiode<br />

werden es 55,8 Milliarden Euro sein, weil<br />

die schwarz-gelbe Bundesregierung ihr<br />

Entlastungs-Vorhaben zu spät startete und<br />

es den SPD-geführten Ländern im Bundesrat<br />

leicht machte, den damaligen Gesetzentwurf<br />

zu blockieren.<br />

ENORME SUMME<br />

Die enorme Summe kommt zustande, weil<br />

selbst eine Lohnerhöhung, die nur die<br />

Preissteigerung ausgleicht, zu einem höheren<br />

Steuersatz führt. In einem progressiven<br />

Steuertarif steigt die Belastung auch dann,<br />

wenn die Kaufkraft real gar nicht zunimmt.<br />

Das nennen Experten „kalte Progression“.<br />

Das Steuerzahlerinstitut nimmt als Basis<br />

für seine Berechnungen das Ausgangsjahr<br />

2010, weil der Lohn- und Einkommen-<br />

»<br />

FOTO: LAIF/STEFAN THOMAS KRÖGER<br />

18 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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€Bis 2018 summiert sich das<br />

Steuer-Plus für Bund, Länder und<br />

Kommunen im Vergleich zu diesem<br />

Jahr auf über 240 Milliarden Euro.<br />

Allein im Jahr 2018 stehen ihnen<br />

dann rund 96 Milliarden Euro<br />

mehr zur Verfügung.<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

steuertarif damals letztmalig reformiert<br />

und angepasst wurde. Seitdem hat der Gesetzgeber<br />

lediglich in diesem Jahr den<br />

Grundfreibetrag von 8004 auf 8130 Euro erhöht.<br />

Im Januar 2015 springt er dann auf<br />

8354 Euro. Deren Entlastungswirkung haben<br />

die Wissenschaftler bereits einkalkuliert.<br />

Trotzdem kommen jene horrenden<br />

55,8 Milliarden Euro zusammen. Der Sachverständigenrat<br />

berechnet seine Progressionswerte<br />

sogar auf der Basis von 2006,<br />

während das Bundesfinanzministerium<br />

das Jahr 2013 als Ausgangswert ansetzt.<br />

Kein Wunder, dass bei den Regierungsbeamten<br />

geringere Werte herauskommen.<br />

RUF NACH ENTLASTUNG<br />

Kein Wunder aber auch, dass angesichts<br />

der immer neuen realen Einnahmerekorde<br />

die Rufe nach Entlastung immer lauter<br />

werden. „In die Steinkohlesubventionierung<br />

fließen Milliarden, für die Förderung<br />

von Kinofilmen wie ‚Monuments Men‘ haben<br />

die Steuerzahler über 8,5 Millionen<br />

Euro bezahlen müssen“, schimpft Reiner<br />

Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler.<br />

„Damit Kleingärtner mehr über<br />

die Ökologie erfahren, stellt die Politik über<br />

160 000 Euro zur Verfügung. Wenn es aber<br />

um den Abbau der kalten Progression geht,<br />

entdecken unsere Spitzenpolitiker Haushaltslöcher,<br />

Investitionsbedarf bei der Infrastruktur<br />

und die Notwendigkeit, noch<br />

mehr Geld in die Bildung zu investieren.“<br />

Sparen, entlasten und Prioritäten setzen<br />

seien im politischen Berlin anscheinend<br />

Fremdwörter. Holznagels Forderung: „Angesichts<br />

der gigantischen Steuereinnahmen<br />

müssen endlich die Steuerzahler entlastet<br />

werden – sprich: Die kalte Progression<br />

muss abgebaut werden!“<br />

Im Lichte der Rekordeinnahmen kommt<br />

Unterstützung neuerdings sogar von der<br />

SPD. „Schäuble muss einen Vorschlag machen,<br />

wie wir das Thema kalte Progression<br />

in dieser Legislaturperiode lösen können“,<br />

verlangt der Parteivorsitzende und Vizekanzler<br />

Sigmar Gabriel <strong>vom</strong> Finanzminister.<br />

„Das kann man nicht machen, bei diesen<br />

Riesensteuereinnahmen das Thema<br />

nicht anzugehen.“<br />

Zwei Gründe führt er an, weshalb jetzt<br />

alles anders sei als vor der Bundestagswahl.<br />

„Damals hatten wir diese Riesensteuereinnahmen<br />

nicht – und jetzt haben<br />

wir die Gewerkschaften an unserer Seite.<br />

Das ist ein großer Vorteil.“ Und der zeige<br />

bereits Wirkung, denn unter den Genossen<br />

bröckele der Widerstand gegen einen Abbau<br />

der kalten Progression, den die SPD im<br />

Klammheimlich kassiert der Staat immer mehr<br />

Zusätzliche Belastung durch die kalte Progression in dieser Legislaturperiode (in Euro)<br />

Zu versteuerndes<br />

Jahreseinkommen*<br />

24 000<br />

42 000<br />

75 000<br />

<strong>12</strong>0 000<br />

250 000<br />

24 000<br />

42 000<br />

75 000<br />

<strong>12</strong>0 000<br />

250 000<br />

Kalte<br />

Progression<br />

<strong>2014</strong><br />

175<br />

399<br />

558<br />

558<br />

1110<br />

Single<br />

Familie (Ehepaar mit 2 Kindern)<br />

151<br />

298<br />

663<br />

1115<br />

1115<br />

Kalte<br />

Progression<br />

2015<br />

* Basisjahr 2010 (letzte Tarifreform), Annahmen: Tarif <strong>2014</strong>; keine Tarifänderungen 2015 bis 2017; unterstellte Inflationsraten<br />

2011 bis 2017: (2,1 %; 2,0 %; 1,5;1,5 %; 1,8 %; 1,8 %; 1,8 %); Solidaritätszuschlag ist berücksichtigt;<br />

Quelle: Deutsches Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler<br />

Wahlprogramm fest mit einer Erhöhung<br />

des Spitzensteuersatzes verknüpft hatte.<br />

„In der Fraktion teilen die meisten meine<br />

Position. Da sind nur noch ganz wenige<br />

anderer Meinung.“ Außerdem erinnert Gabriel<br />

daran, dass eine Gegenfinanzierung<br />

durch einen höheren Spitzensteuersatz für<br />

gut Verdienende nicht mehr infrage komme.<br />

„Die SPD-Mitglieder haben mit 80 Prozent<br />

gegen Steuererhöhungen gestimmt“,<br />

verweist er fast schon frech auf die hohe<br />

Rate, mit der die Genossen in der Mitgliederbefragung<br />

dem Koalitionsvertrag ihren<br />

Segen gaben.<br />

Wo geht es hin, das schöne Geld?<br />

<strong>Ausgabe</strong>n des Bundes nach Aufgabenbereichen<br />

Politische Führung/Verwaltung<br />

Verteidigung<br />

Bildung, Forschung, Kultur<br />

Soziale Sicherung<br />

Gesundheit, Umwelt, Sport<br />

Wohnungswesen<br />

Ernährung<br />

Gewerbe, Energie, Wasserwirtschaft<br />

Verkehrs- und Nachrichtenwesen<br />

Finanzwirtschaft, Schulden<br />

Zum Vergleich:<br />

Steuereinnahmen des Bundes<br />

* Entwurf des Bundeshaushaltes<br />

20<strong>05</strong><br />

7,8<br />

27,8<br />

11,4<br />

133,0<br />

0,9<br />

1,8<br />

1,0<br />

5,5<br />

11,1<br />

38,5<br />

190,2<br />

243<br />

531<br />

724<br />

724<br />

1430<br />

230<br />

420<br />

887<br />

1447<br />

1447<br />

Kalte<br />

Progression<br />

2016<br />

313<br />

668<br />

893<br />

893<br />

1755<br />

3<strong>12</strong><br />

543<br />

1<strong>12</strong>2<br />

1787<br />

1787<br />

Kalte<br />

Progression<br />

2017<br />

385<br />

8<strong>12</strong><br />

1066<br />

1066<br />

2086<br />

400<br />

671<br />

1366<br />

2131<br />

2131<br />

In dieser Legislaturperiode<br />

zu viel gezahlt<br />

1116<br />

2410<br />

3241<br />

3241<br />

6381<br />

1093<br />

1932<br />

4038<br />

6480<br />

6480<br />

Auch ein Veto der SPD-regierten Bundesländer<br />

hält der Parteichef heute für<br />

weitaus unwahrscheinlicher als vor der<br />

Bundestagswahl: „Für die SPD-Länder wäre<br />

es heute viel schwieriger, das zu verweigern“,<br />

glaubt Gabriel. „Man sollte nicht unterschätzen,<br />

dass die Haltung der Gewerkschaften<br />

auch in den Ländern wirkt.“<br />

Mit den üppigen Lohnabschlüssen von<br />

über drei Prozent sehen vor allem die Chemiegewerkschaft<br />

IG BCE und die IG Metall<br />

dringenden Bedarf, dass von dem Geldsegen<br />

der Arbeitgeber auch genügend bei<br />

den Kollegen ankommt. Der DGB warb gar<br />

<strong>2014</strong>*<br />

13,8<br />

32,4<br />

19,2<br />

148,2<br />

2,0<br />

2,2<br />

1,0<br />

4,4<br />

16,4<br />

35,8<br />

268,2<br />

Veränderung<br />

(in Mrd. Euro)<br />

6,0<br />

4,6<br />

7,8<br />

15,2<br />

1,1<br />

0,4<br />

0<br />

–1,1<br />

5,3<br />

–2,7<br />

78,0<br />

Veränderung<br />

(in Prozent)<br />

76,9<br />

16,5<br />

68,4<br />

11,4<br />

<strong>12</strong>2,2<br />

22,2<br />

0<br />

–20,0<br />

47,7<br />

–7,0<br />

41,0<br />

FOTOS: CORBIS/WESTEND61/BERG/MITO IMAGES<br />

20 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

mit dem Argument, durch einen Abbau der<br />

kalten Progression ließe sich die wachsende<br />

Kluft zwischen Arm und Reich wenigstens<br />

ein wenig verringern.<br />

UNION VERÄRGERT<br />

Der Koalitionspartner Union sieht die Vorstöße<br />

aus dem Lager der Genossen mit<br />

wachsendem Ärger. Schließlich hatte die<br />

SPD in der vergangenen Legislaturperiode<br />

den entsprechenden Gesetzentwurf der<br />

schwarz-gelben Regierung zweieinhalb<br />

Jahre lang blockiert. „Damals hätten wir<br />

die Spielräume gehabt“, schimpft die sonst<br />

so ruhige CSU-Landesgruppenvorsitzende<br />

Gerda Hasselfeldt. „Jetzt haben wir einen<br />

ausgeglichenen Haushalt als oberstes Ziel<br />

vereinbart.“ Außerdem sei ein 23 Milliarden<br />

Euro schweres <strong>Ausgabe</strong>npaket zu<br />

schultern. Bei der Entlastung der Steuerzahler<br />

brauche die Union keine Nachhilfe.<br />

„Ich hätte mir gewünscht, dass die SPD die<br />

Vertretung der Arbeitnehmerinteressen<br />

früher entdeckt hätte.“ Jetzt stelle sie munter<br />

Forderungen auf, und die Union solle<br />

dann sagen, dass die nicht finanzierbar<br />

sind. „Diese Arbeitsteilung ist unkollegial.“<br />

SPD-Chef Gabriel will das nicht auf sich<br />

sitzen lassen: „Das Spiel können wir endlos<br />

weiterspielen: Warum hat die Union damals<br />

nicht zugestimmt, als wir die Entlastung<br />

mit Subventionsabbau gegenfinanzieren<br />

wollten? So kommen wir nicht weiter.“<br />

NEUE SPIELRÄUME AB 2016<br />

Auch Hasselfeldts Parteifreund Hans Michelbach<br />

wirbt für mehr Mut – und Geduld.<br />

„Es ist verständlich, dass man erst<br />

mal das Ziel des ausgeglichenen Haushalts<br />

erreichen will“, sagt der Finanz- und Mittelstandspolitiker.<br />

„Aber danach kann man<br />

sich ja neue Ziele setzen.“ Der Haushalt ohne<br />

neue Schulden werde ja schon 2015<br />

Realität. „Ab 2016 gibt es neue Spielräume.<br />

Der steuergefräßige Staat kann nicht auf<br />

Dauer die Einnahmen aus der kalten Progression<br />

für sich behalten.“ Wenn die Inflation<br />

nur etwas ansteigt, werde das für die<br />

Arbeitnehmer zum Problem.<br />

Schäuble indes ist entschlossen, keinen<br />

Euro rauszurücken. „Die Aufgabe der Regierung<br />

ist es, auf die Faktenlage hinzuweisen“,<br />

sagt er nüchtern. Und das will er beständig<br />

tun, denn „schon die alten Römer<br />

wussten: Die Wiederholung ist die Mutter<br />

allen Lernens.“ Die Anwälte der Steuerzahler<br />

müssen also mindestens genauso ausdauernd<br />

mahnen wie Schäuble. Same procedure<br />

as every year, Wolfgang.<br />

n<br />

henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />

So fern –<br />

und doch fast nah<br />

BUNDESTAG | Junge Unternehmer hospitieren eine Woche lang bei<br />

Abgeordneten. Kann man bei dieser Politik miteinander reden?<br />

Es ist Tag drei von fünf in der Hauptstadt,<br />

als Maurice Dietrich sein Besteck<br />

neben das Mittagsschnitzel<br />

legt, um ein Vorurteil abzuräumen, ein für<br />

alle Mal. „Die müssen“, sagt er, „echt viel<br />

tun für ihre Diäten.“ Die, das sind die Abgeordneten<br />

des Deutschen Bundestages.<br />

Und Dietrich – 25 Jahre, Prokurist bei der<br />

gleichnamigen Mittelständlergruppe seines<br />

Vaters – weiß jetzt, wovon er redet. Er<br />

ist schließlich so nah dran wie nie zuvor.<br />

„Junge Wirtschaft trifft Politik“ heißt das<br />

Programm, das 150 Mitglieder aus dem<br />

Verband der Wirtschaftsjunioren und<br />

ebenso viele Parlamentarier zu ungewohnten<br />

Pärchen verkuppelt. Miteinander diskutieren<br />

statt übereinander schimpfen – so<br />

lautet die inoffizielle Überschrift. Und<br />

gleichzeitig die Hoffnung. Denn zu streiten,<br />

über Rente oder Mindestlohn, gäbe es<br />

gerade genug, besonders wenn man wie<br />

Dietrich in der Regierungsfraktion der SPD<br />

hospitiert. Gegen die Rentenpläne organisieren<br />

die Jungunternehmer in ihrer Berlin-Woche<br />

sogar eigens eine Demo.<br />

Warum, dass erfährt die SPD-Abgeordnete<br />

Petra Crone gleich am Montag, schon<br />

wenige Minuten nach dem freundlichen<br />

Willkommens-Händedruck in ihrem Büro.<br />

Da erzählt Dietrich seiner Gastgeberin von<br />

einem seiner altgedienten Mitarbeiter, der<br />

die Tage zählt, bis die abschlagsfreie Rente<br />

ab 63 endlich Gesetz ist. Er schildert, welche<br />

Schwierigkeiten er hat, diese Lücke auf<br />

die Schnelle zu füllen.<br />

Aber Streit? Streit klingt anders. „Kritik<br />

an unserer Politik ist in Ordnung“, sagt Crone.<br />

„Ich erkenne sie an – aber ich muss<br />

eben auch andere Sichtweisen berücksichtigen.“<br />

Crone und Dietrich kommen aus<br />

demselben Wahlkreis Olpe/Märkischer<br />

Kreis in Nordrhein-Westfalen, Dietrichs<br />

Onkel ist in der Heimat sogar Crones Nachbar.<br />

Außerdem: Bei Problemen wie<br />

»Die müssen<br />

echt viel tun<br />

für ihre Diäten«<br />

Wie nett hier!<br />

Petra Crone trifft<br />

Maurice Dietrich<br />

»<br />

Maurice Dietrich<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 21<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

Fachkräftemangel und Landflucht sind<br />

sich die beiden sehr schnell wieder einig.<br />

Das hilft.<br />

Die Sozialdemokratin muss sich in einem<br />

tiefschwarzen Wahlkreis behaupten,<br />

gerade deswegen will sie die örtlichen<br />

Handwerkskammern und Arbeitgeberverbände<br />

nicht alleine der CDU-Konkurrenz<br />

überlassen, regelmäßig besucht sie Betriebe.<br />

Dass die SPD keine Wirtschaftspartei<br />

sei, „stimmt doch gar nicht“, findet sie. Deshalb<br />

mache sie ja auch bei diesem Programm<br />

mit: „Weil ich die Denke noch besser<br />

verstehen will.“<br />

Das Tempo im Regierungsviertel wiederum<br />

nötigt Dietrich Respekt ab. Arbeitsgruppe,<br />

Fraktionssitzung, das Rennen von<br />

Ausschuss zu Ausschuss, Papiere hier, Anfragen<br />

dort, vielleicht noch eine Rede im<br />

Plenum, Abendempfänge, so geht es <strong>vom</strong><br />

frühen Morgen bis hinein in die Frühlingsnächte.<br />

Dienstschluss? Die Leben als Unternehmer<br />

und als Politikerin haben da eine<br />

bemerkenswerte Parallele: Sie saugen<br />

einen ziemlich auf. Sie lassen wenig Zeit<br />

zum Innehalten, Nachdenken – erst recht<br />

nicht zum Infragestellen.<br />

EIGENTLICH NIE FEIERABEND<br />

Dietrich hat im 70-Leute-Betrieb des Vaters<br />

schon als Schüler sein erstes Geld verdient<br />

und später dort Industriekaufmann<br />

gelernt. Heute leitet er den Betrieb für filigrane<br />

Kunststoffkomponenten in Autos<br />

oder Medizingeräten schon mit, obwohl zu<br />

seinem Management-Bachelor in Köln<br />

noch vier Klausuren fehlen. Isst er abends<br />

mit seinen Eltern, dann gibt es immer das<br />

gleiche Tischgespräch als Beilage: das Geschäft.<br />

„Eigentlich ist nie Feierabend“, sagt<br />

er, „die Firma ist immer im Kopp.“<br />

Dass dieses vermeintlich ferne, hektische<br />

Schauspiel namens Politik für Dietrich<br />

und seine Leute ziemlich handfeste<br />

Folgen haben kann, wird ihm endgültig<br />

deutlich, als er am vergangenen Donnerstag<br />

im Bundestag auf den Besucherplätzen<br />

sitzt und der Debatte zum Erneuerbaren-<br />

Energien-Gesetz lauscht. In diesem Jahr<br />

hat die Firmen-Gruppe die EEG-Befreiung<br />

verloren. „Das ist schon ein bisschen Geld“,<br />

sagt der Juniorchef. „Und da brauchen Sie<br />

keinem Kunden mit kommen.“ Will heißen:<br />

Die Firma muss es mühsam an anderer<br />

Stelle herausschwitzen.<br />

Petra Crone wird auch über dieses Gesetz<br />

abstimmen und vielleicht bei ihrer<br />

Entscheidung an Maurice Dietrich und die<br />

Folgen denken. Vielleicht.<br />

n<br />

max.haerder@wiwo.de I Berlin<br />

Milchgeld<br />

LANDWIRTSCHAFT | Fünf Jahre nach der großen Milchkrise:<br />

Der Strukturwandel hat stattgefunden, doch von klagenden Bauern<br />

hört man nichts mehr. Denn wer heute noch Kühe hat, verdient<br />

gutes Geld damit.<br />

Ihre Kühe sind weg, nach 600 Jahren<br />

Familienbetrieb. Christine Schneebichler<br />

und ihr Mann haben die Tiere verkauft,<br />

alle 50, auf einen Schlag. Sie sagt:<br />

„Wir haben einfach nicht mehr länger<br />

durchgehalten.“ Schneebichler ist eine beherzte<br />

Bäuerin, Ende 40, aus dem oberbayrischen<br />

Dorf Neubeuern. Ihr Leben<br />

spielte sich immer irgendwo ab zwischen<br />

Hof, Dorf und der einen oder anderen<br />

Fahrt ins benachbarte Rosenheim, von Zeit<br />

zu Zeit ging es auch mal nach München.<br />

Vor fünf Jahren aber wurde auf einmal alles<br />

anders. Statt in Neubeuern war sie nun in<br />

Berlin, campierte auf der großen Wiese<br />

zwischen Kanzleramt und Bundestag. Besser:<br />

Sie stand im Hungerstreik – und<br />

Deutschland schaute ihr dabei zu. Denn<br />

Schneebichler war plötzlich zum Mittelpunkt<br />

einer bundesweiten Diskussion<br />

geworden, die in der Rückschau fast ein<br />

bisschen absurd, zumindest aber ziemlich<br />

überdreht anmutet.<br />

Im Frühling 2009, während die Welt über<br />

die Finanzkrise grübelte, gab es in<br />

Deutschland nur ein Thema: den Milchpreis.<br />

Auf 23 Cent war der Abnahmepreis<br />

gesunken, die Bauern<br />

sagten: Davon können wir<br />

nicht leben. So vergossen<br />

sie ihre Milch auf der Straße.<br />

Und Deutschland<br />

nahm Anteil.<br />

Im Frühling <strong>2014</strong> liegt<br />

der Milchpreis bei über<br />

40 Cent. Wer immer<br />

noch Kühe hat, der<br />

verdient gerade gutes<br />

Geld damit. In fünf Jahren<br />

hat sich in der<br />

Milchwirtschaft alles<br />

geändert. Damit ist die<br />

Branche ein eindringliches<br />

Beispiel dafür,<br />

was passiert, wenn<br />

Subventions- auf<br />

Marktwirtschaft trifft –<br />

und wie heilsam es ist,<br />

wenn diese Verbindung<br />

endet.<br />

Lukratives Melken<br />

Milchpreis in Euro<br />

(Jahresmittel)<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20 <strong>05</strong> 13<br />

Quelle: Milchindustrie<br />

40 Cent, das bedeutet einen Preisanstieg<br />

um mehr als 50 Prozent. Innerhalb von<br />

fünf Jahren. Gerade haben die Discounter<br />

wieder ihre Preise für das kommende halbe<br />

Jahr verhandelt. Hätte das 2009 einer<br />

vorhergesagt, die Öffentlichkeit hätte über<br />

die Bauern vielleicht die Nase gerümpft, so<br />

wie es heute der eine oder andere tut,<br />

wenn er an den Streik der Lufthansa-Piloten<br />

denkt.<br />

DIE BAUERN KLAGTEN<br />

Doch die Lage war anders. Milchbauern<br />

hatten sich über Jahrzehnte an Subventionen<br />

gewöhnt, Milchseen waren in den<br />

Achtzigerjahren ein Synonym für die Fehlsteuerungen<br />

der EU, wie es heute Olivenkännchen<br />

oder die Gurkenkrümmung<br />

sind. Lange Jahre hatte man den Bauern einen<br />

auskömmlichen Milchpreis garantiert.<br />

2015 aber wird die Quote fallen. Um das<br />

vorzubereiten, wurde sie Jahr für Jahr erhöht.<br />

Die Bauern erhöhten die Produktionsmengen<br />

– und es gab zu viel Milch auf<br />

dem Markt. Das nutzten die großen Lebensmitteleinzelhändler.<br />

Sie drückten die<br />

Preise, man könnte das Marktwirtschaft<br />

nennen. Die Bauern aber klagten<br />

und fanden Gehör.<br />

Christine Schneebichler engagierte<br />

sich damals im Bund der<br />

Milchviehhalter. So wortgewandt<br />

sie ist, so schnell wurde<br />

sie zum Vorsprecher der<br />

Gruppe. Noch heute<br />

ist sie begeistert, wie<br />

gut das damals geklappt<br />

hat. „Wir haben<br />

überall gespürt, dass das<br />

Schicksal der Bauern die<br />

Menschen betroffen macht“,<br />

sagt Schneebichler. Sie wurde<br />

zu Talkshows eingeladen,<br />

organisierte Demonstrationen.<br />

So wurde auch ihre Forderung<br />

ziemlich schnell salonfähig:<br />

Der Markt ruiniert<br />

uns, die Politik soll helfen.<br />

Konkret wollte sie erreichen,<br />

dass der Milchpreis in die<br />

FOTOS: DDP IMAGES/STEFFI LOOS, FOTOLIA<br />

22 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Im Frühjahr 2009 trat Christine Schneebichler<br />

in den Hungerstreik – aus Protest<br />

gegen den niedrigen Milchpreis. Der hat<br />

aktuell ein Rekordhoch erreicht, doch davon<br />

hat sie nichts. Die Kühe sind verkauft – ihr<br />

geht es trotzdem gut<br />

Hand der Bauern gelegt würde, die ihn an<br />

den Produktionskosten ausrichten würden.<br />

Klingt nach Sozialismus, doch 2009<br />

konnte man das sagen.<br />

Schneebichler wollte einen „Milchgipfel“,<br />

auf dem die Politik das beschließen<br />

sollte. Als daraus nichts wurde, campierte<br />

sie im Mai 2009 mit 200 anderen Bauern<br />

vor dem Kanzleramt. Sechs von ihnen hörten<br />

auf zu essen. Es war der Höhepunkt der<br />

Milchkrise, Schneebichler wurde zum<br />

Symbol der Verzweiflung einer ganzen Bevölkerungsgruppe.<br />

„Damals hat das ganze<br />

Bundeskabinett über mich gesprochen“,<br />

sagt sie heute stolz.<br />

Die Bäuerinnen beendeten den kräftezehrenden<br />

Streik schließlich mit einem<br />

vermeintlichen Erfolg. Bundeskanzlerin<br />

Angela Merkel hatte sie eingeladen und<br />

mit pathetischen Worten Hilfe zugesagt.<br />

„Die Lage der Milchbauern ist extrem<br />

ernst“, so Merkel damals. Noch vor der<br />

Sommerpause wolle sie sich kümmern.<br />

<strong>2014</strong> sind es nicht mehr Discounterpreise,<br />

sondern chinesische Beamte, vor denen<br />

die Milchbauern zittern. Denn aus Merkels<br />

Ankündigungen ist nie etwas geworden.<br />

Stattdessen haben die Milchbauern sich<br />

selbst geholfen. In den vergangenen Jahren<br />

ist die Anzahl der produzierenden Betriebe<br />

gesunken, zugleich sind die durchschnittlichen<br />

Mengen pro Betrieb gestiegen,<br />

Marktbereinigung der klassischen<br />

Art.<br />

Auch haben die Bauern<br />

neue Märkte erobert. Der Export<br />

in Länder außerhalb der<br />

Europäischen Union macht<br />

derzeit schon 14 Prozent der<br />

Gesamtmenge aus. Allein<br />

die Ausfuhren nach China<br />

haben sich innerhalb des<br />

vergangenen Jahres verdoppelt.<br />

Dort ist Deutschland<br />

inzwischen der wichtigste<br />

Importeur von Milchprodukten,<br />

zu einem Durchschnittspreis<br />

von deutlich<br />

über zwei Euro pro Liter.<br />

Anfang des Jahres haben<br />

die chinesischen Behörden<br />

erstmals ihre eigenen<br />

Kontrolleure nach<br />

Deutschland geschickt, um die Qualität des<br />

wichtigen Importgutes zu überprüfen: „Sie<br />

waren sehr zufrieden“, jubelt ein Sprecher<br />

des Verbandes der Milchwirtschaft.<br />

Christine Schneebichler bekommt von<br />

diesem Boom nichts mehr mit. Im Sommer<br />

20<strong>12</strong> hat sie ihre Kühe verkauft. Auf<br />

dem Dach des einstigen Stalles stehen<br />

heute Solaranlagen, drinnen haben sich<br />

Handwerksbetriebe und Logistiker eingemietet.<br />

Die Schneebichlers selber leben<br />

von der Miete und der Herstellung von<br />

Saatgut. Die Milchwirtschaft hat sich in den<br />

kleinen Ställen mitten im Ort einfach nicht<br />

mehr gelohnt. Denn Neubeuern liegt an<br />

der Kreuzung zweier Autobahnen, noch<br />

dazu im erweiterten Münchner Umland,<br />

Traumlage für Immobilienbesitzer. „Uns<br />

geht es heute finanziell besser“, sagt sie.<br />

KEINE KÜHE, KEINE MÜHE<br />

Schneebichler erzählt dann, wie enttäuscht<br />

sie von der Politik ist und wie viele andere<br />

Höfe entweder aufgegeben hätten oder<br />

kräftig gewachsen seien. Sie berichtet voller<br />

Wut, beklagt das Ende der bäuerlichen<br />

Landwirtschaft. Doch eigentlich ist ihre Geschichte<br />

ein Beleg für wirtschaftlich höchst<br />

erfolgreichen Strukturwandel: Die Betriebe,<br />

die heute noch existieren, verdienen<br />

dank effizienter Anlagen und hoher Nachfrage<br />

gutes Geld. In Orten wie Neubeuern<br />

lässt sich mit anderen Dingen mehr verdienen,<br />

also setzen sie sich durch. Zumindest<br />

eine gute Sache findet daran sogar Christine<br />

Schneebichler: „Wenn heute ein Dorffest<br />

ist, dann kann ich sogar mal bis zum<br />

Ende bleiben.“ Keine Kühe, keine Mühe. n<br />

konrad.fischer@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 23<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Narenda Modi<br />

und das<br />

Rennen der Elefanten<br />

INDIEN | Im Duell der asiatischen Wirtschaftsmächte hinkt das Land seinem ewigen Rivalen China<br />

hoffnungslos hinterher. Narendra Modi, der Wunschkandidat der indischen Wirtschaft, will das<br />

ändern. Ende dieser Woche steht er aller Voraussicht nach als Sieger der Parlamentswahl fest. Doch<br />

mit ihm verbinden sich nicht nur Hoffnungen, sondern auch die Angst vor ethnischen Konflikten.<br />

Ideen hat Anil Khaitan viele. „Das Rückgrat<br />

einer Volkswirtschaft der Größe Indiens<br />

muss das produzierende Gewerbe<br />

sein“, sagt er, denn nur so ließen sich auch<br />

Jobs für die jungen Leute schaffen, die jährlich<br />

neu auf den Arbeitsmarkt strömen.<br />

Wenn Indiens Wirtschaft um acht Prozent<br />

wachsen solle, müsse die Industrie rund<br />

doppelt so viel produzieren wie derzeit.<br />

Geschieht dies nicht, sieht er für die Zukunft<br />

schwarz: „Wenn jeder zweite junge<br />

Inder keine ökonomische Perspektive hat,<br />

wird er im schlimmsten Fall ein Terrorist.“<br />

Dies zu verhindern, glaubt Anil Khaitan,<br />

setzt eine bessere Bildung, eine funktionierende<br />

Infrastruktur und eine liberalere<br />

Wirtschaftspolitik voraus. „Wir müssen<br />

aufhören, den Leuten Fische zu schenken“,<br />

sagt er, „gebt ihnen lieber eine Angel, damit<br />

sie selber fischen können.“<br />

Khaitan redet wie ein Politiker, ist aber<br />

Unternehmer – durch und durch. Als Juniorchef<br />

von Shalimar Industries führt er<br />

einen Mischkonzern mit Unternehmen in<br />

der Stahl-, Pharma-, Papier- und Rohstoffbranche.<br />

Alle zusammen setzen sie pro<br />

Jahr eine halbe Milliarde Dollar um. In der<br />

indischen Parlamentswahl, die schon seit<br />

dem 7. April läuft und deren Sieger am<br />

Freitag dieser Woche feststehen wird, hat<br />

er seine ganz Hoffnung auf Narenda Modi<br />

gesetzt, den 63-jährigen Spitzenkandidat<br />

der Indischen Volkspartei BJP. Der hat als<br />

Regierungschef der Provinz Gujarat seinen<br />

Landstrich in ein westindisches Musterländle<br />

verwandelt. Nun, so hoffen viele in<br />

der indischen Wirtschaft, soll er die Wandlung<br />

im Großen vollbringen. Modi „führt<br />

Indien dorthin, wo China heute ist“, hofft<br />

Anil Khaitan, er werde dieses riesige Land<br />

wie ein CEO führen – und die lähmende<br />

Korruption mit starker Hand bekämpfen.<br />

Nötig wäre es, denn die aktuelle Regierung<br />

unter Führung der <strong>vom</strong> Gandhi-Klan<br />

dominierten Kongresspartei hinterlässt<br />

das Land als Sanierungsfall. Mit Protektionismus<br />

und einer inkonsistenten Wirtschaftspolitik<br />

hat sie die Wirtschaft des<br />

Landes gelähmt. Direkte Hilfen für Arme<br />

und Festpreise für Agrarprodukte sollten<br />

bei der Armutsbekämpfung helfen – dabei<br />

liegt der Mangel eher darin, dass das Land<br />

zu wenig Nahrungsmittel produziert. Die<br />

Notenbank musste unlängst mit drastisch<br />

»Die Regierung<br />

teert am Tag<br />

1,5 km Straße,<br />

versprochen<br />

waren 11«<br />

Satyakam Kohli, BJP-Partei<br />

einmal der Strom aus. Die neue Regierung<br />

muss auch am Investitionsklima feilen, damit<br />

ausländische Investoren ihr Geld nicht<br />

länger lieber nach China tragen. Der ewige<br />

Rivale Indiens ist zwar härter umkämpft, hat<br />

höhere Löhne und schärferen Wettbewerb<br />

auf den Märkten, zieht aber noch immer das<br />

Gros gerade der deutschen Asien-Investitionen<br />

an. Um hier aufzuholen, müsste Indien<br />

auch einen radikalen Kampf gegen Korruption<br />

und bürokratische Ineffizienz führen.<br />

„Ohne Schmiergeld geht in diesem Land<br />

nichts“, sagt ein deutscher Investor.<br />

So ruht die Hoffnung auf dem Sohn eines<br />

Teehändlers. Doch allen Vorschusslorbeeren<br />

aus Wirtschaftskreisen zum Trotz – so<br />

ungetrübt ist der Glanz des bärtigen Hoffnungsträgers<br />

nicht. Als 2002 in Gujarat Unruhen<br />

zwischen Hindus und Muslimen<br />

ausbrachen, soll er als Regierungschef der<br />

Provinz die Polizei absichtlich zurückgehalten<br />

haben, bis am Ende ein Massaker<br />

mit rund 1000 überwiegend muslimischen<br />

Opfern zu beklagen war. Was Modi vehement<br />

als „Propaganda“ bestreitet, wirft ihm<br />

die Opposition bis heute vor. Modi hat dies<br />

den Ruf als Spalter eingebracht, der dem<br />

hindu-nationalistischen RSS innerhalb der<br />

BJP-Partei nahesteht: einer Art Geheimbund,<br />

der die Dominanz der Hindu-Kultur<br />

im Vielvölkerstaat propagiert.<br />

erhöhten Leitzinsen massive Kapitalabflüsse<br />

und den Absturz der Landeswährung<br />

Rupie stoppen. Letztlich hat die Regierung<br />

weder die Armut noch die Inflation<br />

gestoppt, wohl aber die Investitionen abgewürgt.<br />

Im vergangenen Jahr stieg das Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) nur mehr um 4,6 Die USA und die EU hatten ihn deswegen<br />

NEIGUNG ZUM AUTORITÄREN<br />

Prozent – das schwächste Wachstum seit bis vor Kurzem mit einem Einreiseverbot<br />

fünf Jahren.<br />

belegt. In Indien selbst wurde er hingegen<br />

Soll sich der Trend wenden, muss die von einem Gericht freigesprochen. Ob also<br />

neue Regierung vor allem die Infrastruktur der Machtmensch mit seiner unverhohlenen<br />

Neigung zum Autoritären die liberalen<br />

entwickeln. Dafür gibt es zwar gigantische<br />

Pläne – aber die stehen bislang nur auf Papier.<br />

Im Alltag fällt selbst in der Industrie-<br />

auf das ganze heterogene Land übertragen<br />

Reformen aus Gujarat im Handumdrehen<br />

hochburg Pune wöchentlich mindestens kann, ist fraglich. Selbst mit einem star-»<br />

FOTO: REUTERS/AMIT DAVE<br />

24 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Zweikampf der asiatischen Wirtschaftsriesen<br />

IndiensWirtschaftwächst langsamer...<br />

Bruttoinlandsprodukt<br />

Veränderung zum Vorjahr in Prozent<br />

15<br />

...produziertweniger Wohlstand...<br />

Reales Pro-Kopf-Einkommen<br />

kaufkraftbereinigt, in 1000 Dollar<br />

<strong>12</strong><br />

...und schafftweniger Jobs<br />

Arbeitslosenrate<br />

in Prozent<br />

<strong>12</strong><br />

Indien<br />

China<br />

<strong>12</strong><br />

9<br />

6<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

10<br />

8<br />

6<br />

04 <strong>05</strong><br />

06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />

3<br />

99 01 03 <strong>05</strong> 07 09 11 13<br />

0<br />

04 <strong>05</strong> 06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />

4<br />

ab 2013 Prognose; Quelle: IHS<br />

Soll Indien dahin führen,<br />

wo China heute ist<br />

BJP-Spitzenkandidat Modi<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 25<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

»<br />

ken Wahlergebnis im Rücken wird sich<br />

die BJP – wie in Indien üblich – mit vier bis<br />

fünf Koalitionspartnern arrangieren müssen.<br />

Was per se jedes Reformvorhaben gefährden<br />

kann.<br />

„Modi könnte Indien zumindest in eine<br />

autoritäre Richtung treiben“, fürchtet Klaus<br />

Voll, der seit mehr als 30 Jahren im Land<br />

lebt und derzeit unter anderem ein dortiges<br />

Fraunhofer-Institut berät. In dessen<br />

Partei gebe es viele Strömungen, die Indien<br />

als Reich der Hindus sehen, was wiederum<br />

Konflikte mit ethnischen Minderheiten<br />

heraufbeschwören könnte. Der liberale<br />

Wirtschaftsflügel dagegen ist nur einer<br />

von vielen – und derzeit auch nicht unbedingt<br />

der stärkste. Andere Beobachter<br />

stellen fest, dass Modi in den vergangenen<br />

Jahren sehr viel pragmatischer und moderater<br />

geworden sei: „Modi wird sich mit<br />

anderen Parteien in einer Koalitionsregierung<br />

arrangieren müssen“, sagt Lars Peter<br />

Schmidt von der CDU-nahen Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung in Neu-Delhi, „sofern er<br />

nationalistische Vorstellungen hat, wird er<br />

sie gegen seine Partner nicht durchsetzen<br />

können.“<br />

Indien fällt zurück<br />

Internationale Währungsreserven (ohne Gold)<br />

in Indien und China<br />

04 <strong>05</strong><br />

ab 2013: Prognose; Quelle: IHS<br />

China<br />

in Billionen Dollar<br />

Indien<br />

06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />

Auf Chinas Spuren<br />

KALTE LUFT<br />

Dienstag vergangener Woche in Neu-Delhi,<br />

der Wahlkampf läuft seit Wochen auf<br />

Hochtouren, drei Tage später wird auch in<br />

der Hauptstadt gewählt. Nalin Satyakam<br />

Kohli, den man in Deutschland wohl Generalsekretär<br />

nennen würde, sitzt im Botschaftsviertel<br />

in einer Hinterhofbaracke<br />

und will erklären, was Modis Partei in Sachen<br />

Wirtschaft vorhat. Hinter ihm bläst eine<br />

Klimaanlage kalte Luft in den Raum, vor<br />

ihm flimmern die Bilder einer Farbbeutel-<br />

Attacke auf Arviond Kejriwal über den Monitor<br />

– den Anti-Korruptions-Kämpfer und<br />

Modi-Gegner.<br />

Kohli macht den Mund auf und formuliert<br />

druckreif: „Die Regierung teert am Tag<br />

nur 1,5 Kilometer Straße, versprochen waren<br />

11.“ Das Wachstum stürze ab, und<br />

schuld sei nur die Kongresspartei: „Als sie<br />

die Regierung von uns übernahmen, war<br />

Indien ein Stern am Himmel. Heute ist die<br />

Wachstumsstory gescheitert.“ Auch in Indien<br />

sollte man nicht mit einem Parteikader<br />

sprechen, wenn man Konkretes über<br />

Inhalte und politische Programme erfahren<br />

will.<br />

Ohnehin ist das Durchsetzen von Reformen<br />

in Indien eine vertrackte Sache. Selbst<br />

die neuerdings als wirtschaftsfeindlich verschriene<br />

Kongresspartei hat unter Führung<br />

des greisen Ministerpräsidenten Manmohan<br />

Singh eine Liberalisierung vorangebracht<br />

– um damit im Parlament krachend<br />

zu scheitern. Das galt etwa für die Öffnung<br />

des Einzelhandels, wo zwar Ein-Marken-<br />

Geschäfte wie Adidas mittlerweile erlaubt<br />

sind, nicht aber Handelsketten mit zig Marken<br />

im Sortiment. Mächtige Konzerne wie<br />

Wal-Mart und Tesco haben in den vergangenen<br />

Jahren immer wieder den Eintritt in<br />

den Wachstumsmarkt Indien versucht, nur<br />

um stets am Widerstand der Behörden zu<br />

scheitern.<br />

Der Handel ist ein schwieriges Terrain in<br />

Indien. Mehr als vier Fünftel der Beschäftigten<br />

sind in der Subsistenzwirtschaft tätig,<br />

was neben kleinbäuerlichen Strukturen<br />

vor allem die im Stadtbild omnipräsenten<br />

Shops in Blechverschlägen einschließt. Die<br />

Händler, noch mehr aber die Agrarproduzenten<br />

fürchten die Konkurrenz durch internationale<br />

Handelsketten – und lobbyieren<br />

erfolgreich gegen deren Zulassung. Die<br />

Verhandlungen über Freihandel mit der<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

Absturz gestoppt<br />

Ein EuroinIndischen Rupien<br />

04 <strong>05</strong> 06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />

Quelle: IHS<br />

Exporte und Importe (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)<br />

Importe<br />

*ab2013 Prognose; Quelle: IHS<br />

Indien<br />

25<br />

20<br />

15<br />

Exporte<br />

in Rupien<br />

EU sind hieran gescheitert, und auch die<br />

BJP rückt keinen Meter <strong>vom</strong> Widerstand<br />

gegen diese „Multi-Brand-Retailer“ ab.<br />

Insofern hat die Metro Group noch<br />

einmal Glück gehabt. Der Düsseldorfer<br />

Handelskonzern darf sich als Großhändler<br />

in Indien niederlassen und ist seit 2003 mit<br />

16 Märkten in zwölf Städten präsent. Für<br />

einen Markt mit 1,2 Milliarden Einwohnern<br />

ist das erstaunlich wenig. „Das<br />

Finden passender Grundstücke ist eine<br />

Herausforderung bei der Expansion in Indien“,<br />

sagt Rajeev Bakshi, Managing Direktor<br />

von Metro Cash & Carry Indien. Land<br />

sei in den stark besiedelten Urbanisationen<br />

nicht nur schwer zu finden und damit<br />

meistens teuer, auch der Kaufprozess und<br />

die Registrierung brauchen in der Regel ihre<br />

Zeit. „Insofern wachsen wir in Indien<br />

bisher zwar nicht rapide, dafür aber stetig<br />

und nachhaltig“, so der Manager. Auch hat<br />

in Indien jeder Laden seine eigenen Einkaufsstrukturen<br />

und seine eigenen Liefe-<br />

90<br />

80<br />

70<br />

60<br />

50<br />

China<br />

Exporte<br />

Importe<br />

10<br />

15<br />

04 06 08 10 <strong>12</strong> 14 04 06 08 10 <strong>12</strong> 14<br />

40<br />

35<br />

30<br />

25<br />

20<br />

26 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTO: CONI HÖRLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

„Gebt den Leuten eine Angel – keine Fische“ Unternehmer Anil Khaitan<br />

ranten. Es dauert beinahe eine Woche, bis<br />

ein Lkw aus Bangalore die 2000 Kilometer<br />

bis Delhi bewältigt hat. Folglich kann<br />

der deutsche Großhändler seine Filialen<br />

nicht aus Zentrallagern bedienen, wie das<br />

sogar in den riesigen Weiten Russlands<br />

möglich ist.<br />

ABSURDE SITUATION<br />

Laut Studien vergammelt die Hälfte der in<br />

Indien angebauten Lebensmittel auf dem<br />

Weg zum Markt, da der Transport zu lange<br />

dauert oder geeignete Lagerkapazitäten<br />

fehlen. Was zu der absurden Situation<br />

führt, dass ein Land mit einigen Hundert<br />

Millionen Bauern auf den Import von Lebensmitteln<br />

angewiesen ist, was auf die<br />

Leistungsbilanz drückt. Statt gut geplant<br />

und koordiniert einfach nur Straßen und<br />

Schienen zu bauen, müht sich die Regierung<br />

in Megaprojekten wie dem Delhi-<br />

Mumbai-Korridor ab: ein auf 90 Milliarden<br />

Dollar taxierter Ausbau von Straßen, Zugund<br />

Flugverbindungen zwischen den beiden<br />

Wirtschaftszentren, flankiert von Gewerbegebieten.<br />

Bislang sind dies nur hehre Pläne. In der<br />

Realität stecken Autofahrer in Bangalore<br />

ständig im Stau fest, und selbst auf halbwegs<br />

befahrbaren Autobahnen wie jener<br />

zwischen Mumbai und Pune kraxeln<br />

klapprige Lkws im Schneckentempo die<br />

Berge hinauf, weil die Motoren vor den<br />

Steigungen kapitulieren.<br />

»Das Finden<br />

passender Grundstücke<br />

ist eine<br />

Herausforderung«<br />

Rajeev Bakshi, Metro-Manager<br />

Es sind derlei Bürden des Alltags, die Indien<br />

als globale Wachstumslokomotive<br />

ausbremsen. China dagegen ist wesentlich<br />

effizienter organisiert – nicht nur, weil es<br />

sich das leisten kann, sondern auch, weil<br />

sein autoritärer Kontrollstaat nicht so viele<br />

Interessen austarieren muss und Ressourcen<br />

einfach umverteilen kann. Andererseits<br />

hat Indien, was China fehlt: eine kluge<br />

High-Tech-Elite, die als Programmierer<br />

zum Beispiel für SAP und Microsoft arbeisen<br />

produktiven Inseln stinken die Slums<br />

in den Himmel, versinken die Städte im<br />

Verkehrschaos, wuchert die Korruption,<br />

funktioniert nichts.<br />

Eine dieser Inseln ist das neue Forschungszentrum<br />

von Henkel in Pune. Dort<br />

beliefert der Düsseldorfer Chemiekonzern<br />

die Autoindustrie mit Klebstoffen. Das<br />

klingt simpel und erfordert auf den ersten<br />

Blick sicher kein Entwicklungszentrum.<br />

Aber dessen Direktor Pradhyumna Ingle<br />

widerspricht: „Wer in Indien erfolgreich<br />

sein will, muss sich diesem Markt anpassen.“<br />

Was für Klebstoffe bedeute, dass die<br />

Haftfestigkeit an die höhere Luftfeuchtigkeit<br />

adaptiert werden muss. Das übernehmen<br />

Chemiker, die in Testgeräten Klimaänderungen<br />

simulieren und am Mikroskop die<br />

Konsistenz der Materialien untersuchen.<br />

Zwar könnte man dies auch in Düsseldorf<br />

machen. Aber: „Wir pflegen einen ständigen<br />

Kontakt zu den hiesigen Kunden, die<br />

ihre Ideen und Verbesserungsvorschläge<br />

einbringen“, sagt Entwicklungschef Ingle.<br />

Henkel ist mit Klebstoffen gut im Geschäft,<br />

auch wenn die Autobranche kriselt<br />

und das Wachstum niedrig ist. Allerdings<br />

haben die Düsseldorfer im Konsumgütersektor<br />

die Flinte ins Korn geworfen: Aus<br />

dem Handel mit Waschmitteln hat sich das<br />

Unternehmen zurückgezogen, weil die<br />

deutsche Marke in Indien nicht etabliert<br />

werden konnte. Damit kämpfen auch andere<br />

Markenhersteller, etwa Dr. Oetker – deren<br />

Branding schon bei der Aussprache an<br />

Grenzen stößt. Die Bielefelder fahren dennoch<br />

eine Fertigung nahe Neu-Delhi hoch,<br />

auch wenn sie nicht viel darüber reden.<br />

Indien beherbergt im Grunde eine Binnenwirtschaft.<br />

Der Außenhandel mit<br />

Deutschland ist von 2011 bis 2013 um 2 auf<br />

16 Milliarden Euro gesunken, was nicht<br />

einmal einem Fünftel des Handelsvolumens<br />

mit Russland entspricht. Dennoch<br />

verspricht Indien prinzipiell hohe Wachstumsraten<br />

– sofern man vor Ort Präsenz<br />

zeigt und Produkte in Indien für Indien<br />

produziert. Das predigt Heinrich Bruellau,<br />

der gerade im westindischen Pune im Auftrag<br />

des Wuppertaler Mittelständlers<br />

Schmersalin eine Schalter-Fertigung aufbaut,<br />

seit Jahren. Der Grauschopf kam<br />

einst als VW-Manager nach Pune, ist nun<br />

über 60 und somit schon aus Altersgründen<br />

für Inder ein respektierter Partner.<br />

Vielleicht ist das der Grund, weshalb er das<br />

Werk in der für Indien kurzen Zeit von nur<br />

zwei Jahren aus dem Boden gestampft hat.<br />

Deutsche Wertarbeit beginnt für Bruellau<br />

damit, dass er im Werke nicht ein<br />

tet. Forscher, die mitdenken, statt bloß Befehle<br />

der Vorgesetzten zu befolgen. Darum<br />

sind Inder potenziell innovativer als Chinesen,<br />

sagen deutsche Manager.<br />

In jeder Stadt und jedem Staat findet<br />

man Ecken, in denen echte Hochtechnologie<br />

entwickelt wird, wo global wettbewerbsfähige<br />

Unternehmen <strong>vom</strong> Schlage<br />

des IT-Entwicklers Infosys sitzen. Das Problem<br />

ist nur: Links und rechts neben die- »<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 27<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

INTERVIEW Anand Mahindra<br />

»Schreibt<br />

Indien<br />

nie ab!«<br />

Der Chef eines der größten<br />

indischen Mischkonzerne über<br />

die schlechte Konjunktur und<br />

den vermutlichen Wahlausgang.<br />

„Meine Leute müssen sich an Reinheit gewöhnen“ Deutscher Ex-Pat-Manager Bruellau<br />

»<br />

Körnchen Staub zulässt. Einsam kurvt<br />

deswegen ein junger Inder mit der Putzmaschine<br />

durch die Halle. Tag für Tag, von<br />

morgens bis abends. „Der Staub zieht<br />

durch alle Ritzen, und die Mitarbeiter<br />

kümmern sich nicht darum“, sagt der Kaufmann.<br />

Der Fulltime-Job des Putzmanns<br />

soll psychologische Effekte haben: „Meine<br />

Leute müssen sich angewöhnen, wie wichtig<br />

Reinheit in der Produktion ist.“<br />

Im Moment ist das ein Leichtes: Sechs<br />

Mitarbeiter montieren im Monat 1000<br />

Stecker, kaum ein Drittel des riesigen blauweißen<br />

Neubaus ist belegt. „Indien steckt in<br />

der Wirtschaftskrise, viele Kunden halten<br />

ihre Investitionen zurück“, erklärt Bruellau.<br />

„Aber der Markt wird wieder anspringen,<br />

und dann müssen Sie vor Ort sein.“ Denn<br />

Indien sei preislich so sensibel, dass Importe<br />

aus Deutschland den Kunden schon wegen<br />

der hohen Steuern und Zöllen zu teuer<br />

seien, Wertarbeit hin oder her. „Wenn Sie<br />

über die lokale Produktion die niedrigen<br />

Lohnkosten mitnehmen und deutsche<br />

Qualität beibehalten“, sagt Bruellau, „dann<br />

sind Sie hier gut im Geschäft.“<br />

Überheblichkeit beim Produktmanagement<br />

betrachtet Heinrich Bruellau als einen<br />

von drei typischen Fehlern, die deutsche Investoren<br />

beim Markteintritt in Indien machen.<br />

Ein anderer sei, dass Ausländer den<br />

Ärger beim Kauf von Land unterschätzen,<br />

dessen Besitzrechte häufig nicht geklärt seien.<br />

Drittens nehme der Deutsche den Auf-<br />

wand bei der Qualifizierung von Fachpersonal<br />

auf die leichte Schulter. Nur weil die Inder<br />

leidlich Englisch sprechen, könnten sie<br />

noch keine Maschine bedienen.<br />

LIEBER HEUTE ALS MORGEN<br />

Trotz Erfahrung und respektablem Alter<br />

musste auch Heinrich Bruellau seine<br />

Schneisen durch den Dschungel der indischen<br />

Bürokratie schlagen. Er ließ 200 Bäume<br />

pflanzen und vier Treppenhäuser betonieren,<br />

um die Auflagen von Umwelt- und<br />

Brandschutzbehörden akkurat zu erfüllen.<br />

Andere schmieren die Beamten, die Deutschen<br />

natürlich nicht. „Die Inder schießen<br />

sich mit diesem hohen Maße an Korruption<br />

selbst ins Knie“, sagt Bruellau, „denn das<br />

bremst ihren Aufschwung.“ Er rechnet damit,<br />

dass die neue indische Regierung die<br />

Bürokratie abbauen und Indien als Standort<br />

für Investitionen attraktiver machen wird.<br />

„Deutsche Unternehmen sollten sich lieber<br />

heute mit Indien als Markt beschäftigen“,<br />

rät der Indien-Veteran, sonst sei gegen<br />

die lokalen Wettbewerber morgen kein<br />

Boden mehr gutzumachen. Und vor Narendra<br />

Modi hat er keine Angst? Der Hamburger<br />

will es mal so formulieren: Er hoffe,<br />

dass die neue Regierung die indische Wirtschaft<br />

nicht zu ungestüm nach vorne bringe.<br />

„Wenn ein Elefant zu rennen beginnt,<br />

kann es für alle anderen sehr schnell gefährlich<br />

werden.“<br />

n<br />

florian.willershausen@wiwo.de<br />

Herr Mahindra, die indische Wirtschaft<br />

wuchs 2013 so schwach wie seit fünf<br />

Jahren nicht. Was bedeutet das für Ihre<br />

Geschäfte?<br />

Als Unternehmer wünsche ich mir natürlich,<br />

dass die Wirtschaft stärker<br />

wächst. Aber wir konnten die konjunkturelle<br />

Großwetterlage antizipieren und<br />

waren darauf vorbereitet, die Kosten<br />

rechtzeitig zu senken. Das ist uns auch<br />

gelungen, und deswegen haben wir das<br />

vergangene Jahr trotz des negativen<br />

Wirtschaftsklimas gut überstanden. Uns<br />

hilft aber auch, dass wir um bestimmte<br />

Sektoren einen großen Bogen machen –<br />

zum Beispiel Bau und Infrastruktur.<br />

Wieso das? Gerade in diesen Bereichen<br />

plant doch die indische Regierung<br />

Investitionen in Milliardenhöhe.<br />

Höflich ausgedrückt, erfordern solche<br />

Projekte in Indien Ressourcen und Fähigkeiten,<br />

die wir nicht haben. Wir müssten<br />

uns stark mit den Behörden auseinandersetzen,<br />

um bevorzugten Zugang<br />

etwa zu Rohstoff-Projekten zu bekommen.<br />

Das wollen wir nicht, das können<br />

wir nicht. Also machen wir überhaupt<br />

keine Geschäfte, die staatliche Lizenzen<br />

erfordern oder bei denen wir uns einer<br />

staatlichen Regulierung unterwerfen<br />

müssten. Wir ziehen ein Engagement in<br />

Sektoren vor, die mit dem Privatkonsum<br />

zusammenhängen – so können wir unser<br />

Schicksal selbst bestimmen.<br />

Viele Unternehmer machen die indische<br />

Regierung für den Abschwung verantwortlich.<br />

Was lief aus Ihrer Sicht falsch?<br />

Man hat Infrastruktur-Investitionen verschlafen,<br />

Genehmigungen verschleppt,<br />

es kam zu Stillstand und Blockaden im<br />

politischen Prozess, sodass schließlich<br />

die Investitionen in die indische Ökono-<br />

FOTOS: CONI HÖRLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/HINDUSTAN TIMES/JASJEET PLAHA<br />

28 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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mie zurückgingen. Aber diese Schwächephase<br />

hatte auch positive Aspekte: Aufgrund<br />

der Überregulierung kam es zu<br />

einem enormen Aufschrei wegen des willkürlichen<br />

Rent-Seeking...<br />

...also Fällen, in denen Beamte die Hand<br />

aufhalten oder sich Behördenvertreter<br />

schmieren lassen, um bestimmten Unternehmen<br />

Vorteile zu verschaffen.<br />

Oder sogar willkürlich Lizenzen zur Förderung<br />

von Rohstoffen vergeben. Dagegen<br />

sind die Inder vorgegangen: über den<br />

Rechtsweg, mit öffentlichen Anfragen,<br />

mithilfe der Medien. Schon das Vorgehen<br />

gegen Willkür macht unser Land stärker.<br />

Indien ist keine Bananenrepublik. Dies ist<br />

kein Wirtschaftssystem, das nur ein oder<br />

zwei Business-Familien dominieren. Wir<br />

haben viel mehr Tiefgang. Und wann immer<br />

hier jemand versucht, zu viel Macht in<br />

seinen Händen zu halten, wird die demokratische<br />

Gesellschaft reagieren.<br />

Reichen staatliche Investitionen aus,<br />

um Indiens Wachstum wieder in Richtung<br />

zehn Prozent zu führen?<br />

Nein, aber wir sollten eines nicht vergessen:<br />

Indien hat eine hohe Sparquote, fast<br />

30 Prozent. Daraus lassen sich Investitionen<br />

finanzieren. Global ist zudem Geld im<br />

Überfluss vorhanden – und es gibt in der<br />

Welt nur sehr wenige Möglichkeiten, es<br />

sinnvoll zu investieren. Als der Markt<br />

jüngst bemerkte, dass die indische Notenbank<br />

den Abwärtstrend der Rupie aufhalten<br />

würde, ging es mit der Währung sofort<br />

aufwärts. Und nun notieren unsere Börsen<br />

auf einem Allzeithoch.<br />

Scheinbar erwarten die Märkte den<br />

Wahlsieg von Narendra Modi, der als<br />

Hoffnungsträger der Wirtschaft gilt...<br />

Ja, das hat mich auch überrascht. Wenn<br />

die Märkte also schon vor der Stimmenauszählung<br />

so positiv reagieren, dann<br />

können wir im Falle eines eindeutigen<br />

Wahlergebnisses mit Kapitalzufluss rechnen.<br />

In der Welt liegt noch viel Geld auf<br />

Halde, das womöglich bald nach Indien<br />

fließt, sobald es weitere Zeichen für eine<br />

stabile wirtschaftliche Entwicklung gibt.<br />

Vor allem in Neu-Delhi freut sich jeder<br />

Unternehmer auf den wahrscheinlichen<br />

Wahlsieg der BJP. Warum?<br />

Wir haben keine Präferenz für einzelne<br />

Parteien, sondern sponsern alle Parteien<br />

in gleichem Maße. Und zwar seit fünf Legislaturperioden<br />

– und völlig transparent.<br />

Wir wollen die Demokratie fördern und<br />

keine Partei. Wenn eine Regierung an der<br />

Macht ist, machen wir hartes Lobbying für<br />

das, was das Land voranbringt.<br />

Die Frage war auch nicht, wen Sie fördern.<br />

Sondern warum die indische Wirtschaft<br />

geschlossen hinter Modi steht.<br />

Die Wirtschaft hofft stets auf Stabilität.<br />

Und das ist beim klaren Sieg einer Partei<br />

wahrscheinlicher. Vermutlich ist es der<br />

Wunsch nach stabilen Verhältnissen, den<br />

man gerade unter Neu-Delhis Unternehmern<br />

spürt. Aus privaten Gesprächen<br />

weiß ich, dass alle Unternehmer dieselbe<br />

Meinung über ihn haben.<br />

DER PRAGMATIKER<br />

Mahindra, 59, ist in dritter Generation<br />

führender Manager der Mahindra Group,<br />

einem der größten Mischkonzerne Indiens.<br />

Fürchten Sie einen Börsencrash, wenn<br />

das Wahlergebnis eine breite Koalitionsregierung<br />

nötig macht?<br />

Nein, selbst dann mache ich mir keine Sorgen.<br />

In der Vergangenheit ist Indien selbst<br />

dann gewachsen, wenn eine ineffiziente<br />

Regierung an der Macht war. Zugegeben,<br />

internationale Investoren waren in den<br />

vergangenen fünf Jahren enttäuscht, weil<br />

unser Land hinter den ökonomischen Erwartungen<br />

zurückgeblieben ist. Aber nun<br />

strömt so schnell so viel Kapital zurück ins<br />

Land, dass die Botschaft für alle lautet:<br />

Schreibt Indien niemals ab!<br />

Würden Sie sagen, ausländische Investoren<br />

unterschätzen den indischen Markt?<br />

Ja, absolut. Indien ist ein Zirkus, wo immer<br />

etwas los ist. Und selbst wenn die<br />

versprochene große Show nicht stattfindet,<br />

erscheinen immer ein paar Solokünstler,<br />

die etwas können. In der vergangenen<br />

Legislaturperiode waren das<br />

der Chef der Notenbank, Raghuram<br />

Rajan, und der Finanzminister, die gute<br />

Arbeit geleistet haben. Also kauft Tickets<br />

für die Indien-Show!<br />

Indien ist ein gewaltiger Binnenmarkt,<br />

kaum integriert in die Weltwirtschaft.<br />

Glauben Sie, dass sich Indien bald der<br />

Welt öffnen wird?<br />

Wir werden nie ein großer Rohstoff-Exporteur<br />

werden, aber als Importeur<br />

spielt Indien eine immer größere Rolle in<br />

der Weltwirtschaft. Unsere Exporte<br />

werden in dem Maße wachsen, wie wir<br />

unsere Infrastruktur-Probleme in den<br />

Griff kriegen. In Chennai ist ein großer<br />

Hafen für die Verschiffung von Autos in<br />

Betrieb gegangen, was etwa Hyundai<br />

ermöglicht, aus Indien in die Welt zu<br />

exportieren. Mit dem Wachstum von<br />

Importen und Exporten werden auch<br />

unsere Geschäftsleute verstärkt im<br />

Ausland investieren und die Integration<br />

des Landes in die Weltwirtschaft stärken.<br />

Das setzt aber voraus, dass die teils<br />

hohen Schutzzölle reduziert werden,<br />

von denen auch Ihre Gruppe profitiert.<br />

Fürchten Sie niedrigere Zölle?<br />

Ob die Zölle hoch sind oder niedrig,<br />

spielt keine Rolle. Alle namhaften<br />

Fahrzeughersteller sind vor Ort und produzieren<br />

zu indischen Bedingungen.<br />

Umgekehrt sind indische Unternehmen<br />

global wettbewerbsfähig, sofern wir<br />

effiziente Strukturen haben. Es ist für<br />

ausländische Unternehmen ein Leichtes,<br />

in Indien zu investieren. Unser<br />

Land hat einen der offensten Märkte<br />

der Welt.<br />

Die EU verhandelt seit Jahren über ein<br />

Freihandelsabkommen mit Indien –<br />

ohne Erfolg. Hat der Handel mit Europa<br />

für Indien keine Priorität mehr?<br />

Jedes Handelsabkommen ist wichtig.<br />

Die Verhandlungen mit der EU stocken,<br />

weil sich Brüssel gegen die Öffnung der<br />

Dienstleistungssektoren für indische<br />

Wettbewerber sträubt. Hier kommt uns<br />

die EU sehr protektionistisch vor, was<br />

uns wiederum in Bezug auf den Einzelhandel<br />

vorgeworfen wird. Das ist ein Geben<br />

und Nehmen.<br />

n<br />

florian.willershausen@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 29<br />

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Politik&Weltwirtschaft<br />

Wettbewerb statt Anarchie<br />

FORUM | Das Erneuerbare-Energien-Gesetz führt zu grotesken Verteilungskämpfen. Nur der Umstieg<br />

auf marktwirtschaftliche Anreize macht Strom sicher und preiswert. Von Alexander Graf Lambsdorff<br />

Schaut die Welt auf Deutschlands<br />

Energiepolitik, dann<br />

reibt sie sich die Augen: Da<br />

kämpfen Windenergie-Länder gegen<br />

Biomasse-Länder; beide gemeinsam<br />

gegen industriell geprägte<br />

Länder und den Bund; der Bund<br />

wiederum gegen die Europäische<br />

Kommission, die Deutschland den<br />

Spiegel seiner Subventionswirtschaft<br />

vorhält. Kurz gesagt: Am<br />

Futtertrog des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes<br />

(EEG) wird es eng.<br />

Verbraucher und Industrie wollen<br />

ihn nicht länger beliebig füllen.<br />

Kaum einer versteht mehr, warum<br />

der Staat Industrie und Verbraucher<br />

mit 21 Milliarden Euro für die Produktion<br />

regenerativer Energie belastet,<br />

die einen Marktwert von etwa<br />

einem Zehntel dieser Summe besitzt.<br />

Da werden die Sitten rauer.<br />

„Gruppen-anarchische Kämpfe“ hat das Walter Eucken, der<br />

geistige Vater der sozialen Marktwirtschaft, genannt. Sie entstehen<br />

immer dann, wenn Branchen planwirtschaftlich gelenkt werden.<br />

Dann nämlich denkt niemand mehr darüber nach, wie er durch<br />

gute Produkte zu günstigen Preisen am Markt erfolgreich ist. Alle<br />

gedankliche Energie wird stattdessen für die Frage aufgewendet,<br />

wie man den Gesetzgeber dazu bringt, den Fluss<br />

der Subventionen in die eigene Tasche zu lenken.<br />

KEIN STROM, ABER GELD<br />

Die Ergebnisse dieser Verteilungskämpfe sind grotesk:<br />

EEG-Strom wird ohne Rücksicht darauf produziert,<br />

ob er überhaupt nachgefragt wird und abtransportiert<br />

werden kann. Notfalls wird er zu Negativpreisen<br />

ins Ausland verramscht und überlastet<br />

die Netze unserer Nachbarn. Fehlen die Verteilnetze,<br />

etwa bei Windparks in Küstennähe, werden<br />

diese regelmäßig zwangsabgeschaltet. Es fließt<br />

zwar kein Strom, aber das Geld der Verbraucher.<br />

Die aktuell diskutierte EEG-Reform beseitigt diese<br />

Missstände nicht. Im Gegenteil: Windräder an<br />

windarmen Standorten sollen jetzt sogar einen Bonus<br />

erhalten.<br />

Die nukleare Bilanz ist ebenfalls zweifelhaft:<br />

Deutschland kann seinen Atomausstieg derzeit nur<br />

fortsetzen, weil wir die Stabilität der Stromversorgung<br />

mit französischem Atomstrom absichern. Das<br />

verlässliche Atomkraftwerk Grafenrheinfeld wird<br />

abgeschaltet, während im Erdbebengebiet westlich<br />

Lambsdorff, 47, ist seit<br />

2004 Mitglied des Europäischen<br />

Parlaments.<br />

Davor arbeitete der FDP-<br />

Politiker ab 1995 in verschiedenen<br />

Funktionen<br />

im Auswärtigen Amt der<br />

Bundesregierung.<br />

des Rheins das älteste Kernkraftwerk<br />

Frankreichs, Fessenheim, bereitstehen<br />

muss, um einen deutschen<br />

Blackout abzuwenden.<br />

Die wohlfahrtsökonomischen<br />

Ergebnisse sind bizarr: Investoren<br />

profitieren von der garantierten<br />

Förderung eigener EEG-Anlagen,<br />

während alle Haushalte, auch einkommensschwache,<br />

mit der EEG-<br />

Umlage belastet werden. Das EEG<br />

vernichtet volkswirtschaftliche<br />

Werte, es gefährdet die industrielle<br />

Basis unseres Landes und damit<br />

Arbeitsplätze.<br />

Deutschland muss dringend aufwachen:<br />

Das Ziel einer nachhaltigen,<br />

sicheren und günstigen Energieversorgung<br />

ist nur im Einklang<br />

mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten<br />

und ökonomischer Vernunft<br />

zu erreichen. Daher benötigen wir<br />

sofort den Stopp der finanziellen Förderung neuer EEG-Anlagen<br />

und so schnell wie möglich den Ausstieg aus dem EEG.<br />

Statt einer heiß laufenden Subventionsmaschine brauchen wir<br />

den frischen Wind des Wettbewerbs: ein europaweites Mengensystem<br />

statt 28 nationale Fördersysteme. Die Energieversorger<br />

wären verpflichtet, einen bestimmten Anteil erneuerbarer Energien<br />

zu verkaufen, aber ohne planwirtschaftliche<br />

Detailvorgaben und Vergütungsgarantien. So gäbe<br />

es echten, europaweiten Wettbewerb, in dem sich<br />

besonders günstige oder verlässliche Anbieter<br />

durchsetzen.<br />

In einem europäischen Markt könnte der Verbraucher<br />

auch sehen, dass Strom in Finnland nur<br />

etwa die Hälfte kostet, und selbst entscheiden, wie<br />

viel ihm Strom welcher Erzeugungsart wert ist. Die<br />

deutsche Politik könnte sich nicht länger durch<br />

protektionistische Abschirmung dem Wettbewerb<br />

entziehen. Unser Land kann seinen Wohlstand<br />

mehren, wenn der Ökostrom dort produziert wird,<br />

wo das am besten funktioniert: Solarstrom aus<br />

Südeuropa, Wasserkraft aus Skandinavien und<br />

Windenergie von der deutschen Küste würden<br />

den Geldbeutel der Bürgerinnen und Bürger schonen<br />

und über bezahlbare Strompreise die internationale<br />

Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen<br />

sichern.<br />

Europäischen Wettbewerb bei der Energie statt<br />

planwirtschaftlicher Gruppenanarchie – das<br />

braucht die deutsche Energiepolitik!<br />

n<br />

FOTOS: LAIF/ZENIT/LANGROCK, GETTY IMAGES/KOEHLER<br />

32 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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FOTOS: SAMMY HART, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ACTION PRESS/WIKTOR DABKOWSKI<br />

PARIS | Kreditkarte?<br />

Non merci! Die<br />

Franzosen lieben<br />

ihre altmodischen<br />

Schecks. Von Karin<br />

Finkenzeller<br />

Amour fou am<br />

Marktstand<br />

Neulich auf dem<br />

Wochenmarkt am Pariser<br />

Boulevard Richard Lenoir:<br />

Während ich am Gemüsestand<br />

stehe, nimmt die<br />

Kundin vor mir einen<br />

Bund Karotten in Empfang. Doch anstatt<br />

der Marktfrau ein paar Münzen in die<br />

Hand zu drücken, zückt sie einen Block<br />

und beginnt zu schreiben. Da ist er wieder:<br />

der unkaputtbare französische Scheck.<br />

Andernorts in Europa fast ausgestorben,<br />

von Kredit- und EC-Karten erstickt,<br />

ist er in Frankreich nicht unterzukriegen.<br />

Laut Zentralbank stellten die Franzosen<br />

20<strong>12</strong> insgesamt 2,8 Milliarden Schecks<br />

im Wert von knapp 1,63 Billionen Euro<br />

aus. Frankreich liegt damit an der Spitze<br />

Europas. 66 Prozent aller Schecks, die<br />

auf dem Kontinent eingereicht werden,<br />

sind französischer Natur. Einkäufe, Miete,<br />

Stromrechnung, Kinderkrippe, Schulkantine,<br />

die Anzahlung für den nächsten<br />

Urlaub, ja selbst Löhne werden häufig<br />

noch mit signierten Papieren beglichen.<br />

Es ist wie eine Amour fou. Schecks gelten<br />

in Frankreich als vertrauenswürdiger<br />

Bargeldersatz, sie sind immer griffbereit<br />

und vor allem: gebührenfrei. Vor ein paar<br />

Jahren wollten die Banken mal Gebühren<br />

einführen, weil sie die Bearbeitung der<br />

Schecks pro Jahr 2,5 Milliarden Euro<br />

kostet. Nach einem Proteststurm knickten<br />

die Finanzinstitute aber schnell<br />

wieder ein. Zur Umstellung auf SEPA-<br />

Überweisungen in diesem Jahr teilten sie<br />

ihren Kunden beflissen mit, dass sich am<br />

Gebrauch der Schecks selbstverständlich<br />

nichts ändern werde. Für ein wenig Nostalgie<br />

muss man also auch künftig in<br />

Frankreich nicht weit gehen – allenfalls<br />

bis zum nächsten Marktstand.<br />

Karin Finkenzeller ist Frankreich-<br />

Korrespondentin der WirtschaftsWoche.<br />

BERLIN INTERN | Der Europawahlkampf stellt die<br />

deutsche Politik vor Probleme. In Brüssel wollen ihre<br />

Parteifamilien etwas völlig anderes, als die Spitzenleute<br />

hierzulande versprechen. Von Henning Krumrey<br />

Vielfache Einfalt<br />

Wer zu Schizophrenie neigt, kann<br />

entweder zum Psychiater gehen<br />

oder für das Europaparlament<br />

kandidieren. Bei den Kampagnen für den<br />

Straßburg-Brüsseler Abgeordnetenolymp<br />

ist eine gespaltene Persönlichkeit äußerst<br />

hilfreich. Zu sehr klaffen die Ziele der europäischen<br />

Parteiverbünde und die heimischen<br />

Wahlversprechen auseinander.<br />

Die bürgerlichen Parteien präsentieren<br />

sich zwischen Flensburg und Passau als<br />

Hüter der Stabilität und eines starken Euro.<br />

Der von der rot-grünen Bundesregierung<br />

Ihr Name ist Bond – Euro-Bond Spitzenkandidaten<br />

Juncker, Schulz, Verhofstadt<br />

unter Gerhard Schröder aufgeweichte<br />

Maastricht-Vertrag sei nachzuschärfen.<br />

Und vor allem: keine Vereinigten Staaten<br />

von Europa und keine Euro-Bonds, also<br />

gemeinsame Einheitsschuldtitel von soliden<br />

und allzu freigiebigen Ländern. Einheit<br />

in Vielfalt, lautet das Motto.<br />

Dumm nur, dass die europäischen Parteifamilien<br />

und deren Spitzenkandidaten<br />

das ganz anders sehen als deren deutsche<br />

Ableger. Die Traditionsparteien setzen auf<br />

vielfache Einfalt, dass die Wähler die Unterschiede<br />

schon nicht bemerken.<br />

So plädierte Jean-Claude Juncker, der<br />

ehemalige luxemburgische Ministerpräsident<br />

und heutige Vormann der Europäischen<br />

Volkspartei EVP, in der Euro-Krise als<br />

einer der Ersten für den gemeinsamen<br />

Schuldentopf; bei Euro-Bonds haften alle<br />

gemeinsam für die Verbindlichkeiten einzelner<br />

Staaten des Währungsverbundes.<br />

Jahrelang wurde Juncker nicht müde, seine<br />

Forderung zu wiederholen. Erst seit er Spitzenkandidat<br />

der Europäischen Volkspartei<br />

ist, tritt er leiser auf, sagt aber weiterhin:<br />

„Ich halte sie langfristig für ein richtiges<br />

Instrument.“<br />

„Juncker ist gegen Euro-Bonds, das hat<br />

er klar gesagt“, versichert dagegen der<br />

Spitzenkandidat der CDU für Deutschland,<br />

der frühere niedersächsische Ministerpräsident<br />

David McAllister. Und auch Finanzminister<br />

Wolfgang Schäuble weiß von der<br />

Wandlung des schlitzohrigen Luxemburgers<br />

nur Gutes zu berichten: „Ich habe ihn<br />

überzeugt“, verkündet er stolz. Es habe<br />

allerdings einige Mühe gekostet.<br />

Auch die Sozialdemokraten haben ein<br />

Problem mit ihrem Spitzenmann. „Ich bin<br />

nach wie vor für Euro-Bonds“, verteidigt<br />

Martin Schulz seine traditionelle Position,<br />

während die SPD inzwischen – aus Angst<br />

vor dem deutschen Wähler – einen Altschuldentilgungsfonds<br />

favorisiert, der nur<br />

eine teilweise Vergemeinschaftung von<br />

Schulden vorsieht. Dafür wirbt er hierzulande<br />

für eine Rückverlagerung von Kompetenzen<br />

aus Brüssel in die nationale<br />

Zuständigkeit, was seine Freunde der<br />

Europäischen Sozialdemokraten nicht<br />

so vehement verlangen.<br />

Die Liberalen behelfen sich gar mit einem<br />

Trick. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner<br />

und sein heimischer Spitzenkandidat<br />

Alexander Graf Lambsdorff preisen den<br />

finnischen Parteifreund Olli Rehn als Stabilitätsanker<br />

an. Der verteidige als EU-Währungskommissar<br />

einen starken Euro. Den<br />

wahren liberalen Spitzenkandidaten, den<br />

EP-Fraktionsvorsitzenden Guy Verhofstadt,<br />

verschweigen die beiden deutschen<br />

Wahlkämpfer dagegen verschämt.<br />

Kein Wunder, denn der Belgier ist ein<br />

glühender Verfechter eines zentralistischen<br />

Europas, das die FDP nun gerade bekämpft.<br />

Eine EU-eigene Steuer, Mehrheitsentscheidungen<br />

im Rat über den Haushalt,<br />

die „Vereinigten Staaten von Europa“. Und<br />

natürlich „so schnell wie möglich“ Euro-<br />

Bonds als „einzigen Weg, die Krise zu stoppen“,<br />

verlangte er noch 20<strong>12</strong>.<br />

Ungespalten treten nur Grüne und Linke<br />

auf: Die sagen national wie kontinental,<br />

dass sie Euro-Bonds wollen.<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 33<br />

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Der Volkswirt<br />

KOMMENTAR | Die EZB will im Juni<br />

an der Zinsschraube drehen. Das<br />

weckt Zweifel an ihrer Unabhängigkeit.<br />

Von Angela Hennersdorf<br />

Kampfansage<br />

Zweimal im Jahr geht<br />

der Rat der Europäischen<br />

Zentralbank<br />

(EZB) auf Reisen.<br />

Dann beraten die Notenbanker<br />

ihre geldpolitische Strategie<br />

nicht im Frankfurter Eurotower,<br />

sondern folgen der<br />

Einladung einer nationalen<br />

Zentralbank. Am vergangenen<br />

Donnerstag lud die Belgische<br />

Nationalbank in ihr Domizil in<br />

Brüssel. Und da all die Notenbanker<br />

schon einmal in der<br />

europäischen Hauptstadt versammelt<br />

waren, schaute auch<br />

Euro-Gruppen-Chef Jeroen<br />

Dijsselbloem vorbei. Im Gepäck<br />

hatte der Niederländer eine<br />

Präsentation über die ökonomische<br />

Lage in den Euro-Ländern.<br />

Was Dijsselbloem präsentierte,<br />

brachte EZB-Präsident<br />

Mario Draghi ins Schwärmen.<br />

„Tolle strukturelle Reformen“<br />

habe etwa Portugal vollzogen,<br />

so Draghi. Jetzt die positiven<br />

Fortschritte in den Euro-Krisenländern<br />

zu sehen, nach „all<br />

den Schmerzen“, die diese<br />

durchgemacht hätten, das sei<br />

doch fantastisch.<br />

WARTEN AUF DEN JUNI<br />

Na, wenn das so ist, warum<br />

macht sich Draghi dann Sorgen?<br />

Zwar hat die EZB in der<br />

vergangenen Woche den Leitzins<br />

auf einem Rekordtief von<br />

0,25 Prozent und den Einlagensatz<br />

bei null belassen. Der Spitzenrefinanzierungssatz<br />

blieb<br />

unverändert bei 0,75 Prozent.<br />

Doch im gleichen Atemzug<br />

kündigte Draghi an, im Juni die<br />

Leitzinsen senken zu wollen,<br />

um die Wirtschaft in den Euro-<br />

Ländern zu stützen. Der Zusatz<br />

„falls nötig“, den er sonst immer<br />

lautstark betont, war diesmal<br />

kaum zu hören.<br />

Beugt sich Draghi hier etwa<br />

dem Druck von außen? In den<br />

vergangenen Wochen sind die<br />

als gute Vorschläge getarnten<br />

Attacken immer heftiger geworden.<br />

IWF-Chefin Christine Lagarde<br />

forderte Draghi mehrmals<br />

auf, via Geldpolitik die Wirtschaft<br />

im Euro-Raum anzukurbeln.<br />

Kürzlich folgte die Organisation<br />

für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(OECD). Sie verlangte von<br />

der EZB, wegen der anhaltend<br />

niedrigen Inflation die Leitzinsen<br />

zu senken.<br />

DEN EURO DRÜCKEN<br />

Vor knapp zwei Wochen kündigte<br />

dann auch noch der neue<br />

französische Regierungschef<br />

Manuel Valls an, das Thema<br />

Geldpolitik nach der Europawahl<br />

auf die Agenda zu setzen.<br />

Es gelte, den Euro-Wechselkurs<br />

kräftig zu drücken. Der französische<br />

Wirtschaftsminister Arnaud<br />

Montebourg will gar „eine<br />

Schlacht eröffnen, um den Euro<br />

zu senken“.<br />

Diese Äußerungen sind eine<br />

Kampfansage an die Unabhängigkeit<br />

der Notenbank. Er sei ja<br />

dankbar für all die Ratschläge,<br />

die er erhalten habe, sagte<br />

Draghi in der vergangenen Woche,<br />

beeilte sich aber hinzuzufügen:<br />

„Wir sind unabhängig.“<br />

Doch genau daran zweifeln Kritiker,<br />

seit die EZB im Gespann<br />

mit IWF und EU Pleitestaaten<br />

und deren marode Banken zu<br />

retten versucht. Spätestens mit<br />

der Ankündigung Draghis, im<br />

Juni an der Zinsschraube drehen<br />

zu wollen (weil der EZB der<br />

starke Euro in Verbindung mit<br />

niedriger Inflation starke Sorgen<br />

mache), stellt sich die Frage<br />

nach der Unabhängigkeit mit<br />

neuer Heftigkeit.<br />

NEW ECONOMICS<br />

Papier macht ungleich<br />

Ein neues Ökonomie-Buch kommt zu einem provokanten<br />

Schluss: Gegen Ungleichheit helfen keine höheren<br />

Steuern. Nötig ist ein anderes Geldsystem.<br />

Wenn es um die Frage<br />

geht, warum die Reichen<br />

immer reicher<br />

werden: Kann da ein Büchlein<br />

mit gerade mal 180 Seiten, ohne<br />

Formeln, Grafiken und Tabellen,<br />

mit dem datenbeladenen<br />

und hochgelobten 700-Seiten-<br />

Wälzer des französischen Ökonomen<br />

Thomas Piketty konkurrieren?<br />

Die Antwort lautet: Ja!<br />

Weil es eine Erklärung UND einen<br />

Ausweg aus der Misere präsentiert.<br />

Die Rede ist von dem<br />

soeben erschienenen Buch der<br />

Ökonomen Andreas Marquart<br />

und Philipp Bagus mit dem Titel<br />

„Warum andere auf Ihre<br />

Kosten immer reicher werden<br />

...und welche Rolle der Staat<br />

und unser Papiergeld dabei<br />

spielen“. Die zentrale These in<br />

diesem blendend geschriebenen<br />

Werk lautet:Schuld an der<br />

zunehmenden Ungleichheit<br />

von Einkommen und Vermögen<br />

ist unser Geldsystem.<br />

KREDIT AUS DEM NICHTS<br />

Das staatliche Papiergeldmonopol<br />

ermöglicht es den Zentralbanken<br />

im Zusammenspiel mit<br />

den Geschäftsbanken, Geld<br />

und Kredite aus dem Nichts zu<br />

schöpfen. Es reizt Regierungen,<br />

Unternehmen und Bürger an,<br />

sich über alle Maßen zu verschulden.<br />

Bei dieser Kreditbonanza<br />

aber sind all die im Vorteil,<br />

die nahe an der Geldquelle<br />

sitzen: Finanzindustrie, Staat<br />

und Großunternehmen.<br />

Sie erhalten das<br />

aus dem Nichts erzeugte<br />

Geld als Erste<br />

– und können Waren<br />

und Vermögensgüter<br />

kaufen, wenn deren<br />

Preise noch niedrig<br />

sind. Arbeitnehmer<br />

und Rentner hingegen,<br />

die das frisch gedruckte<br />

Geld – wenn überhaupt<br />

– als Letzte erhalten, gucken in<br />

die Röhre. Sie können erst kaufen,<br />

wenn die Preise bereits gestiegen<br />

sind. Auf der Gewinnerseite<br />

steht mithin, wer schon<br />

Vermögen hat. Er kann es beleihen,<br />

um mit dem Kredit weitere<br />

Vermögensgüter wie Aktien<br />

und Immobilien zu erwerben.<br />

Die Kreditschöpfung beschleunigt<br />

so die Kapitalkonzentration<br />

in den Händen der Vermögenden.<br />

Die Ungleichheit nimmt<br />

zu. Schuldner gewinnen, Sparer<br />

verlieren. Weil der Staat unbegrenzten<br />

Zugang zu Krediten<br />

hat, weitet er seine Aktivitäten<br />

ungehemmt aus. Seine auf<br />

Pump finanzierten Sozialleistungen<br />

verdrängen privates Engagement.<br />

Soziale und familiäre<br />

Strukturen erodieren, es<br />

entsteht eine „schwere Moralund<br />

Wertekrise“, so die Autoren.<br />

Als Gegenmittel schlagen sie einen<br />

radikalen Schnitt vor: Dem<br />

Staat müsse das Geldmonopol<br />

entrissen werden. Geld müsse<br />

wieder werden, was es einmal<br />

war: ein durch eine Handelsware<br />

wie Gold vollgedecktes<br />

Tauschmittel des freien Marktes.<br />

Das Buch, das sich ausdrücklich<br />

auch an Nichtökonomen<br />

wendet, führt den Leser<br />

auf leicht verständliche Weise<br />

in die „Österreichische Schule“<br />

der Nationalökonomie ein. Wer<br />

wissen will, wie unser Geldsystem<br />

funktioniert und warum<br />

es zu schweren Krisen<br />

führt, der sollte<br />

dieses Buch lesen.<br />

malte.fischer@wiwo.de<br />

Andreas Marquart,<br />

Philipp Bagus<br />

Warum andere auf<br />

Ihre Kosten immer<br />

reicher werden<br />

FBV, 16,99 Euro<br />

FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

34 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />

Signale stehen weiter<br />

auf Aufschwung<br />

Noch schlagen die Ukraine-Krise<br />

und die neue Eiszeit mit<br />

Russland nicht auf die Konjunktur<br />

durch. In ihrer neuen Frühjahrsprognose<br />

sagt die EU-<br />

Kommission für <strong>2014</strong> ein<br />

Wachstum in der Euro-Zone<br />

von 1,2 Prozent voraus, 2015<br />

sollen es 1,7 Prozent werden.<br />

Auch in Deutschland stehen die<br />

Konjunktursignale auf Grün:<br />

Der Earlybird-Frühindikator,<br />

den die Commerzbank exklusiv<br />

für die WirtschaftsWoche ermittelt,<br />

ist im April um 0,23 auf 2,28<br />

Zähler gestiegen und hat damit<br />

seinen Rückgang im Vormonat<br />

größtenteils wettgemacht (siehe<br />

Grafik). Das Konjunkturbarometer<br />

hat einen Vorlauf gegenüber<br />

der Realwirtschaft von<br />

sechs bis neun Monaten. Es erfasst<br />

den Außenwert des Euro,<br />

die kurzfristigen Realzinsen sowie<br />

(als Messgröße für die Lage<br />

der Weltwirtschaft) den Einkaufsmanagerindex<br />

für die US-<br />

Industrie (ISM).<br />

Grund für den aktuellen Aufwärtstrend<br />

war vor allem ein<br />

niedrigerer Realzins. Zudem<br />

präsentierte sich die Weltwirtschaft<br />

in besserer Verfassung als<br />

im Vormonat – der ISM-Index<br />

ist im April erneut gestiegen.<br />

Zwar fiel das amerikanische<br />

Wirtschaftswachstum im ersten<br />

Quartal mit 0,1 Prozent überraschend<br />

schwach aus. Doch<br />

dürfte dies vor allem am extrem<br />

strengen Winter in den USA gelegen<br />

haben.<br />

Getrübt wird das konjunkturelle<br />

Umfeld in Deutschland<br />

derzeit durch den starken Euro,<br />

der deutsche Exporte verteuert.<br />

Der reale Außenwert liegt aktuell<br />

etwa 3,5 Prozent höher als<br />

vor einem Jahr. „So stark wie in<br />

den vergangenen eineinhalb<br />

Jahren hat der Euro in den vergangenen<br />

zehn Jahren nie zugelegt“,<br />

schreiben die Commerzbank-Ökonomen<br />

in ihrer<br />

Analyse. Doch „angesichts des<br />

guten Zustandes der Weltwirtschaft<br />

und der sehr expansiv<br />

ausgerichteten Geldpolitik<br />

dürfte die Aufwertung des Euro<br />

kaum ausreichen, um den Aufschwung<br />

zu stoppen“.<br />

Wieder erholt<br />

Bruttoinlandsprodukt und Earlybird-Konjunkturbarometer<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,0<br />

0<br />

–1,0<br />

–2,0<br />

–3,0<br />

–4,0<br />

Bruttoinlandsprodukt 1 Earlybird 2<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

08 2009 2010 2011 20<strong>12</strong> 2013 <strong>2014</strong><br />

1<br />

zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe aus kurzfristigem realemZins, effektivemrealem<br />

Außenwertdes Euro und US-Einkaufsmanagerindex;Quelle:Commerzbank<br />

4,0<br />

3,0<br />

2,0<br />

1,0<br />

0<br />

–1,0<br />

–2,0<br />

–3,0<br />

–4,0<br />

Rückschlag für<br />

die Industrie<br />

Damit hatten die wenigsten Analysten<br />

gerechnet: Die Auftragseingänge<br />

der deutschen Industrie<br />

sind im März erstmals seit<br />

vier Monaten wieder zurückgegangen.<br />

Die Bestellungen sanken<br />

vor allem wegen einer<br />

schwächeren Nachfrage aus der<br />

Euro-Zone um 2,8 Prozent gegenüber<br />

dem Vormonat. Im Februar<br />

hatte es in den Auftragsbüchern<br />

der Unternehmen noch<br />

ein Plus von 0,9 Prozent gegeben.<br />

Während ausländische Kunden<br />

insgesamt 4,6 Prozent weniger<br />

orderten, schrumpfte die<br />

inländische Nachfrage etwas<br />

moderater (minus 0,6 Prozent).<br />

Den stärksten Einbruch verzeichneten<br />

die Hersteller von<br />

Konsumgütern (minus 5,3<br />

Prozent).<br />

Ökonomen sehen das Minus<br />

gleichwohl gelassen, da es vor<br />

allem auf eine hohe Zahl von<br />

Großaufträgen im Vormonat<br />

zurückgeht.<br />

Volkswirtschaftliche<br />

Gesamtrechnung<br />

Reales Bruttoinlandsprodukt<br />

Privater Konsum<br />

Staatskonsum<br />

Ausrüstungsinvestitionen<br />

Bauinvestitionen<br />

Sonstige Anlagen<br />

Ausfuhren<br />

Einfuhren<br />

Arbeitsmarkt,<br />

Produktion und Preise<br />

Industrieproduktion 1<br />

Auftragseingänge 1<br />

Einzelhandelsumsatz 1<br />

Exporte 2<br />

ifo-Geschäftsklimaindex<br />

Einkaufsmanagerindex<br />

GfK-Konsumklimaindex<br />

Verbraucherpreise 3<br />

Erzeugerpreise 3<br />

Importpreise 3<br />

Arbeitslosenzahl 4<br />

Offene Stellen 4<br />

Beschäftigte 4, 5<br />

20<strong>12</strong> 2013<br />

Durchschnitt<br />

0,7<br />

0,8<br />

1,0<br />

–4,0<br />

–1,4<br />

3,4<br />

3,2<br />

1,4<br />

20<strong>12</strong> 2013<br />

Durchschnitt<br />

–0,9<br />

–4,2<br />

0,1<br />

3,3<br />

1<strong>05</strong>,0<br />

46,7<br />

5,9<br />

2,0<br />

2,0<br />

2,1<br />

2897<br />

478<br />

29006<br />

0,4<br />

0,9<br />

0,7<br />

–2,4<br />

0,1<br />

3,0<br />

0,8<br />

0,9<br />

–0,2<br />

2,5<br />

0,2<br />

–0,2<br />

106,9<br />

50,6<br />

6,5<br />

1,5<br />

–,1<br />

–2,5<br />

2950<br />

435<br />

29381<br />

IV/<strong>12</strong> I/13 II/13 III/13 IV/13<br />

Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />

–0,5<br />

0,1<br />

0,1<br />

–0,3<br />

–1,1<br />

1,1<br />

–1,6<br />

–0,9<br />

Januar<br />

<strong>2014</strong><br />

0,4<br />

0,1<br />

2,0<br />

2,2<br />

110,6<br />

56,3<br />

7,6<br />

1,3<br />

–1,1<br />

–2,3<br />

2927<br />

443<br />

29629<br />

1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />

Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />

alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />

0,0<br />

0,3<br />

0,2<br />

–1,4<br />

–1,5<br />

–0,9<br />

–1,0<br />

–0,5<br />

Februar<br />

<strong>2014</strong><br />

0,6<br />

0,9<br />

0,4<br />

–1,4<br />

111,3<br />

54,8<br />

8,3<br />

1,2<br />

–0,9<br />

–2,7<br />

2911<br />

444<br />

29693<br />

0,7<br />

0,6<br />

–0,4<br />

0,5<br />

1,7<br />

1,6<br />

2,4<br />

1,9<br />

März<br />

<strong>2014</strong><br />

–0,5<br />

–2,8<br />

–0,7<br />

–<br />

110,7<br />

53,7<br />

8,5<br />

1,0<br />

–0,9<br />

–3,3<br />

2897<br />

446<br />

–<br />

0,3<br />

0,2<br />

1,2<br />

0,1<br />

2,1<br />

1,4<br />

0,2<br />

0,8<br />

April<br />

<strong>2014</strong><br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

111,2<br />

54,1<br />

8,5<br />

1,3<br />

–<br />

–<br />

2872<br />

448<br />

–<br />

0,4<br />

–0,1<br />

0,0<br />

1,4<br />

1,4<br />

1,2<br />

2,7<br />

0,6<br />

Mai<br />

<strong>2014</strong><br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

8,5<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–<br />

Letztes Quartal<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

1,3<br />

1,0<br />

1,0<br />

0,0<br />

3,2<br />

2,1<br />

4,1<br />

2,7<br />

Letzter Monat<br />

zum Vorjahr<br />

in Prozent<br />

5,1<br />

3,1<br />

–1,9<br />

4,6<br />

6,7<br />

<strong>12</strong>,4<br />

37,1<br />

–<br />

–<br />

–<br />

–2,5<br />

3,2<br />

1,5<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 35<br />

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Der Volkswirt<br />

WELTWIRTSCHAFT<br />

Vorsicht, Engpass<br />

Die eskalierende Ukraine-Krise ist nicht nur ein Risiko<br />

für den internationalen Öl- und Gasmarkt – sie treibt<br />

auch die Preise für andere Rohstoffe in die Höhe.<br />

Wenn Ökonomen über<br />

Bodenschätze und deren<br />

Preise diskutieren,<br />

geht es selten allein um die<br />

Gesetze von Angebot und Nachfrage<br />

– sondern fast immer auch<br />

um Politik und Psychologie. Kein<br />

anderer Wirtschaftsbereich ist<br />

derart von „geopolitischen“ Faktoren<br />

beeinflusst wie der Rohstoffmarkt.<br />

In der jüngeren Vergangenheit<br />

waren es vor allem<br />

Unruhen im Nahen Osten, die<br />

die Notierungen auf Achterbahnfahrt<br />

schickten. Nun sind es<br />

der drohende Bürgerkrieg in der<br />

Ukraine und der machtpolitische<br />

Konflikt zwischen dem<br />

Westen und Russland.<br />

„Wenn die Lage in der<br />

Ukraine weiter eskaliert<br />

und es womöglich zu einem<br />

offenen Konflikt<br />

zwischen Russland<br />

und der Ukraine<br />

kommt, werden die<br />

Preise für viele Rohstoffe<br />

steigen“, warnt<br />

Eugen Weinberg,<br />

Chef-Rohstoffanalyst<br />

der Commerzbank.<br />

Schon jetzt sind manche<br />

Notierungen nach<br />

oben geschossen. So<br />

hat sich etwa der Preis<br />

des für die Edelstahlproduktion<br />

wichtigen Rohstoffs<br />

Nickel seit Jahresbeginn um<br />

rund 30 Prozent erhöht. Aktuell<br />

notiert Nickel auf dem höchsten<br />

Stand seit mehr als einem Jahr,<br />

Tendenz weiter steigend. Spätestens<br />

im dritten Quartal droht eine<br />

massive Angebotslücke.<br />

Der Startschuss für die<br />

Nickel-Hausse ertönte zwar fern<br />

von Russland: Im Januar verhängte<br />

der wichtige Exporteur<br />

Indonesien ein Ausfuhrverbot<br />

für Nickelerz. Doch dürfte die<br />

Energie<br />

Erdöl<br />

(Brent)<br />

Diesel<br />

Ukraine-Krise den Preistrend<br />

weiter angeheizt haben. Denn<br />

der weltgrößte Einzelproduzent<br />

von veredeltem Nickel heißt Norilsk<br />

Nickel – und sitzt in Moskau.<br />

Für die Märkte gibt es derzeit<br />

zwei Schreckensszenarien.<br />

Erstens, dass der Westen seine<br />

Sanktionen gegen Russland<br />

verschärft und dabei auch den<br />

Import russischer Rohstoffe einschränkt.<br />

Und zweitens, dass<br />

Zucker<br />

Weizen<br />

Gasöl<br />

Raps<br />

Kohle<br />

Landwirtschaftsprodukte<br />

Mais<br />

Volatilitäten im Zeitraum<br />

<strong>vom</strong> 1.5.2013 bis 30.4.<strong>2014</strong><br />

23,1<br />

Strom<br />

Kakao<br />

Baumwolle<br />

Flugbenzin<br />

Emissionsrechte<br />

16,3 14,8<br />

15,6<br />

16,7<br />

16,7<br />

22,4<br />

19,0<br />

38,1<br />

Vergleichswerte<br />

in<br />

%<br />

100<br />

62,7<br />

50<br />

30<br />

20<br />

10<br />

6,3<br />

0<br />

10<br />

24,0 18,3 20<br />

22,0<br />

Palladium<br />

Russlands Präsident Putin trotz<br />

der damit verbundenen Einnahmeausfälle<br />

bestimmte Rohstoffexporte<br />

drosselt, um dem Westen<br />

zu schaden.<br />

Ein möglicher Kandidat wäre<br />

neben Nickel das Edelmetall Palladium,<br />

wichtig vor allem für die<br />

Chemie- und Autoindustrie.<br />

Russland ist bei diesem Rohstoff<br />

mit einem Weltmarktanteil von<br />

rund 40 Prozent die Nummer<br />

eins. „Ein Ausbleiben der russischen<br />

Lieferungen würde bei einigen<br />

Automodellen womöglich<br />

einen kompletten Produktionsstopp<br />

bedeuten. Die Lagerbestände<br />

sind wegen der starken<br />

physischen Anlegernachfrage<br />

und einer fallenden Minenproduktion<br />

gering“, warnt Experte<br />

Weinberg.<br />

30 29,4<br />

50<br />

100<br />

Euro-/<br />

Dollar-<br />

Kurs<br />

16,0<br />

Silber<br />

Zinsen<br />

18,1<br />

18,3<br />

19,9<br />

18,6<br />

21,8<br />

16,6<br />

19,4<br />

19,2<br />

17,9 20,4<br />

Platin<br />

Eisenfeinerz<br />

Edelmetalle<br />

Quelle:<br />

Commerzbank<br />

Gold<br />

Blei<br />

Aluminium<br />

n Der Rohstoffradar misst die Volatilität ausgewählter Preise und ist<br />

damit ein wichtiger Indikator für Unternehmen und Anleger.<br />

Er stellt die durchschnittliche prozentuale Abweichung <strong>vom</strong> Mittelwert<br />

der vergangenen zwölf Monate grafisch dar. Hohe Schwankungsbreiten<br />

signalisieren steigende Preis- und Planungsrisiken. Der Rohstoffradar<br />

erscheint dreimal jährlich exklusiv in der WirtschaftsWoche.<br />

Zinn<br />

Kupfer<br />

Nickel<br />

Zink<br />

Was steigt, was fällt<br />

Preisentwicklungausgewählter<br />

Rohstoffe seit Jahresbeginn<br />

Angespannt ist die Lage auch<br />

bei Weizen. Zum Jahresbeginn<br />

rechneten die meisten Investoren<br />

mit fallenden Preisen –<br />

stattdessen ist Weizen über 20<br />

Prozent teurer geworden. Hauptverantwortlich<br />

dafür ist zwar die<br />

Trockenheit in wichtigen Anbaugebieten<br />

der USA. Aber auch<br />

beim Weizen ist die Ukraine-<br />

Krise ein psychologischer<br />

Katalysator für Preissprünge:<br />

Russland ist der fünftgrößte<br />

Weizenexporteur<br />

der Welt, die Ukraine<br />

liegt auf Rang sechs.<br />

Richtig ist allerdings<br />

auch dies: Entspannen<br />

sich Erntesituation<br />

und Ukraine-Krise,<br />

könnte der Preis wieder<br />

herunterkrachen. Weizen<br />

zählt zu den Rohstoffen<br />

mit den höchsten<br />

Preisausschlägen nach<br />

oben und unten. Das zeigt<br />

der Rohstoffradar, den die<br />

Commerzbank dreimal jährlich<br />

für die WirtschaftsWoche ermittelt<br />

und der die Volatilität widerspiegelt.<br />

Bei nur drei Rohstoffen<br />

(Silber, Mais, Zucker) schwankten<br />

die Notierungen in den vergangenen<br />

zwölf Monaten stärker<br />

als bei Weizen. Der Silberpreis<br />

pendelte um 29,4 Prozent um<br />

seinen Mittelwert. Bei Weizen<br />

waren es 22,4 Prozent – und<br />

womöglich bald mehr.<br />

Industriemetalle<br />

Nickel<br />

Weizen (CBOT)<br />

Mais<br />

Palladium<br />

Gold<br />

Zucker<br />

Benzin (95)<br />

Rohöl (WTI)<br />

–3<br />

–9<br />

Quelle: Commerzbank;<br />

Stand 6.5.<strong>2014</strong><br />

21<br />

20<br />

14<br />

9<br />

6<br />

4<br />

1<br />

Diesel<br />

Kupfer<br />

in Prozent<br />

34<br />

bert.losse@wiwo.de<br />

36 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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DENKFABRIK | Das Quantitative-Easing-Programm der Europäischen Zentralbank<br />

ist ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Denn es geht hier nicht um Geldpolitik,<br />

sondern um fiskalische Rettungsaktionen. Wie bei den bisherigen Euro-Rettungsschirmen<br />

muss am Ende der Steuerzahler die Zeche zahlen. Von Hans-Werner Sinn<br />

Neues Schutzversprechen<br />

FOTO: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, F1ONLINE<br />

Quantitative Easing<br />

(QE), also quantitative<br />

Lockerung, heißt<br />

das neue Zauberwort<br />

der Europäischen Zentralbank<br />

(EZB). Gemeint ist das hinter<br />

verschlossenen Türen vorbereitete<br />

Programm zum Aufkauf<br />

privater und staatlicher Wertpapiere<br />

durch die EZB, das den<br />

Banken und der Wirtschaft<br />

Südeuropas helfen soll. Der<br />

EZB-Rat hat das Programm auf<br />

seiner Sitzung am vergangenen<br />

Donnerstag wegen großer Widerstände<br />

in einigen Euro-Ländern<br />

zwar noch nicht aktiviert,<br />

doch er hält es weiter in petto.<br />

derter Gewinnausschüttungen<br />

der Notenbanken an die Finanzminister<br />

oder in Form von Verlusten<br />

der Rettungsschirme, die von<br />

den Parlamenten im Nachhinein<br />

aufgespannt werden müssen, um<br />

die EZB zu entlasten. Dem deutschen<br />

Verfassungsgericht ist wegen<br />

der Mandatsüberschreitung<br />

der EZB vor Kurzem bekanntlich<br />

der Kragen geplatzt – die Richter<br />

haben der EZB Machtmissbrauch<br />

vorgeworfen.<br />

Das Gericht sollte nun auch das<br />

neue QE-Programm der EZB einer<br />

kritischen Prüfung unterziehen.<br />

Denn hier geht es trotz aller gegenteiligen<br />

Beteuerungen aber-<br />

»Die Stresstests<br />

für die Europäische<br />

Bankenunion<br />

könnten zu<br />

einem Desaster<br />

führen«<br />

mals um fiskalische Rettungsaktionen<br />

statt um Geldpolitik. Als die<br />

<strong>vom</strong> Euro hervorgerufene inflationäre<br />

Kreditblase platzte, wurden<br />

in die Bilanzen der Banken Frankreichs<br />

und Südeuropas riesige Löcher<br />

gerissen.<br />

Man hat die Öffentlichkeit darüber<br />

bislang noch mithilfe einer<br />

kreativen Buchführung hinweggetäuscht,<br />

doch ist die Not groß,<br />

weil sich die Wahrheit nicht mehr<br />

lange zurückhalten lässt. Die in<br />

diesem Jahr anstehenden Stresstests<br />

für die neue Bankenunion<br />

könnten zu einem Desaster führen,<br />

wenn keine Maßnahmen zur<br />

Wertsicherung der Bankaktiva ergriffen<br />

werden. Der Erwerb der ge-<br />

BAIL-OUT-PROGRAMME<br />

Wenn die Notenbank große Programme<br />

mit undurchsichtigen<br />

Namen ankündigt, müssen die<br />

Steuerzahler stets auf der Hut<br />

sein. Denn dahinter verbirgt<br />

sich regelmäßig ein Bail-out-<br />

Programm zur Rettung bedrohter<br />

Banken oder Staaten sowie<br />

ihrer Gläubiger. So war es mit<br />

dem Securities Markets Programme<br />

(SMP), mit dem für<br />

223 Milliarden Euro Staatspapiere<br />

der Krisenländer gekauft<br />

wurden, oder mit den Outright<br />

Monetary Transactions (OMT),<br />

mit denen die EZB ankündigte,<br />

solche Staatspapiere in Zukunft<br />

notfalls unbegrenzt zu kaufen.<br />

Auch die durch die sogenannten<br />

Target-Salden gemessenen<br />

Sonderkredite aus der Druckerpresse<br />

für die Banken Südeuropas<br />

erwiesen sich als ein<br />

gigantisches fiskalisches Rettungsprogramm,<br />

das mit Geldpolitik<br />

wenig zu tun hat.<br />

Die drohenden Verluste aus<br />

solchen Politikmaßnahmen werden<br />

beim Steuerzahler abgeladen.<br />

Er trägt sie in Form verminfährdeten<br />

Papiere mit frischem<br />

Geld aus der Druckerpresse erscheint<br />

vielen als einzige Möglichkeit,<br />

dieses Ziel zu erreichen.<br />

Man hätte auch den Weg der<br />

Rekapitalisierung der Banken mit<br />

den Mitteln des Rettungsschirms<br />

ESM wählen können. Da dieser<br />

Weg jedoch auf wachsende Widerstände<br />

bei den Parlamenten<br />

stieß, nimmt der EZB-Rat die Sache<br />

jetzt selbst in die Hand. Irgendeine<br />

geldpolitische Begründung<br />

wird sich schon finden<br />

lassen, und später muss man halt<br />

noch die Parlamente überzeugen,<br />

mit fiskalischen Rettungsaktionen<br />

nachzurücken.<br />

Dass die EZB jetzt aktiv werden<br />

will, liegt auch daran, dass sie ohnehin<br />

schon gefährdet ist – weil<br />

sie immer schlechtere Papiere als<br />

Pfand für ihre Kredite akzeptiert<br />

hat. So akzeptierte sie Staatspapiere,<br />

die von den Ratingagenturen<br />

kein Investment Grade mehr<br />

erhalten, sowie nicht gehandelte<br />

ABS-Papiere, die sich Banken aus<br />

ihrem Investitionsschrott zusammengeklebt<br />

hatten. Die Hälfte der<br />

Zentralbankgeldmenge des Euro-<br />

Systems wurde auf diese Weise zu<br />

Target-Krediten für die Banken<br />

der Krisenländer.<br />

Es ist nicht ganz klar, ob das<br />

neue QE-Programm mit einer Ausweitung<br />

der Geldmenge einherge-<br />

hen soll oder ob die Geldmengenwirkungen<br />

durch eine<br />

Rücknahme der Refinanzierungskredite<br />

sterilisiert werden<br />

sollen. Auf die erste Möglichkeit<br />

spekuliert etwa der neue französische<br />

Ministerpräsident Manuel<br />

Valls, der von der EZB eine ultralockere<br />

Geldpolitik und aktive<br />

Wechselkurspolitik fordert. Valls<br />

hofft, dass der Euro-Kurs dadurch<br />

fällt und den lahmenden<br />

Export seines Landes ankurbelt.<br />

EURO-KURS SOLL SINKEN<br />

Die Schutzversprechen in Form<br />

des OMT-Programms und das<br />

Aufkaufversprechen seitens des<br />

Rettungsschirms ESM hatten<br />

den Kauf der Staatspapiere<br />

Südeuropas für Investoren aus<br />

Nicht-Euro-Ländern attraktiv<br />

gemacht. Dadurch kam es zu einer<br />

spürbaren Euro-Aufwertung.<br />

Wenn aus dem Schutzversprechen<br />

eine tatsächliche<br />

Kaufhandlung wird, so tritt die<br />

gegenteilige Wirkung ein. Denn<br />

nun werden private Anleger aus<br />

Nicht-Euro-Ländern verdrängt<br />

und überweisen ihr Geld ins<br />

Ausland – was wiederum den<br />

Euro-Kurs senkt.<br />

Sollte die EZB hingegen das<br />

QE-Programm sterilisieren wollen,<br />

ähnelt die Situation dem,<br />

was bei einem formellen Bankenkonkurs<br />

geschieht: Sie<br />

tauscht ihre Kreditforderungen<br />

gegen die Banken gegen Eigentum<br />

an den Bankaktiva ein. Sie<br />

erspart den Banken die Konkursprozedur<br />

und kann den guten<br />

Schein der Finanzstabilität<br />

wahren.<br />

Hans-Werner Sinn ist Präsident<br />

des ifo Instituts und Ordinarius<br />

an der Ludwig-Maximilians-<br />

Universität in München.<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 37<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Chef im Schatten<br />

DEUTSCHE BANK | Seit zwei Jahren steht Anshu Jain neben<br />

Jürgen Fitschen an der Spitze von Deutschlands größtem<br />

Kreditinstitut. Seit zwei Jahren macht er fast alles<br />

richtig. Und hat für seine Kritiker trotzdem noch nicht<br />

bewiesen, dass er der Richtige für den Job ist.<br />

Dann eben auch mal Wuppertal.<br />

130 Angestellte der<br />

Deutschen Bank sind in die<br />

größte Filiale im Stadtteil<br />

Elberfeld gekommen, um<br />

ihren obersten Chef zu treffen. Eineinhalb<br />

Stunden beantwortet Anshu Jain<br />

Fragen auf Englisch, was er sagt, wird<br />

auf Wunsch simultan übersetzt. Er erklärt,<br />

bleibt freundlich, sachlich auch<br />

bei kritischen Fragen. Da gibt es viele:<br />

Wie konnte es mit der Bank so weit<br />

kommen? Was wusste er selbst? Wann<br />

ist es endlich vorbei? Und wer zahlt am<br />

Ende für die Verfehlungen? Jain weicht<br />

nicht aus, berichten Teilnehmer, er<br />

wirkt offen, ehrlich und bekommt dafür<br />

am Ende auch etwas geschenkt: einen<br />

Bildband über die Geschichte der<br />

Wuppertaler Schwebebahn.<br />

Die Exkursion an die Basis füllt einen<br />

weißen Fleck auf Jains innerer Deutschlandkarte.<br />

Das Land ist seit zwei Jahren<br />

die berufliche Heimat des gebürtigen<br />

Inders, doch es ist ihm fremd geblieben.<br />

Öffentlich ist er kaum präsent, mitunter<br />

wirkt es, als verstecke er sich. Und wenn<br />

er auftritt, tut er das so harmlos, glatt<br />

und gefällig, dass es umgehend vergessen<br />

wird. Seine Zeit an der Spitze der Investmentbank<br />

hängt an ihm wie Blei.<br />

Die Skandale machen ihn zum Chef auf<br />

Abruf und seinen Job zum Wettlauf gegen<br />

die eigene Vergangenheit.<br />

Intern dagegen hat er seine Rolle als<br />

Co-Chef der Deutschen Bank sofort gefunden.<br />

Seit er und Jürgen Fitschen Mitte<br />

20<strong>12</strong> an die Spitze gerückt sind, bauen<br />

sie das Institut so schnell und tief<br />

greifend um, dass gestresste Top-Manager<br />

von einem Motorwechsel bei Vollgas<br />

auf der Autobahn sprechen. Jain tut<br />

sich dabei als Antreiber hervor. Das<br />

Programm ist gewaltig: Die Bank baut<br />

Altlasten ab, passt sich an völlig veränderte<br />

Regulierung an, spart und integriert<br />

fast wie nebenbei auch noch die<br />

Postbank.<br />

WIE EIN WILDES TIER<br />

Jain macht da eigentlich alles richtig und<br />

hat so intern auch Skeptiker auf seine<br />

Seite gezogen. Dabei hatten seine Gegner<br />

vor dem Start Angst verbreitet, als<br />

käme demnächst ein wildes Tier aus dem<br />

Dschungel gesprungen. Jain hat sie eines<br />

Besseren belehrt. „Vom ersten Tag an ist<br />

er als Chef der gesamten Bank aufgetreten“,<br />

sagt ein Manager. Also nicht als reiner<br />

Investmentbanker, der den biederen<br />

Filialanhang mehr duldet als schätzt. Mit<br />

seinem Co-Chef Jürgen Fitschen bildet er<br />

ein sehr ungleiches, aber harmonisches<br />

Paar. Und trotz ehrgeiziger Sparziele hält<br />

er sich beim Abbau von Personal zurück.<br />

Das kommt bei den Vertretern der Arbeitnehmer<br />

an. „Die Führung hat unser<br />

Vertrauen, weil sie Altlasten entschlossen<br />

beseitigt und Wert auf Integrität und<br />

Kundenorientierung legt“, lobt der Gesamtbetriebsratsvorsitzende<br />

Alfred Herling.<br />

„Fitschen und Jain sind glaubwürdige<br />

Vertreter eines Wandels zum Besseren“,<br />

sagt Stephan Szukalski, der für die<br />

Gewerkschaft DBV im Aufsichtsrat sitzt.<br />

„Wir würden uns nur wünschen, dass sie<br />

in schwierigen Situationen mehr erklären<br />

und kommunizieren.“<br />

»<br />

38 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Stärken, Schwächen<br />

Was für und was gegen<br />

einen Deutsche-Bank-Chef<br />

Anshu Jain spricht.<br />

Jain gilt fachlich weltweit<br />

unbestritten als einer der besten<br />

Banker seiner Generation<br />

Nach fast 20 Jahren kennt<br />

er sich in der Bank mehr als<br />

bestens aus und hat einen<br />

klaren Plan für deren Umbau<br />

Jain ist ein sehr fordernder,<br />

aber auch motivierender Chef,<br />

dem seine Mitarbeiter vertrauen<br />

Als oberster Investmentbanker<br />

trägt er zumindest die<br />

politische Verantwortung für<br />

Verfehlungen der Vergangenheit<br />

Bei Politikern und Aufsehern<br />

ist er ein wenig glaubwürdiger<br />

Vertreter eines Neustarts<br />

Obwohl er sich bemüht,<br />

spricht Jain nach wie vor nur<br />

wenig Deutsch<br />

Von Anfang an in der<br />

Defensive Deutsche-<br />

Bank-Co-Chef Jain<br />

FOTO: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 39<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Auch im direkten Umgang mit Mitarbeitern<br />

hat Jain positiv überrascht. Er ist ein<br />

fordernder Chef, der keine Schwäche duldet.<br />

Wer nicht in sein Tableau passt, wird<br />

umgehend und ohne viel Aufsehen entfernt.<br />

Aber er ist fair, schätzt im direkten<br />

Gespräch auch Widerspruch und bemüht<br />

sich in größerer Runde um Offenheit. Das<br />

war früher anders. Da schickte er die erlaubten<br />

Fragen per Mail vorab an Untergebene<br />

herum. Abweichungen unerwünscht.<br />

Jain hat sich so stark gewandelt, dass er<br />

auch Weggefährten verblüfft. Frühere Top-<br />

Manager erinnern sich noch gut daran, wie<br />

er über die Postbank lästerte oder das Geschäft<br />

mit dem Mittelstand als zu margenschwach<br />

kritisierte und eindampfen wollte.<br />

Heute umschmeichelt er das emsige<br />

Rückgrat der deutschen Wirtschaft bei jeder<br />

Gelegenheit. Und tut auch was dafür:<br />

<strong>12</strong> 000 große Mittelständler hat die Bank<br />

organisatorisch von der Investmentbank in<br />

die Filialen des Privatkundengeschäfts verlagert,<br />

damit sie besser betreut werden.<br />

EIN CHEF FÜR ALLE<br />

Ob Berechnung oder Überzeugung: Jain<br />

weiß, was seine Rolle verlangt. So fliegt er<br />

nur noch alle zwei Wochen nach London,<br />

sein Glasbüro am Rande des Handelssaals<br />

hat er geräumt. Ein Drittel der Zeit ist er<br />

jetzt in Frankfurt, wo er mit seiner Frau<br />

Geetika eine Wohnung hat. Und wo sein<br />

Büro im 32. Stock zeigt, dass er ein Chef für<br />

alle sein will. Vor der Tür hängt das von ihm<br />

selbst geschossene Foto eines jungen Tigers,<br />

drinnen stehen Trophäen aus seiner<br />

Investmentbank-Zeit. Ein Glasrahmen<br />

zeigt aber auch ein mit Autogrammen<br />

übersätes Trikot des Postbank-Werbepartners<br />

Borussia Mönchengladbach. Jain lernt<br />

unverdrossen Deutsch, viel Zeit hat er<br />

Aktien-Info Deutsche Bank<br />

ISIN DE00<strong>05</strong>140008<br />

350<br />

300<br />

250<br />

200<br />

150<br />

100<br />

50<br />

Indexiert: 1.6.20<strong>12</strong>=100<br />

20<strong>12</strong> 2013<br />

<strong>2014</strong><br />

Bilanzsumme(in Mrd. €)<br />

Vorsteuergewinn (in Mrd. €)<br />

Kapitalquote (in %)<br />

Effizienz* (in %)<br />

Kurs (in €)<br />

KGV2013<br />

Börsenwert(in Mrd. €)<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Deutsche Bank<br />

*Cost-Income-Ratio;<br />

Quelle: Thomson Reuters, Bloomberg<br />

Deutsche<br />

Société<br />

Générale<br />

Bank<br />

1637<br />

1,7<br />

9,5<br />

77<br />

30,80<br />

10,1<br />

31,4<br />

UBS<br />

UBS<br />

807<br />

1,2<br />

13,2<br />

81<br />

15,00<br />

16,1<br />

58,0<br />

Société<br />

Générale<br />

<strong>12</strong>66<br />

0,7<br />

10,1<br />

66<br />

44,00<br />

11,4<br />

35,0<br />

Hoch<br />

Die meisten europäischen Banken haben die Deutsche<br />

Bank weit abgehängt. Kurzfristig belastet vor allem die Unsicherheit<br />

über eine weitere Kapitalerhöhung die Aktie.<br />

Wenn hier Klarheit herrscht und die Bank zudem den<br />

Stresstest im Herbst gut besteht, könnte es aufwärtsgehen.<br />

nicht, aber für eine längere Ansprache zur<br />

Hauptversammlung am 22. Mai reicht es.<br />

Bei vielen Zielen, die Jain und Fitschen<br />

zu Beginn ihrer Amtszeit für 2015 anvisiert<br />

hatten, sind sie im Plan oder diesem voraus.<br />

Das Sparziel von jährlich 4,5 Milliarden<br />

Euro ist zur Hälfte erreicht. Die in eine<br />

Abbaubank ausgegliederten Vermögenswerte<br />

haben sich von <strong>12</strong>0 auf 50 Milliarden<br />

Euro reduziert. Die Vermögensverwaltung,<br />

die im gesamten Jahr 20<strong>12</strong> nur 150 Millionen<br />

Euro vor Steuern verdiente, wirft mittlerweile<br />

in jedem Quartal mehr ab.<br />

Trotz dieser Erfolge ist von Aufbruchstimmung<br />

in der Bank nichts zu spüren, im<br />

Gegenteil. Das Befinden ist schlecht, „sauschlecht“<br />

sogar, wie ein Insider sagt. Allenfalls<br />

stabilisiert sich die Lage allmählich.<br />

Die ständigen Skandale und Verfehlungen<br />

sorgen für eine gereizte Atmosphäre. Das<br />

Selbstverständnis ist angeknackst. Zu tief<br />

war der Absturz, zu schwer die Kränkung.<br />

Lange wähnte sich die Bank stark und<br />

unverwundbar. Dafür hatte vor allem Jains<br />

Vorgänger Josef Ackermann gesorgt. Der<br />

hatte stets erklärt, dass in erster Linie er<br />

persönlich, in zweiter aber auch die Bank<br />

Gewinner der Krise seien. Als die Konkurrenz<br />

2009 noch mit Aufräumarbeiten beschäftigt<br />

war, setzte er ein absurdes Zehn-<br />

Milliarden-Euro-Gewinnziel für 2011 in<br />

die Welt, als wäre nichts gewesen.<br />

Vermisst wird Ackermann heute kaum<br />

noch, viele sind wütend, fühlen sich betrogen.<br />

Denn geblieben ist ein Berg von Altlasten,<br />

deren Beseitigung Milliarden kostet<br />

und immer mal wieder den Staatsanwalt<br />

auf den Plan ruft. Die Deutsche Bank, das<br />

dämmert jedem, war längst nicht so gut in<br />

Form wie behauptet. Das Verhältnis von<br />

Kosten zu Ertrag lag bei 90 Prozent, das von<br />

Eigenkapital zu Risikoaktiva hätte nach<br />

den heute geltenden Standards läppische<br />

sechs Prozent betragen.<br />

Ackermanns letzte Amtsjahre gelten, abgesehen<br />

<strong>vom</strong> Kauf der Postbank, als verlorene<br />

Zeit, seine Ansprüche aber wirken<br />

fort. Demut passt nicht zur Bank, auch Jain<br />

will an der Weltspitze mitmischen. Statt einer<br />

Eigenkapitalrendite von 25 Prozent vor<br />

Steuern wollen er und Fitschen zwölf Prozent<br />

nach Steuern erreichen. Momentan<br />

sind sie davon meilenweit entfernt.<br />

Von Jaipur nach Frankfurt Die wichtigsten Stationen der Karriere von Anshu Jain.<br />

1963–1983<br />

Jain wächst in Jaipur in Indien<br />

und zeitweise in Kabul auf,<br />

zieht nach dem Studium in<br />

die USA<br />

1988–1995<br />

Nach einer ersten Station bei<br />

Kidder Peabody macht Jain<br />

als Investmentbanker bei<br />

Merrill Lynch in New York<br />

rasch Karriere und steigt bis<br />

zum Managing Director auf<br />

1995–20<strong>12</strong><br />

Mit seinem im Jahr 2000 bei<br />

einem Flugzeugabsturz verstorbenen<br />

Mentor Edson<br />

Mitchell geht<br />

er zur Deutschen<br />

Bank<br />

nach London.<br />

Gefördert von<br />

Josef Ackermann,<br />

steigt<br />

er bis in den<br />

Vorstand auf<br />

seit 20<strong>12</strong><br />

Nach langem Machtkampf<br />

tritt Jain mit Jürgen<br />

Fitschen die Nachfolge<br />

von Ackermann<br />

an. Die Bank<br />

gerät wegen<br />

vergangener<br />

Verfehlungen<br />

immer<br />

mehr ins<br />

Zwielicht<br />

40 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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2013 verdiente die Bank 1,5 Milliarden<br />

Euro vor Steuern, 20<strong>12</strong> war es nur halb so<br />

viel. Belastungen durch Abschreibungen,<br />

Vergleiche in Rechtsstreitigkeiten und Strafen<br />

verhageln das Ergebnis. So geht es erst<br />

mal weiter. <strong>2014</strong> werde sicher nicht besser<br />

laufen, heißt es in Vorstandskreisen, wieder<br />

werde es Milliarden an Strafzahlungen<br />

und Abschreibungen geben. Wieder geht<br />

es also mehr ums Aushalten als ums Wachsen.<br />

Disziplin bleibt höchstes Gebot.<br />

FOTOS: AKG/ROLAND AND SABRINA MICHAUD, PICTURE-ALLIANCE/DPA (2), ULLSTEIN BILD, FRANK BAUER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

Kein Nachfolger in Sicht Aufsichtsratschef<br />

Achleitner will an Jain festhalten, solange es<br />

geht – plant aber für den Notfall<br />

HOFFEN AUF DIE WENDE<br />

Ab 2015 soll die Bank auf Wachstum umschalten.<br />

Die Pläne liegen bereit: Die Führung<br />

will die Vermögensverwaltung ausbauen,<br />

sich in den Metropolen der Schwellenländer<br />

engagieren, bei der Konsolidierung<br />

der Branche mitmischen und auch<br />

technisch ganz vorne dabei sein.<br />

Der Auftakt dazu ist gemacht. Neulich<br />

hat Jain im Rechenzentrum in Eschborn<br />

bei Frankfurt vor mehr als 1000 Bankern<br />

erklärt, wie radikal neue Technologien wie<br />

der Mobilfunkstandard 4G das Leben der<br />

Kunden und damit das Bankgeschäft verändern.<br />

An seiner Seite Privatkundenvorstand<br />

Rainer Neske, den er bei der Gelegenheit<br />

als obersten Digital-Beauftragten<br />

der ganzen Bank vorstellte. Ein cleverer<br />

Schachzug: In Jains Anfangstagen galt Neske<br />

als Vertreter der Traditionalisten – und<br />

damit als möglicher Gegenspieler.<br />

Jain weiß, was er will, er kann seine Pläne<br />

mit ein paar Strichen auf dem Notizblock<br />

deutlich machen. Und hat doch nicht alles<br />

unter Kontrolle. Wie faulige Blasen poppten<br />

nach seinem Amtsantritt Skandale an<br />

die Oberfläche. Mögliche Manipulationen<br />

von Libor-Zinsen, Devisenmärkten und<br />

Goldpreis sowie Ermittlungen von Staatsanwälten<br />

wegen Falschaussagen im Kirch-<br />

Prozess und Steuerbetrug mit Klimazertifikaten<br />

dominieren das Bild der Bank.<br />

So auch bei der jährlichen Pressekonferenz<br />

Ende Februar. Jain und Fitschen wollen<br />

ihre maue Bilanz für 2013 als Erfolg verkaufen.<br />

Fast neun Milliarden Euro Gewinn<br />

habe die Bank ohne Sonderbelastungen<br />

gemacht, das zweitbeste Ergebnis aller Zeiten.<br />

Doch beide wirken alles andere als euphorisch.<br />

Und das Ergebnis ist eh zweitrangig.<br />

„Warum sind Sie der Richtige?“,<br />

„Was wussten Sie von der Manipulation<br />

von Zinssätzen?“ – Fragen wie im Polizeiverhör<br />

verfolgen Jain auf Schritt und Tritt.<br />

Mindestens so schwer wie das moralische<br />

Misstrauen wiegt das der Investoren.<br />

Aktuell beklagen sie zu wenig Transparenz<br />

bei der Vergütung. Die größten Sorgen machen<br />

sie sich aber wegen der nach wie vor<br />

schwachen Kapitalbasis, eine weitere Kapitalerhöhung<br />

ist wahrscheinlich. „Die Bank<br />

hat ihre Kapitalposition zwar schon dramatisch<br />

verbessert, ist aber immer noch<br />

auf der niedrigen Seite“, rügt David Moss,<br />

Chef des europäischen Aktiengeschäfts<br />

beim britischen Vermögensverwalter F&C.<br />

In Führungskreisen der Bank kommt die<br />

Botschaft offenbar an: „Wir haben nie gesagt,<br />

dass das Thema Kapital für uns erledigt<br />

ist“, sagt ein Top-Manager.<br />

DIE KONKURRENZ ZIEHT DAVON<br />

Darunter leidet einmal mehr der Aktienkurs,<br />

der seit Jahren um die 30 Euro stagniert.<br />

Das Geschäftsmodell gilt als zu<br />

kompliziert, die Kapitalbasis als zu<br />

schwach für die weltweiten Ambitionen.<br />

Nach dem Stresstest der EZB Ende des Jahres,<br />

so die Hoffnung der Führungsspitze,<br />

könne sich der Kurs an 50 Euro annähern.<br />

Das wäre bitter nötig. Denn die Flaute ist<br />

intern ein Stimmungskiller. Die Investmentbanker<br />

in New York und London bekommen<br />

einen großen Teil ihres Salärs in<br />

Aktien. Allmählich werden sie unruhig,<br />

wollen auch mal verkaufen, Kasse machen.<br />

Die Chance ist bisher ausgeblieben.<br />

Gleichzeitig zieht die Konkurrenz davon.<br />

In ihrem Selbstverständnis ist die Bank die<br />

Nummer eins in Europa, nach dem Börsenwert<br />

steht sie nicht mal mehr unter den<br />

ersten 15. Die US-Wettbewerber spielen<br />

längst in einer ganz anderen Liga. JP Morgan<br />

hat 2013 trotz ebenfalls heftiger Strafzahlungen<br />

13 Milliarden Euro verdient.<br />

Symbolhaft für die Kluft sind zwei Auftritte,<br />

bei denen Jain im vergangenen Jahr<br />

mit JP-Morgan-Chef Jamie Dimon diskutierte.<br />

Der steht auch unter Druck, tönt<br />

aber trotzdem laut und selbstbewusst, dass<br />

Amerika gefälligst stolz auf die Bank sein<br />

solle. Dagegen wirkt Jain kleinlaut. Höflich,<br />

fast schüchtern gelobt er Besserung und<br />

bittet um Geduld. Natürlich werde es dauern,<br />

bis die Finanzindustrie das zu Recht<br />

verlorene Vertrauen zurückerobert habe.<br />

„Wir sind alle verunsichert“, gibt ein Vorstandskollege<br />

zu. „Aber Anshu ist besonders<br />

vorsichtig. Jeder wartet auf einen Fehltritt.“<br />

Dabei ist das Ducken eigentlich nicht<br />

seine Sache. „Jain ist immer ein absoluter<br />

Meinungsführer gewesen“, sagt ein Manager,<br />

der jahrelang mit ihm im obersten<br />

Führungsgremium der Bank saß. „Es muss<br />

ihn schmerzen, dass er von Beginn an in<br />

die Defensive geraten ist und den Eindruck<br />

kaum noch korrigieren kann.“<br />

Die Skepsis ist weiter allgegenwärtig.<br />

„Jain hat sehr lange Verantwortung für kritische<br />

Geschäfte getragen“, sagt ein Bankenaufseher.<br />

„Unabhängig von konkreten<br />

Verfehlungen muss sich die Bank fragen,<br />

ob so viel personelle Kontinuität ein glaubhaftes<br />

Zeichen für Wandel ist.“<br />

Das Jain-Lager versucht tapfer, genau<br />

das zu vermitteln. Er kenne die Bank genau<br />

und habe genug Erfahrung und Autorität,<br />

um andere Banker <strong>vom</strong> Wandel zu überzeugen.<br />

Und schließlich sei jeder Investmentbanker,<br />

der in den Vorkrisenjahren<br />

Verantwortung trug, auf dem gleichen Irrweg<br />

gewesen. Jetzt sei die Branche klüger.<br />

So sieht das auch Paul Achleitner. Der<br />

Aufsichtsratsvorsitzende hat Jain früh von<br />

jeder direkten Verantwortung für die Manipulation<br />

der Libor-Zinssätze freigespro-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 41<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

chen und hält weiter treu zu ihm. Achleitner<br />

hat die Sitzordnung im Aufsichtsrat<br />

so umgestellt, dass dessen Mitglieder nun<br />

alphabetisch und nicht mehr nach Arbeitnehmern<br />

und Kapital getrennt angeordnet<br />

sind. Er legt auch sonst viel Wert auf Balance.<br />

Mit dem früheren UBS-Finanzchef John<br />

Cryan hat er Jain in dem Gremium einen<br />

ebenbürtigen Experten zur Seite gestellt.<br />

Beide lieferten sich schon Rededuelle, denen<br />

die Kollegen nur mit Mühe folgen<br />

konnten, etwa zu einer weiteren Kapitalerhöhung.<br />

Cryan war dafür, Jain wollte sie<br />

lieber vermeiden, um bessere Argumente<br />

für seinen Sparkurs zu haben.<br />

Gerüchteweise könnte Cryan Jain ersetzen,<br />

sollte der wegen einer Verfehlung stürzen.<br />

In Kreisen des Aufsichtsrats heißt es,<br />

Jain sitze fest im Sattel. Eine Ablösung war<br />

bei den letzten Sitzungen kein Thema. Die<br />

kritischsten Fragen müsse sich derzeit Finanzvorstand<br />

Stefan Krause anhören. Aber<br />

jedem ist klar, dass ein neuer Skandal Jains<br />

Ende wäre. Für diesen Fall will die Bank gerüstet<br />

sein. Angeblich soll bereits ein Personalberater<br />

nach einem externen Kandidaten<br />

suchen, der Jain, Fitschen oder<br />

gleich beide ersetzen kann.<br />

Fitschens wunder Punkt sind die Ermittlungen<br />

wegen angeblicher Falschaussagen<br />

im Kirch-Prozess. Er hat bisher nicht definitiv<br />

erklärt, dass er bleibt, wenn gegen ihn<br />

ein Strafverfahren beginnt. Ob es so weit<br />

kommt, dürfte sich bald entscheiden. Intern<br />

gilt die Situation als „kompliziert“.<br />

Jains wunder Punkt sind neun Millionen<br />

E-Mails. 300 Experten, darunter 150 externe<br />

Anwälte, durchsuchen den elektronischen<br />

Schriftverkehr nach Hinweisen auf<br />

Manipulationen von Referenzgrößen.<br />

Über die Geschehnisse beim Libor gibt es<br />

inzwischen Klarheit: „Die Untersuchung<br />

ist abgeschlossen, wir wissen genau, was<br />

passiert ist“, heißt es in hochrangigen Kreisen<br />

der Bank. Es handele sich um Verfehlungen<br />

Einzelner. Mit dem Abschluss aller<br />

Verfahren rechnen die Verantwortlichen<br />

nicht vor Ende des Jahres, wenn die Aufseher<br />

in den USA und Großbritannien ihr<br />

Strafmaß verkündet haben.<br />

TREIBER STATT GETRIEBENER<br />

Schluss ist dann noch lange nicht. Anzeichen<br />

für eine Schrauberei am Goldpreis<br />

gibt es bisher nicht. Im Vorstand und bei<br />

den Aufsehern gilt vor allem die mögliche<br />

Manipulation von Devisenkursen wegen<br />

der Größe des Marktes als heikel. Die Untersuchungen<br />

sind noch am Anfang. Im<br />

Fall eines Händlers für argentinische Peso<br />

gibt es klare Indizien für eine Absprache.<br />

Ob er aber wirklich einen Manipulationsversuch<br />

gestartet hat, ist nicht klar.<br />

Sollte sich ein Beleg für ein direktes Mitwissen<br />

oder gar eine Anstiftung durch Jain<br />

finden, wäre er sofort erledigt. Enge Mitarbeiter<br />

glauben das nicht. „Sein moralischer<br />

Kodex ist so streng, dass es schon fast irritierend<br />

ist“, betont einer. Aber kommt es<br />

wirklich darauf an, ob sich irgendwo die eine<br />

Mail findet, die ihn überführt? Jain hat<br />

als Ober-Investmentbanker über Jahre alles<br />

getan, um sein Geschäft auszubauen. Er<br />

war kein Getriebener, sondern Treiber.<br />

Und damit bei allen Irrwegen vorne dabei.<br />

In seiner Amtszeit zogen Vertriebstruppen<br />

los, um komplexe Derivate an Kommunen<br />

zu verticken, die deren Finanzplanung<br />

ruinierten statt sanierten. Der Aufstieg<br />

zu einem der größten Spieler auf dem<br />

Markt für verbriefte US-Immobilienkredite<br />

schwacher Bonität war vor allem Jains<br />

zweifelhaftes Verdienst. Hier drohen weiter<br />

die höchsten Strafzahlungen. Intern gilt es<br />

schon als Erfolg, dass sich die Bank in einem<br />

Verfahren kürzlich auf eine Strafe von<br />

1,4 Milliarden Euro geeinigt hat, während<br />

die Bank of America wenig später fast zehn<br />

Milliarden Dollar zahlen musste.<br />

Jain will alle Altlasten schnell weghaben.<br />

So hat er auch besonders darauf gedrängt,<br />

925 Millionen Euro nach München zu<br />

überweisen, um endlich den Streit um die<br />

Kirch-Pleite im Jahr 2001 zu beenden.<br />

Nach außen erkauft sich die Bank so etwas<br />

Frieden. Intern sorgen die Summen<br />

für Unruhe. Denn das Sparprogramm<br />

„Operational Excellence“ verordnet jeder<br />

Abteilung ein knallhartes Sparziel. Stellen<br />

werden nicht wieder besetzt, sogar die<br />

Drucker bedrucken das Papier seit Kurzem<br />

nur noch beidseitig. Abteilungsleiter rechnen<br />

aus, wie viele Jahre es dauert, bis ihre<br />

Einsparungen den Kirch-Vergleich finanziert<br />

haben. Und kommen auf Jahrzehnte.<br />

Es grummelt gewaltig. Bei Überweisungen<br />

im Privatkundengeschäft sind schon<br />

immer Kontrollen wie das Vier-Augen-<br />

Prinzip vorgesehen, während Milliardenspiele<br />

im Investmentbanking unbehelligt<br />

abliefen. Ackermann und Jain fuhren die<br />

Überwachung teilweise zurück. Kein Wunder,<br />

dass Banker beider Lager einander mit<br />

Skepsis begegnen. Bei den Kulturwandel-<br />

Seminaren erforschen Führungskräfte aus<br />

allen Bereichen, wie es zu den Sünden<br />

kommen konnte. Die Investmentbanker<br />

haben da erst mal einen schweren Stand.<br />

Mancher in der Bank stellt den Kurs der<br />

vergangenen 20 Jahre komplett infrage.<br />

Erst investierte sie Milliarden in den Aufbau<br />

des Kapitalmarktgeschäfts, verdiente<br />

so eine Weile Milliarden und zahlt dafür<br />

»<br />

Auf Schrumpfkurs<br />

Entwicklung der Deutschen Bank seit Amtsantritt von Jürgen Fitschen und Anshu Jain<br />

Aktienkurs<br />

in Euro<br />

35<br />

Vorsteuergewinn<br />

in Milliarden Euro<br />

4<br />

Bilanzsumme<br />

in Billionen Euro<br />

2,3<br />

Kapitalbasis 1<br />

in Prozent<br />

18<br />

Effizienz 3<br />

in Prozent<br />

60<br />

Beschäftigte<br />

in Tausend<br />

102<br />

34<br />

2<br />

2,1<br />

16<br />

80<br />

101<br />

33<br />

32<br />

0<br />

1,9<br />

14<br />

<strong>12</strong><br />

100<br />

100<br />

99<br />

31<br />

–2<br />

1,7<br />

10<br />

<strong>12</strong>0<br />

98<br />

20<strong>12</strong> 13 14<br />

30<br />

20<strong>12</strong> 13 14<br />

–4<br />

1,5<br />

20<strong>12</strong> 13 14<br />

8<br />

140<br />

20<strong>12</strong> 13 14 2 20<strong>12</strong> 13 14<br />

20<strong>12</strong> 13 14<br />

97<br />

1<br />

Verhältnis Kapital zu Risikoaktiva; 2 neue Eigenkapitalstandards; 3 Verhältnis Kosten zu Erträgen; Quelle: Unternehmensangaben<br />

42 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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KULTURWANDEL<br />

Kontrolle ist besser<br />

Die Bank will bei Verfehlungen knallhart durchgreifen.<br />

Auf der Vorderseite der Postkarte ist ein<br />

Spiegel, auf der Rückseite stehen Werte<br />

wie Integrität, Kundenorientierung und<br />

Disziplin. Etliche dieser Pappen hat die<br />

Deutsche Bank kürzlich an ihre Mitarbeiter<br />

verteilt. Die sollen sie sich immer mal<br />

wieder vors Gesicht halten und selbstkritisch<br />

prüfen, ob sie die dort formulierten<br />

Ansprüche im Alltag einlösen.<br />

Die Kärtchen sind nur ein kleiner Baustein<br />

des Großprojekts Kulturwandel. Das<br />

haben Anshu Jain und Jürgen Fitschen<br />

mit ihrem Amtsantritt ausgerufen. Die<br />

Bank soll aus den Sünden der Vergangenheit<br />

lernen. Zentrale Figur für die technische<br />

Umsetzung ist der frühere Investmentbanker<br />

Stephan Leithner. Als<br />

Vorstand für Personal und Recht ist er<br />

auch der oberste Verwalter der juristischen<br />

Altlasten. „Unser Fokus sind einwandfreie<br />

Transaktionen“, sagt Leithner.<br />

„Wir machen nicht bei jedem Geschäft<br />

mit, nur weil es profitabel ist.“<br />

Die Deutsche-Bank-Dreifaltigkeit für ein<br />

anständigeres Kreditinstitut Vorstände<br />

Fitschen, Leithner und Jain<br />

Das gilt auch für vier Händler, denen die<br />

Bank wegen der möglichen Manipulation<br />

der Libor-Referenzzinsen gekündigt hat.<br />

Die bisherigen Prozesse hat sie verloren, zu<br />

einem Vergleich war sie nicht bereit. Auch<br />

bei der möglichen Trickserei mit Devisenkursen<br />

hat sie belastete Händler gefeuert.<br />

Wichtiger als Strafe ist die Vorsorge.<br />

Mehr als eine Milliarde Euro gibt die Bank<br />

für Kontrollsysteme aus. „Das Pendel<br />

schlägt teilweise schon zu weit in die andere<br />

Richtung aus“, klagt ein Banker. Umstritten<br />

ist intern etwa die „Red Flag“-Datenseine<br />

Kunden ansprechen, die sich besonders<br />

positiv oder negativ geäußert haben.<br />

„Die Kunden sind beeindruckt, dass<br />

wir uns melden und das Gespräch suchen“,<br />

sagt Bubmann. „Die Telefonate<br />

helfen uns, den Bedürfnissen besser gerecht<br />

zu werden.“ Kunden zuhören und<br />

auf sie eingehen sind Grundtugenden, die<br />

die Bank vernachlässigt hat.<br />

Zusätzlich ziehen jährlich Tausende<br />

Testkäufer los, um die Beratung zu prüfen.<br />

Neue Produkte werden umfassender<br />

getestet: auf Verständlichkeit, ein ausgewogenes<br />

Verhältnis von Chance und Risiko,<br />

rechtliche Unbedenklichkeit und negative<br />

Folgen für den Ruf. „Wir betreiben<br />

einen sehr hohen Aufwand, um falsche<br />

Beratung auszuschließen und Fehler früh<br />

zu finden“, sagt Bubmann. Doch kann<br />

sich die Bank mehr Moral leisten? „Wenn<br />

FOTO: DDP IMAGES/THOMAS LOHNES<br />

RISIKO FÜR DEN RUF<br />

So habe die Bank kürzlich den Kauf eines<br />

großen Pakets notleidender Immobilienkredite<br />

aus Spanien gestoppt, obwohl ein<br />

Team wochenlang an der Transaktion gearbeitet<br />

hatte. Das Risiko für den Ruf war<br />

zu hoch. In der Branche gilt auch das Ende<br />

der Geschäftsbeziehung zum umstrittenen<br />

Hedgefondsmanager Steven Cohen<br />

als Beispiel für die moralische Reißleine.<br />

Die Bank will das nicht kommentieren.<br />

Lieber verweist Leithner auf erste Erfolge.<br />

Die Vergütung ist deutlich langfristiger<br />

und richtet sich bei Vorständen jetzt auch<br />

danach, dass sie sich dem Wertekanon<br />

gemäß verhalten. Und Tausende Schulungen<br />

sollen Banker zu verantwortungsvollem<br />

Handeln anleiten.<br />

Nicht zuletzt geht es um null Toleranz<br />

gegenüber Fehlverhalten. Die fängt mit<br />

Details an. So hat die Bank die einst nach<br />

Indien ausgelagerte Spesenabrechnung<br />

wieder in die Hände der örtlichen Vorgesetzten<br />

gelegt. Die beiden Chefs des Japan-Geschäfts<br />

hat sie wegen überhöhter<br />

Abrechnungen gefeuert. Die Botschaft:<br />

Wer trickst und täuscht, muss gehen.<br />

bank: Sie erfasst alle Verstöße gegen die<br />

neuen Regeln, etwa verspätete Schulungen.<br />

Seinen Effekt verfehlt das digitale<br />

Klassenbuch nicht: Die Zahl der Verstöße<br />

ist zuletzt um 20 Prozent gefallen.<br />

Auch Zockerei auf eigene Rechnung und<br />

Übertölpelung von Kunden sollen passé<br />

sein. Als eine Art Pionier des guten Geistes<br />

schiebt die Bank da gerne Christoph Bubmann<br />

vor, seit 2009 „Chief Client Officer“<br />

im Geschäft mit Privatkunden. Bubmann<br />

will nichts beschönigen, er weiß, wie das<br />

Image gelitten hat. Aber er hält die Lage<br />

nicht für hoffnungslos.<br />

Dabei setzt er vor allem auf die Kunden.<br />

Mehrere Millionen befragt die Bank jährlich<br />

nach ihrer Zufriedenheit. Jeder der insgesamt<br />

fast 11 000 Berater soll dann zeitnah<br />

wir die Leitlinien erklären, reagieren Kunden<br />

sehr positiv“, sagt Leithner. Nachteile<br />

fürchtet er nicht. Interne Skeptiker sind<br />

nicht überzeugt. Die ambitionierten Ziele<br />

in einem schrumpfenden Markt ließen es<br />

kaum zu, Chancen wegen moralischer<br />

Skrupel auszulassen.<br />

Auch die Finanzaufsicht BaFin hat beklagt,<br />

dass sich bei der Bank ohne Druck<br />

wenig tut. „Veränderungen brauchen<br />

Zeit“, sagt Leithner. Bei einem Treffen<br />

von 300 deutschen Führungskräften im<br />

März in Berlin hätten mehr als 80 Prozent<br />

erklärt, dass der Wandel spürbar sei und<br />

ihre Arbeit beeinflusse. Sie sollen Botschaften<br />

und Verhaltensweisen nun an ihre<br />

Leute weitergeben und selbst vorleben.<br />

cornelius.welp@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 43<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

nun Milliardenstrafen. In der Führung<br />

heißt es, die Bilanz des Investmentbankings<br />

insgesamt sei positiv und die Bank<br />

nur wegen ihm als einzige in Deutschland<br />

international wettbewerbsfähig. Doch die<br />

Filialmitarbeiter zahlen einen hohen Preis,<br />

wenn ihre Kunden sie auf die neueste Ungeheuerlichkeit<br />

der Kollegen ansprechen.<br />

Da ist es ein schwacher Trost, dass Jain<br />

keinen Bereich der Bank so radikal umkrempelte<br />

wie seinen eigenen. In der Investmentbank<br />

hat er seit 20<strong>12</strong> das härteste<br />

Sparprogramm durchgezogen. 2000 Stellen<br />

fielen weg, und das schwache Geschäft<br />

dürfte dafür sorgen, dass der Schrumpfprozess<br />

noch weitergeht. Wie ihre Wettbewerber<br />

leidet die Deutsche Bank unter<br />

dem schwachen Handel mit Anleihen und<br />

einem lahmen Devisengeschäft.<br />

WEICHES THEMA IN HARTER ZEIT<br />

Dabei geht es nicht nur um eine der üblichen<br />

Flauten, sondern um tief greifende<br />

Veränderungen durch Regulierung. Die betrifft<br />

vor allem den Handel mit Anleihen,<br />

Devisen und Rohstoffen, aus dem Jain selbst<br />

kommt. „Die Welt hat sich verändert, und<br />

wir müssen uns anpassen“, sagt Colin Fan,<br />

der das Geschäft gemeinsam mit Robert<br />

Rankin leitet, seit Jain an die Spitze der gesamten<br />

Bank gerückt ist. Die Bank hat den<br />

Eigenhandel dichtgemacht und den physischen<br />

Handel mit Rohstoffen eingestellt.<br />

Anders als mancher Wettbewerber will sie<br />

aber grundsätzlich weiter alle wesentlichen<br />

Dienstleistungen anbieten. Nur so könne sie<br />

ihre globalen Ambitionen aufrechterhalten.<br />

Die verkörpert Fan ähnlich wie Jain, zu<br />

dessen engsten Vertrauten er zählt. Er wurde<br />

in China geboren und wuchs in Kanada auf.<br />

Seine wichtigste Aufgabe ist es nun, den von<br />

Jain und Fitschen ausgerufenen Kulturwandel<br />

(siehe Seite 43) auch den hartgesottenen<br />

Händlertruppen zu vermitteln. Leicht ist das<br />

nicht. „Alle waren überrascht über das vermeintlich<br />

weiche Thema in einer Zeit, in der<br />

die Bank mit Herausforderungen in ihrem<br />

Kerngeschäft konfrontiert ist“, sagt Fan.<br />

Damit es nicht nur Gerede bleibt, wird<br />

das richtige Verhalten in Rollenspielen eingeübt.<br />

Wer nicht hören will, muss büßen.<br />

„Strafen für Fehlverhalten müssen drastisch<br />

ausfallen. Wir sollten diese Personen<br />

enttarnen, ihnen kündigen, ihre Boni und<br />

Belegschaftsaktien kassieren und die Aufsichtsbehörden<br />

informieren“, droht Fan.<br />

Auf die Skandale reagiert die Bank mit<br />

deutlich mehr Kontrollen und mit Rückzug,<br />

etwa bei der Ermittlung des Goldpreises<br />

oder von einigen Devisenkursen. „Wir<br />

44 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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können unsere Teilnahme nicht komplett<br />

einstellen, weil wir in manchen Märkten<br />

ein wichtiger Teilnehmer sind. Bis dato haben<br />

wir die Zahl der Fixings, an denen wir<br />

teilnehmen, um zwei Drittel gesenkt“, sagt<br />

Fan. Um Fehlverhalten auszuschließen,<br />

wird stärker automatisiert:Rund die Hälfte<br />

des Devisenhandels wird elektronisch abgewickelt,<br />

der Anteil dürfte bald auf 80 bis<br />

90 Prozent steigen. Und Fan setzt auf einfache<br />

Produkte, er wolle „dem Brot-und-Butter-Geschäft<br />

Priorität einräumen“.<br />

Vertraute wie Fan sollen verhindern,<br />

dass Jains größte Angst wahr wird und aus<br />

Geschäften von heute Altlasten von morgen<br />

werden. Ein neuer Libor-/Devisen-/<br />

Kirch-Fall wäre das Ende seiner Karriere<br />

und ein weiterer Tiefschlag für das Image<br />

der Bank. Nur wenn sie längere Zeit sauber<br />

bleibt, kann Jain zu einem ganz normalen<br />

Manager werden, dem die Leute vertrauen.<br />

DURCH DIE HINTERTÜR<br />

Nirgends fehlt es daran so wie in Berlin. 15<br />

Mal im Jahr ist Jain in der Hauptstadt, sie ist<br />

sein deutscher Lieblingsort. Die Ministerien<br />

aber betritt er durch den Hintereingang.<br />

Sich mit ihm zu zeigen gilt unter Politikern<br />

als unschick, viele würden ihn gerne<br />

abgelöst sehen.<br />

Da muss Jain jede Chance nutzen. Im Innenhof<br />

der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft<br />

in Berlin steht das Deutsche-Bank-<br />

Logo in der Ecke. Mitte Februar stellt Ex-<br />

Kanzler Gerhard Schröder hier ein neues<br />

Buch vor, und weil Schröders Agenda heute<br />

als deutsches Erfolgsrezept gilt, ist der Saal<br />

voll. Jain ist ein artiger Gastgeber, er kommt<br />

genau pünktlich, dunkelblauer Anzug, die<br />

rechte Hand lässig in der Hosentasche, lächelt<br />

er freundlich, fast schelmisch. Er<br />

macht das souverän, zitiert auf Englisch sogar<br />

Thomas Mann: „Wir wollen kein deutsches<br />

Europa, sondern ein europäisches<br />

Deutschland.“ Es ist ein kurzer Auftritt ohne<br />

Widerhaken. Nach fünf Minuten ist die<br />

Pflicht vorbei. Als Belohnung für Jain gibt es<br />

gemeinsame Fotos in den Zeitungen.<br />

In seiner Ansprache hat Jain Schröder<br />

gelobt, weil der auch gegen Widerstände<br />

durchsetzte, was er für richtig hielt. Heute<br />

bekommt Schröder anders als für seine<br />

Freundschaft zu Wladimir Putin dafür Applaus.<br />

Jain strebt nicht wie sein Vorgänger<br />

Ackermann einen Platz in einem Geschichtsbuch<br />

an. Wenn es irgendwann hieße,<br />

dass er der richtige Mann am richtigen<br />

Ort war, würde ihm das schon reichen. n<br />

cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt,<br />

yvonne esterhazy | London<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 45<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»Wichtig ist, cool zu bleiben«<br />

INTERVIEW | Rupert Stadler Der Audi-Chef kündigt ein Modellfeuerwerk und eine Globalisierungsoffensive<br />

an, sieht aber keinen Grund für einen Kurswechsel. Carsharing ist für ihn kein Thema.<br />

FOTO: WOLF HEIDER-SAWALL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

46 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Herr Stadler, etwa ein Jahr ist es her, dass<br />

Ursula Piëch in den Aufsichtsrat von<br />

Audi eingezogen ist. Wie hat sich das auf<br />

die Arbeit in dem Gremium ausgewirkt?<br />

Frau Piëch kennt unser Unternehmen seit<br />

vielen Jahren hautnah, sowohl aus der Zeit,<br />

als ihr Mann hier bei Audi Vorstandschef<br />

war, als auch aus der Konzernperspektive.<br />

Sie ist sehr nah dran am Geschehen. Insofern<br />

ist sie für uns ein absoluter Zugewinn.<br />

Kritik haben Sie von ihr im Aufsichtsrat<br />

also noch nicht zu hören bekommen?<br />

Diese Frage ist falsch adressiert. Ich sitze<br />

dem Vorstand vor, nicht dem Aufsichtsrat.<br />

Dann frage ich Sie direkt. Audi hat im<br />

ersten Quartal den Umsatz um sieben<br />

Prozent gesteigert, den Absatz um elf<br />

Prozent, das operative Ergebnis aber nur<br />

um 0,5 Prozent. Ist das nicht sehr mager?<br />

Audi hat in den letzten Jahren einen sehr<br />

guten Job gemacht. Bei der operativen Rendite<br />

sind wir mit 10,1 Prozent vor BMW und<br />

Mercedes klar der Champion. 2013 haben<br />

wir toll abgeschnitten mit einem Absatz<br />

von über 1,5 Millionen Autos. Diese Marke<br />

hatten wir uns erst für 2015<br />

gesetzt.<br />

Dafür scheint nun aber<br />

die Puste auszugehen.<br />

Wie kommen Sie darauf?<br />

Wir hatten in den ersten<br />

vier Monaten ein Absatzplus<br />

von rund zwölf Prozent,<br />

wachsen auf allen<br />

Weltmärkten, sind Premiummarke<br />

Nummer eins in<br />

Europa und China. Ebenso<br />

wichtig ist unsere hohe Ertragskraft.<br />

Wir tätigen unsere<br />

Investitionen aus einer sehr soliden<br />

Cash-Flow-Position heraus.<br />

Dennoch ist das Konzernergebnis vor<br />

Steuern im ersten Quartal gesunken. Und<br />

für das Gesamtjahr erwarten Sie einen<br />

Umsatz, der nur leicht über Vorjahr liegen<br />

wird. Wie erklären Sie das?<br />

Das operative Ergebnis ist stabil geblieben,<br />

trotz der enorm hohen Vorleistungen, die<br />

wir im Moment erbringen. Und bei der<br />

operativen Umsatzrendite markieren wir<br />

die Spitze im Wettbewerbsumfeld.<br />

Sie lehnen sich also zufrieden zurück?<br />

Das werden Sie weder bei mir noch bei<br />

einem der mehr als 70 000 Audianer<br />

erleben. Unser Umfeld ändert sich fast täglich,<br />

aber wir gehen unseren Weg in aller<br />

Ruhe und Klarheit. Bis 2020 durchlaufen<br />

wir eine weitere Produktoffensive und das<br />

größte Investitionsprogramm unserer Geschichte.<br />

MANN MIT WEITSICHT<br />

Stadler, 51, folgte im Januar<br />

2007 Martin Winterkorn auf<br />

den Posten des Vorstandschef<br />

der VW-Tochter Audi. Der Finanzexperte<br />

begann seine<br />

Karriere unter dem heutigen<br />

VW-Aufsichtsratschef Ferdinand<br />

Piëch im Controlling.<br />

Später war er der Büroleiter<br />

von Piëch in Wolfsburg und<br />

Konzern-Produktplaner.<br />

VW-Chef Martin Winterkorn hat kürzlich<br />

Extrarunden angekündigt, um schneller<br />

auf gesellschaftliche und technische<br />

Veränderungen zu reagieren. Gibt es auch<br />

für Audi Extrarunden?<br />

Unsere Branche befindet sich in einer Phase<br />

des Umbruchs, gleichzeitig ist der Wettbewerb<br />

so intensiv wie nie. Wir erleben,<br />

wie sich politische, gesellschaftliche und<br />

wirtschaftliche Rahmenbedingungen ständig<br />

verändern. Neben der notwendigen<br />

Aufmerksamkeit für die Tagesarbeit haben<br />

wir daher unseren Blick auch sehr weit in<br />

die Zukunft gerichtet und dafür unter anderem<br />

vor fünf Jahren die Urban-Future-<br />

Initiative gestartet. Mit diesem Programm<br />

erforschen wir, wie individuelle Mobilität<br />

in Megastädten effizienter und zukunftsorientiert<br />

gestaltet werden kann.<br />

Winterkorn will Lebenszyklen verkürzen,<br />

auch Modelle aussortieren. Haben Sie<br />

schon die Audi-Modellpalette überprüft?<br />

Das machen wir permanent. Solche Fragen<br />

wird aber jede Marke selbst zu entscheiden<br />

haben. Es gibt Modelle von Audi, die sich<br />

nach neun Jahren Lebensdauer<br />

immer noch gut verkaufen.<br />

Warum soll man da<br />

vorzeitig einen Modellwechsel<br />

vornehmen? Für<br />

unsere Marke sehen wir<br />

noch viele Potenziale. Heute<br />

haben wir in unserem<br />

Portfolio etwa 50 verschiedene<br />

Modelle und Derivate.<br />

Wir werden dieses Modellangebot<br />

in den kommenden<br />

Jahren in Richtung<br />

60 erweitern. Vor diesem<br />

Hintergrund fragen wir uns natürlich<br />

immer wieder: Wie viel Potenzial hat der Cabriomarkt,<br />

wo gibt es Chancen für ein Coupé,<br />

was gibt das Sportwagensegment noch<br />

her und der Markt für SUVs? Bei steigendem<br />

Wachstum und zunehmender Globalisierung<br />

einer Marke muss man sich solchen<br />

Fragen natürlich noch intensiver stellen.<br />

Audi produziert Autos in Spanien, in<br />

China, bald auch in Mexiko...<br />

Wir waren noch nie so international wie<br />

heute. Dieses Jahr werden wir zum ersten<br />

Mal mehr Autos im Ausland produzieren<br />

als in Deutschland. Wir werden in zwei<br />

Jahren allein unter der Marke Audi 13 Produktionsstandorte<br />

weltweit betreiben. Dafür<br />

investieren wir bis 2018 insgesamt 22<br />

Milliarden Euro.<br />

Aber doch wohl nicht nur in neue Werke.<br />

Auch in neue Technologiefelder, von denen<br />

man heute noch nicht genau weiß,<br />

welche Wirkungen sie erzeugen werden.<br />

Derzeit müssen so viele Dinge gleichzeitig<br />

angepackt werden wie noch nie in der Automobilgeschichte.<br />

Das ist trotz aller Herausforderungen<br />

die reizvollste Phase, die<br />

es in einer Unternehmensentwicklung<br />

gibt. Unser Ziel ist es, bis 2020 über zwei<br />

Millionen Autos weltweit zu verkaufen.<br />

Das Ziel des Programms „Audi 2020“ hatten<br />

Sie schon vor vier Jahren verkündet.<br />

Werden Sie noch mal nachlegen?<br />

Unsere Strategie hat alle Zutaten, uns auch<br />

über die Zwei-Millionen-Grenze zu tragen.<br />

Wir brauchen kein grundsätzlich neues<br />

Programm. Es geht jetzt darum, die nächsten<br />

Etappen zu realisieren, wie etwa die Internationalisierung<br />

unserer Produktion<br />

und die zweite Stufe der Modelloffensive.<br />

Das ist ein rollierender Prozess, der ständig<br />

auf neue Rahmenbedingungen reagiert.<br />

Beispielsweise auf neue Wettbewerbssituationen:<br />

Mercedes kommt näher.<br />

Wettbewerb belebt das Geschäft. Aber es ist<br />

auch wichtig, das Lenkrad ruhig zu halten<br />

und mit unserer Marke auf dem klar<br />

gesteckten Kurs zu bleiben. Das zeigt sich<br />

gerade auf dem Gebiet der Elektromobilität.<br />

Hat da Audi einen klaren Kurs? Erst hieß<br />

es, mit Elektroautos sei kein Geschäft<br />

zu machen. Nun forciert Audi die Arbeit<br />

wieder daran. Was denn nun?<br />

Wenn viele Wege nach Rom führen, dann<br />

bringen uns viele Pfade zur Elektromobilität.<br />

Wir haben vor gut zwei Jahren den<br />

R8 e-tron nicht in Serie gehen lassen, weil<br />

wir mit einer Reichweite von 250 Kilometern<br />

nicht zufrieden waren. Den viel zitierten<br />

Stecker haben wir technologisch niemals<br />

gezogen. Heute sind wir beim R8<br />

e-tron bei einer Reichweite von 450 Kilometern.<br />

Damit wird es ein Geschäftsmodell.<br />

Vom nächsten R8 wird es deshalb eine<br />

Variante mit Elektroantrieb geben.<br />

Das klingt nach einem kleinen Wunder.<br />

Wunder gibt es in unserer Branche nicht.<br />

Technologischer Fortschritt muss hart erarbeitet<br />

werden, zum Beispiel bei den Batterien,<br />

dem bisher schwächsten Glied in<br />

der Kette. Wir haben deshalb entschieden,<br />

in der ersten Phase der Elektromobilität<br />

zunächst auf den Plug-in-Hybrid zu setzen.<br />

Der A3 e-tron bietet 50 Kilometer elektrische<br />

Reichweite, aber einen noch größeren<br />

Aktionsradius mit einem Verbrennungsmotor<br />

als zweitem Antrieb. In der Summe<br />

kommen sie auf über 900 Kilometer. Wir<br />

werden den neuen Q7 ebenfalls als Plugin-Hybrid<br />

anbieten, auch den nächsten A6<br />

und den nächsten A8. Und wenn sich die<br />

Zelltechnologie weiter so vielverspre-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 47<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

chend entwickelt, wird es auch bei Audi<br />

weitere reine Elektroautos geben.<br />

Aber nicht mehr in diesem Jahr?<br />

In diesem Jahr kommt der A3 e-tron auf<br />

den Markt. Er wird weltweit ausgerollt.<br />

Dann sieht es aber in diesem Jahr mit<br />

Modellneuheiten von Audi mau aus. Außer<br />

dem neuen TT ist nichts zu erwarten, der<br />

Anlauf des neuen A4 wurde verschoben.<br />

Wir sehen das anders. Wir haben neben<br />

dem neuen TT in diesem Jahr 16 verschiedene<br />

Derivate bestehender Modelle, die<br />

wir in Produktion und Vertrieb bringen. Wir<br />

arbeiten intensiv am Modularen Längsbaukasten.<br />

Ab 2015 zünden wir damit..<br />

Nächstes Jahr, aber nicht dieses.<br />

Das ist kein Thema , wenn wir trotzdem mit<br />

zwölf Prozent wachsen. Das zeigt, dass Audi<br />

eine überaus starke Marke mit sehr wettbewerbsfähigen<br />

Modellen ist. Wir haben<br />

sehr genau geplant, wann für welches neue<br />

Modell der richtige Zeitpunkt ist. Entscheidungen<br />

trifft man nicht mit Blick auf den<br />

Wettbewerb. Wichtig ist, das Ziel 2020 im<br />

Auge zu behalten und cool zu bleiben.<br />

Der neue A4 sollte nach meinen Informationen<br />

im Herbst kommen. Nun kommt er<br />

erst 2015. Warum die Verzögerung?<br />

Für jeden Modellwechsel gibt es ein zeitliches<br />

Fenster, und der A4 liegt innerhalb<br />

dieses Zeitrahmens.<br />

Sie werben derzeit für besonders effiziente<br />

Modellvarianten namens Ultra. Will<br />

sich Audi etwa an die Spitze der Ökobewegung<br />

setzen?<br />

Wir wollen mit Ultra dokumentieren, dass<br />

Audi die Speerspitze in Sachen Effizienz ist.<br />

Das wollen wir deutlich machen, bewusster<br />

und auch etwas lauter als bisher.<br />

Getrommelt, so scheint es, wird aber vor<br />

allem im Ausland. Ganz bewusst?<br />

Weil wir dort große Potenziale haben. In<br />

China nehmen wir jetzt das Werk Foshan<br />

in Betrieb, wo der A3 produziert wird. Wir<br />

Kampf um die Krone<br />

Die Kennziffern der drei deutschen Premiumhersteller im Vergleich<br />

BMW 1 Audi 2 Mercedes Pkw 3<br />

500000<br />

450000<br />

400000<br />

350000<br />

300000<br />

20<strong>12</strong><br />

Absatz<br />

2013 <strong>2014</strong><br />

20,0<br />

17,5<br />

15,0<br />

<strong>12</strong>,5<br />

10,0<br />

20<strong>12</strong><br />

»Ich will keine Audi-<br />

Modelle als rollende<br />

Litfaßsäulen in den<br />

Städten sehen«<br />

haben die Entscheidung zum Bau eines<br />

Werks für 150000 Autos pro Jahr in Mexiko<br />

getroffen, mit dem wir <strong>vom</strong> Dollar unabhängiger<br />

werden und noch stärker in den<br />

USA Fuß fassen. Wir haben die Entscheidung<br />

getroffen, in Brasilien den Q3 und die<br />

A3-Limousine zu fertigen. Aber natürlich<br />

werden wir auch in Europa und in Deutschland<br />

weiter ein starkes Standbein haben.<br />

Mit Foshan können Sie in China mehr als<br />

700000 Autos produzieren. Begeben Sie<br />

sich damit nicht in zu starke Abhängigkeit<br />

von diesem Markt?<br />

Das Risiko, in China nicht dabei zu sein, ist<br />

viel größer, als dort ein aktiver Spieler zu<br />

sein. Wir haben uns entschieden, zusammen<br />

mit den Joint-Venture-Partnern bis zu<br />

700 000 Autos pro Jahr lokal zu produzieren.<br />

Und in drei Jahren werden wir sicher<br />

über weiteres Potenzial reden. Der Anteil<br />

des Premiummarkts an den Gesamtzulassungen<br />

beträgt dort nur rund zehn Prozent,<br />

ist also ausbaufähig.<br />

Wo sehen Sie noch Wachstum für Audi,<br />

wenn wir über die Modellpalette schauen?<br />

Umsatz (in Mrd. €)<br />

jeweils 1. Quartal; 1 nur BMW; 2 nur Audi; 3 Mercedes/Smart; Quelle: Unternehmen<br />

2013 <strong>2014</strong><br />

2,0<br />

1,5<br />

1,0<br />

0,5<br />

Gewinn vor Steuern (in Mrd. €)<br />

0<br />

20<strong>12</strong><br />

2013 <strong>2014</strong><br />

Wir sind heute mit unseren Modellen der<br />

A-Reihe gut aufgestellt. Oben gibt es sicher<br />

um den A6 herum noch Wachstumschancen,<br />

etwa mit einem sportlichen Modell.<br />

Potenziale sehen wir vor allem im SUV-Bereich,<br />

der weltweit wächst. Wir werden<br />

deshalb unsere Q-Reihe deutlich verbreitern.<br />

Ab 2016 vermarkten wir den Q1, der<br />

in Ingolstadt gefertigt wird. Auch oberhalb<br />

des Q7 sehen wir gute Chancen für ein zusätzliches<br />

Produkt.<br />

Der Q7 ist doch schon ein riesiges Auto.<br />

Darüber soll es noch was geben?<br />

Daran arbeiten wir gerade. Zudem ist zwischen<br />

Q5 und Q7 und zwischen Q3 und Q5<br />

noch Platz. Wir haben gerade in China eine<br />

TT-Studie mit vielen SUV-Attributen gezeigt.<br />

Die ersten Reaktionen sind sehr gut,<br />

das werden wir bei unserer Modellplanung<br />

berücksichtigen. Es gibt also noch einige<br />

Möglichkeiten für ertragsreiches Wachstum.<br />

Denn die SUV-Kunden geben gerne<br />

etwas mehr Geld aus für Ausstattung.<br />

Den Audi-Mitarbeitern wird derzeit der<br />

A1 mit Sonderkonditionen geradezu aufgedrückt.<br />

Läuft der Verkauf so schlecht?<br />

Keineswegs. Der A1 ist sehr stark und stabil<br />

im Markt unterwegs. In Kürze wird er eine<br />

Produktaufwertung bekommen. Dass wir<br />

ein solch attraktives Modell auch unseren<br />

Mitarbeitern anbieten, ist ganz normal.<br />

Das Verkaufsvolumen des A1 ist mit rund<br />

<strong>12</strong>0 000 Einheiten seit vier Jahren stabil, geplant<br />

war ehemals eine Jahresproduktion<br />

von 80000 Autos. Das Ding sitzt.<br />

Wann rollt Audi eigentlich sein Carsharing-Konzept<br />

aus? BMW und Daimler sind<br />

mit Drive Now und Car-to-Go weit voraus.<br />

Seit drei, vier Jahren beschäftigen wir uns<br />

intensiv mit dem Thema.<br />

Auf der Straße sieht man aber nicht viel.<br />

Mit gutem Grund. Denn wir wollen unsere<br />

Autos nicht zu Flatrate-Konditionen in den<br />

Markt drücken. Ich will keine Audi-Modelle<br />

als rollende Litfaßsäulen in den Städten.<br />

Wir gehen dieses Thema anders an.<br />

Nämlich?<br />

Wir suchen unsere Bühne dort, wo unsere<br />

Kunden sind. So bieten wir zum Beispiel<br />

mit Audi Select in einem Pilotprojekt die<br />

Möglichkeit, innerhalb eines Jahres drei<br />

unterschiedliche Automobile zu fahren. Sie<br />

können also für vier Monate ein A5-Cabriolet<br />

fahren, dann einen Q5 und anschließend<br />

einen R8. Für einen gewissen Mehrpreis<br />

bekommt der Audi-Kunde im Rahmen<br />

seines Leasingvertrags diese Flexibilität.<br />

Das tut unserer Marke gut und kommt<br />

bei Premiumkunden besser an.<br />

n<br />

franz.rother@wiwo.de<br />

FOTO: WOLF HEIDER-SAWALL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

48 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Stress auf<br />

der Agenda<br />

MEDIA-SATURN | Dem nächsten<br />

Chef des Elektronikhändlers<br />

droht ein Drei-Fronten-Krieg.<br />

FOTO: ACTION PRESS/JOCHEN ZICK<br />

Der Milliardär war außer sich. Er sei<br />

„in tiefer Sorge darüber, wie Media-<br />

Saturn derzeit von der Metro verwaltet<br />

wird“, schimpfte Erich Kellerhals,<br />

Minderheitsgesellschafter des Elektronikhändlers,<br />

Ende April in einer öffentlichen<br />

Stellungnahme. Über mangelnde Experimentierfreude,<br />

halb leere Regale und die<br />

„unbefriedigende Performance der Geschäftsführung“<br />

maulte der 74-Jährige, der<br />

das Unternehmen einst mitgegründet hat.<br />

Von „unternehmerischer Führung“, so Kellerhals,<br />

könne keine Rede sein.<br />

Wenige Tage genügten, um die Thesen<br />

des Elektro-Veterans Realität werden zu<br />

lassen. Nach der Attacke des Gesellschafters<br />

quittierte vergangenen Dienstag der<br />

Chef der Media-Saturn-Holding, Horst<br />

Norberg, entnervt den Dienst. Die Ingolstädter<br />

Elektroniktruppe steht jetzt tatsächlich<br />

ohne Führungsspitze da.<br />

Die Suche nach einem Nachfolger dürfte<br />

sich schwierig gestalten. Ein interner Kandidat<br />

aus dem Kreis der verbliebenen Geschäftsführer<br />

soll bereits abgewinkt haben.<br />

Kein Wunder: Der Job gilt als eine Art Blauhelm-Mission<br />

der deutschen Wirtschaft,<br />

ein Mandat irgendwo zwischen Kampfeinsatz<br />

und diplomatischem Dienst.<br />

Der Norberg-Erbe wird sich mit drei<br />

Kernproblemen herumschlagen müssen.<br />

Erstens steht das Unternehmen durch die<br />

Abwanderung der Kundschaft ins Internet<br />

operativ unter Zugzwang. Zweitens hat der<br />

künftige Anführer intern nur begrenzte<br />

Handlungskraft und muss alte Seilschaften<br />

zerschlagen sowie personellen Filz auflösen.<br />

Und drittens muss er vermeiden, in<br />

der Dauerfehde der Gesellschafter zum<br />

Spielball zu werden.<br />

Bildstörung Die Eigentümerfehde bei<br />

Media-Saturn hat das Zeug zur Seifenoper<br />

IM VERBALKRIEG<br />

Der Streit zwischen den Anteilseignern<br />

währt nun schon seit Jahren. Auf der einen<br />

Seite steht Mitbegründer Kellerhals, auf<br />

der anderen Olaf Koch, Chef des Düsseldorfer<br />

Handelskonzerns Metro, der über 78<br />

Prozent der Anteile an Media-Saturn gebietet.<br />

Kellerhals ist zwar nur Minderheitsgesellschafter,<br />

hat sich vor Jahrzehnten<br />

aber Vetorechte ausbedungen. Über eine<br />

Beiratskonstruktion hebelte die Metro-<br />

Führung diese Konstruktion 2011 aus. Seither<br />

beharken sich die Parteien.<br />

Juristisch ist der Streit mittlerweile weitgehend<br />

zugunsten von Metro entschieden.<br />

Dafür teilt Kellerhals nun verbal umso heftiger<br />

aus. Koch sitze nur „missmutig mit<br />

seinen Anwälten“ im Beirat und „lässt Vorlagen<br />

abnicken“, schreibt Kellerhals in seiner<br />

jüngsten Generalabrechnung. Metro<br />

verweist derweil auf die „diversen Eskapaden“<br />

des Geschäftspartners. In Düsseldorf<br />

glauben viele, dass Kellerhals mit seinem<br />

Schreiben eigentlich darauf zielt, die anstehende<br />

Vertragsverlängerung von Koch als<br />

Metro-Chef zu torpedieren.<br />

Längst ist der Streit zum Kulturkampf<br />

mutiert. Kellerhals schwört auf die alten<br />

Media-Markt-Tugenden, auf hemdsärmeliges<br />

Unternehmertum vor Ort. Was zunächst<br />

überzeugend klingt, erweist sich in<br />

der Praxis immer dann als heikel, wenn<br />

11,5Mrd. Euro<br />

setzten Media Markt und<br />

Saturn in der ersten Hälfte<br />

dieses Geschäftsjahrs um<br />

Manager ihre Freiheiten zur Selbstbedienung<br />

missbrauchen. So gilt das Media-<br />

Markt-System in der Branche als notorisch<br />

korruptionsanfällig.<br />

Jüngstes Beispiel: Ende Februar verurteilte<br />

die dritte Strafkammer des Landgerichts<br />

Nürnberg einen Immobilien-Manager<br />

der Media-Saturn-Holding wegen Bestechlichkeit<br />

zu drei Jahren Haft, bestätigte<br />

die Staatsanwaltschaft der Wirtschafts-<br />

Woche. Er soll einem Bauträger Aufträge<br />

zugeschanzt und über einen Beratervertrag<br />

Schmiergeld kassiert haben. Das Urteil<br />

ist noch nicht rechtskräftig. Schon 20<strong>12</strong><br />

hatte ein Bestechungsskandal um den früheren<br />

Deutschland-Chef von Media Markt,<br />

Michael Rook, für Schlagzeilen (WirtschaftsWoche<br />

8/20<strong>12</strong>) gesorgt.<br />

UMSATZFRESSER INTERNET<br />

Die größte operative Herausforderung des<br />

Neuen ist die Abwanderung der Kunden<br />

ins Internet. Das Wachstum der hauseigenen<br />

Web-Shops kann den Schwund im stationären<br />

Geschäft bis dato nicht kompensieren.<br />

So steigerten die Ingolstädter ihre<br />

Online-Umsätze im ersten Halbjahr<br />

2013/14 um 35 Prozent auf rund 800 Millionen<br />

Euro. Trotzdem sackte der Gesamtumsatz<br />

der Sparte um 2,1 Prozent auf 11,5 Milliarden<br />

Euro.<br />

Dadurch rücken harte Einschnitte bis<br />

hin zu Ladenschließungen auf die Agenda.<br />

Stress mit den Immobilienbesitzern, die<br />

ihre Häuser an Media Markt vermieten, ist<br />

dabei programmiert. Und ausgerechnet einer<br />

der größten Vermieter ist besonders<br />

kampferprobt – Mitgründer Kellerhals. n<br />

henryk.hielscher@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 49<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Vaters Vertraute<br />

MERCKLE | Nach dem Freitod des Patriarchen Adolf Merckle hat<br />

Sohn Ludwig den Pharmahändler Phoenix vor dem drohenden<br />

Zerfall gerettet. Doch nun gefährdet der Erbe seinen Erfolg wieder.<br />

Lieber im Hintergrund<br />

Phoenix-Eigentümer<br />

Ludwig Merckle<br />

zettelte die Rabattschlacht<br />

an<br />

Sein größtes Unternehmen stand vor<br />

dem Zerfall; Finanzinvestoren witterten<br />

bereits ihre Chance. Nach dem<br />

Freitod des Eigentümers Adolf Merckle war<br />

der milliardenschwere Mannheimer Pharmagroßhändler<br />

Phoenix finanziell schwer<br />

angeschlagen. Schulden in Höhe von gut<br />

400 Millionen Euro drückten. Dutzende<br />

Gläubigerbanken drängten auf rasche Lösungen,<br />

von ihnen eingesetzte Treuhänder<br />

durchforsteten das undurchschaubare<br />

Merckle-Imperium.<br />

Doch Merckles Sohn Ludwig gelang das<br />

fast Unmögliche. Er bewegte in zähen Verhandlungen<br />

die Gläubigerbanken erst zu<br />

einem Stillhalteabkommen, dann zu neuen<br />

Krediten. Am Ende blieb Phoenix – der<br />

Name leitet sich von dem mythischen<br />

Wundervogel der Antike ab – in Familienhand.<br />

Drei Jahre nach seinem Sieg versucht<br />

Ludwig Merckle jetzt erneut, die Familienehre<br />

und verlorenes Geld zu retten: Am<br />

Mittwoch beginnt vor dem Landgericht<br />

Braunschweig ein Prozess um 213 Millionen<br />

Euro Schadensersatz. Die Merckles<br />

machen Porsche für die massiven Verluste<br />

verantwortlich, die der Senior bei Spekulationen<br />

mit VW-Aktien erlitt. Die Erfolgschancen<br />

sind allerdings gering, da VW und<br />

Porsche kürzlich ähnliche Prozesse in erster<br />

Instanz gewannen.<br />

ÄRGER IM HEIMATMARKT<br />

Zugleich droht Ludwig Merckle auch an<br />

anderer Stelle zu verlieren: Der 48-jährige<br />

Erbe gefährdet durch einen riskanten Zickzackkurs<br />

seinen bisherigen Erfolg bei<br />

Phoenix. „Die Branche schüttelt den Kopf<br />

über die“, sagt ein Kenner des Unternehmens.<br />

Hohe Rabatte an die Apotheker-<br />

Kundschaft belasten die Erträge. Insider erwarten<br />

für 2013 sogar einen Verlust auf<br />

dem Heimatmarkt zwischen 60 und 80 Millionen<br />

Euro.<br />

Phoenix hat 28700 Mitarbeiter und beliefert<br />

70000 Kunden, vor allem Apotheken,<br />

in Deutschland und Europa mit Medikamenten.<br />

Mit 21,2 Milliarden Euro bringt<br />

der Pharmagroßhändler mehr Umsatz auf<br />

die Waage als Dax-Schwergewichte wie<br />

Henkel oder der Chemiekonzern Lanxess.<br />

Mitte der Neunzigerjahre hatte Merckle<br />

senior still und heimlich eine Handvoll regionaler<br />

Pharmagroßhändler zusammengekauft<br />

und so einen schlagkräftigen Verbund<br />

geschaffen. Das neue Unternehmen<br />

Phoenix erreichte in Deutschland schnell<br />

einen Marktanteil von 30 Prozent – zum<br />

Verdruss der Konkurrenten Gehe und Anzag.<br />

Bei Phoenix wirkte Sohn Ludwig, ein<br />

Wirtschaftsinformatiker, einige Jahre als<br />

Vorstandsassistent. Später ging er zur Beratung<br />

Roland Berger und kümmerte sich<br />

dann um andere Merckle-Beteiligungen.<br />

Der heimliche Riese Phoenix schottet<br />

sich nach außen hin ab und gilt als öffentlichkeitsscheu.<br />

Auch intern, in der Mannheimer<br />

Zentrale, geht es eher formal und<br />

distanziert zu. Selbst langjährige Kollegen<br />

schreiben sich immer noch Mails, die mit<br />

„Sehr geehrter Herr...“ oder, seltener, „Sehr<br />

geehrte Frau...“ beginnen. Viele Mitarbeiter<br />

arbeiten seit Jahrzehnten für Merckle.<br />

Auch die Vertrauten des Vaters, die zusammen<br />

mit Ludwig Merckle auch für die<br />

aktuellen Probleme verantwortlich zeichnen,<br />

sind nahezu alle noch da, allen voran<br />

Unternehmenschef Oliver Windholz und<br />

der mächtige Beiratsvorsitzende Bernd<br />

Scheifele, der zugleich die Merckle-Beteiligung<br />

HeidelbergCement führt. Formal das<br />

letzte Wort hat zwar Sohn Ludwig. Der<br />

stimmt sich jedoch eng mit Scheifele ab<br />

und bleibt lieber im Hintergrund.<br />

Im Herbst 2011 trafen Merckle, Scheifele,<br />

der damalige Vorstandschef Reimund<br />

Pohl, ebenfalls ein alter Merckle-Vertrauter,<br />

und der seinerzeitige Vertriebschef<br />

Windholz eine folgenschwere Fehlentscheidung.<br />

Als sich die Margen für Pharmagroßhändler<br />

nach regulatorischen Eingriffen<br />

der Bundesregierung immer weiter<br />

verschlechterten, kürzte Phoenix – auch<br />

auf Anraten der Beratung Boston Consulting<br />

– seinen Kunden, den Apothekern, die<br />

Rabatte. Statt drei bis vier Prozent <strong>vom</strong><br />

Umsatz für Großabnehmer waren jetzt nur<br />

noch ein bis zwei Prozent drin.<br />

Etliche Apotheker kündigten darauf ihre<br />

Phoenix-Verträge und wechselten etwa<br />

zum Essener Wettbewerber Noweda, der<br />

bessere Konditionen bot. Ende 20<strong>12</strong> sank<br />

der Phoenix-Marktanteil in Deutschland<br />

auf 25 Prozent. Die Schmerzgrenze war erreicht.<br />

Merckle und Scheifele entschlossen<br />

sich zum radikalen Kurswechsel. Phoenix<br />

setzte die Rabatte wieder hoch – im wahrsten<br />

Sinne des Wortes ohne Rücksicht auf<br />

Verluste. Marktanteil ging jetzt vor Ertrag.<br />

Um Kosten zu sparen, strich Phoenix bis zu<br />

380 Arbeitsplätze, etwa ein Zehntel der Belegschaft<br />

im Heimatmarkt.<br />

Für das Geschäftsjahr 2013/14, das am<br />

31. Januar endete, sind nach Angaben eines<br />

Insiders im wichtigen Heimatmarkt<br />

mit einem Umsatzanteil von einem Drittel<br />

Verluste zwischen 60 und 80 Millionen an-<br />

FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA (2)<br />

50 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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gefallen. Zu den Zahlen will Phoenix vor<br />

der Bilanzvorlage am Freitag keine Stellung<br />

nehmen. Auch früher hatte sich das<br />

Unternehmen mit Angaben zur Ertragslage<br />

in Deutschland zurückgehalten. Noch bis<br />

vor etwa zwei Jahren sollen im Heimatmarkt<br />

aber Gewinne im hohen zweistelligen<br />

Millionenbereich angefallen sein.<br />

Weitgehend gerettet<br />

Was aus den Unternehmen des<br />

Patriarchen Adolf Merckle wurde.<br />

ADOLF MERCKLE<br />

Nach dem Freitod 2009<br />

stand sein Firmenimperium<br />

auf der Kippe<br />

PHOENIX (Pharma)<br />

Nach zähen Verhandlungen mit den<br />

Banken blieb der Pharmagroßhändler<br />

in Familienbesitz<br />

Umsatz 21,2 Milliarden Euro<br />

HEIDELBERGCEMENT (Zement)<br />

Die Familie reduzierte ihren Anteil von<br />

75 auf 25 Prozent<br />

Umsatz 14 Milliarden Euro<br />

RATIOPHARM (Pharma)*<br />

Der israelische Teva-Konzern kaufte<br />

den Medikamentenhersteller 2010 für<br />

3,6 Milliarden Euro<br />

Umsatz 1,6 Milliarden Euro<br />

ZOLLERN (Metallprodukte)*<br />

Weiter zu 50 Prozent Familie Merckle<br />

Umsatz 600 Millionen Euro<br />

KÄSSBOHRER (Pistenbullys)*<br />

Der Geländefahrzeug-Spezialist ist<br />

weitgehend im Familienbesitz<br />

Umsatz 200 Millionen Euro<br />

* jeweils letzter verfügbarer Umsatz<br />

GELD ZURÜCKHOLEN<br />

Für Deutschland erwarte man „Umsatzzugewinne“,<br />

heißt es im knappen Zwischenbericht<br />

zum dritten Quartal 2013/14. Phoenix<br />

räumt allerdings ein, dass die „hohe<br />

Wettbewerbsintensität, insbesondere in<br />

Deutschland“ sowie negative Wechselkurseffekte<br />

den Ertrag belastet hätten.<br />

Zugleich leidet Phoenix auch in Frankreich<br />

unter den Folgen der Rabattschlacht.<br />

In Osteuropa behindern staatliche Eingriffe<br />

das Geschäft, sagen Branchenkenner.<br />

Der Geschäftsverlauf dort sei aber positiv,<br />

schreibt Phoenix im Zwischenbericht.<br />

Inzwischen hat Phoenix wie auch andere<br />

Wettbewerber begonnen, sich durch die<br />

Hintertür Geld von den Apothekern wieder<br />

zurückzuholen. In einem Schreiben an<br />

umsatzschwächere ostdeutsche Apotheker,<br />

das der WirtschaftsWoche vorliegt, ist<br />

etwa von einem „Leistungsbeitrag“ die Rede,<br />

den die Apotheker zahlen soll – was auf<br />

eine Kürzung des Rabattes hinausläuft.<br />

„Der deutsche Markt ist zurzeit der irrationalste“,<br />

sagt Stefano Pessina, Chef des<br />

britischen Pharmagroßhändlers Alliance,<br />

der kürzlich die deutsche Anzag geschluckt<br />

hat. „Aber die Marktteilnehmer sind selbst<br />

für diese Situation verantwortlich.“ Seit einigen<br />

Jahren liefern sich insbesondere<br />

Phoenix, Noweda und Gehe, die Deutschland-Tochter<br />

des Stuttgarter Pharmagroßhändlers<br />

Celesio, Rabattschlachten.<br />

Mit Alliance sowie dem US-Konzern<br />

McKesson, der vor einigen Monaten den<br />

Phoenix-Erzrivalen Celesio übernommen<br />

hat, sind den Mannheimern zwei gefährliche<br />

Rivalen entstanden. Alliance und<br />

McKesson, beide deutlich größer als Phoenix,<br />

dürften mit ihrer Marktmacht bald<br />

deutlich bessere Einkaufskonditionen bei<br />

den Pharmaherstellern herausschlagen.<br />

„Phoenix hat zwei strategische Probleme“,<br />

sagt ein Manager aus der Branche.<br />

„Das Unternehmen ist zu stark <strong>vom</strong><br />

schwierigen deutschen Markt abhängig<br />

und besitzt zu wenige eigene Apotheken.“<br />

Denn mit denen – anders als in Deutschland<br />

dürfen etwa in England oder Norwegen<br />

Konzerne Apotheken betreiben – lassen<br />

sich bessere Margen erzielen als mit<br />

dem klassischen Großhandelsgeschäft. Alliance<br />

verfügt über 3100 eigene Apotheken,<br />

McKesson/Celesio betreibt 2200 Pharmazien,<br />

Phoenix nur etwa 1500. Neben den<br />

Ertragsproblemen im Inland droht das Unternehmen<br />

damit auch im internationalen<br />

Konkurrenzkampf zurückzufallen. Sinnvoll<br />

wären daher Zukäufe im Ausland – die<br />

sind in Mannheim immerhin angedacht.<br />

Phönix, der Wundervogel aus der Antike,<br />

galt übrigens deswegen als mythisch, weil<br />

er sich immer wieder selbst regenerieren<br />

konnte. Inwieweit das dann auch auf Phoenix,<br />

den Pharmagroßhändler, zutrifft, wird<br />

Ludwig Merckle nun zeigen müssen. n<br />

juergen.salz@wiwo.de<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Gegenwind gewohnt<br />

Unternehmerin<br />

Brand-Friedberg in der<br />

Produktionshalle<br />

Die Schraubenkönigin<br />

FRIEDBERG | Ein Lehrstück für erfolgreichen Strukturwandel: wie die<br />

Ruhrpott-Unternehmerin Ingrid Brand-Friedberg aus dem Bergbau-<br />

Zulieferer einen Weltmarktführer für Windrad-Schrauben schmiedete.<br />

Wenn die das macht, geht die Firma<br />

pleite“, hatte ein Verwandter prophezeit,<br />

als Ingrid Brand-Friedberg<br />

die Führung des Gelsenkirchener Schraubenherstellers<br />

August Friedberg übernahm.<br />

23 Jahre war die studierte Ökonomin damals<br />

alt. Ihr Vater war wenige Tage zuvor gestorben,<br />

und der Familienrat hatte ihr die<br />

Unternehmensleitung angetragen.<br />

Heute, 43 Jahre später, ist Ingrid Brand-<br />

Friedberg noch immer Chefin des Familienbetriebes.<br />

Dem ist das entgegen allen<br />

Unkenrufen gut bekommen: Der Umsatz<br />

ist seitdem um das Achtfache auf mehr als<br />

100 Millionen Euro gestiegen; die Mitarbeiterzahl<br />

wuchs von 300 auf 450. Basis war<br />

die Weitsicht von Brand-Friedberg: Sie<br />

baute den Bergbau-Zulieferer früh in ein<br />

internationales, diversifiziertes Unternehmen<br />

um. So ist Friedberg heute etwa ein<br />

Weltmarktführer für Windrad-Schrauben.<br />

Es ein kleines Wunder, dass es das Unternehmen<br />

überhaupt noch gibt. Denn Friedberg<br />

gehörte zu den vielen Betrieben im<br />

Ruhrgebiet, die fast ausschließlich von Lieferungen<br />

an die Kohlezechen lebten. „Wir<br />

fertigten fast nur Standardschrauben“, erinnert<br />

sich Brand-Friedberg, „und die<br />

standen unter einem enormen Preisdruck.“<br />

Alle damaligen Wettbewerber im Pott sind<br />

inzwischen <strong>vom</strong> Markt verschwunden.<br />

SCHRAUBEN ALS MEISTERWERK<br />

Friedberg überlebte nur, weil der jungen<br />

Chefin schon bald nach ihrem Start klar<br />

wurde, dass der Bergbau in Deutschland<br />

keine Zukunft bieten würde. Bereits 1974<br />

gründete sie daher ein Zweigwerk in Monte<br />

Mor im brasilianischen Bundesstaat São<br />

Paulo, das für den südamerikanischen<br />

Markt produziert. Gleichzeitig erschloss sie<br />

neue Abnehmerbranchen.<br />

Schon zehn Jahre nachdem sie das Steuer<br />

übernommen hatte, spielte der Bergbau<br />

in dem 1884 <strong>vom</strong> Essener Schmiedemeister<br />

August Friedberg gegründeten Unternehmen<br />

keine große Rolle mehr, heute ist<br />

er ganz Historie. Die Umsätze stammen zu<br />

je einem Drittel aus der Autoindustrie, Maschinen-<br />

und Stahlbau sowie dem Geschäft<br />

mit Schrauben für Windräder.<br />

In diesem Segment gehört Friedberg zu<br />

den Weltmarktführern. „Diese Technik hat<br />

uns gereizt, weil hier die Anforderungen besonders<br />

hoch sind“, sagt Brand-Friedberg.<br />

Extreme Belastbarkeit, Haltbarkeit über Jahrzehnte<br />

trotz Wind und Wetter – es gibt nur<br />

wenige Anwendungen, die anspruchsvoller<br />

sind. Brand-Friedberg: „Da konnten wir unseren<br />

technischen Vorsprung ausspielen.“<br />

Schrauben für Windräder sind technische<br />

Meisterwerke. Die schwersten Exemplare<br />

wiegen mehr als 20 Kilo, sind 60 Zentimeter<br />

lang und 7 Zentimeter dick. Aus<br />

verzinkten Edelstählen gefertigt, enthalten<br />

sie hohe Anteile von Mangan, Chrom oder<br />

Nickel, sind säurefest und reagieren kaum<br />

auf Wärme oder Kälte.<br />

Zwar ist auch das Geschäft mit der Windenergie<br />

kein Selbstläufer mehr, die goldenen<br />

Jahre sind vorbei. Dennoch bereut<br />

Brand-Friedberg ihre Entscheidung nicht:<br />

„Wir hatten im Windkraftgeschäft Jahre mit<br />

bis zu 30 Prozent Wachstum – längere<br />

Schwächeperioden gab es nicht.“ Seit fünf<br />

Jahren gehe es mal auf-, mal abwärts. Zurzeit<br />

laufe das Geschäft „recht ordentlich“.<br />

FOTO: FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

52 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Die Branche ist volatil geworden. Die Internationale<br />

Energie Agentur in Paris geht<br />

zwar von einer Verdoppelung der weltweiten<br />

Windenergiekapazitäten auf 587 Gigawatt<br />

bis 2020 aus. Für <strong>2014</strong> erwartet der<br />

Energieexperte des deutschen Maschinenbauverbandes<br />

VDMA, Thorsten Herdan,<br />

bei neu installierten Windkraftkapazitäten<br />

ein Rekordniveau von 45 000 Megawatt<br />

weltweit. 2013 war diese Zahl um 15 Prozent<br />

auf 39 000 Megawatt eingebrochen.<br />

Doch Gegenwind ist die Chefin gewohnt.<br />

Als sie Anfang der Neunzigerjahre<br />

entschied, in die Windenergie einzusteigen,<br />

winkten die Banken erst mal ab. „Wie<br />

kann man nur in eine solche Branche investieren“,<br />

hatten die Banker gefragt. Windenergie<br />

galt damals als Marotte für Ökofreaks<br />

und nicht als seriöses Geschäft.<br />

Auch im Unternehmen gab es kritische<br />

Stimmen. „Das war für uns eine neue<br />

Welt“, erinnert sich Brand-Friedberg, „aber<br />

ich hatte das Bauchgefühl, dass sich hier<br />

ein riesiger Markt entwickelte.“ Die Chefin<br />

zog die Entscheidung zügig durch und<br />

startete ohne Banken. 1998 verfügte Friedberg<br />

bereits über eine gesonderte Forschungs-<br />

und Entwicklungsabteilung für<br />

die Windenergie.<br />

Der Erfolg sei eine Teamleistung, betont<br />

Brand-Friedberg. Im Gespräch entfaltet sie<br />

einen kühlen Charme. Sie gilt als gute Zuhörerin,<br />

lässt aber keinen Zweifel daran,<br />

wer entscheidet.<br />

Die Durchsetzungsfreude von Brand-<br />

Friedberg, die auch Vorsitzende der Arbeitgeberverbände<br />

Emscher-Lippe ist, bekommen<br />

auch die Gewerkschaften zu spüren.<br />

„Sie ist fair, aber hart in Verhandlungen“,<br />

sagt Robert Sadowsky, erster Bevollmächtigter<br />

der IG Metall in Gelsenkirchen.<br />

EXOTIN IN DER MACHO-KULTUR<br />

Doch ohne ihre Standhaftigkeit hätte es<br />

Brand-Friedberg nie geschafft. Von einer<br />

fließenden Übergabe des Chefpostens<br />

konnte keine Rede sein: Der Tod des Vaters<br />

kam plötzlich. Sie hatte gerade erst ihr<br />

Ökonomie-Studium in Gießen beendet<br />

und wollte noch ein paar Jahre in anderen<br />

Unternehmen Erfahrungen sammeln.<br />

Nach nur 14 Tagen in der Buchhaltung des<br />

Wetzlarer Metallurgiekonzerns Buderus<br />

war damit Schluss. Für ihre Mutter, die als<br />

Hausfrau die Familie umsorgt hatte, kam<br />

100Millionen<br />

Euro setzt das Unternehmen<br />

um – gut das<br />

Achtfache, seit Brand-<br />

Friedberg Chefin wurde<br />

die Leitung nicht infrage. Und die jüngere<br />

Schwester war noch nicht alt genug.<br />

„Am Anfang habe ich viel gefragt und zugehört“,<br />

sagt Brand-Friedberg, „und meinem<br />

gesunden Menschenverstand vertraut.“<br />

Das Studienwissen habe ihr kaum<br />

geholfen. Ein eingespieltes Team von Kaufleuten<br />

unterstützte die junge Frau. Aber es<br />

gab auch Manager, die ihr das Leben<br />

schwer machten, weil sie gehofft hatten,<br />

nach dem Tode des Patriarchen mehr Einfluss<br />

zu bekommen. Brand-Friedberg ließ<br />

die Quertreiber gegen die Wand rennen.<br />

Führungsfrauen waren damals in der<br />

Macho-Kultur der Ruhrpottbetriebe rar.<br />

„Als junge Frau war ich da eine Exotin“, erzählt<br />

Brand-Friedberg, „aber das war kein<br />

Nachteil.“ Männer unter sich verhielten<br />

sich viel emotionaler und unversöhnlicher<br />

als in Anwesenheit einer Frau, ist die Beobachtung<br />

der Mutter von zwei Töchtern:<br />

„Daran hat sich bis heute nichts geändert.“<br />

Inzwischen ist fast die gesamte Familie<br />

im Unternehmen tätig. Der Ehemann ist<br />

geschäftsführender Gesellschafter am<br />

Standort im brandenburgischen Finsterwalde,<br />

der Schrauben für die Autoindustrie<br />

fertigt. Tochter Beatrix, 35, ist seit zehn Jahren<br />

im Unternehmen und übernimmt immer<br />

mehr Führungsaufgaben.<br />

Bis zur vollständigen Ablösung werden<br />

aber noch einige Jahre vergehen. Die<br />

66-jährige Brand-Friedberg verweist auf<br />

ihren Mann, der mit Mitte 70 noch täglich<br />

im Geschäft aktiv ist. „Ich habe noch so viele<br />

Ideen“, sagt sie. Vor allem mit der Fabrik<br />

in Brasilien („mein Baby!“) hat sie viel vor.<br />

Die Nutzung der Windenergie steckt im<br />

größten Land Südamerikas noch in den<br />

Kinderschuhen. Seit 2010 hat sich die installierte<br />

Kapazität aber schon verdreifacht,<br />

die Regierung hat den Ausbau angekündigt.<br />

Die damit verbundenen Chancen<br />

will sich die Schraubenkönigin aus dem<br />

Ruhrgebiet nicht entgehen lassen. n<br />

lothar schnitzler | unternehmen@wiwo.de<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Dankend abgewinkt<br />

BAYER | Nach der Übernahme der rezeptfreien Medikamente von Merck & Co. wird es schwer für<br />

den Leverkusener Pharma- und Chemiekonzern, wie angekündigt Weltmarktführer zu werden.<br />

Jagd auf kleine Kandidaten<br />

Bayer-Chef Dekkers<br />

Die Verhandlungen waren auf der<br />

Zielgeraden. Trotzdem fand Marijn<br />

Dekkers, Chef des Pharma- und<br />

Chemieriesen Bayer (40 Milliarden Euro<br />

Umsatz) Muße für einen kurzen Fußballkick.<br />

Der 56-Jährige köpfte, dribbelte – und<br />

passte dann hinüber zu einem Mitspieler,<br />

einem 17-jährigen Brasilianer.<br />

Der Auftritt des Niederländers im Foyer<br />

der gläsernen Konzernzentrale in Leverkusen<br />

diente der Vorstellung des Fußballs<br />

„Brazuca“. Der kommt von Mitte Juni an bei<br />

der Weltmeisterschaft in Brasilien zum<br />

Einsatz und enthält auch einige Kunststoffe<br />

von Bayer. Den entscheidenden Treffer<br />

landete Dekkers allerdings wenige Tage<br />

später, am Dienstag vergangener Woche,<br />

als er die Übernahme der rezeptfreien Arzneimittel<br />

<strong>vom</strong> US-Konzern Merck & Co. für<br />

rund zehn Milliarden Euro bekannt gab.<br />

Gesundes Angebot<br />

Bayers wichtigste rezeptfreie Medikamente nach dem Merck-Deal<br />

Produkt<br />

Claritin<br />

Aspirin<br />

Aleve<br />

Bepanthen<br />

Canesten<br />

Dr Scholl's<br />

Alka-Seltzer<br />

Coppertone<br />

OneADay<br />

Supradyn<br />

Quelle: Unternehmen<br />

Anwendung Hersteller Umsatz 2013 (in Millionen Euro)<br />

Allergien<br />

Schmerzen<br />

Schmerzen<br />

Hautpflege<br />

Pilzerkrankungen<br />

Fußpflege<br />

Schmerzen<br />

Hautpflege<br />

Nahrungsergänzung<br />

Nahrungsergänzung<br />

Merck &Co.<br />

Bayer<br />

Bayer<br />

Bayer<br />

Bayer<br />

Merck &Co.<br />

Bayer<br />

Merck &Co.<br />

Bayer<br />

Bayer<br />

257<br />

232<br />

214<br />

207<br />

176<br />

158<br />

321<br />

310<br />

464<br />

576<br />

RENDITE OHNE RISIKO<br />

Doch der Jubel an der Börse über die zweitgrößte<br />

Übernahme in der 150-jährigen Firmengeschichte<br />

nach dem Kauf von Schering<br />

2006 hielt sich in Grenzen. Der Kurs<br />

der Bayer-Aktie zeigte kaum Bewegung –<br />

vielen Aktionären erschien der Preis für die<br />

Merck -& -Co.-Sparte zu hoch; zudem war<br />

der Deal seit Wochen erwartet worden.<br />

Für Skepsis sorgt Dekkers Ankündigung,<br />

Bayer zur weltweiten Nummer eins bei rezeptfreien<br />

Arzneien zu machen. Seinen<br />

Übernahme-Coup bezeichnete der Konzernchef<br />

als „Meilenstein auf dem Weg<br />

zum globalen Marktführer“. Doch dabei hat<br />

er noch eine steinige Strecke vor sich.<br />

Denn der Abstand zum Marktführer<br />

GlaxoSmithKline ist groß. Die Briten haben<br />

gerade die Sparte rezeptfreier Medikamente<br />

des Schweizer Wettbewerbers Novartis<br />

geschluckt und so den Jahresumsatz auf etwa<br />

zehn Milliarden Dollar gesteigert. Mit<br />

künftig 7,4 Milliarden Dollar (5,5 Milliarden<br />

Euro) liegt Bayer trotz des Deals vorige Woche<br />

deutlich hinter dem Branchenprimus<br />

zurück. Zudem ist die Zahl der Kandidaten,<br />

mit deren Hilfe die Leverkusener Glaxo-<br />

SmithKline ein- und überholen könnten,<br />

klein und der Wettbewerb um sie groß.<br />

In Fachkreisen heißen rezeptfreie Arzneien<br />

OTC-Präparate, weil sie einfach über<br />

FOTO: INGO RAPPERS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />

54 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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die Ladentheke – auf Englisch: Over the<br />

counter (OTC) – verkauft werden dürfen.<br />

Das Geschäft mit Alltagsarzneien von Aspirin<br />

bis Alka-Seltzer ist für die Hersteller<br />

hochattraktiv. Zwar sind die Gewinnmargen<br />

niedriger als bei verschreibungspflichtigen<br />

Arzneien, doch mit 15 bis 20 Prozent immer<br />

noch stattlich. OTC-Präparate sind zudem<br />

oft schon seit Jahrzehnten auf dem Markt,<br />

Ärger, drohende Klagen wegen plötzlich<br />

auftretender Nebenwirkungen oder ungünstige<br />

Ergebnisse klinischer Studien sind<br />

daher selten. Weltweit werden jährlich rund<br />

200 Milliarden Dollar mit rezeptfreien Arzneien<br />

umgesetzt, schätzt Norbert Hültenschmidt,<br />

Partner und Pharmaexperte der<br />

Unternehmensberatung Bain.<br />

Für den Merck-Deal hatte sich Dekkers<br />

in jüngster Zeit warmgeschossen. Vor gut<br />

einem Jahr übernahm Bayer den deutlich<br />

kleineren Wettbewerber Steigerwald aus<br />

Darmstadt, einen Hersteller pflanzlicher<br />

Arzneimittel, darunter das Magenmittel<br />

Iberogast. Seit einigen Monaten ist Dekkers<br />

dabei, sich den chinesischen Hersteller Dihon<br />

einzuverleiben, die Übernahme soll<br />

im zweiten Halbjahr abgeschlossen sein.<br />

Für die Aufholjagd gegen GlaxoSmith-<br />

Kline sind das Peanuts. Größere Kaufkandidaten<br />

sind rar. Zwar haben die Briten<br />

und Bayer durch ihre Übernahmen den<br />

Druck auf die verbliebenen kleineren Anbieter<br />

wie die deutsche Merck und Boehringer<br />

Ingelheim erhöht. „Nun müssen<br />

sich solche Unternehmen mehr denn je<br />

überlegen, welche Perspektiven ihr OTC-<br />

Geschäft in einem sich immer stärker konsolidierenden<br />

Markt hat“, sagt ein Insider,<br />

der nicht genannt werden möchte.<br />

Aktuell stehen die Geschäfte nicht zur<br />

Disposition. Der Darmstädter Pharmaund<br />

Chemiekonzern Merck – mit dem<br />

gleichnamigen US-Konzern nicht geschäftlich<br />

verbandelt – hat abgewinkt. Das Dax-<br />

Unternehmen will an seinen rezeptfreien<br />

Arzneien (Jahresumsatz: etwa 480 Millionen<br />

Euro) wie dem Nasenspray Nasivin<br />

festhalten. Gerade erst haben die Hessen<br />

die lange kriselnde Sparte saniert.<br />

Auch Boehringer Ingelheim hegt keine<br />

Verkaufsabsichten. Die Rheinland-Pfälzer<br />

haben sich mit ihren Spitzenprodukten<br />

Buscopan und Thomapyrin gegen Schmerzen<br />

erfolgreich einen Markt geschaffen<br />

und setzten mit rezeptfreien Medikamenten<br />

zuletzt 1,5 Milliarden Euro um.<br />

Dekkers weiß um die Schwierigkeiten<br />

und hat deshalb die Parole ausgegeben,<br />

aus eigener Kraft im OTC-Geschäft zu<br />

wachsen. Hoffnungen macht ihm die stark<br />

Aktien-Info Bayer<br />

ISINDE000BAY0017<br />

150<br />

140<br />

130<br />

<strong>12</strong>0<br />

110<br />

100<br />

90<br />

2013 <strong>2014</strong><br />

Umsatz (in Mrd. €)<br />

Mitarbeiter<br />

Gewinn (Ebit, in Mrd. €)<br />

Eigenkapitalrendite (in %)<br />

Umsatzanteil rezeptfreier Med. (in %)<br />

Kurs (in €)<br />

KGV<strong>2014</strong><br />

Börsenwert(in Mrd. €)<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

Bayer<br />

40,2<br />

113200<br />

6,5<br />

16,3<br />

9,7<br />

98,49<br />

16,1<br />

81,4<br />

Kurven in Euro, Glaxo umbasiert;<br />

Quelle: Thomson Reuters, Bloomberg, Unternehmen<br />

GlaxoSmithKline<br />

Bayer GlaxoS.K.<br />

31,2<br />

99451<br />

8,9<br />

85,0<br />

19,4<br />

19,85<br />

15,3<br />

96,5<br />

Hoch<br />

Die Anleger haben bei Bayer wie beim Erzrivalen Glaxo<br />

mit Kursgewinnen die jüngsten Übernahmen und neue<br />

Medikamente bereits vorweggenommen. Erst wenn die<br />

versprochenen Ergebnisse folgen, dürftedie Aktie wieder<br />

kräftiger anziehen.<br />

gewachsene Produktpalette, die ihm die<br />

Übernahme der entsprechenden Sparte<br />

von Merck & Co. beschert. Zu Bayer-Klassikern<br />

wie Aspirin, Alka-Seltzer, Canesten<br />

(Fußpilz) und Bepanthen (Hautsalbe)<br />

kommen nun Präparate wie das Allergiemittel<br />

Claritin oder Dr. Scholl’s Fußpflege.<br />

WARTEN AUF DIE VERLÄNGERUNG<br />

Bisher hat der US-Konzern seine Mittelchen<br />

vorwiegend im Heimatmarkt verkauft.<br />

Darin sieht Dekkers seine Chance.<br />

Mit der Vertriebspower des Konzerns will<br />

Bayer die Merck-Mittel künftig verstärkt in<br />

anderen Ländern anbieten. „Interessante<br />

Märkte für die Einführung internationaler<br />

OTC-Marken sind Südamerika, China,<br />

Südosteuropa, Skandinavien und Polen“,<br />

sagt Thimo Sommerfeld, Geschäftsführer<br />

der auf die Gesundheitsbranche spezialisierten<br />

Beratung Abolon aus München.<br />

Einen zusätzlichen Jahresumsatz von<br />

400 Millionen Euro erwartet Dekkers durch<br />

die globale Vermarktung der Merck-Präparate.<br />

Dabei will der Bayer-Boss, so ließ er<br />

durchblicken, aggressiv vorgehen.<br />

So gewaltig der Schub für Bayer dadurch<br />

ausfallen mag, so wenig dürfte er reichen,<br />

GlaxoSmithKline einzuholen. „Nur mit organischem<br />

Wachstum kann Herr Dekkers<br />

sein Ziel, die Nummer eins im OTC-Markt<br />

zu werden, in den kommenden fünf Jahren<br />

nicht erreichen“, sagt Berater Sommerfeld.<br />

Dekkers bleibt deshalb wohl nur, sich<br />

mit „kleineren Zukäufen“ zufriedenzugeben,<br />

von denen er nach dem Merck-Deal<br />

gesprochen hat. Ins Visier seiner hauseigenen<br />

Übernahmespezialisten, die jedes Jahr<br />

25 bis 30 Akquisitionskandidaten prüfen,<br />

dürften nun mittelständische Hersteller<br />

wie das bayrische Unternehmen Bionorica<br />

mit dem Erkältungsmittel Sinupret, die<br />

belgische Omega Pharma (Nahrungsergänzungsmittel<br />

Abtei) oder die Frankfurter<br />

Merz-Gruppe (Spezialdragees) geraten.<br />

Zumindest sehen Experten in ihnen mögliche<br />

Kandidaten – falls deren Eigentümer<br />

irgendwann einmal verkaufen wollen, wofür<br />

es jedoch keine Anzeichen gibt.<br />

Grundsätzlich hält Oliver Scheel, Partner<br />

und Pharmaexperte der Beratung A.T.<br />

Kearney, Investitionen etwa in wirksame<br />

Kosmetika, neue medizinische Messgeräte<br />

oder digitale Gesundheitslösungen für<br />

sinnvoll: „Unternehmen mit starken<br />

Wachstumsambitionen bieten sich auch<br />

außerhalb des klassischen OTC-Segments<br />

genügend Möglichkeiten, um ihr Geschäft<br />

mit verbrauchernahen Gesundheitsprodukten<br />

zu stärken“, so Scheel.<br />

Auch dies könnte eine Möglichkeit für<br />

Dekkers sein. Doch ob der Niederländer<br />

den Sprung an die Spitze bei rezeptfreien<br />

Präparaten als Bayer-Chef noch erleben<br />

wird, steht dahin. Sein Vertrag läuft Ende<br />

dieses Jahres aus, eine Verlängerung steht<br />

noch aus. „Es gibt dazu weder einen Beschluss<br />

noch eine Beschlussvorlage“, beschied<br />

der Aufsichtsratsvorsitzende Werner<br />

Wenning auf der Hauptversammlung<br />

Ende April die Aktionäre. Etwas befremdlich<br />

ist das schon: In vielen Konzernen ist<br />

es üblich, den Kontrakt des Vorsitzenden<br />

etwa ein Jahr im Voraus zu verlängern.<br />

Nicht, dass die Kontrolleure an Dekkers’<br />

bisheriger Arbeit viel auszusetzen hätten.<br />

Seit seinem Amtsantritt hat sich der Aktienkurs<br />

mehr als verdoppelt. Doch angeblich<br />

soll der polyglotte Manager damit liebäugeln,<br />

seinen Vertrag statt der üblichen<br />

fünf nur noch um drei Jahre zu verlängern,<br />

um dann Ende 2017, in seinem 60. Lebensjahr,<br />

mit seiner Frau in die USA zurückzukehren.<br />

Den Fußball für die nächsten Weltmeisterschaft<br />

2018 in Russland mit Kunststoffen<br />

von Bayer müsste dann ein anderer Konzernchef<br />

vorstellen.<br />

n<br />

juergen.salz@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 55<br />

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Unternehmen&Märkte<br />

Skalpierte Fans<br />

CTS EVENTIM | Der Bremer Ticketriese baut krakenhaft seine Marktmacht<br />

aus und will nun offenbar auch nach Übersee. In Deutschland<br />

regt sich erster Widerstand.<br />

Die Leute, die sich an diesem Morgen<br />

im Berliner Bahnhof Friedrichstraße<br />

die Füße platt treten, stehen nicht<br />

Schlange für ein Schnäppchen. Ihre Geduld<br />

gilt einem der 18000 Tickets für das Konzert<br />

der Rolling Stones am 10. Juni in der Berliner<br />

Waldbühne – Preis: bis zu 250 Euro.<br />

Doch die Mühe erweist sich als vergeblich.<br />

Der Vorverkauf „war beendet, bevor er<br />

anfing“, erinnert sich Barbara Möckel, Geschäftsführerin<br />

der Vorverkaufsstelle. „Wir<br />

haben nicht eine Karte aus dem Buchungssystem<br />

erhalten.“ Ähnliches passierte später<br />

in Düsseldorf beim Vorverkauf für den Auftritt<br />

der Altrocker am 19. Juni in der dortigen<br />

Esprit-Arena mit 43 000 Plätzen. Am Rhein<br />

hieß es nach 25 Minuten „ausverkauft“.<br />

GEWINNMASCHINE INTERNET<br />

Diese Knappheit hat eine bisher wenig beachtete<br />

Ursache: den Internet-Tickethändler<br />

CTS Eventim. Der baut seine Macht im<br />

Geschäft mit Eintrittskarten immer weiter<br />

aus – und das nicht nur, indem er die rund<br />

3000 unabhängigen Vorverkaufsstellen<br />

hierzulande bei der Zuteilung von Tickets<br />

zunehmend austrocknet.<br />

Experten gehen davon aus, dass der Branchenriese<br />

mit Sitz in Bremen und Beteiligungen<br />

in 21 Ländern bald den Schritt auf<br />

einen anderen Kontinent wagt, etwa in die<br />

USA oder nach Lateinamerika. Indiz dafür<br />

ist die Änderung der Rechtsform von einer<br />

Aktiengesellschaft in eine Kommanditgesellschaft<br />

auf Aktien durch die Hauptversammlung<br />

am vergangenen Donnerstag.<br />

Das ermöglicht CTS-Chef Klaus-Peter<br />

Schulenberg, neue Gesellschafter aufzunehmen<br />

und damit das Kapital zu erhöhen,<br />

ohne dass er seine 50,2-prozentige Mehrheit<br />

am Unternehmen reduzieren muss.<br />

Kenner von CTS glauben, dass der 62-jährige<br />

Gründer demnächst wohl einen dreistelligen<br />

Millionenbetrag ins Unternehmen<br />

schaufelt, um über Europa hinaus zu expandieren.<br />

Schulenberg selbst schweigt dazu.<br />

CTS Eventim verkauft hierzulande etwa<br />

80 Prozent aller Eintrittskarten für Pop- und<br />

Rock-Konzerte, schätzen Branchenkenner.<br />

Hinzu kommen europaweit gut 180000 weitere<br />

Events, bei denen die Bremer ihre Finger<br />

im Spiel haben, darunter exklusiv die<br />

vergangene Winterolympiade im russischen<br />

Sotschi, die Eishockey-Spiele der Kölner<br />

Haie, das Konzert der Heavy-Metal-<br />

Band Metallica in Hamburg und die angesichts<br />

hoher Preise lukrative Hochkultur wie<br />

die Darbietungen des legendären Mailänder<br />

Opernhauses Scala.<br />

Den ersten Platz unter Europas Ticketverkäufern<br />

verdankt CTS Eventim der Strategie,<br />

die der einer Krake ähnelt. Schulenberg<br />

greift inzwischen nach allen vor- und nachgelagerten<br />

Bereichen des Kartengeschäfts.<br />

Im Zentrum steht die Veranstaltung von<br />

Konzerten und Aufführungen auf eigene<br />

Rechnung, wo CTS Eventim es weltweit<br />

zum drittgrößten Anbieter gebracht hat.<br />

Diese Doppelrolle macht das Unternehmen<br />

zum Schrecken klassischer Vorverkaufsstellen.<br />

Denn sie erlaubt CTS, die Kartenvolumina<br />

dorthin zu schieben, wo der Absatz<br />

am meisten Gewinn bringt – also auch an<br />

die eigene Ticket-Verkaufsabteilung.<br />

Die hat Schulenberg zu einer Gewinnmaschine<br />

ausgebaut, die mittlerweile gut die<br />

Hälfte des Geschäfts rund um ein Musikund<br />

sonstiges Ereignis abgreift. Motor des<br />

Profits ist dabei das Internet, das CTS Eventim<br />

virtuos einsetzt. „Die Wertschöpfung ist<br />

im Internet-Vertrieb sechsmal höher als<br />

beim klassischen stationären Verkauf“, sagt<br />

Schulenberg. „Dafür haben wir in den vergangenen<br />

Jahren mehr als 100 Millionen<br />

FOTOS: LAIF/ANDREAS HERZAU, IMAGO/XINHUA, AKG IMAGES/MARION KALTER, LAIF/UPI<br />

1<br />

1|Der Meister des Mehrwerts<br />

CTS-Eventim-Chef Schulenberg<br />

56 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Euro in unsere IT-Systeme gesteckt.“ 240 der<br />

insgesamt 1800 Mitarbeiter tun nichts anderes,<br />

als ein Buchungssystem zu optimieren,<br />

auf das drei Millionen Kunden gleichzeitig<br />

zugreifen können. Noch läuft der Vorverkauf<br />

meist über den Schalter. Doch das<br />

ändert sich: 2013 verkaufte CTS jede fünfte<br />

Karte online – 16 Prozent mehr als 20<strong>12</strong>.<br />

Da CTS online nicht mit anderen teilen<br />

muss, kann das Unternehmen bis zu 40 Prozent<br />

des eigentlichen Kartenpreises als Zusatzumsatz<br />

von den Kunden kassieren. Das<br />

sei „leicht verdientes Geld, ohne irgendein<br />

wirtschaftliches Risiko zu tragen“, sagt der<br />

Berliner Veranstalter und Buchautor Berthold<br />

Seliger („Das Geschäft mit der Musik“).<br />

„To scalp the fans“, würden das die Amerikaner<br />

nennen, so Seliger: „Den Kunden wird<br />

das Fell über die Ohren gezogen.“<br />

In der Praxis funktioniert das so: In der<br />

Regel kassiert CTS Eventim wie die meisten<br />

Vorverkaufsstellen 10 bis 15 Prozent des Ticketpreises<br />

als Vorverkaufsgebühr. Als<br />

Nächstes verlangt Schulenberg von den stationären<br />

Vorverkaufsstellen, die Tickets<br />

über CTS Eventim beziehen, eine sogenannte<br />

Systemgebühr bis zu zwei Euro pro<br />

Karte. Für die Buchung selbst kassiert CTS<br />

Eventim bis zu zwei weitere Euro.<br />

Wer das Ticket am heimischen PC ausdrucken<br />

will, zahlt für diesen einzigen<br />

Knopfdruck weitere 2,50 Euro. Wer es per<br />

Post möchte, zahlt CTS für das Eintüten des<br />

Tickets und Freistempeln des Couverts 4,90<br />

Euro. Eine Ticketversicherung, die beim Bestellvorgang<br />

praktischerweise mit Häkchen<br />

aktiviert ist, bringt CTS weitere 3,50 Euro.<br />

„Eventim hat ein Gebührenmodell gesellschaftsfähig<br />

gemacht, das alle Mitbewerber<br />

mehr oder weniger kopieren“, sagt Branchenkenner<br />

Hans-Wolfgang Trippe aus Bad<br />

Münstereifel bei Bonn. Dabei bringt das<br />

Veranstalten von Konzerten und sonstigen<br />

Ereignissen vor allem Umsatz, der Verkauf<br />

der Tickets dagegen den großen Gewinn.<br />

JUNGE MIT DER MUNDHARMONIKA<br />

So entfielen 2013 fast 60 Prozent des Umsatzes<br />

von 628,3 Millionen Euro auf das Veranstaltungsgeschäft.<br />

Hier geht CTS Eventim<br />

das Wagnis ein, für viel Geld etwa Rockgruppen<br />

zu engagieren, Hallen zu mieten<br />

und Werbung zu schalten, in der Hoffnung,<br />

die <strong>Ausgabe</strong>n durch den Ticketverkauf einzuspielen.<br />

Risikolos ist dagegen der Verkauf<br />

von Tickets, bei dem der Händler weder in<br />

Vorkasse treten noch Ware auf eigene Rechnung<br />

erwerben und losschlagen muss.<br />

Folge: Während das Veranstaltungsgeschäft<br />

60 Prozent des Umsatzes bringt,<br />

stammten drei Viertel des Gewinns aus dem<br />

Ticketverkauf. Der Profit vor Zinsen, Steuern,<br />

Abschreibungen im Gesamtkonzern<br />

machte 2013 einen Sprung um fast 14 Prozent<br />

auf 136,3 Millionen Euro. Kein Wunder,<br />

dass „mittelfristig die Hälfte des gesamten<br />

Ticketvolumens über das Internet verkauft<br />

werden soll“, wie Schulenberg ankündigt.<br />

Der Bremer ist die Sorte Selfmademan,<br />

der es in vier Jahrzehnten mit viel Aggressivität<br />

zum Milliardär gebracht hat. Noch<br />

nicht volljährig, nahm er 1971 den Schnulzensänger<br />

Bernd Clüver („Der Junge mit<br />

der Mundharmonika“) als Manager unter<br />

seine Fittiche. Zwei Jahre später, während<br />

des Studiums, das er später sausen ließ,<br />

gründete er die Konzertagentur KPS.<br />

Seinen größten Coup landete er 1996 mit<br />

dem Kauf des defizitären Ticketvermarkters<br />

Computer Ticket Service (CTS). Schulenberg<br />

witterte als einer der Ersten das große<br />

Geschäft rund um Musik- und sonstige<br />

Events. Er brachte den Laden in Schwung<br />

und 2000 als CTS Eventim an die Börse.<br />

Der Drang nach immer mehr Macht gehört<br />

zu Schulenberg wie die Eintrittskarte<br />

zum Konzert. Als er 2011 den größten heimischen<br />

Konkurrenten Ticket Online übernahm,<br />

ahnten Wettbewerber das Unheil.<br />

Das Bundeskartellamt urteilte zwar, „dass<br />

CTS Eventim durch den Zusammenschluss<br />

insbesondere auf dem Markt für elektronische<br />

Ticketsysteme hohe Marktanteile erreichen<br />

wird, die eine marktbeherrschende<br />

Stellung möglich erscheinen lassen“. Dagegen<br />

vorzugehen lehnte es jedoch ab, auch<br />

weil Schulenberg den Anteil am Hamburger<br />

Konkurrenten FKP Scorpio Konzertproduktionen<br />

auf 45 Prozent reduzierte.<br />

Doch Schulenberg wäre nicht er selbst,<br />

überließe er sein Stammgeschäft Konzertund<br />

Tour-Management der Konkurrenz.<br />

»<br />

2 3 4<br />

2|Begehrte Legende Die aktuellen<br />

Konzerte der Altrocker Rolling Stones<br />

waren nach Minuten ausverkauft<br />

3|Lukrative Hochkultur<br />

Karten von CTS Eventim für die<br />

Mailänder Scala<br />

4|Olympia exklusiv Dank ihrer Töchter<br />

in Russland war CTS Eventim alleiniger<br />

Tickethändler der Winterspiele in Sotschi<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 57<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Unternehmen&Märkte<br />

»<br />

Also übernahm CTS Eventim im Laufe<br />

der Jahre die Creme der deutschen Veranstalter<br />

wie die renommierte Marek Lieberberg<br />

Konzertagentur (MLK) in Frankfurt.<br />

Der Übernahmezug machte Schulenberg<br />

auch zum Herrscher über die immer zahlreicheren<br />

Musikfestivals in Deutschland wie<br />

Rock am Ring. „Nicht nur wesentliche Teile<br />

des deutschen Tour- und Konzertgeschäfts,<br />

sondern auch mindestens 16 der 20 größten<br />

deutschen Musikfestivals sind damit praktisch<br />

in der Hand eines einzigen Unternehmens“,<br />

sagt Branchenkenner Seliger.<br />

Ticketexperte Trippe ergänzt: „CTS Eventim<br />

geht es darum, möglichst viele Stufen<br />

der Wertschöpfungskette zu verknüpfen<br />

und zu kontrollieren: <strong>vom</strong> Veranstalten eigener<br />

Events, als Betreiber von Spielstätten<br />

bis zum Verkauf der Eintrittskarten.“<br />

FREIBRIEF VOM KARTELLAMT<br />

Ein Ende dieser Wertschöpfungskette<br />

scheint nicht in Sicht. Zurzeit buhlt CTS<br />

Eventim mit dem Berliner Konzertveranstalter<br />

Deutsche Entertainment um die<br />

Pacht der Berliner Waldbühne. Schulenberg<br />

sicherte sich 2009 den Betrieb der traditionsreichen<br />

Freilichtbühne, die die Nazis zu<br />

den Olympischen Spielen 1936 anlegen ließen.<br />

Sie ist nicht die einstige Location, die<br />

CTS Eventim betreibt. Seit 2011 betreibt CTS<br />

auch den Berliner Eventtempel Tempodrom<br />

(gut 3000 Plätze). 20<strong>12</strong> kamen das weltbekannte<br />

Hammersmith Apollo (knapp 8700<br />

Plätze) in London und die Lanxess Arena in<br />

Köln (bis zu 20000 Plätze) dazu.<br />

Auch hier kann CTS Eventim auf die Gnade<br />

des Bundeskartellamtes bauen, das in<br />

der Marktmacht quer durch das Veranstaltungsbusiness<br />

noch immer keine Gefahr für<br />

den Wettbewerb sieht. Die Bonner Beamten<br />

prüften die Frage, ob CTS Eventim seine<br />

Marktposition missbraucht, indem das Unternehmen<br />

konkurrierende Veranstalter<br />

Aktien-Info Eventim<br />

ISINDE00<strong>05</strong>470306<br />

70<br />

60<br />

50<br />

40<br />

30<br />

Eventim<br />

20<br />

2013 <strong>2014</strong><br />

Umsatz (in Mio.€)<br />

Gewinn (Ebit, in Mio.€<br />

Mitarbeiter<br />

Eigenkapitalrendite (in %)<br />

Kurs (in €)<br />

KGV<br />

Börsenwert(in Mio.€)<br />

Chance<br />

Risiko<br />

Niedrig<br />

LiveNation<br />

Kurven in Euro, Live Nation umbasiert;<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

Eventim<br />

628,3<br />

1<strong>12</strong>,1<br />

15<strong>05</strong><br />

27,93<br />

44,86<br />

27,29<br />

2153,0<br />

Live Nation<br />

4879,2<br />

81,2<br />

7400<br />

–3,14<br />

15,35<br />

negativ<br />

3075,3<br />

Hoch<br />

Die traumhafte Stellung von Eventim und das Wachstum<br />

des Konzertmarkts haben die Kurssteigerungen der<br />

vergangenen Jahre bereits zu einem großen Teil abgebildet.<br />

Bis zu einer weiteren Expansion dürfteder Kurs<br />

bestenfalls moderatzulegen.<br />

von der Lanxess Arena fernhält oder durch<br />

schlechtere Buchungsbedingungen behindert.<br />

Und das Amt prüft, ob CTS Eventim<br />

Druck auf Fremdveranstalter ausübt, um<br />

den Ticketvertrieb aller dort stattfindenden<br />

Veranstaltungen an sich zu reißen.<br />

Die Antwort des Bundeskartellamtes fiel<br />

im Sinne von CTS aus:„Die mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />

bestehenden marktbeherrschenden<br />

Stellungen von Eventim im Veranstalter-Markt<br />

und im Ticketvertriebsmarkt<br />

werden durch den Erwerb der Lanxess<br />

Arena nicht verstärkt.“ Es gebe ja für<br />

Veranstalter genug Ausweichmöglichkeiten<br />

zur Lanxess Arena, etwa die König-Pilsener-<br />

Arena in Oberhausen. Außerdem erwartet<br />

das Amt nicht, dass CTS fremden Veranstaltern<br />

vorgeben kann, Tickets nur über das<br />

Eventim-System zu vertreiben.<br />

Für Schulenberg ist das wie ein Freibrief,<br />

ungehemmt weiter zu wachsen. „Bei uns<br />

wird jeder Veranstalter gleich behandelt“,<br />

behauptet er, „unabhängig davon, ob er zur<br />

Gruppe gehört oder nicht.“<br />

Branchenexperte Trippe schmunzelt darüber<br />

nur. „Eventim kann sehr wohl deutlich<br />

machen, wer Herr im Hause ist“, sagt<br />

er. „Die können mit exklusiven Vorverkaufsaktionen,<br />

die den Direktvertrieb und<br />

die damit verbundenen Gebührenerlöse<br />

forcieren, dafür sorgen, dass lediglich deren<br />

Web-Shop oder Callcenter freigeschaltet<br />

werden soll.“ Scumeck Sabottka, Chef<br />

der Berliner MCT Agentur GmbH, behauptet<br />

sogar, „dass Veranstalter, die das Kartengeschäft<br />

nicht aus der Hand geben wollen,<br />

eine höhere Miete zahlen müssen“.<br />

Sabottka, der die Touren der Bands<br />

Rammstein und Kraftwerk organisiert und<br />

<strong>2014</strong> den britischen Superstar Robbie Williams<br />

sowie die kanadische Indie-Rockgruppe<br />

Arcade Fire durch Deutschland<br />

schickt, geht darum eigene Wege. So bucht<br />

er nicht die von CTS gepachtete Waldbühne,<br />

sondern das Amphitheater Wuhlheide<br />

im Osten Berlins. Dazu verkauft er die Karten<br />

über die Online-Plattform tickets.de,<br />

die er 20<strong>05</strong> gründete. Vorverkaufsgebühr<br />

zehn Prozent, Zusatzkosten: keine.<br />

„Eventim mit ihrem unverschämten Gebührengebaren<br />

meide ich wie die Pest“,<br />

sagt Sabottka. „Durch jede zu viel gezahlte<br />

Gebühr wächst die Kriegskasse der an CTS<br />

Eventim gebundenen Tournee- und Konzertveranstalter.<br />

Damit erhalten die ihre<br />

Monopolstellung.“<br />

n<br />

bernd mertens | unternehmen@wiwo.de<br />

Überall die Finger drin<br />

Geschäftsfelder der CTSEventim<br />

Verkauf und Ausstellung von Eintrittskarten<br />

Ticketing-System<br />

Eigenvertrieb<br />

Ausstellungvon Tickets über Ticketverkauf über eigene Callcenter,<br />

Buchungssystem für 20 000 Vorverkaufsstellen<br />

sowie gut 100 Sportver-<br />

Provision sechsmal höher als beim<br />

Web-Seiten wie eventim.de sowie Apps.<br />

eine und Verbände in 21 Ländern reinen Ticketing<br />

Gemeinschaftsunternehmen<br />

Kooperation mit Regionalzeitungen<br />

(Rheinische Post) für kleine Veranstaltungen.<br />

Zeitungen sorgen für<br />

Werbung vor Ort<br />

Weiterverkauf<br />

Fansale.de erlaubt Schwarzhändlern<br />

bei ausverkauften Veranstaltungen<br />

Verkauf zu höheren Preisen und bringt<br />

hohe Provision<br />

Live-Entertainment<br />

Management von Veranstaltungsorten<br />

Betrieb von Veranstaltungsstätten wie<br />

Waldbühne (Berlin) oder Lanxess Arena<br />

(Köln). Dadurch Einnahmen durch Gastronomie<br />

sowie Show- und Operproduktionen<br />

Konzertveranstalter<br />

Eigene Veranstaltungstöchter wie Peter<br />

Rieger, Beteiligungen an Großagenturen<br />

(Marek Lieberberg) und Spezialisten<br />

(Semmel Concerts –Show und Schlager)<br />

Neue Felder<br />

Zugangskontrollsysteme<br />

Entwicklung von Technik für Veranstaltungen<br />

und Kontrolle von Weiterverkauf<br />

Marketing<br />

Entwicklung von Mailings, möglichst<br />

exklusiver Verkauf von Eventreisen<br />

Sonstiges<br />

Papierloses Ticket für alle Veranstalter<br />

Musik-Downloads<br />

Quelle:CTS Eventim<br />

58 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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»Sind Nummer eins im Fußball«<br />

INTERVIEW | Trevor Edwards Der Chef der Marke Nike attackiert den Konkurrenten Adidas vor der Fußball-WM<br />

in Brasilien und plant weitere eigene Läden in Europa.<br />

FOTO: GETTY IMAGES/AFP<br />

Mr. Edwards, Nike verlangt für sein<br />

neuestes Fußballschuhmodell Mercurial<br />

Superfly, das etwa der portugiesische<br />

Starkicker Cristiano Ronaldo trägt, 275<br />

Euro. Warum ist der so teuer?<br />

275 Euro kostet das Spitzenmodell, wir bieten<br />

den Schuh in weiteren Varianten an,<br />

die günstigste für 70 Euro. Im Mercurial<br />

Superfly haben wir wie bei unserem Modell<br />

Magista unsere neuesten Entwicklungen<br />

eingesetzt. Bei beiden setzen wir etwa<br />

auf unsere Flyknit-Technik, bei der das<br />

Oberteil der Schuhe aus einzelnen Fasern<br />

regelrecht gestrickt wird. Der Schuh reicht<br />

bis zum Knöchel und sitzt praktisch wie ein<br />

Strumpf. Außerdem verwenden wir für den<br />

Mercurial Superfly eine Sohle aus Karbonfaser,<br />

was den Schuh sehr leicht macht.<br />

Sollen solche Preise ausgleichen,<br />

dass der Fußballmarkt in Deutschland<br />

laut Sportartikelhändlern stagniert?<br />

Unser Fußballgeschäft stagniert nicht. Wir<br />

sind die Nummer eins, das schließt<br />

Deutschland mit ein. Wir wachsen in allen<br />

großen Märkten. Und dazu tragen neue<br />

Modelle wie der Mercurial Superfly bei.<br />

Adidas will vor allem dank der WM in Brasilien<br />

<strong>2014</strong> mehr als zwei Milliarden Euro<br />

im Fußballgeschäft umsetzen und sieht<br />

sich als Nummer eins. Nike setzt mit Fußball<br />

erst 1,4 Milliarden Euro um. Wieso<br />

beanspruchen Sie die Marktführerschaft?<br />

Unterschiedliche Marken zählen in ihren<br />

Sportarten unterschiedliche Produkte zum<br />

Umsatz, das macht Vergleiche schwierig.<br />

Wir beziehen uns auf die Zahl der verkauften<br />

Fußballschuhe, das ist eine klare Größe.<br />

Und da sehen wir uns als Marktführer.<br />

Was erwarten Sie von der WM?<br />

Bei der WM rüsten wir zehn Nationalteams<br />

mit Trikots aus, mehr als jede andere Marke.<br />

Das verschafft uns einen großen Vorteil,<br />

denn als Hersteller gewinnt man bei der<br />

WM bereits, bevor das erste Spiel angepfiffen<br />

wird. Je mehr Hoffnung die Fans auf<br />

den Titel haben, um so mehr Trikots kaufen<br />

sie. Für uns ist das eine großartige Gelegenheit,<br />

denn wir statten ja unter anderem<br />

das Team des Gastgebers Brasilien aus.<br />

Nike hat 20<strong>12</strong> und 2013 in Europa bei<br />

Umsatz und Marktanteilen stark zugelegt.<br />

.Haben Sie hier vorher geschlafen?<br />

KOPF DER MARKE<br />

Edwards, 51, ist globaler Markenchef von<br />

Nike. Der gebürtige Londoner ist ein Kandidat<br />

für die Nachfolge von Vorstandschef<br />

Mark Parker, der den weltgrößten Sportkonzern<br />

seit 2006 führt. Der Nike-Konzern<br />

setzte zuletzt 25,3 Milliarden Dollar um.<br />

Dass unser Europageschäft gut läuft, liegt<br />

an zwei Dingen. Erstens konzentrieren wir<br />

uns vor allem uns auf Fußball, Basketball,<br />

Running und Frauen-Fitness. Zweitens<br />

arbeiten wir jetzt in Europa mit einer<br />

gemeinsamen Strategie für alle Märkte.<br />

Der Ausrüstervertrag zwischen<br />

Manchester United und Ihnen läuft bald<br />

aus. Ist ManU überhaupt noch attraktiv<br />

genug für Nike, nachdem sie derzeit in<br />

der englischen Liga nur Siebter sind?<br />

Wir befinden uns in Gesprächen mit<br />

Manchester United und kommentieren<br />

deshalb das Thema zurzeit nicht.<br />

Sie haben gerade in Berlin zwei neue<br />

Läden aufgemacht. Wird Nike weitere<br />

Shops eröffnen? Bislang halten Sie sich da<br />

ja im Vergleich zu Adidas spürbar zurück.<br />

Ja, wir werden künftig weitere Geschäfte<br />

in Europa eröffnen, Ende Mai etwa ein<br />

weiteres in Berlin. Einige dieser Läden<br />

haben einen Schwerpunkt auf bestimmte<br />

Sportarten. So arbeiten wir bei dem<br />

„House of Hoops“-Konzept mit Schwerpunkt<br />

Basketball mit der Kette Footlocker<br />

zusammen. Und unser Laden in Berlin-<br />

Mitte bietet vor allem Laufprodukte an. Dazu<br />

organisieren wir dort Kundenveranstaltungen<br />

wie einen Nachtlauf durch die Stadt<br />

nur für Frauen.<br />

Es kursiert das Gerücht, Nike wolle die<br />

Produktion seines Fitness-Messgerätes<br />

Fuelband beenden. Ist da was dran?<br />

Wir werden weiterhin Fuelbands verkaufen<br />

und unterstützen.<br />

Aber Nike stellt sie nicht mehr selbst her?<br />

Wir haben noch genügend Produkte und<br />

verkaufen sie weiter. Heute nutzen 28 Millionen<br />

Kunden weltweit Nike+, um ihre Aktivitäten<br />

zu messen und im Netz zu teilen.<br />

Wir wollen die Zahl auf mehr als 100 Millionen<br />

steigern. Als wir Fuel erfanden, ging<br />

es primär darum, Menschen zu motivieren,<br />

sich zu bewegen, nicht um die Herstellung<br />

eines Armbands. Deshalb wollen wir<br />

stärker mit Partnern arbeiten, um die Verbreitung<br />

von Fuel schneller zu steigern.<br />

Mit welchen Partnern?<br />

Wir pflegen seit Langem eine Partnerschaft<br />

mit Apple. Und gerade haben wir unser<br />

Nike+Fuel-Lab in San Francisco eröffnet.<br />

Dort arbeiten wir mit Partnern aus der<br />

Digitalszene an Angeboten rund um Fuel.<br />

Einzelheiten dazu sind noch vertraulich. n<br />

peter.steinkirchner@wiwo.de<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 59<br />

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Technik&Wissen<br />

Neuverteilung der Welt<br />

SERIE ZUKUNFT DER INDUSTRIE (I) | Autos fahren autonom, Roboter werden alltäglich, Fabriken<br />

steuern sich selbst: Neue Technologien schaffen Märkte und Jobs schnell wie nie –<br />

und vernichten bestehende erbarmungslos. Die WirtschaftsWoche analysiert auf Basis einer<br />

exklusiven McKinsey-Studie, wie gut Deutschland für den Umbruch gerüstet ist.<br />

Bauteile wuseln über Bänder<br />

von Bearbeitungsstation zu<br />

Bearbeitungsstation – anscheinend<br />

gelenkt von einer höheren<br />

Macht. Doch in Wirklichkeit<br />

organisieren die Werkstücke ihre Herstellung<br />

zum fertigen Produkt selbst. Dazu<br />

führen sie Funkmodule, Minichips und ihren<br />

Fertigungsauftrag mit. Bei der Reise<br />

über die Bänder sprechen sie untereinander<br />

ab, welche Maschine gerade frei ist und<br />

ob diese alles Material für den nächsten<br />

Produktionsschritt parat hat. Am Ende<br />

plumpsen etwa komplette Rücklichter für<br />

Autos in die Versandkisten.<br />

Es ist der Testlauf in eine neue Ära der Industrieproduktion<br />

– mit Mitteln und Methoden<br />

des Internets. Und deutsche Unternehmer<br />

und Forscher sind ganz vorn beim<br />

Eintritt in diese digitale Fabrikwelt, bei der<br />

alles mit jedem vernetzt ist – der größten<br />

Umwälzung seit Erfindung des Fließbands<br />

vor gut 140 Jahren.<br />

Siemens beispielsweise erprobt<br />

die sich selbst optimierende<br />

Produktion in seinem<br />

Vorzeigewerk im bayrischen<br />

Amberg, in dem rund 1000<br />

Beschäftigte elektronische<br />

Steuerungen für Getränkeabfüllanlagen,<br />

Skilifte oder<br />

Müllwagen herstellen. Der<br />

baden-württembergische<br />

Mittelständler Wittenstein<br />

tastet sich bei der Produktion<br />

von Zahnrädern an die Prinzipien<br />

der Selbstorganisation<br />

heran. In Bremen sammeln<br />

Ingenieure des Instituts für<br />

Produktion und Logistik der<br />

Die Zukunft<br />

der Industrie<br />

Teil 2<br />

Blick in die Zukunftslabors<br />

der Konzerne<br />

Teil 3<br />

Wie sich Unternehmen<br />

mit Start-ups agil halten<br />

Teil 4<br />

Deutschlands Position in<br />

der Spitzenforschung<br />

dortigen Universität in Deutschlands derzeit<br />

wohl modernster Modellfabrik neue<br />

Erkenntnisse zu dem Thema.<br />

Vordenker wie der frühere SAP-Chef<br />

Henning Kagermann, heute Präsident der<br />

Technikakademien in Deutschland (Acatech),<br />

erwarten von der digitalen Fabrik<br />

wahre Wunderdinge. Seine Prognose: In<br />

ihr sollen selbst Einzelstücke eines Tages<br />

nicht mehr kosten als heutige Massenware<br />

– dank Produktivitätssprüngen von 50 Prozent<br />

und ebenso großen Material- und<br />

Energieeinsparungen.<br />

Damit ist klar: Das Land, das als erstes<br />

erfolgreich Internet-Technologien in die<br />

Produktion integriert, hat allerbeste<br />

Wachstumsperspektiven. Deutschland befindet<br />

sich – so die frohe Botschaft – bei der<br />

Perfektionierung des Internets der Dinge,<br />

wie Fachleute die Vernetzung aller Gegenstände<br />

und Geräte miteinander nennen, in<br />

einer aussichtsreichen Startposition.<br />

Zu diesem Ergebnis kommen<br />

jedenfalls die Experten<br />

der global tätigen Unternehmensberatung<br />

McKinsey.<br />

Exklusiv für die Wirtschafts-<br />

Woche haben sie analysiert,<br />

bei welchen Technologien<br />

wir stark sein müssen, um<br />

auch im nächsten Jahrzehnt<br />

vielen Millionen Menschen<br />

Arbeit bieten und unseren<br />

Wohlstand mehren zu können.<br />

Und da hat das Internet<br />

der Dinge, das etwa auch die<br />

intelligente Steuerung von<br />

Logistikketten und Verkehrsströmen<br />

umfasst, das größte<br />

Potenzial.<br />

Gelänge es der deutschen Wirtschaft, auf<br />

diesem Gebiet Standards zu setzen und<br />

umsatzstarke Geschäftsmodelle zu entwickeln,<br />

dann könnte das unser Bruttoinlandsprodukt<br />

(BIP) im Jahr 2025 um gleich<br />

207 Milliarden Euro oder umgerechnet fast<br />

fünf Prozent nach oben treiben. Das sind<br />

noch einmal gut 20 Milliarden Euro mehr,<br />

als die chemisch-pharmazeutische Industrie<br />

heute jährlich hierzulande umsetzt.<br />

Parallel entstünden viele neue Jobs. Davon<br />

ist Andreas Tschiesner überzeugt, Direktor<br />

und führender Kopf bei McKinsey<br />

Deutschland für die Bewertung fortschrittlicher<br />

Technologien. Im Umkehrschluss<br />

bedeutet dies aber auch: Misslingt der Umstieg,<br />

geht im Extremfall ebenso viel Wirtschaftsleistung<br />

verloren – mit allen negativen<br />

Folgen für die Beschäftigung.<br />

Das Spiel um die Neuverteilung der Welt<br />

hat begonnen. Jetzt entscheidet sich, ob<br />

wir auch in den nächsten Jahrzehnten eine<br />

führende Wirtschaftsnation bleiben.<br />

FORTSCHRITT MIT SPRENGKRAFT<br />

„Würde Deutschland bei der Vernetzung<br />

aller Dinge versagen, wäre unsere gute<br />

Wettbewerbsposition massiv erschüttert“,<br />

warnt Tschiesner. Die Gefahr hält er aber<br />

für gering. „Alle maßgeblichen Akteure haben<br />

die Wichtigkeit des Wandels erkannt<br />

und kämpfen um eine Führungsrolle.“<br />

Technologien waren zu allen Zeiten Treiber<br />

gesellschaftlichen und ökonomischen<br />

Fortschritts. Doch nur wenige haben die<br />

Sprengkraft, Spielregeln komplett über den<br />

Haufen zu werfen und die Machtverhältnisse<br />

auf den Märkten zu erschüttern. Ökonomen<br />

bezeichnen sie als disruptiv. Auf sie<br />

haben sich die Berater konzentriert.<br />

»<br />

ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />

60 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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1193 Milliarden Euro Geschäft verheißen Roboter und Co.<br />

Um 25 Prozent können die Innovationen das BIP erhöhen<br />

207 Milliarden soll das Internet der Dinge bringen<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 61<br />

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Technik&Wissen<br />

Wir stehen vor der totalen digitalen<br />

Transformation der Wirtschaft<br />

»<br />

In der Vergangenheit haben Erfindungen<br />

wie die Dampfmaschine, das Auto<br />

oder der Computer die gewohnten Verhältnisse<br />

auf den Kopf gestellt. Zuletzt haben<br />

Internet und Mobilfunk Büros und unser<br />

Privatleben radikal verändert. Seither sind<br />

wir jederzeit erreichbar und können praktisch<br />

an jedem Ort der Welt arbeiten.<br />

Doch nun tritt neben die allgegenwärtige<br />

Kommunikation von Mensch zu Mensch<br />

die noch viel umfassendere der Maschinen.<br />

Und das ist nur eine Facette. Die McKinsey-<br />

Fachleute erwarten diesmal einen ganzen<br />

Kanon globaler Umwälzungen, deren<br />

Wucht alles Bekannte in den Schatten stellt:<br />

Die Software verdrängt die Hardware;<br />

Roboter ersetzen Pfleger und Reinigungskräfte;<br />

autonom fahrende Autos bringen<br />

uns an Ziel, wir können währenddessen<br />

arbeiten oder uns im Internet spielend vergnügen;<br />

Expertensysteme diagnostizieren<br />

Krankheiten zuverlässiger als Ärzte und<br />

klären knifflige juristische Fragen schneller<br />

als jeder Anwalt.<br />

All das schafft und vernichtet Märkte<br />

und Jobs in einem nie da gewesenen Tempo.<br />

„Das wird ein Beben“, ist sich McKinsey-Mann<br />

Tschiesner sicher. „Unternehmen<br />

müssen sich unentwegt neu erfinden,<br />

um nicht den Anschluss zu verlieren.“<br />

Ist Deutschland auf diesen Epochenwechsel<br />

vorbereitet? Oder verharren wir<br />

„in einer gesellschaftlichen Sättigungshaltung“,<br />

die Tschiesner aktuell diagnostiziert?<br />

Reporter und Redakteure der WirtschaftsWoche<br />

sind ausgeschwärmt, um<br />

der Nation den Puls zu fühlen. Sie haben<br />

sich gründlich bei Forschern, Gründern<br />

und Unternehmen umgesehen, bei all denen,<br />

die Zukunft gestalten. Und sie haben<br />

geschaut, was die Politik tut, um den Wandel<br />

zu befördern. In vier Folgen analysieren<br />

sie, wie gut Deutschland für diesen radikalen<br />

Umbruch gerüstet ist.<br />

AUFSCHWUNG – ODER ABSTURZ?<br />

Den Auftakt bildet die McKinsey-Studie.<br />

Und der Blick auf die Liste der 15 wichtigsten<br />

disruptiven Technologien macht deutlich:<br />

Nicht neue chemische Mixturen oder<br />

noch leistungsstärkere Automotoren entscheiden<br />

über unser künftiges Wohlergehen.<br />

Die Frage ist vielmehr, ob wir bei der<br />

anstehenden totalen digitalen Transformation<br />

der Wirtschaft mithalten können.<br />

Von den acht Entwicklungen mit dem<br />

stärksten Einfluss auf unsere Wertschöpfung<br />

haben sechs unmittelbar mit diesem<br />

Megatrend zu tun: neben dem Internet der<br />

Dinge die Automatisierung von Wissensarbeit,<br />

das mobile Internet, die Analyse riesiger<br />

Datenmengen (Big Data), die Nutzung<br />

von Software, Rechen- und Speicherkapazität<br />

in der Datenwolke (Cloud Computing)<br />

und die Sicherheit der Datennetze.<br />

Zusammen haben sie das Potenzial, 2025<br />

ein Sechstel der gesamten hiesigen Wirtschaftsleistung<br />

auszumachen – oder sie<br />

um diesen Wert abstürzen zu lassen (siehe<br />

Tabelle rechts).<br />

Momentan ist die Gefahr groß, dass das<br />

Pendel ins Negative schlägt. Auch das zeigt<br />

die Studie. Mit Ausnahme des Internets der<br />

Dinge stufen die McKinsey-Analysten die<br />

Wettbewerbsstärke Deutschlands in den<br />

anderen Feldern mäßig bis niedrig ein.<br />

Den Grund für die Schwäche verrät der<br />

Blick auf die sechs entscheidenden Kriterien,<br />

von denen abhängt, ob wir das Potenzial<br />

der digitalen Umwälzung nutzen können.<br />

Fast durchweg fehlt es dort an global<br />

führenden Mittelständlern wie an einer dynamischen<br />

Gründerszene. Auch bei der<br />

Forschung hängt Deutschland zurück. Zudem<br />

engagiert sich der Staat zu wenig; und<br />

es mangelt an aktiven Technologie-Clustern<br />

aus starken Forschungseinrichtungen<br />

und Unternehmen, die zur Aufholjagd blasen<br />

würden (siehe Tabelle Seite 65).<br />

Die Fahne hoch halten wenige Konzerne.<br />

Allen voran die Walldorfer Softwareschmiede<br />

SAP, groß geworden mit ihrer<br />

Standardsoftware für die Unternehmenssteuerung.<br />

Doch Nullachtfünfzehn-Lösungen<br />

für alle verlieren rapide an Bedeutung.<br />

Deshalb investieren die Walldorfer verstärkt<br />

in maßgeschneiderte Spezialprogramme<br />

– etwa für intelligente Bohrroboter<br />

– oder in solche, die branchenspezifisch<br />

Markt- und Kundenrisiken analysieren<br />

und Gegenstrategien vorschlagen.<br />

Auch der Autozulieferer Bosch oder der<br />

Logistikkonzern DHL sind inzwischen gut<br />

darin, aus ihrem riesigen Fundus an Daten<br />

profitable digitale Dienstleistungen mit<br />

Kundennutzen zu generieren. Etwa ihren<br />

Kunden eine kostensparende Lieferkette<br />

vorzuschlagen. Aber in der Breite fehle es<br />

bei vielen Managern immer noch am Bewusstsein<br />

dafür, dass Daten der wichtigste<br />

Rohstoff der digitalen Ökonomie seien und<br />

derjenige gewinne, der sie am intelligentesten<br />

nutzt, sagt Tschiesner.<br />

Selbst in der Robotik, wo deutsche Hersteller<br />

noch den Takt vorgeben und anscheinend<br />

alles auf überlegene Mechanik<br />

und Elektronik ankommt, geraten die Gesetze<br />

des bisherigen Wirtschaftsmodells<br />

ins Wanken, erwächst den etablierten Anbietern<br />

unerwartete Konkurrenz.<br />

Für Thomas Bauernhansl, Leiter des<br />

Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik<br />

und Automatisierung (IPA), ist<br />

es jedenfalls kein Zufall, dass der Web-<br />

Gigant Google gleich acht Roboterhersteller<br />

gekauft hat. Die Amerikaner würden, da<br />

ist er sich sicher, alles daran setzen, die aufwendige<br />

Programmierung und Steue-<br />

»<br />

ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />

62 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Denkende Maschinen, totale Vernetzung, smarte Dienste<br />

15 Technologien, die über Deutschlands Wohlstand entscheiden: ihr Markt- und Jobpotenzial – und wie gut wir dafür gerüstet sind<br />

Internet der Dinge<br />

Die Verknüpfung aller Gegenstände ermöglicht<br />

es, sie über Datennetze zu orten,<br />

zu kontrollieren und zu koordinieren<br />

Automatisierung Wissensarbeit<br />

Lernende Softwaresysteme erkennen<br />

Zusammenhänge, analysieren Probleme<br />

und ziehen daraus Schlussfolgerungen<br />

Fortgeschrittene Robotik<br />

Roboter bauen sich selbst, finden sich in<br />

der Umwelt zurecht und stellen sich auf<br />

den Menschen ein<br />

Alternative Antriebe<br />

Elektro-, Brennstoffzellen- und Wasserstoffantrieb<br />

oder Hybridlösungen<br />

Mobiles Internet<br />

Smartphone, Tablet-PC oder Datenbrille<br />

verbinden Nutzer jederzeit und überall mit<br />

dem Internet<br />

Big Data<br />

Analyse riesiger Datenmengen, die Sensoren,<br />

Rechner, Handys, intelligente Zähler<br />

und Autos ständig sammeln und übermitteln<br />

Cloud Computing<br />

Aus der Datenwolke können Unternehmen<br />

und Private via Internet Software, Rechen-,<br />

Speicher- und Netzwerkkapazität be-<br />

Cybersecurity<br />

Sicherheit und Schutz digitaler Daten gegen<br />

Zugriff durch unbefugte Dritte, etwa Konkurrenten,<br />

Kriminelle und Geheimdienste<br />

(Teil-)autonomes Fahren<br />

Pkws, Lkws und Busse, die dem Fahrer ganz<br />

oder teilweise das Lenken abnehmen und<br />

selbstständig durch den Verkehr navigieren<br />

Genomik<br />

Kombination aus Gensequenzierungstechniken,<br />

Big-Data-Analysen und gezielten<br />

Eingriffen ins Erbgut<br />

Saubere Energien<br />

Erzeugung von Strom und Wärme aus<br />

regenerativen Energiequellen wie Sonne,<br />

Wind und Biomasse<br />

Hochleistungswerkstoffe<br />

Materialien, die Forscher im Labor mit<br />

überragenden Eigenschaften und Funktionen<br />

ausstatten, etwa Hitzebeständigkeit<br />

3-D-Druck<br />

Fertigungsverfahren, bei dem aus einem<br />

digitalen Modell Schicht für Schicht ein<br />

reales Objekt entsteht<br />

Energiespeicher<br />

Ökostrom wird in Batterien, Salzkavernen,<br />

Pumpspeichern oder, umgewandelt zu<br />

künstlichem Erdgas, zwischengelagert<br />

Wasseraufbereitung<br />

Technologien, die Abwässer reinigen, Giftstoffe<br />

entfernen und selbst in extremen<br />

Trockengebieten Trinkwasser bereitstellen<br />

1 nominales Bruttoinlandsprodukt, McKinsey schätzt es im Jahr 2025 für Deutschland auf 4350 Milliarden Euro gegenüber 2738 Milliarden Euro heute; Zahlen gerundet;<br />

Umrechnung Dollar/Euro zum Kurs 30.4.<strong>2014</strong>; Quelle: McKinsey<br />

Wichtige Anwendungen<br />

Intelligente Steuerung globaler Logistikketten<br />

und des Verkehrs; medizinische<br />

Ferndiagnosen; Gebäudeautomation;<br />

sich selbst optimierende Fabriken<br />

Erledigung von Aufgaben in Büro und<br />

Verwaltung; Abwicklung von Dienstleistungen;<br />

Erstellung von Entscheidungsvorlagen;<br />

medizinische Diagnosen<br />

Industrielle Produktion; Chirurgie;<br />

Pflege; vielseitige Helfer im Alltag, etwa<br />

beim Putzen oder Rasenmähen<br />

Privat und gewerblich genutzte Fahrzeuge;<br />

Fuhrparks; Busse; Schiffe und<br />

Flugzeuge<br />

E-Commerce; Online-Lernen; Telemedizin,<br />

z. B. Überwachung des Gesundheitszustands<br />

chronisch Kranker; Mobile<br />

Payment; Gastronomietipps<br />

Angebot individueller Produkte und<br />

Dienstleistungen; Börsenhandel;<br />

Marktprognosen; Entdeckung neuer<br />

Geschäftsmodelle<br />

Programme, IT-Infrastruktur und<br />

Internet-Plattformen werden gemietet<br />

statt gekauft – bedarfsgerecht und<br />

technisch auf dem neuesten Stand<br />

Schutz von Industrieanlagen und<br />

Kraftwerken vor Spionage und Sabotage;<br />

Verhinderung des Missbrauchs<br />

persönlicher und Unternehmensdaten<br />

Computergesteuerter Verkehrsfluss:<br />

Fahrzeuge warnen sich vor Staus und<br />

Unfallgefahren; Nutzung mobiler Internet-Dienste<br />

während der Fahrt<br />

Neue Medikamente etwa gegen Krebs;<br />

personalisierte Medizin; Entwicklung<br />

ergiebiger Nutzpflanzen, z. B. für Biokraftstoffe<br />

Blockheizkraftwerke für Industrie<br />

und Privathaushalte; Solaranlagen;<br />

Windparks; Erdwärmesonden;<br />

Biogasherstellung; Gezeitenkraftwerke<br />

Leichte und dennoch stabile Bauteile<br />

aus Carbon für Autos und Flugzeuge;<br />

sterile Kunststoffe; besonders leitfähige<br />

Metalle und Halbleiter<br />

Individualisierte Produkte wie Schmuck<br />

und Brillen; Ersatzteile; passgenaue Prothesen;<br />

künstliche Organe; High-Tech-<br />

Bauteile wie Turbinenschaufeln<br />

Stabilisierung der Stromnetze; Reservekapazitäten;<br />

unabhängige Energieversorgung<br />

von Kommunen, Privathaushalten<br />

und Unternehmen; Elektromobilität<br />

Meerwasserentsalzung; Kläranlagen;<br />

Gewässersanierung; geschlossene Wasserkreisläufe<br />

in Fabriken; Trinkwassergewinnung<br />

etwa mittels Membranen<br />

Einfluss auf das BIP 1<br />

2025 (in Mrd. Euro),<br />

Anteil am BIP<br />

207 Milliarden<br />

= 4,8 Prozent<br />

192 Milliarden<br />

= 4,4 Prozent<br />

175 Milliarden<br />

= 4,0 Prozent<br />

111 Milliarden<br />

= 2,6 Prozent<br />

91 Milliarden<br />

= 2,1 Prozent<br />

82 Milliarden<br />

= 1,9 Prozent<br />

73 Milliarden<br />

= 1,7 Prozent<br />

71 Milliarden<br />

= 1,6 Prozent<br />

59 Milliarden<br />

= 1,4 Prozent<br />

37 Milliarden<br />

= 0,9 Prozent<br />

28 Milliarden<br />

= 0,6 Prozent<br />

25 Milliarden<br />

= 0,6 Prozent<br />

17 Milliarden<br />

= 0,4 Prozent<br />

16 Milliarden<br />

= 0,4 Prozent<br />

9 Milliarden<br />

= 0,2 Prozent<br />

Effekt auf Arbeitsplätze<br />

Wettbewerbsstärke<br />

Deutschlands<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 63<br />

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Technik&Wissen<br />

»<br />

rung der Maschinen durch ein einfaches,<br />

intuitives Bediensystem radikal zu vereinfachen.<br />

So wie sie es bei Smartphones<br />

schon gemacht haben. Dann könne fast jeder<br />

mit so einem Gefährten umgehen – ob<br />

Fabrikarbeiter oder Privatperson. Das erweitere<br />

den Markt enorm. „Unsere etablierten<br />

Roboterhersteller werden sich wundern,<br />

wenn Google in zwei Jahren die Rollladen<br />

hochzieht“, sagt Bauernhansl voraus.<br />

„Da wächst ein ernsthafter Konkurrent heran“<br />

(siehe Seite 66).<br />

ZWEIKAMPF MIT DEN USA<br />

Bei allen Schwächen – Grund zur Panik besteht<br />

keiner. Denn bei der Basis allen Wirtschaftens,<br />

der Produktion und den Produkten<br />

selbst, ist Deutschland im Vorteil. Kein<br />

zweites Land verdient – relativ gesehen –<br />

annähernd so viel Geld mit hochwertigen<br />

Technologien wie wir: Autos, Maschinen,<br />

chemische Grund- und Spezialstoffe. 8,1<br />

Prozent der gesamten Wertschöpfung sind<br />

es hier – die USA schaffen gerade 1,7 Prozent<br />

(siehe Grafik Seite 69). Die Statistik<br />

zeigt aber auch: Bei wissensintensiven<br />

Dienstleistungen sind Amerika und selbst<br />

Großbritannien uns weit voraus.<br />

Wollen wir unseren Vorsprung bei der<br />

Hardware verteidigen, müssen wir den<br />

Rückstand bei den digitalen Diensten dringend<br />

verkürzen. Die USA treiben ihre Reindustrialisierung<br />

massiv voran, beflügelt<br />

von konkurrenzlos niedrigen Energiepreisen<br />

und einem Milliarden-Dollar-Programm<br />

von Präsident Barack Obama.<br />

Gewinnen wird den Zweikampf, davon<br />

ist McKinsey-Mann Tschiesner überzeugt,<br />

wer die Schnittstelle zum Kunden besetzt.<br />

Fahren zum Beispiel Autos erst einmal autonom,<br />

entscheidet nicht mehr in erster<br />

Linie die PS-Stärke über den Kauf eines<br />

Wagens. Sondern wer das bessere Navigationssystem<br />

anbietet, um schnell das Ziel<br />

zu erreichen. Dabei könnte dann Google<br />

statt Volkswagen im Vorteil sein.<br />

Dreh- und Angelpunkt wird mithin die<br />

Hoheit über die Daten. Die liegt momentan<br />

meist bei Amazon, Facebook und<br />

Google. Um sie ihnen zu entreißen, drängt<br />

Fraunhofer-Präsident Reimund Neugebauer<br />

zum Aufbau eines europäischen<br />

Google-Pendants. „Das ist die einzige<br />

Chance, die Kontrolle zurückzugewinnen“<br />

(siehe Interview Seite 68).<br />

Lesen Sie nun, was Deutschland in den<br />

fünf ökonomisch wichtigsten Zukunftstechnologien<br />

zu bieten hat und wie es auf<br />

die Siegerstraße kommen kann.<br />

dieter.duerand@wiwo.de<br />

INNOVATIONEN<br />

Die disruptiven fünf<br />

Von Industrie 4.0 bis zum mobilen Internet: welche Technologien<br />

die deutsche Wirtschaft am stärksten verändern.<br />

Internet der Dinge<br />

Auf dem Weg<br />

an die Spitze<br />

Im globalen Geschäft mit komplexen Maschinen<br />

macht deutschen Unternehmen<br />

so leicht niemand etwas vor. Doch beim<br />

wichtigsten Innovations- und Wachstumstreiber<br />

der vergangenen Dekaden, der Informationstechnik,<br />

rangiert Deutschlands<br />

Industrie weit abgeschlagen hinter den<br />

Konzernen und Start-ups der USA.<br />

Noch. Glaubt man den Prognosen der<br />

Berater von McKinsey, bietet ausgerechnet<br />

die jüngste Evolutionsstufe der Digitalisierung<br />

– das Internet der Dinge – die Chance,<br />

den Rückstand nicht nur aufzuholen: Die<br />

Verknüpfung von Maschinen und Geräten<br />

könnte Deutschland bis 2025 sogar weltweit<br />

an die Spitze katapultieren.<br />

Denn jetzt werden sie abgesteckt, die<br />

Claims für innovative Hard- und Softwareangebote<br />

sowie Internet-Dienste. Es geht<br />

um Werkstücke, die auf autonom arbeitenden<br />

Produktionsstraßen den Maschinen<br />

vorgeben, wie sie die Bauteile montieren<br />

sollen. Um Bagger und Lastwagen, die auf<br />

Baustellen selbst koordinieren, wer wann<br />

welche Baumaterialien abholt oder abliefert.<br />

Oder um Autos, die einander vor Gefahrenstellen<br />

warnen und bremsen, bevor<br />

der Fahrer sehen kann, was los ist.<br />

Wo Internet und Produktion verschmelzen,<br />

komplizierte Maschinen oder schlichte<br />

Haushaltsgegenstände ohne menschliches<br />

Zutun effizienter produzieren oder<br />

mehr Lebensqualität im Alltag ermöglichen,<br />

können deutsche Schlüsselbranchen<br />

wie Auto- und Maschinenbau, Elektrooder<br />

Medizintechnik reüssieren.<br />

Die neue Weltsprache der Produktion<br />

soll aus Deutschland kommen<br />

ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />

64 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Diese Chance wollen Politik und Wirtschaft<br />

unbedingt nutzen: Unter dem<br />

Schlagwort Industrie 4.0 treiben sie die Verschmelzung<br />

von IT- und Produktionswelt<br />

voran, koordinieren Forschung und Förderung<br />

und definieren einheitliche Standards.<br />

Das ist dringend nötig, denn laut McKinsey<br />

sind Datenschutzbedenken, rechtliche Beschränkungen<br />

und unzureichende staatliche<br />

Regulierung noch Hemmschuhe bei<br />

der Nutzung des Internets der Dinge.<br />

DROHT EIN FÖRDERDESASTER?<br />

„Die neue Weltsprache der Produktion<br />

muss aus Deutschland stammen“, trommelt<br />

deshalb auch Hartmut Rauen, Geschäftsführer<br />

beim Verband Deutscher<br />

Maschinen- und Anlagenbau (VDMA).<br />

Seine Organisation, der Zentralverband<br />

Elektrotechnik- und Elektronikindustrie,<br />

sowie der Spitzenverband der IT-Branche,<br />

Bitkom, betreiben ein gemeinsames Industrie-4.0-Projektbüro,<br />

um ihre Mitgliedsunternehmen<br />

zu sensibilisieren. Führende<br />

Industriekonsortien wie die M2M-Alliance<br />

propagieren branchenübergreifend das<br />

Geschäft mit der Maschine-zu-Maschine-<br />

Kommunikation – erst in Deutschland,<br />

nun auch international.<br />

Zugleich investiert der Bund im Rahmen<br />

seiner High-Tech-Strategie in den nächsten<br />

Jahren 200 Millionen Euro allein in die Förderung<br />

internetbasierter Produktionssysteme<br />

und Dienste. Zwar zeigen Förderdesaster<br />

wie bei der Fotovoltaik, dass staatliche<br />

Programme nicht per se zu erfolgreichen<br />

Produkten und Marktführerschaft<br />

führen. Fachleute fordern daher, bei der<br />

Vernetzung der Maschinen nicht Produktentwicklung<br />

zu alimentieren, sondern Forschung<br />

an Technologiegrundlagen.<br />

Doch koordinierte Industriepolitik kann<br />

auch funktionieren. Das belegen erfolgreiche<br />

Forschungsprogramme wie etwa der<br />

2013 abgeschlossene Großversuch zum<br />

vernetzten Fahren, SimTD. Er hat Autoindustrie<br />

und Wissenschaft ermöglicht, unter<br />

Realbedingungen Verfahren zu entwickeln,<br />

mit denen sich Verkehrsfluss und<br />

-sicherheit deutlich verbessern lassen.<br />

Nun geht es darum, den Kompetenzvorsprung<br />

zu nutzen. Denn noch ist offen, ob<br />

<strong>vom</strong> Internet der Dinge eher Unternehmen<br />

profitieren, die dank Technik-Know-how<br />

die Produktwelt dominieren. Oder eben<br />

doch – wie im klassischen Internet – jene,<br />

die die Mehrwertdienste dafür liefern?<br />

Droht etwa Autokonzernen das Los der<br />

PC-Hersteller, die – mit minimalen Margen<br />

– nur noch die Hardware liefern, während<br />

Bedingt fortschrittsbereit<br />

Bei vielen der marktrelevanten Zukunftstechnologien schwächelt Deutschland<br />

Internet der Dinge<br />

Hochleistungswerkstoffe<br />

Fortgeschrittene Robotik<br />

Alternative Antriebe<br />

Saubere Energie<br />

(Teil-)autonomes Fahren<br />

Genomik<br />

3-D-Druck<br />

Energiespeicher<br />

Wasseraufbereitung<br />

Wissensarbeit<br />

Mobiles Internet<br />

Big Data<br />

Cloud Computing<br />

Cybersecurity<br />

Staatliche<br />

Unterstützung<br />

: = stark;- = schwach; Quelle: McKinsey<br />

die Googles oder IBMs das margenstarke<br />

Software- und Dienstegeschäft dominieren?<br />

Projekte wie die selbstfahrenden Autos<br />

von Google zeigen, wo die heutigen Internet-Giganten<br />

(auch) ihre Zukunft sehen.<br />

Der Kampf um das Internet der Dinge<br />

beginnt jetzt. Wer als Erster Regeln und<br />

Standards in der Wirtschaftswelt vernetzter<br />

Maschinen definiert, wird ihn gewinnen.<br />

thomas.kuhn@wiwo.de<br />

Wissensarbeit<br />

Zu lange<br />

gepennt<br />

Jeder Schreibtischarbeiter kennt Microsoft<br />

Office, aber nur wenige kennen Microsoft<br />

Oslo. Dabei könnte das neue Programm,<br />

das der Softwarekonzern ab Herbst anbieten<br />

will, die Büroarbeit tief greifend verändern.<br />

Denn mit ihm erhält jeder Nutzer einen<br />

eigenen Assistenten – virtuell zwar,<br />

aber dafür rund um die Uhr hilfsbereit. Vor<br />

einer Besprechung etwa sucht Oslo passende<br />

Hintergrundartikel im Internet, zeigt<br />

relevante Blogeinträge von Kollegen an<br />

und listet die wichtigsten E-Mails auf.<br />

Die neue Bürosoftware ist ein Vorgeschmack<br />

darauf, wie radikal sich Wissens-<br />

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Weltklasse-<br />

Forschungsinstitute<br />

Klassenprimus:<br />

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Mitläufer<br />

Nachsitzer<br />

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Aktive<br />

Technologie-<br />

Cluster<br />

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Dynamische<br />

Gründerszene<br />

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Mittelständische<br />

Weltmarktführer<br />

arbeit in den kommenden Jahren verändern<br />

wird. „Computer agieren künftig wie<br />

Butler“, sagt Andreas Dengerl, Leiter des<br />

Bereichs Wissensmanagement am Deutschen<br />

Forschungszentrum für Künstliche<br />

Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern. „Sie<br />

lernen stetig dazu und bieten ihren Nutzern<br />

situationsbezogen die passenden Informationen<br />

an.“ Damit werden viele Aufgaben,<br />

die bisher eine Sekretärin erledigt<br />

hat – Recherchen anstellen, Berichte verfassen<br />

– automatisiert.<br />

Nicht nur Recherchen, sondern Wissensarbeit<br />

jeder Art steht vor einer Welle<br />

der Digitalisierung. Lernende Maschinen<br />

ersetzen menschliche Gehirne: Sie bewerten<br />

Finanzkennzahlen, beantworten Kundenanfragen<br />

oder erstellen nach Prüfung<br />

Abertausender Studien medizinische Diagnosen.<br />

Das wird möglich, weil Computer<br />

inzwischen riesige Datenmengen, auch Big<br />

Data genannt, speichern und blitzschnell<br />

analysieren – und mithilfe intelligenter<br />

Software den Sinn komplizierter Texte und<br />

Zusammenhänge erschließen.<br />

Die gute Nachricht: Für die deutsche<br />

Wirtschaft ist der Trend zum Roboter-Büro<br />

ein potenzielles Milliardengeschäft. Auf<br />

265 Milliarden Dollar taxiert McKinsey den<br />

möglichen Beitrag intelligenter Software<br />

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Technologisch<br />

führende<br />

Konzerne<br />

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WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 65<br />

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Technik&Wissen<br />

Der Robotik-Weltmarkt wächst laut<br />

Prognosen jährlich um sechs Prozent<br />

»<br />

zum deutschen BIP im Jahr 2025. Die<br />

schlechte Nachricht: Bisher sieht es nicht<br />

so aus, als würde die deutsche Informationstechnikbranche<br />

dieses Potenzial auch<br />

voll erschließen. Im Rennen der IT-Riesen<br />

liegt Deutschland derzeit weit hinter den<br />

Vereinigten Staaten zurück. Virtuelle Assistenten<br />

werden vor allem im englischsprachigen<br />

Raum eingesetzt – und auch dort<br />

entwickelt.<br />

Lichtblicke sind Forschungseinrichtungen<br />

wie das DFKI, an denen Wissenschaftler<br />

künstliche Intelligenz ergründen und<br />

erschaffen. Im Projekt Argumentum etwa<br />

entwickeln die Kaiserslauterer eine Software<br />

für Juristen, die binnen Sekunden in<br />

Handbüchern, Fachzeitschriften und im<br />

Internet Argumente für einen bestimmten<br />

Streitfall findet – eine Arbeit, für die Menschen<br />

bisher viele Tage recherchierten.<br />

ZU WENIG GRÜNDER<br />

Allerdings: Nur wenige Forschungsergebnisse,<br />

bemängelt McKinsey, führen auch<br />

zu Unternehmensgründungen, die Produkte<br />

daraus entwickeln. Und so bleibt als<br />

IT-Konzern von Weltrang einzig das Walldorfer<br />

Softwareunternehmen SAP, das digitale<br />

Werkzeuge für Wissensarbeiter entwickelt<br />

und rund um den Globus vertreibt.<br />

Mit seiner Plattform Hana können Unternehmen<br />

aus Abertausenden Dokumenten,<br />

Web-Seiten oder Tabellen binnen Sekunden<br />

Trends herausfiltern und Prognosen<br />

anstellen, etwa darüber, wie oft sich ein<br />

bestimmtes Produkt verkaufen wird, welche<br />

Mengen an Rohstoffen in der Produktion<br />

benötigt werden oder welches Medikament<br />

für welchen Patienten geeignet ist.<br />

Dem Beispiel SAP müssen in Deutschland<br />

weitere folgen. Sonst schafft der Computer<br />

bis 2025 weniger neue Jobs, als er alte<br />

überflüssig macht.<br />

andreas.menn@wiwo.de<br />

Roboter<br />

Deutsche Mittelständler<br />

vorn<br />

Timo Boll schwitzt. Der erfolgreichste<br />

deutsche Tischtennisspieler liegt 0:6 zurück,<br />

es ist ein mieses Match. Dabei ist sein<br />

Gegner kein Sportler, nicht mal ein<br />

Mensch. Boll spielt gegen einen Roboter,<br />

einen Arm aus Stahl, der vor der Tischtennisplatte<br />

postiert ist. Er schlägt wie ein Karate-Kämpfer<br />

zu: schnell, kraftvoll, präzise.<br />

Und trifft jeden Ball.<br />

Bolls Kampf gegen die Maschine ist inszeniert<br />

– für einen Werbespot. Produziert<br />

hat ihn der Roboterhersteller Kuka aus<br />

Augsburg. Im März hat Kuka eine Fabrik in<br />

China eröffnet, dem wichtigsten Wachstumsmarkt<br />

für Robotik. Der neue Werbeclip<br />

soll potenziellen Kunden dort zeigen,<br />

wie gut die Maschinen der Augsburger<br />

sind.<br />

Roboter sind gefragt, nicht nur in China.<br />

Denn die smarten Maschinen helfen, Kosten<br />

zu sparen, die Qualität der Fertigung zu<br />

steigern und weniger Strom zu verbrauchen.<br />

Automatisierung macht Laptops billiger,<br />

Handys robuster, Flugzeuge leichter.<br />

Und weil sich in Wachstumsländern wie<br />

China immer mehr Menschen diese Produkte<br />

leisten können, werden dort Roboter<br />

in den Fabriken immer wichtiger.<br />

VERSTÄNDNIS FÜR KUNDEN<br />

Pro Jahr wird der Weltmarkt Prognosen zufolge<br />

um sechs Prozent wachsen. Und<br />

schon heute stammt mehr als jeder zehnte<br />

Roboter weltweit aus deutscher Herstellung.<br />

20 000 Stück verkauften Mittelständler<br />

wie Kuka und Co., die hiesige Produktion<br />

wächst jährlich um 14 Prozent. Nur die<br />

Japaner sind ähnlich erfolgreich.<br />

Die Vorzüge der Deutschen: hohe Qualität,<br />

zahlreiche Innovationen und ein tiefes<br />

Verständnis für die Bedürfnisse der Kunden,<br />

24-Stunden-Service inklusive. Auch<br />

die sehr gute Ausbildung der Ingenieure<br />

hilft der Branche, sich weltweit an der Spitze<br />

zu behaupten. Zudem profitieren die<br />

Hersteller von der Stärke der hiesigen Industrie<br />

– sie setzt seit Jahren auf Automatisierung,<br />

um Personalkosten zu sparen. Einer<br />

der größten Abnehmer für deutsche<br />

Roboter ist die hiesige Autobranche.<br />

ANGRIFF VON GOOGLE<br />

Sich auf den Erfolgen auszuruhen könnte<br />

indes gefährlich werden. Denn mit Google<br />

drängt ein mächtiger Internet-Konzern in<br />

den Markt – acht Robotik-Unternehmen<br />

haben die Kalifornier kürzlich gekauft. Zudem<br />

werden die Maschinen für völlig neue<br />

Zwecke eingesetzt: Chirurgen nutzen sie<br />

für Operationen, Logistiker für den Warentransport,<br />

Verbraucher zum Staubsaugen.<br />

Und so liegt die Zukunft nicht allein in<br />

schweren Industrierobotern – sondern in<br />

leichten, kleineren Maschinen, die mit<br />

Menschen in Fabriken, Werkstätten oder<br />

Laboren zusammenarbeiten. Dieser neue<br />

Typ Helfer lässt sich per Tablet oder<br />

Sprachsteuerung programmieren. Er erfasst<br />

mit Sensoren die Umwelt, findet von<br />

selbst Werkzeuge, erkennt Hindernisse<br />

und wird Menschen nicht gefährlich.<br />

Auch Kuka setzt auf den Volksroboter:<br />

Kürzlich haben die Augsburger einen Robo-Arm<br />

namens LBR iiwa vorgestellt, den<br />

Arbeiter für verschiedenste Aufgaben nutzen<br />

können. Ob er auch für das Tischtennistraining<br />

eingesetzt wird – wer weiß?<br />

andreas.menn@wiwo.de<br />

ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />

66 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Alternative Antriebe<br />

Forscher<br />

am Steuer<br />

Stoppen. Anfahren. Stoppen. Anfahren. Bis<br />

zu 200 Mal am Tag und bis zu 300 Tage im<br />

Jahr. Waren und Pakete in der Innenstadt<br />

auszuliefern ist für Lieferwagen ein Härtetest<br />

– und ihre lauten und stinkenden Dieselmotoren<br />

sind für die Anwohner ein Ärgernis.<br />

In Bonn ist das anders. Dort fahren<br />

rund 20 gelbe Transporter der Deutschen<br />

Post DHL dank Elektroantrieb Pakete und<br />

Briefe lautlos und abgasfrei aus. Bis Anfang<br />

2016 sollen es innerhalb des Pilotprojektes<br />

sogar 141 Fahrzeuge werden, die dann pro<br />

Jahr voraussichtlich rund 500 Tonnen des<br />

klimaschädlichen Gases Kohlendioxid<br />

(CO 2 ) einsparen.<br />

Entwickelt und gebaut hat die gelben<br />

Leisetreter aber nicht ein etablierter Autohersteller<br />

– von denen holte sich die Post<br />

2009 etliche Absagen –, sondern die<br />

Streetscooter GmbH und Institute der<br />

Rheinisch-Westfälischen Technischen<br />

Hochschule (RWTH) in Aachen.<br />

Die sauberen Lieferfahrzeuge sind ein<br />

anschauliches Beispiel für die Leistungsstärke<br />

der deutschen Forscher und Entwickler<br />

bei alternativen Antrieben – und einer<br />

der großen Pluspunkte, wenn es um<br />

die Nutzung dieser Zukunftstechnologie<br />

geht. Auch an staatlicher Unterstützung<br />

mangelt es nicht, und die deutschen Autohersteller<br />

und -zulieferer gelten schon<br />

heute als führend. Gute Aussichten die 111<br />

Milliarden Euro Umsatz, den die McKinsey-Berater<br />

2025 für realistisch halten,<br />

auch tatsächlich zu erzielen.<br />

KONKURRENZ FÜR KONZERNE<br />

Der Streetscooter ist ein erster Schritt in<br />

diese Richtung. Er ist mittlerweile solch ein<br />

Erfolg, dass auch die Städteregion Aachen<br />

noch in diesem Jahr ein Dutzend der Elektrowagen<br />

bestellen und im Lieferverkehr<br />

einsetzen will. Überzeugt haben sie die<br />

niedrigen Kosten des 4,60 Meter langen<br />

Fahrzeugs mit einer Reichweite von bis zu<br />

<strong>12</strong>0 Kilometern. So ist der Streetscooter besonders<br />

reparaturfreundlich. Im Lieferverkehr<br />

kommt es schnell zu kleinen Beulen<br />

und Kratzern. Deshalb ist die Karosserie im<br />

Bereich der Türen, Front und des Hecks<br />

modular aufgebaut. Bei Bagatellschäden<br />

lassen sich die Teile so kostengünstig und<br />

schnell reparieren.<br />

Wichtigster Partner für das junge Unternehmen<br />

Streetscooter ist aber weiter die<br />

Post. Der Bonner Konzern verfügt über eine<br />

Flotte von rund 80 000 Fahrzeugen, die<br />

er modernisieren will. Das ehrgeizige Ziel:<br />

Bis 2020 möchte die Post ihre CO 2 -Bilanz<br />

gegenüber 2007 um 30 Prozent verbessern.<br />

Wenn die Streetscooter-Fahrzeuge dazu<br />

entscheidend beitragen können, bedeutet<br />

das auch für das Aachener Unternehmen<br />

so etwas wie einen Ritterschlag.<br />

Einer der Treiber des Projekts ist Achim<br />

Kampker, 40-jähriger Professor für Produktionsmanagement<br />

an der RWTH. Er will<br />

unter anderen beweisen, dass sich kleine<br />

Serien für spezielle Einsatzzwecke, wie etwa<br />

der Lieferwagen für die Post, kostengünstig<br />

in Deutschland entwickeln und fertigen<br />

lassen. Mehr als 60 Mitarbeiter umfasst<br />

die Streetscooter GmbH mittlerweile –<br />

und wächst weiter.<br />

Die kleine Firma rüttelt damit auch an<br />

den großindustriellen Strukturen der Autoindustrie,<br />

die mit mehr als zwei Billionen<br />

Dollar Gesamtumsatz jährlich zu den<br />

größten Branchen weltweit zählt.<br />

juergen.rees@wiwo.de<br />

Mobiles Internet<br />

Gefangen in der<br />

Warteschleife<br />

Wer hätte gedacht, dass penetrante Fantasiefiguren<br />

wie Crazy Frog oder der Hase<br />

Schnuffel einmal so wichtig für den Standort<br />

Deutschland würden? Mit diesen und<br />

anderen Figuren warben vor rund zehn<br />

Jahren die Brüder Oliver, Marc und Alexander<br />

Samwer im Fernsehen für die Handyklingeltöne<br />

ihrer Firma Jamba. Das Trio<br />

gab damals mehr Geld für TV-Spots aus als<br />

der Fast-Food-Riese McDonald’s – eine Investition,<br />

die sich auszahlte: Die Gründer<br />

verkauften den Klingeltonanbieter für 273<br />

Millionen Dollar an den US-Kommunikationskonzern<br />

Verisign.<br />

Das Geschäft verschaffte ihnen die nötigen<br />

Mittel, um ihr Internet-Imperium aus<br />

dem Boden zu stampfen. Ihre Firmenschmiede<br />

Rocket Internet ist heute ein<br />

Zentrum der Berliner Gründerszene. Die<br />

Gebrüder schicken immer wieder neue<br />

Online-Firmen wie den Modehändler Zalando<br />

an den Start, dessen Kollektionen<br />

Kunden zunehmend auch mobil ansteuern.<br />

Andere Unternehmen setzen gleich<br />

ganz auf das mobile Internet. Payleven<br />

etwa macht Handys zu Kreditkartenlesern.<br />

Vor allem aber ist Rocket die inoffizielle<br />

deutsche Gründeruni. Dutzende ehemalige<br />

Mitarbeiter der Talentschmiede haben<br />

eigene Start-ups gegründet. Einer der er-»<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 67<br />

© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.


Technik&Wissen<br />

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folgreichsten hat sein Handwerk sogar<br />

noch bei Jamba gelernt. Sieben Jahre war<br />

Jens Begemann bei der Klingeltonfirma,<br />

2009 gründete er dann Wooga. Heute ist<br />

das Unternehmen mit 250 Mitarbeiter einer<br />

der führenden Entwickler von Computerspielen<br />

für Smartphones und Tablets.<br />

ZAUDERER UND ZÖGERER<br />

Die dynamische Gründerszene ist laut<br />

McKinsey ein deutscher Trumpf im Bereich<br />

mobiles Internet. Allerdings ist die<br />

Vielfalt an Start-ups auch die einzige deutsche<br />

Stärke, an global führenden Großunternehmen<br />

oder Mittelständlern mangelt<br />

es dagegen. Auch bei den Aktivitäten von<br />

Forschungseinrichtungen und staatlicher<br />

Förderung gibt es Nachholbedarf.<br />

Die Berater bescheinigen dem Standort<br />

Deutschland daher eine geringe Wettbewerbsfähigkeit.<br />

Ein wesentlicher Grund:<br />

Datenschutzbedenken und rechtliche Beschränkungen;<br />

das mobile Internet werde<br />

daher nur langsam eingeführt. Zudem gebe<br />

es keine eigene Technologiehoheit.<br />

Dazu passend haftet selbst den erfolgreichsten<br />

deutschen Gründern das Image<br />

eines Klon-Kriegers an. Die Samwers sind<br />

dafür berüchtigt, erfolgreiche Geschäftsmodelle<br />

aus den USA zu kopieren.<br />

Letztlich ist die Zahl global erfolgreicher<br />

Start-ups aus Deutschland begrenzt. Zu<br />

den international relevanten Entwicklern<br />

von Smartphone-Apps gehören etwa Eye-<br />

Em, Konkurrent der Bilderplattform Instagram,<br />

oder 6Wunderkinder mit ihren<br />

To-do-Listen Wunderlist. Erst kürzlich<br />

benannten die Macher von iLiga ihre beliebte<br />

Fußball-App in Onefootball um. Damit<br />

wollen sie jenseits von Deutschland<br />

noch erfolgreicher werden – schon jetzt<br />

stammen 80 Prozent des Wachstums aus<br />

dem Ausland.<br />

Zwar wächst allmählich das Interesse<br />

ausländischer Investoren und Konkurrenten<br />

an den hiesigen Unternehmen. So gab<br />

es in diesem Jahr schon einige Finanzierungsrunden<br />

in zweistelliger Millionenhöhe.<br />

Doch der große Exit eines deutschen<br />

Start-ups mit einer milliardenschweren<br />

Bewertung lässt noch auf sich warten.<br />

Vorläufige Höhepunkte sind Übernahmen<br />

wie der Kauf von Skobbler, einem Berliner<br />

Entwickler von Karten- und Navigations-Apps<br />

für fast 24 Millionen Dollar durch<br />

einen US-Konkurrenten. Umgekehrt<br />

scheint kein deutscher Anbieter das Zeug<br />

dazu zu haben, durch Zukäufe zu einem<br />

globalen Marktführer aufzusteigen.<br />

oliver.voss@wiwo.de<br />

WETTBEWERB | INTERVIEW Reimund Neugebauer<br />

»Endlich loslaufen«<br />

Der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft über die Lehren aus der<br />

NSA-Affäre – und warum er ein europäisches Google fordert.<br />

Herr Neugebauer, Kanzlerin Angela<br />

Merkel hat jüngst gewarnt, Deutschland<br />

könne in Sachen Innovation den Anschluss<br />

verlieren. Ist die Lage so dramatisch?<br />

Wenn es so schlimm wäre, würden uns<br />

nicht immer wieder Politiker aus dem Ausland<br />

besuchen. Sie wollen jedes Mal wissen,<br />

warum Wissenschaft und Wirtschaft<br />

in unserem Innovationssystem so erfolgreich<br />

zusammenarbeiten. Erst kürzlich waren<br />

die US-Wirtschaftsministerin Penny<br />

Pritzker und die südkoreanische Präsidentin<br />

Park Geun-hye bei uns. Die französische<br />

Regierung hat Vertreter des Bundesforschungsministeriums<br />

und von Fraunhofer<br />

eingeladen, weil sie etwas Ähnliches<br />

wie die High-Tech-Strategie des Bundes<br />

einführen will. Das zeigt: Unser methodisches<br />

Vorgehen ist sehr gut.<br />

Wir brauchen uns also nicht zu sorgen?<br />

Wir sind im internationalen Vergleich sehr<br />

leistungsfähig. Das belegt auch die Statistik:<br />

Unser Anteil forschungsintensiver Waren<br />

am Weltmarkt ist, bezogen<br />

auf die Bevölkerungsgröße, der<br />

höchste der Welt. Wir liegen hier<br />

vor Japan, den USA und China.<br />

Bei wissensintensiven Diensten<br />

und bezogen auf absolute Umsätze<br />

sieht das Bild anders aus<br />

(siehe Grafik). Haben wir bereits<br />

an Innovationskraft verloren?<br />

Audio<br />

In unserer App-<br />

<strong>Ausgabe</strong> können<br />

Sie hier Reimund<br />

Neugebauer im<br />

Original hören<br />

DER UMFORMER<br />

Neugebauer, 60, leitet seit 20<strong>12</strong> die<br />

Fraunhofer-Gesellschaft, die mit einem Etat<br />

von rund zwei Milliarden Euro und 23 000<br />

Mitarbeitern Europas größte Organisation<br />

für anwendungsnahe Forschung ist. Neugebauer<br />

hat davor das Fraunhofer-Institut<br />

für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik<br />

in Chemnitz geleitet.<br />

Moment, ich habe über das methodische<br />

Vorgehen gesprochen, wie wir Innovationen<br />

erzeugen. Der andere Aspekt ist, in<br />

welchen Branchen sie entstehen. In klassischen<br />

Branchen wie Maschinenbau, Autound<br />

Chemieindustrie sind wir nach wie vor<br />

weit vorne. Anders sieht es in der Informationstechnik<br />

(IT) und der Biotechnik aus,<br />

dort haben wir Nachholbedarf.<br />

Wir können aber nicht nur <strong>vom</strong> Alten<br />

leben. Bei Zukunftsthemen, etwa Big Data,<br />

der Analyse riesiger Datenmengen, hat uns<br />

Google abgehängt. Nun investiert<br />

der Konzern in alltagstaugliche<br />

Roboter, in Heizungssteuerungen<br />

oder automatisches Fahren und<br />

wird bald viele Dienste um diese<br />

Produkte herum anbieten. Verschlafen<br />

wir diese Entwicklung?<br />

Sie haben recht, die Internet-<br />

Konzerne drängen mit Macht in<br />

FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/SCHMIDT<br />

68 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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»IT-Sicherheit<br />

wird<br />

zum Die Zukunf Wettbewerbsvorteil«<br />

der Industrie<br />

Richtung Produkte, dort wo unsere Stärke<br />

liegt. Aber wir stehen nicht mit leeren Händen<br />

da. Auch wir rüsten Autos und Maschinen<br />

mit Intelligenz aus. Jetzt kommt es darauf<br />

an, schnell zu lernen, unseren Vorsprung<br />

bei den Produkten für die Entwicklung<br />

neuer Geschäfte zu nutzen. Es gilt,<br />

endlich loszulaufen – und zwar mit Wucht.<br />

Wer die Daten von Handys und künftig von<br />

Servicerobotern besitzt, kennt das Verhalten<br />

der Kunden sehr genau und kann ihnen<br />

maßgeschneiderte Angebote machen. Sind<br />

wir nicht zu ingenieurgetrieben, statt an<br />

den Kunden zu denken?<br />

Wenn das zuträfe, wären wir weder Exportweltmeister,<br />

noch besäßen wir unter unseren<br />

Mittelständlern so viele Weltmarktführer.<br />

Die wissen insbesondere bei Investitionsgütern<br />

sehr genau, was der Markt verlangt.<br />

Und sie haben ein feines Gespür dafür,<br />

wann es sich lohnt, ins Risiko zu gehen.<br />

Warum halten sie sich dann in der<br />

digitalen Welt so zurück?<br />

Vielen fehlt das Vertrauen in die Netze.<br />

Schauen Sie sich einmal an, wie viele Attacken<br />

es im Cyberraum gegen Firmen gibt.<br />

Bots, also Schadprogramme, die sich still<br />

und heimlich auf den PC schleichen und<br />

diesen fernsteuern, können im Internet gebucht<br />

werden. Jeder vernünftige Manager<br />

überlegt da zwei Mal, wie viel Risiko er verantworten<br />

kann – Geschäft hin oder her.<br />

Können die Unternehmen das nötige Maß<br />

an Datensicherheit selbst hinbekommen,<br />

oder muss die Regierung eingreifen?<br />

Es geht nicht ohne die Politik – und es bewegt<br />

sich etwas. Das Forschungsministerium<br />

hat zwei Sicherheitszentren gegründet<br />

und zusätzlich vor Kurzem mit uns und<br />

dem Innenministerium eine Arbeitsgruppe<br />

zur Internet-Sicherheit gebildet. Seit<br />

dem NSA-Skandal hat die Regierung erkannt,<br />

dass ihr das Thema Wirtschaftsspionage<br />

nicht gleichgültig sein kann.<br />

Wir bilden Arbeitsgruppen, derweil<br />

schaffen Amazon, Google und Facebook<br />

Fakten. Sie greifen Daten ab, wo es nur<br />

geht – in Zukunft die wichtigste Währung.<br />

Deshalb brauchen wir für Europa eine Alternative<br />

zu Google. Das ist die einzige<br />

Chance, die Kontrolle zurückzugewinnen.<br />

Wir würden uns freuen, im Auftrag des<br />

Bundes gemeinsam mit Industriepartnern<br />

ein solches Datennetz aufzubauen.<br />

Wie stehen die Chancen dafür?<br />

Die Diskussion darüber läuft. Ich sage<br />

aber: Jeder Monat, den wir weiter warten,<br />

ist einer zu viel. Denn wer über die Daten<br />

herrscht, besitzt einen unschätzbaren Vorsprung.<br />

Europa braucht dringend mehr eigene<br />

Kompetenz in allen relevanten Internet-Technologien<br />

– ob bei Big Data oder<br />

der Nutzung von Software und Speicherplatz<br />

in der Datenwolke, der Cloud.<br />

Und Sie trauen Europa die Aufholjagd zu?<br />

Fachleute und Wissen haben wir. Daher<br />

bin ich zuversichtlich, dass wir das Problem<br />

der Datensicherheit lösen werden. Es<br />

ist schlicht zu wichtig, um daran zu scheitern.<br />

Umgekehrt gilt: Gelingt es etwa Maschinenbauern,<br />

ihre Anlagen gegen Angriffe<br />

abzuschirmen, verschafft ihnen das einen<br />

unschätzbaren Wettbewerbsvorteil.<br />

Schließlich wird künftig fast jede Maschine<br />

und jedes Gerät vernetzt sein.<br />

Welche Bereiche haben noch das Zeug,<br />

die Wirtschaft grundlegend zu verändern?<br />

Dazu zählt sicher die Biotechnik. Da haben<br />

wir Stärken, etwa wenn es um das Zusammenspiel<br />

mit der klassischen Produktionstechnik<br />

geht. Ein einfaches Beispiel: Viele<br />

Metall verarbeitende Betriebe kühlen ihre<br />

Maschinen mit speziellen Flüssigkeiten. In<br />

denen reichern sich giftige Schwermetalle<br />

an, die sich nur schwer herausholen lassen.<br />

Ein neues Verfahren nutzt Sulfat reduzierende<br />

Mikroorganismen. Sie binden die<br />

Schwermetalle und lassen sich anschließend<br />

auswaschen und entsorgen. Dass<br />

Biotechniker mit Metallverarbeitern reden,<br />

war vor zehn Jahren noch undenkbar. Und<br />

auch bei Biowerkstoffen aus nachwachsenden<br />

Rohstoffen spielen wir vorne mit.<br />

Weniger rosig sieht es bei der Anwendung<br />

der Gentechnik aus.<br />

Damit gehen wir Deutsche sicher sensibler<br />

um als andere Länder. Ich verstehe die<br />

Skepsis. Wir sollten aber nicht die Möglichkeiten<br />

aus den Augen verlieren, die etwa<br />

die personalisierte Medizin bietet. Zum<br />

Beispiel können Ärzte anhand einer Erbgutanalyse<br />

klären, welche Medikamente<br />

einen Patienten am besten heilen können.<br />

Wo erwarten Sie ähnliche Fortschritte?<br />

Sicherlich in der Materialforschung. Da haben<br />

wir es etwa geschafft, piezoelektrische<br />

Fasern großserientauglich zu machen. Mit<br />

ihrer Hilfe wird es möglich, weit dünnere<br />

Bleche als heute in Autokarossen einzubauen.<br />

Beginnt das Blech zu schwingen,<br />

merken die Fasern das und dämpfen die<br />

Schwingung ab. So bleibt das Blech stabil,<br />

und der Spritverbrauch sinkt, weil die Karosserieteile<br />

leichter sein können.<br />

Und die erneuerbaren Energien, haben<br />

Sie die abgeschrieben?<br />

Keineswegs. Wir brauchen die Erneuerbaren<br />

allein schon aus dem Grund, weil die<br />

fossilen Rohstoffe irgendwann zu Ende gehen.<br />

Doch derzeit sind vor allem die USA<br />

mit ihrer Fracking-Förderung von Öl und<br />

Gas dabei – ohne Rücksicht auf die Umwelt<br />

zu nehmen –, unsere Industrie mit niedrigen<br />

Energiepreisen im Wettbewerb zu benachteiligen.<br />

Deshalb müssen wir uns Alternativen<br />

überlegen. Langfristig können<br />

wir auf die Erneuerbaren nicht verzichten.<br />

Woran denken Sie konkret?<br />

Wir haben zum Beispiel hervorragende<br />

Verfahren, um die heimische Braunkohle<br />

zu verwerten, mit einem Wirkungsgrad,<br />

der sich sehen lassen kann. Das sollten<br />

wir mit in die Waagschale werfen, um<br />

Durststrecken mit international deutlich<br />

niedrigeren Energiepreisen als bei uns<br />

zu überbrücken.<br />

n<br />

lothar.kuhn@wiwo.de, dieter dürand<br />

Im Modernisierungsstau<br />

Deutschlandist stark beider Weiterentwicklungvon Produkten - beiSpitzentechnologien und<br />

wissensintensiven Dienstleistungen hingegen liegen teilsunsere härtesten Konkurrenten vorn*<br />

1,7 2,9<br />

USA<br />

33,4<br />

1,7 2,2<br />

33,3<br />

Großbritannien<br />

8,1<br />

hochwertige<br />

Technologie<br />

2,5<br />

23,9<br />

Deutschland<br />

Spitzentechnologie<br />

6,2 7,3<br />

Südkorea<br />

* Anteile an der Wertschöpfung in Prozent; Quelle: Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI)<br />

20<br />

wissensintensive<br />

Dienstleistungen<br />

4,9 3,3<br />

19,5<br />

Japan<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 69<br />

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Management&Erfolg<br />

Einen Schlag mehr<br />

MITARBEITERBETEILIGUNG | Mehr Engagement, höhere Rendite: warum es sich für<br />

Arbeitgeber lohnt, ihre Angestellten am Kapital des Unternehmens zu beteiligen.<br />

Hochwertige Badmöbel, ebenerdig<br />

begehbare Dusche, große<br />

Fliesen: Das Bad von Gunther<br />

Lang kann sich sehen lassen.<br />

Ein paar Tausend Euro hat<br />

es wohl gekostet – finanziert hat es die Allianz.<br />

Aber nicht, weil ein Rohbruch die Versicherung<br />

zum Einspringen zwang, sondern<br />

weil der Bauherr clever investiert hat: Lang<br />

leitet bei der Allianz nicht nur einen IT-Bereich,<br />

er ist über Aktien auch an seinem Arbeitgeber<br />

beteiligt.<br />

20 Prozent Rabatt bekommen Allianz-Angestellte<br />

in Deutschland, wenn sie Geld in<br />

Belegschaftsaktien stecken. „Ein sehr attraktives<br />

Investment“, sagt Wirtschaftsinformatiker<br />

Lang, der seit 2002 regelmäßig Anteile<br />

kaufte. Um möglichst viel Eigenkapital in<br />

seinen Hausbau stecken zu können, trennte<br />

er sich 2010 von einem Viertel seiner Aktien<br />

– etwa im Wert seiner Bad-Ausstattung. Den<br />

Rest will der 46-Jährige fürs Alter aufheben.<br />

Wie Lang profitieren in Deutschland<br />

32 000 Allianz-Mitarbeiter <strong>vom</strong> Aktienprogramm<br />

des Dax-Konzerns. Aber auch der<br />

Arbeitgeber bietet solche Vergünstigungen,<br />

die jährlich mehrere Millionen Euro kosten,<br />

nicht aus reinem Gutmenschentum an.<br />

„Die Belegschaftsaktionäre sehen das Unternehmen<br />

nicht nur mit den Augen des<br />

Mitarbeiters, sondern auch mit denen des<br />

Eigentümers“, sagt Werner Zedelius, Personalvorstand<br />

in der Holding des Versicherers.<br />

„Das erhöht die Identifikation.“<br />

Ein Gefühl, das Lang bestätigt. „Bei<br />

schlechten Zahlen leide ich mit, bei guten<br />

Ergebnissen freue ich mich umso mehr.“<br />

So profitieren beide Seiten: Lang von den<br />

finanziellen Vorteilen, Zedelius von einer<br />

engagierten Truppe.<br />

Vom Arbeiter zum Aktionär<br />

Was Unternehmen durch aktienbasierte<br />

Mitarbeiterbeteiligung erreichen (in Prozent)<br />

Aktionärsstruktur stabilisieren<br />

69<br />

Identifikation mit dem Arbeitgeber erhöhen<br />

66<br />

Mehr Engagement bei der Arbeit<br />

60<br />

Anforderungen guter Unternehmensführung einhalten<br />

44<br />

Mitarbeiter für die eigene Strategie gewinnen<br />

41<br />

Mitarbeiter binden<br />

41<br />

Marktübliches Vergütungspaket anbieten<br />

39<br />

Quelle: Geo Global Equity Insights <strong>2014</strong><br />

Diese Aussicht auf doppelte Rendite<br />

durch Mitarbeiterbeteiligung war in<br />

Deutschland einige Jahre ignoriert worden.<br />

Denn im Zuge der geplatzten Börsenblase<br />

und der Pleiten zahlreicher New-Economy-<br />

Unternehmen rauschten die Kurse in den<br />

Keller. Und auch die Belegschaftsaktien –<br />

1998 noch bei etwa 1,7 Millionen Arbeitnehmern<br />

Teil der Geldanlage – waren so erst in<br />

Verruf und dann in Vergessenheit geraten.<br />

Von Verlusten enttäuscht, wandten sich viele<br />

Deutsche von der volatilen Anlage ab. Einige,<br />

wie Mitarbeiter des US-Telekommunikationsriesen<br />

Worldcom, traf es besonders<br />

hart: Das in einen Betrugsskandal verwickelte<br />

Unternehmen meldete Insolvenz an,<br />

die Mitarbeiter verloren ihre Einlagen.<br />

Seit einigen Jahren erlebt die Mitarbeiterbeteiligung<br />

eine Renaissance: Wie die Allianz<br />

setzen laut Bundesverband Mitarbeiterbeteiligung<br />

deutschlandweit inzwischen<br />

rund 4500 Unternehmen auf die positiven<br />

Effekte des Finanzinstruments – <strong>vom</strong> traditionsreichen<br />

Familienbetrieb über international<br />

agierende Mittelständler bis hin zum<br />

Dax-Konzern. Der simple Grund: „Teilhabende<br />

Mitarbeiter sind bereit, für ihr Unternehmen<br />

mehr zu leisten“, sagt Michael Kramarsch,<br />

Geschäftsführer der Beratung hkp.<br />

ÖKONOMISCH SINNVOLL<br />

Das belegt auch die Studie Geo Global<br />

Equity Insights <strong>2014</strong>, die der Wirtschafts-<br />

Woche exklusiv vorliegt. Und an der neben<br />

hkp auch die internationale Global Equity<br />

Organization, die über aktienbasierte Vergütung<br />

aufklärt, die Konzerne Siemens und<br />

SAP, die Universität Göttingen und Computershare,<br />

ein australischer Dienstleister für<br />

Mitarbeiterbeteiligungsprogramme, mitgearbeitet<br />

haben. Das Konglomerat befragte<br />

169 Konzerne aus aller Welt zur Ausgestaltung<br />

von und Gründen für ihre Programme.<br />

Das Ergebnis: eine stabilere Aktionärsstruktur,<br />

höhere Identifikation und mehr Engagement<br />

der Mitarbeiter (siehe Grafik links).<br />

Die Folge: Je mehr Mitarbeiter am Aktienprogramm<br />

ihres Arbeitgebers teilnehmen,<br />

desto erfolgreicher ist das Unternehmen.<br />

„Aus ökonomischer Sicht“, sagt BWL-Professor<br />

Michael Wolff von der Uni Göttingen,<br />

„gibt es kaum etwas Sinnvolleres für Unternehmer<br />

und Arbeitnehmer, als Mitarbeiterbeteiligungsprogramme<br />

aufzulegen.“<br />

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der<br />

britische New UK Employee Ownership Index.<br />

Während die börsennotierten Unternehmen<br />

auf der Insel 2013 ihren Wert im<br />

Schnitt um 21 Prozent steigern konnten, legten<br />

Konzerne, die mindestens drei Prozent<br />

ILLUSTRATION: DANIEL STOLLE<br />

70 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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ihres Kapitals in die Hände ihrer Mitarbeiter<br />

gelegt hatten, um mehr als 50 Prozent zu.<br />

Kein Wunder also, dass die Unternehmen<br />

Interesse daran haben, die Zahl ihrer Mitarbeiteraktionäre<br />

zu erhöhen – mit Erfolg:<br />

Laut Deutschem Aktieninstitut ist die Zahl<br />

der Belegschaftsaktionäre, in den vergangenen<br />

fünf Jahren um rund ein Drittel auf 1,2<br />

Millionen angestiegen. Hinzu kommen laut<br />

Bundesverband Mitarbeiterbeteiligung etwa<br />

eine Million, die vor allem als stille Gesellschafter<br />

oder über Genussrechte teilnehmen.<br />

Laut Geo-Studie bieten immerhin<br />

31 Prozent der in Deutschland befragten<br />

Unternehmen eine aktienbasierte Mitarbeiterbeteiligung<br />

an, europaweit sind es 39<br />

Prozent. Am verbreitetsten ist sie traditionell<br />

in Nordamerika – dort sind Aktien wichtiger<br />

Bestandteil der Altersvorsorge.<br />

So auch beim Medienkonzern Discovery<br />

Communications, zu dem TV-Kanäle wie<br />

DMAX oder Animal Planet gehören. Obwohl<br />

das Unternehmen nur 6000 Mitarbeiter hat,<br />

bietet es sein Aktienprogramm in 20 Ländern<br />

von Mexiko bis nach Polen an. „Das ist<br />

für ein so kleines Unternehmen bemerkenswert“,<br />

sagt Wolff. Schließlich ist der Aufwand<br />

enorm – gilt es doch in den verschiedenen<br />

Ländern unterschiedliche Vorschriften für<br />

Aktienhandel und steuerliche Vergünstigungen<br />

einzuhalten (siehe Kasten Seite 72).<br />

Doch das schreckt Ralph Beidelman, bei<br />

Discovery Communications für die Mitarbeiterbeteiligung<br />

zuständig, nicht ab.<br />

Ständig versucht er, weitere Länder ins Programm<br />

aufzunehmen. Auch die 90 deutschen<br />

Mitarbeiter können mitmachen.<br />

Somit spielt die Beteiligung von Arbeitnehmern<br />

auch in den international aus-<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 71<br />

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Management&Erfolg<br />

STAATLICHE FÖRDERUNG<br />

So klappt’s!<br />

Was Unternehmen und<br />

Arbeitnehmer bei der Mitarbeiterbeteiligung<br />

beachten müssen.<br />

Um den Mitarbeitern die Beteiligung<br />

am eigenen Unternehmen schmackhaft<br />

zu machen, geben Arbeitgeber Anteile<br />

meist vergünstigt oder gratis aus.<br />

Dadurch entsteht Arbeitnehmern ein<br />

finanzieller Vorteil, der versteuert und<br />

mit Sozialabgaben belegt werden muss<br />

– zumindest jenseits des Freibetrags<br />

von 360 Euro – im internationalen<br />

Vergleich eine bescheidene Summe:<br />

In Österreich liegt die Grenze bei 1460<br />

Euro, in den Niederlanden bei mehr als<br />

<strong>12</strong>00 Euro.<br />

Gibt es <strong>vom</strong> Arbeitgeber keine Vergünstigung,<br />

der Mitarbeiter wandelt ein<br />

Teil seines Gehalts aber trotzdem in<br />

Anteile oder Aktien um, fallen für diese<br />

Investition bis 360 Euro zwar die<br />

Steuern weg, Sozialabgaben müssen<br />

aber dennoch gezahlt werden.<br />

DREI BEDINGUNGEN<br />

Außerdem wird der Freibetrag nur unter<br />

folgenden Bedingungen gewährt:<br />

n Ob Vollzeit-Festangestellte, geringfügig<br />

Beschäftigte, Teilzeitkräfte<br />

oder Auszubildende: Das Angebot muss<br />

allen Mitarbeitern offenstehen, die<br />

mindestens ein Jahr für den Betrieb<br />

arbeiten.<br />

n Es muss sich um reale Anteile am<br />

Unternehmen handeln. Aktienoptionen<br />

werden nicht begünstigt.<br />

n Unterschiedliche Konditionen für verschiedene<br />

Mitarbeiter sind nur zulässig,<br />

wenn der Arbeitgeber diese sachlich<br />

begründen kann. So kann das Unternehmen<br />

zum Beispiel Vorstände, in<br />

deren Vergütungspaket ohnehin Aktien<br />

enthalten sind, von dem Beteiligungsprogramm<br />

ausschließen.<br />

Ledige Mitarbeiter mit einem Einkommen<br />

von unter 20 000 Euro und Verheiratete<br />

mit weniger als 40 000 Euro<br />

Jahresgehalt können eine Mitarbeitersparzulage<br />

beantragen. Diese zusätzliche<br />

staatliche Förderung beträgt<br />

20 Prozent der Investition, maximal<br />

aber 80 Euro beziehungsweise 160 Euro<br />

pro Jahr.<br />

»Belegschaftsaktionäre sind ein<br />

Erfolgsmotor«<br />

Michael Wolff, Universität Göttingen<br />

»<br />

getragenen War for Talents hinein. Seit<br />

Personalarbeit mehr ist als das Abarbeiten<br />

sich auftürmender Bewerbungsmappen<br />

und Unternehmen sich als attraktive Arbeitgeber<br />

präsentieren müssen, um auf dem<br />

schrumpfenden Bewerbermarkt die Besten<br />

von sich zu überzeugen, setzen sie auf Beteiligungsprogramme<br />

als Köder.<br />

So auch der südbadische Verpackungsproduzent<br />

August Faller. „Bei einer Arbeitslosenquote<br />

von drei Prozent in unserer<br />

Region“, sagt Geschäftsführer Michael Faller,<br />

„wird es immer schwieriger, an qualifizierte<br />

Fachkräfte zu kommen.“ Ein Grund, um<br />

2013 eine Mitarbeiterbeteiligung einzuführen.<br />

Auch in Stellenanzeigen<br />

und Vorstellungsgesprächen will<br />

Faller das Programm zukünftig<br />

als Trumpf einsetzen. Eine Verzinsung<br />

von mindestens vier<br />

Prozent erhalten die stillen Gesellschafter,<br />

sobald das Unternehmen<br />

ein Plus erwirtschaftet.<br />

Thomas Domeyer hat indes erkannt,<br />

dass sich solche Programme<br />

nicht nur auf die Geldbeutel der Arbeitnehmer<br />

auswirken. „Kollegen, die Anteile<br />

halten, arbeiten sorgfältiger und machen einen<br />

Schlag mehr“, sagt der 53-Jährige, der<br />

die Finanzbuchhaltung beim Bauunternehmen<br />

Goldbeck aus Bielefeld leitet und Mitglied<br />

im Partnerschaftsausschuss ist, der die<br />

teilhabenden Mitarbeiter vertritt.<br />

Mittelständler Goldbeck gibt seinen Mitarbeitern<br />

die Möglichkeit, jedes Jahr bis zu<br />

fünf Anteile am Unternehmen zu kaufen –<br />

bezuschusst. Der Zinssatz variiert mit dem<br />

Gewinn – 18 Prozent jährlich erhalten die<br />

stillen Gesellschafter seit 2007. Für Mitarbeiter,<br />

wie Domeyer, die von Anfang an da-<br />

Mehr<br />

Sechs Beteiligungsmodelle<br />

im<br />

Vergleich finden<br />

Sie in unserer<br />

App-<strong>Ausgabe</strong><br />

bei sind, macht das schnell ein Plus von<br />

3500 Euro pro Jahr.<br />

Vor 30 Jahren etablierte das Familienunternehmen<br />

das Modell vor allem, um Liquidität<br />

aufzubauen. Heute sieht der Sohn des<br />

Firmengründers und Geschäftsführer Jörg-<br />

Uwe Goldbeck andere Vorteile: „Die Mitarbeiterbeteiligung<br />

ist Ausdruck unserer Unternehmenskultur,<br />

die von Eigenverantwortung<br />

geprägt ist“, sagt der 46-Jährige. „Jeder<br />

trägt mit seinem Handeln zum Erfolg bei.“<br />

Diese Motivation unterstreicht auch Joe<br />

Kaeser. Das Credo des Siemens-Chefs: „Mitarbeiter<br />

treten den Kunden mit Selbstbewusstsein<br />

und Stolz gegenüber, sie bringen<br />

mehr Ideen ein.“ Weltweit halten<br />

140000 Siemensianer Belegschaftsaktien<br />

– 50 Prozent mehr als<br />

noch vor fünf Jahren. Damit sie ihre<br />

vergünstigten Aktien langfristig<br />

halten, setzt der Konzern auf einen<br />

sogenannten Share-Matching-<br />

Plan. Dabei bekommen Aktionäre<br />

für je drei Papiere, die sie drei Jahre<br />

halten, eine Gratisaktie dazu. „Mitarbeiter“,<br />

sagt der Siemens-Chef, „haben<br />

durch ihren Arbeitsplatz ein natürliches<br />

Interesse an nachhaltigem Erfolg.“<br />

An eine Mehrheit bei Hauptversammlungen<br />

sei zwar nicht zu denken, so Vergütungsexperte<br />

Kramarsch. „Aber in kritischen<br />

Situationen, etwa einer feindlichen<br />

Übernahme, könnten die Belegschaftsaktionäre<br />

das Zünglein an der Waage sein.“<br />

Oder Interessenten direkt abschrecken.<br />

„Ein hoher Anteil an Belegschaftsaktionären“,<br />

sagt BWL-Professor Wolff, „ist nicht<br />

nur Erfolgsmotor, sondern auch der beste<br />

Schutz vor feindlichen Übernahmen.“ n<br />

kristin.schmidt@wiwo.de<br />

ILLUSTRATION: DANIEL STOLLE<br />

72 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Management&Erfolg<br />

SPRENGERS SPITZEN<br />

Blutleer und selbstgerecht<br />

Warum wir den strapazierten Begriff der Wertschätzung neu interpretieren müssen.<br />

Wie heißt die heilige Kuh der<br />

Mitarbeiterführung? Genau:<br />

Wertschätzung. In welche<br />

Führungsleitlinie man auch<br />

schaut, mit welchem Personalmanager,<br />

welchem Betriebsrat man auch spricht:<br />

Dieser Begriff fehlt nie. Mal wird der<br />

„wertschätzende Umgang“ gefordert,<br />

mal gar eine „Kultur der Wertschätzung“<br />

oder die sprachspielerische „Wertschöpfung<br />

durch Wertschätzung“.<br />

Wer etwas prosaischer veranlagt ist,<br />

mag sich mitunter fragen: Verdankt sich<br />

die Konjunktur des Begriffs seiner mangelnden<br />

Kontur? Ist er ein gedankenloses<br />

Passepartout für allgemein Wünschbares?<br />

Oder fehlt es insgesamt an Wertschätzung,<br />

wie die aktuellen Verkaufszahlen<br />

der Chefbeschimpfungsbücher<br />

nahelegen? Es muss ja eine Gesellschaft<br />

der Nicht-Wertgeschätzten sein, die mit<br />

diesem Begriff kollektive Sehnsüchte<br />

sammelt.<br />

Aber, im Ernst, wollen wir wirklich alles<br />

ernst nehmen, nur um der Forderung<br />

nach Wertschätzung zu genügen? Und<br />

um welchen Wert handelt es sich eigentlich,<br />

der da im Unternehmen, unter Vorgesetzen<br />

und Mitarbeitern geschätzt<br />

werden soll?<br />

Verstehen wir soziale Beziehungen in<br />

diesem Kontext als Leistungs-Partnerschaften,<br />

dann schätzen wir eine konkrete<br />

Person, wenn sie ihre Rolle oder Aufgabe<br />

gut ausführt. Wir schätzen den Verkäufer, wenn er gut Umsätze<br />

bringt; den Produktentwickler, wenn ihm ein marktfähiges Produkt<br />

gelingt. Geschätzt wird also Leistung, konkretes Handeln,<br />

Vernunftfähigkeit, Erfolg, das Verhältnis von Geben und Nehmen.<br />

NICHT EINKLAGBAR<br />

Und das ist auch die traditionelle Bedeutung der Wertschätzung:<br />

Sie kommt ursprünglich aus der Ökonomie und wandert erst im<br />

18. Jahrhundert in die Moralphilosophie ein. Sie basiert auf einem<br />

Tausch: Wertschätzung gegen Leistung. Fällt die Leistung weg, fällt<br />

auch die Wertschätzung weg. Dann wird der Wert dessen, was da<br />

angeboten wird, gering geschätzt. Und genau das passiert ja auch<br />

im Unternehmen: Unser Wert wird permanent geschätzt, abgewogen,<br />

beurteilt.<br />

Reinhard Sprenger, 60, Ex-Manager bei 3M<br />

und Adecco, zählt zu den renommiertesten<br />

deutschsprachigen Managementautoren.<br />

»Was ist gewonnen,<br />

wenn wir jemanden<br />

ausnahmslos<br />

so sehen, wie er sich<br />

selbst sieht?«<br />

Ist Wertschätzung aber der Preis in einem<br />

Tauschgeschäft, muss man um diesen<br />

Preis kämpfen. Wertschätzung ist eine<br />

Preis-Verleihung. Man kann sich praktisch<br />

eben nicht wertschätzend verhalten,<br />

ohne dass da ein Wert ist, der von Beobachtern<br />

auf Märkten unterschiedlich geschätzt<br />

wird. Ja, ohne Leistung gibt es keinen<br />

Wert; aber ohne Schätzung eben<br />

auch nicht. Das ist der Kern: Wertschätzung<br />

ist nicht einklagbar.<br />

PASSEN WIR ZUSAMMEN?<br />

Vor diesem Hintergrund läuft die Forderung<br />

nach wertschätzendem Umgang darauf<br />

hinaus, auf die Bewertung des Leistungsbeitrags<br />

eines Mitarbeiters zu verzichten<br />

– sie gleichsam vorbehaltlos anzuerkennen.<br />

Aber kann Zusammenarbeit<br />

enttäuschungsfrei sein? Was ist gewonnen,<br />

wenn wir jemanden ausnahmslos so<br />

sehen, wie er selbst sich sieht?<br />

Das bedeutet auch: Wenn ich mich<br />

nicht wertgeschätzt fühle, habe ich mindestens<br />

eine wertvolle Information – dass<br />

nämlich der Wert meiner Arbeit an dieser<br />

Stelle nicht geschätzt wird und meine Sozialchancen<br />

auf diesem Spielfeld eher gering<br />

sind. Mein selbst definierter Eigen-<br />

Wert ist dann höher als der Wert, den ein<br />

anderer mir zubilligt. Offenbar fürchtet<br />

der andere nicht, dass ich meine Leistungsbemühungen<br />

mangels Wertschätzung<br />

einstelle oder anderweitig anbiete –<br />

weil er ohnehin darauf verzichten kann.<br />

Das heißt: In einer modernen, pluralistischen Gesellschaft, die<br />

von Subjektivität und Individualität, mithin <strong>vom</strong> Wertkonflikt geprägt<br />

ist, sollten wir die Wertschätzung nicht verstehen als mechanische<br />

Anerkennung dessen, was ist. Nicht als blutleere Selbstgerechtigkeit.<br />

Wir sollten Wertschätzung vielmehr verstehen als Beginn<br />

eines Gesprächs, als Auseinandersetzung um den richtigen<br />

Weg, das Verhandeln unterschiedlicher Erwartungen und unterschiedlicher<br />

Maßstäbe.<br />

Denn das ist doch die entscheidende Frage: Passen wir zusammen?<br />

Oder passen wir nicht zusammen? Und diese ernsthafte<br />

Auseinandersetzung um die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft<br />

darf nicht durch die imperative Forderung nach Wertschätzung<br />

zugekleistert werden.<br />

n<br />

FOTO: LITERATURTEST/SABINE FELBER<br />

74 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

Die Lunte<br />

glimmt weiter<br />

SPEZIAL | AKTIEN Die Risiken an den Börsen nehmen zu,<br />

der Dax droht nach unten abzudrehen. Wie Anleger jetzt<br />

ihr Depot sinnvoll vor Rückschlägen absichern.<br />

Die Überraschung ist Wladimir<br />

Putin gelungen: Am Mittwoch<br />

verkündete der russische Präsident,<br />

die ihm wohlgesinnten<br />

Aufständischen in der Ukraine<br />

sollten die Abspaltung des Ostens nicht<br />

weiter vorantreiben; das dafür am 11. Mai<br />

geplante Referendum solle „verschoben“<br />

werden, meint Putin. Politiker in Washington,<br />

Brüssel und vor allem in Kiew reagierten<br />

zurückhaltend; sie trauen dem Braten<br />

noch nicht: echtes Entspannungssignal<br />

oder neuerliche Finte? An der Börse aber<br />

zündete Putins Rede sofort:Seit Tagen hatten<br />

Nachrichten über bürgerkriegsartige<br />

Zustände in der Ukraine den Dax gedrückt;<br />

nun hievte Putin ihn ins Plus.<br />

Vorerst. Die Lage kann jederzeit wieder<br />

eskalieren. Und die politische Nervosität<br />

überträgt sich auf die Anleger. Deutliches<br />

Zeichen dafür ist die Heftigkeit der Kursschwankungen.<br />

Auch charttechnisch gerät<br />

der Dax in unruhigere Gefilde: Der seit<br />

2009 bestehende Aufwärtstrend verliert an<br />

Schwung; die Rückschläge einzelner Aktien<br />

werden gravierender, Zahl und Dynamik<br />

der steigenden Papiere sinkt. Der Dax,<br />

den viele Kommentatoren zur Jahreswende<br />

schon bald jenseits der 10 000 Punkte-<br />

Marke gesehen hatten, hat sich festgelaufen<br />

(siehe Analyse Seite 78), die Anleger<br />

richten den Blick wieder nach unten.<br />

„Viele unserer Kunden meinen, dass die<br />

Hausse jetzt mal eine Pause bräuchte; entsprechend<br />

zögerlich sind sie mit Neukäufen“,<br />

beobachtet Dieter Helmle, Vorstand<br />

von Capitell Vermögens-Management in<br />

Frankfurt. Die Hausse läuft seit März 2009,<br />

geht also in ihr sechstes Jahr. Viele Aktien<br />

sind inzwischen nicht mehr günstig. Die<br />

Vorstände börsennotierter Konzerne sehen<br />

das ähnlich und haben in den letzten<br />

Wochen so viele Aktien ihrer eigenen Firmen<br />

verkauft, wie seit Langem nicht. Diese<br />

sogenannten Insiderverkäufe gelten als guter<br />

Indikator, denn Insider sehen Risiken<br />

oft früher als weniger gut informierte<br />

Marktteilnehmer.<br />

Einiges spricht also dafür, jetzt zumindest<br />

einen Teil seiner Aktien zu verkaufen.<br />

Das Problem: Langfristig gibt es noch mehr<br />

gute Gründe, Aktien zu haben. „Halbwegs<br />

ausfallsichere Anleihen und Tagesgeldkonten<br />

dürften noch auf Jahre hinaus nach<br />

Abzug der Inflation Verlust bringen“, meint<br />

Ralf Zimmermann, Anlagestratege der<br />

Lampe-Bank. Viele Anleger haben auch<br />

noch Aktien aus der Zeit vor 2009, bei denen<br />

abgeltungsteuerfreie Gewinne aufgelaufen<br />

sind. Im Falle eines Verkaufs und<br />

späteren Rückkaufs wäre die Steuerfreiheit<br />

weiterer Gewinne unwiederbringlich verloren.<br />

Nicht zuletzt ist das Timing-Talent,<br />

Aktien rechtzeitig vor einem Einbruch zu<br />

verkaufen und danach günstig zurückzuholen,<br />

nur den wenigsten Anlegern beschert.<br />

Aber es gibt einen dritten Weg:<br />

Aktiendepots lassen sich mit überschaubarem<br />

Aufwand wirksam gegen drohende<br />

Verluste absichern.<br />

»<br />

FOTO: ACTION PRESS/ZUMA PRESS<br />

15.04.<strong>2014</strong> +++ Ukraine: Lage eskaliert; Kiew sendet Truppen in den<br />

76 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Blockade<br />

Der Einsatz der Armee in der<br />

Ostukraine bremst weltweit<br />

die Aktienkurse<br />

Osten +++ Dax –1,5 % +++ Dax-Put +14,8 % +++ Depot –0,02% +++<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 77<br />

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Geld&Börse<br />

+++ 07.<strong>05</strong>.<strong>2014</strong> +++ US-Notenbank-Chefin Yellen sieht US-Konjunktur optimistisch, Putin brem<br />

land ist der drittwichtigste Handelspartner<br />

der EU, mit einem Anteil von 7,2 Prozent<br />

am Außenhandel. Kursrückgänge von Unternehmen<br />

mit starkem Russlandgeschäft<br />

„sind ein Klacks gegen das, was droht,<br />

wenn es zu drastischen Sanktionen oder zu<br />

einer Spirale aus Sanktionen und Gegensanktionen<br />

mit Russland kommt“, sagt Michael<br />

A. Gayed, Chefanleger des Fondshauses<br />

Pension Partners in New York.<br />

Moskau dürfte auf schärfere Sanktionen<br />

mit Gaslieferstopps reagieren. Die Gaspreise<br />

in Westeuropa würden steigen, die DZ<br />

Bank schätzt: um bis zu 20 Prozent. Ein<br />

russischer Gaslieferstopp und scharfe<br />

Sanktionen der EU könnten die deutsche<br />

Wirtschaft nächstes Jahr mehr als einen<br />

Prozentpunkt Wachstum kosten, schätzt<br />

Stefan Bielmeier, Analyse-Chef der DZ<br />

Bank. „Statt um rund 2,7 Prozent würde<br />

das deutsche Bruttoinlandsprodukt, BIP,<br />

dann 2015 nur noch um 1,5 Prozent wachsen“,<br />

meint Bielmeier. Die japanische Nomura<br />

schätzt den Schaden für Europas<br />

Konjunktur auf 0,7 Prozentpunkte Wachstumseinbuße.<br />

SORGE UM CHINA<br />

Auch ohne Eskalation in der Ukraine drohen<br />

Rückschläge. Sorgen bereitet vor allem<br />

China. Gayed fürchtet, dass dort der Immobilienboom<br />

seinen Zenit überschritten<br />

hat. „Das chinesische Wirtschaftswunder<br />

beruhte zuletzt stark auf einer Ausweitung<br />

der Kreditvergabe, die meisten Kredite<br />

flossen in Immobilienprojekte“, sagt er,<br />

„der Anteil des Wohnungsbaus an der Gesamtwirtschaftsleistung<br />

lag Ende 20<strong>12</strong> mit<br />

Verluste drohen vor allem bei einer Zuspitzung<br />

der Ukraine-Krise. Die ließ die<br />

Börsen bisher, von kurzen, heftigen Rücksetzern<br />

abgesehen, weitgehend kalt. Nur<br />

wenige deutsche Unternehmen hängen so<br />

stark am Exportgeschäfts mit Russland wie<br />

der Pharmakonzern Stada (20 Prozent des<br />

Konzern-Umsatzes), die Handelskette Metro<br />

oder Chemiekonzern BASF, bei dem<br />

rund 14 Prozent der Exporte nach Russland<br />

gehen. Doch nur auf direkte Einbußen<br />

zu schauen greift womöglich zu kurz.<br />

Eine Eskalation – Bürgerkrieg oder gar Einmarsch<br />

russischer Truppen in den Osten<br />

der Ukraine – hätte böse Folgen für die europäische<br />

Konjunktur.<br />

Die beginnt zaghaft, sich von der Euro-<br />

Krise zu erholen. Irland, Griechenland und<br />

Portugal konnten wieder Staatsanleihen<br />

verkaufen. Der Internationale Währungsfonds<br />

(IWF) geht davon aus, dass die Euro-<br />

Zone nach zwei Jahren in der Rezession<br />

<strong>2014</strong> wieder um etwas mehr als ein Prozent<br />

wachsen wird; in Portugal und Spanien gebe<br />

es erste Hoffnungsschimmer.<br />

Schickte Russland aber Truppen in die<br />

Ukraine, würde der Westen darauf mit<br />

scharfen Wirtschaftssanktionen reagieren.<br />

Neben einem Boykott russischer Rohstoffe<br />

sind auch Exportverbote für westliche Unternehmen<br />

denkbar. Und Europas Banken<br />

haben hohe Forderungen gegen Russland<br />

in den Büchern. 190 Milliarden Dollar Darlehen<br />

und Investitionen wären gefährdet.<br />

Die Volkswirte der DZ Bank gehen davon<br />

aus, dass im Fall harter Sanktionen die<br />

deutschen Exporte nach Russland bis 2015<br />

um die Hälfte einbrechen würden; Russzehn<br />

Prozent auf einem Level, das auch in<br />

anderen Ländern herrschte, bevor deren<br />

Immobilienblasen platzen, etwa Spanien.“<br />

Schulden waren der Motor des chinesischen<br />

Wachstums in den letzten zwei Jahren<br />

– nicht mehr steigende Exporte in den<br />

Westen, der wegen der Finanzkrise weniger<br />

kaufte. Die Kreditvergabe in China geht<br />

nun erstmals seit Jahren stark zurück. Das<br />

nährt die Sorge, dass die Nachfrage nach<br />

Immobilien leiden und die heiß gelaufenen<br />

Preise ins Rutschen geraten könnten.<br />

Abschreibungen auf ausgefallene Hypothekenkredite<br />

bei chinesischen Banken<br />

und Schattenbanken könnten dann eine<br />

ähnliche Hypothekenkrise wie 2008 in den<br />

USA auslösen, fürchtet Gayed.<br />

DIE HAUSSE WIRD ALT<br />

„Die mögliche Belastung für die Weltwirtschaft<br />

durch China wird unterschätzt“,<br />

meint auch Albert Edwards, Anlagestratege<br />

der Société Générale. Edwards fürchtet gar<br />

fallende Preise, also Deflation – nicht nur<br />

für Immobilien, sondern auf breiter Front<br />

in China. Die Gewinne westlicher Konzerne<br />

im Chinageschäft drohten dann zu kollabieren,<br />

folgert er. Denn viele Konzerne<br />

können in China höhere Gewinnmargen<br />

durchsetzen als in ihren Heimatmärkten;<br />

Apple zum Beispiel, das dort für ein neues<br />

iPhone im Schnitt 900 Dollar erlöst, in den<br />

USA nur 700. Ähnlich sind die Relationen<br />

bei VW, BMW und Daimler. Fällt in China<br />

die Nachfrage, kämen die Unternehmensgewinne<br />

doppelt unter Druck.<br />

Die normale Dauer eines Aufwärtszyklus<br />

an den Börsen liegt bei etwa fünf Jahren –<br />

Oben festgefahren<br />

Viermal hat der Dax bisher einen Anlauf in<br />

Richtung 10 000 Punkte gestartet, jedes Mal<br />

kippte er vorher nach unten weg. Dieses Abdrehen<br />

ist ein Schwächesignal. Ein Wunder<br />

ist das nicht, denn allein in den vergangenen<br />

drei Jahren hat sich der Dax verdoppelt und<br />

damit einen Berg an Buchgewinnen aufgehäuft.<br />

Sowohl von der Ausdehnung als auch<br />

von der Dynamik her erinnert der Anstieg dabei<br />

an die großen Aufwärtsbewegungen der<br />

Jahre 2009 bis 2011 und 20<strong>05</strong> bis 2007.<br />

Auch da hatte sich der Dax mehrere Monate<br />

lang festgefahren, bevor er nach unten wegbrach.<br />

Noch ist es nicht zum großen Verkaufssignal<br />

gekommen. Dazu müsste der<br />

Dax den 2011 bis <strong>2014</strong> bestehenden Aufwärtstrend<br />

und die Durchschnittslinie der<br />

vergangenen 200 Börsentage schneiden.<br />

Das wäre bei einem Rutsch unter 9000<br />

Punkte der Fall. Dann aber könnte es, wie die<br />

Kursrückgänge 2008 und 2011 zeigen,<br />

schnell gehen. Erstes Ziel wäre die Unterstützung<br />

der alten Hochspitzen bei 8100. Sollte<br />

diese Linie nicht halten, läge die nächste<br />

Unterstützung bei 7500. Im Extremfall, wenn<br />

es zu einer Abwärtsdynamik wie 2008 und<br />

2011 kommt, wäre sogar ein Crash in Richtung<br />

6000 Punkte nicht ausgeschlossen.<br />

Kursverlauf des Dax seit 20<strong>05</strong><br />

10<br />

9<br />

Unterstützungen<br />

8<br />

Dax<br />

7<br />

6<br />

5<br />

Aufwärtstrends<br />

200-Tage-Linie<br />

4<br />

3<br />

<strong>05</strong> 06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />

Quelle: Thomson Reuters<br />

78 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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st Separatisten in der Ostukraine +++ Dax +0,6 % +++ Dax-Put –8 % +++ Depot –0,15 % +++<br />

FOTO: CORBIS/ROOKS KRAFT<br />

ihre durchschnittliche Lebenserwartung<br />

hat die aktuelle Hausse<br />

also bereits überschritten. Immer<br />

mehr Anleger bangten, dass die<br />

Party enden werde, sagt David<br />

Kostin, Anlagestratege bei Goldman<br />

Sachs: „Im Prinzip hat in den<br />

letzten Tagen jeder Kunde schon<br />

mal nach Gewinnmitnahmen gefragt.“<br />

Die Kurse haben, global gesehen,<br />

vor Kurzem wieder das Niveau<br />

von vor Beginn der weltweiten<br />

Finanzkrise im Sommer 2008<br />

erreicht. Der Dax notiert sogar gut<br />

1000 Punkte höher als damals,<br />

liegt seit dem Finanzkrisentief im<br />

März 2009 fast 160 Prozent im<br />

Plus.<br />

Klar: Ein Teil davon geht auf das<br />

Konto von Dividenden, die den<br />

Anlegern niemand mehr nehmen<br />

kann. Doch nun verliert die<br />

Hausse an Schwung; dem Dax<br />

droht die Puste auszugehen.<br />

„Zwar halten sich die großen Indizes<br />

wie S&P 500, Dax und Dow<br />

Jones noch gut. Aber darunter finden<br />

starke Bewegungen bei den<br />

einzelnen Aktien statt, vor allem bei den<br />

kleinen“, beobachtet Uwe Wiesner, Portfoliomanager<br />

beim Vermögensverwalter<br />

Hansen & Heinrich in Berlin. Die Warnsignale<br />

mehren sich:<br />

n Viele Wachstumsaktien – also Papiere<br />

mit überdurchschnittlichem Umsatz- und<br />

Gewinnwachstum und hoher Börsenbewertung<br />

– sind von ihren Nachkrisenhochs<br />

in kurzer Zeit stark gefallen. Netflix, Tesla,<br />

oder Twitter sind schon mehr als 30 Prozent<br />

von ihren zwischenzeitlichen Hochs<br />

entfernt, auch Schwergewichte wie Google<br />

und Amazon haben gelitten.<br />

n Bei Nebenwerten gab es besonders starke<br />

Kursrückgänge in den vergangenen Wochen;<br />

der deutsche Index für mittelgroße<br />

Werte, MDax, hat von seinem Hoch Ende<br />

Februar bereits 1000 Punkte verloren, er<br />

lief in den letzten drei Wochen damit deutlich<br />

schlechter als der Dax.<br />

n Die Schwäche vieler kleiner Aktien führt<br />

dazu, dass sich der Anteil der Aktien insgesamt,<br />

die noch steigende Kurse aufweisen,<br />

gegenüber jenen mit fallenden Kursen seit<br />

Beginn des Jahres drastisch verschlechtert<br />

hat. Wenn immer weniger Titel eine<br />

Hausse tragen, droht Gefahr. „In den USA<br />

Harte Hand Anleger fürchten Janet Yellens Geldpolitik<br />

gab es seit März ein regelrechtes Blutbad<br />

bei den kleinen Nebenwerten“, bemerkt<br />

Gayed, „das blieb aber von der breiten Öffentlichkeit<br />

unbemerkt, weil viele nur auf<br />

die bekannten Indizes S&P 500 und Dow<br />

Jones schauen.“<br />

Auch sind Aktien im Durchschnitt nicht<br />

mehr billig. Der Börsenwert der Dax-Aktien<br />

entspricht dem 13-Fachen der von<br />

Analysten für die kommenden zwölf Monate<br />

erwarteten Nettogewinne der 30 Konzerne.<br />

„Das Kurs-Gewinn-Verhältnis liegt<br />

zwar nicht weit über dem Durchschnitt der<br />

letzten zwölf Jahre von 11,6“, sagt Zimmermann;<br />

aber die Gewinnschätzungen, besonders<br />

für das erste Halbjahr 2015, seien<br />

zu optimistisch: „Sie dürften im Laufe des<br />

Jahres noch sichtbar nach unten korrigiert<br />

werden. Die Weltwirtschaft wird <strong>2014</strong> und<br />

2015 nicht stark genug wachsen, um die<br />

derzeit angenommenen zweistelligen Zuwachsraten<br />

der Unternehmensgewinne zu<br />

ermöglichen“, sagt Zimmermann.<br />

So rechnen Analysten für das erste Quartal<br />

2015 im Schnitt mit einem Gewinnplus<br />

von 20 Prozent, was die Gewinne nahe an<br />

ihren historischen Bestwert von 2007<br />

brächte. Berechnet man das KGV nicht auf<br />

Basis (unrealistisch hoher) Gewinnschätzungen,<br />

sondern anhand<br />

der bereits verbuchten Gewinne,<br />

trübt sich das Bild ein: Aktien<br />

sind demnach bereits sehr<br />

teuer. So liegt das KGV des Dax<br />

auf Basis der Gewinne von 2013<br />

schon bei 18,3. Noch plastischer<br />

zeigt die hohe Bewertung das<br />

Shiller-KGV, eine Kennziffer, die<br />

der Nobelpreisträger und Yale-<br />

Professor Robert Shiller ersann:<br />

Beim Shiller-KGV dividiert<br />

man den Börsenwert der Unternehmen<br />

durch deren gemittelte,<br />

inflationsbereinigte Gewinne der<br />

letzten zehn Jahre. So werden saisonale<br />

Schwankungen und Fehlprognosen<br />

der Analysten eliminiert.<br />

Das Shiller-KGV des S&P<br />

500 liegt bei knapp 26, der langjährige<br />

Durchschnitt (seit 1920)<br />

ist 16,9. Das Shiller-KGV war allerdings<br />

auch schon einmal bei<br />

45. Doch das war 1999, kurz vor<br />

dem Jahrtausend-Crash. Dennoch:<br />

„So ein Bewertungsniveau<br />

ist crashanfällig“, meint Zimmermann,<br />

„eine hohe Bewertung alleine ist<br />

zwar selten ein Crash-Grund, sie legt aber<br />

die Basis dafür.“<br />

GEWINNMARGEN AUSGEREIZT<br />

Nun braucht es nur noch einen Auslöser;<br />

der könnte die Ukraine-Krise sein oder<br />

auch eine Reihe von Gewinnwarnungen.<br />

Die dürften früher oder später kommen,<br />

denn viele Konzerne arbeiten mit rekordhohen<br />

Margen (Anteil des Gewinns am<br />

Umsatz). Die Margen sind ausgereizt,<br />

durch niedrige Kapital- und Rohstoffkosten,<br />

Sparprogramme und die Lohnzurückhaltung<br />

der Mitarbeiter in den Krisenjahren.<br />

„In den USA, China, Großbritannien<br />

und Deutschland werden die Löhne steigen,<br />

und der Druck durch Rohstofflieferanten<br />

und Zulieferer auf die Gewinnmargen<br />

wird zunehmen“, meint Gayed.<br />

Aktien könnten natürlich auch in die<br />

derzeit hohe Bewertung hineinwachsen.<br />

Da aber die Gewinnmargen ausgereizt<br />

sind, bräuchte es dazu mehr Umsatzwachstum;<br />

das ist – trotz Linderung der<br />

Euro-Krise und relativ starker US-Konjunktur<br />

– in vielen Branchen nicht in Sicht.<br />

Denn die zarte Erholung der Konjunktur<br />

»<br />

WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 79<br />

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Geld&Börse<br />

+++ 22.04.<strong>2014</strong> +++ EZB deutet Anleihekäufe an +++ Dax +1,7 % +++ Dax-Put –13 % +++<br />

»<br />

in den Industrieländern wird konterkariert<br />

durch die Schwäche Chinas und der<br />

anderen Schwellenländer. 20<strong>12</strong> und 2013<br />

wurden die Kurse fast nur noch von höheren<br />

Bewertungen getrieben; das heißt, dass<br />

die Anleger an der Börse für denselben<br />

Euro Gewinn eines Unternehmens mehr<br />

bezahlten. Sie gestanden den Aktien also<br />

immer höhere KGVs zu. Dabei geholfen hat<br />

das ultrabillige Geld der Notenbanken:<br />

Weil niedrige Zinsen Anleihen im Vergleich<br />

zu Aktien unattraktiv machen und<br />

die Unternehmen zudem von niedrigen<br />

Kapitalkosten profitieren, wirkte die Geldpolitik<br />

wie Doping auf die Börse. Doch die<br />

US-Notenbank Fed reduziert die Dosis.<br />

Portfoliomanager Wiesner: „Seit Januar hat<br />

die Fed ihre Anleihekäufe aber schon von<br />

85 auf 45 Milliarden Dollar monatlich reduziert;<br />

und die Bilanzsumme der Europäischen<br />

Zentralbank, EZB, hat sich seit<br />

dem Höhepunkt der Euro-Krise halbiert;<br />

lässt EZB-Präsident Mario Draghi seinen<br />

Worten nicht bald Anleihekäufe folgen und<br />

behält die US-Notenbank unter der neuen<br />

Präsidentin Janet Yellen ihr Drosseltempo<br />

bei, dann ist der zusätzliche Kurstreiber<br />

billiges Geld bald nicht mehr existent.“<br />

INSIDER VERKAUFEN<br />

Beunruhigende Signale senden auch die<br />

Unternehmensinsider, also Vorstände und<br />

Aufsichtsräte der Konzerne. Insider wissen<br />

in der Regel schneller und besser über Dinge<br />

wie Auftragseingang, Kostenentwicklung<br />

oder Zinskonditionen Bescheid als<br />

außenstehende Analysten, Volkswirte und<br />

Anleger. Zwar ist die Zahl der Vorstände<br />

und Aufsichtsräte, die privat Aktien der von<br />

ihnen geleiteten Unternehmen verkaufen,<br />

fast immer höher als die der Käufer. Denn<br />

viele Chefs bekommen Aktienoptionen als<br />

Vergütungsbestandteil, die sie in Aktien<br />

»<br />

Wetten, Hoffen, Bangen<br />

Chancen und Risiken der 30 Dax-Aktien, wenn sich die Krisenfaktoren (Russland, China, Weltkonjunktur) zuspitzen<br />

Aktie<br />

Adidas<br />

Allianz<br />

BASF<br />

Bayer<br />

Beiersdorf<br />

BMW<br />

Commerzbank<br />

Continental<br />

Daimler<br />

Deutsche Bank<br />

Deutsche Börse<br />

Deutsche Post<br />

Deutsche Telekom<br />

E.On<br />

Fresenius Med. Care<br />

Fresenius SE<br />

HeidelbergCement<br />

Henkel<br />

Infineon<br />

K+S<br />

Lanxess<br />

Linde<br />

Lufthansa<br />

Merck<br />

Münchener Rückv.<br />

RWE<br />

SAP<br />

Siemens<br />

ThyssenKrupp<br />

Volkswagen<br />

Kurs<br />

(in Euro)<br />

78,<strong>05</strong><br />

<strong>12</strong>1,45<br />

82,39<br />

100,80<br />

72,65<br />

88,30<br />

<strong>12</strong>,03<br />

166,80<br />

65,00<br />

31,09<br />

55,02<br />

27,29<br />

<strong>12</strong>,49<br />

13,45<br />

48,39<br />

108,70<br />

62,07<br />

84,15<br />

8,64<br />

25,19<br />

54,16<br />

146,20<br />

18,14<br />

<strong>12</strong>2,00<br />

157,60<br />

27,66<br />

55,47<br />

96,83<br />

20,69<br />

191,45<br />

KGV<br />

<strong>2014</strong><br />

18<br />

9<br />

14<br />

17<br />

28<br />

10<br />

17<br />

13<br />

11<br />

9<br />

14<br />

16<br />

20<br />

14<br />

13<br />

17<br />

16<br />

20<br />

21<br />

20<br />

21<br />

18<br />

10<br />

13<br />

9<br />

<strong>12</strong><br />

16<br />

14<br />

38<br />

9<br />

Dividendenrendite<br />

(in Prozent)<br />

1,7<br />

3,7<br />

3,2<br />

2,1<br />

1,0<br />

2,8<br />

–<br />

1,5<br />

3,5<br />

2,4<br />

4,2<br />

2,6<br />

5,6<br />

4,5<br />

1,6<br />

0,9<br />

0,8<br />

1,5<br />

1,4<br />

1,0<br />

1,9<br />

1,9<br />

–<br />

1,4<br />

4,4<br />

3,6<br />

2,0<br />

3,1<br />

–<br />

1,9<br />

Anlagekommentar<br />

bevorstehende WM bringt kaum Impulse, hoher Russlandanteil führt zu Unsicherheit, Aktie teuer<br />

niedriges Zinsniveau bremst operatives Wachstum, Russlandgeschäft (4500 Beschäftigte) ausgeprägt, Halteposition<br />

großer Asien-Anteil birgt China-Risiko, konjunkturabhängig, Öl- und Gasgeschäft als Ausgleich, vorerst kein Kauf<br />

lukrativer Zukauf bei rezeptfreien Medikamenten, stabile Aussichten bei Pharma, Bewertungsaufschlag möglich, halten<br />

stabiles, wenig konjunkturabhängiges Wachstum, späte Expansion in Schwellenländern, aber Aktie schon gut bezahlt<br />

erfolgreiche Modellpolitik, Währungsabsicherung durch starken US-Markt, konjunkturempfindlich, bei Schwäche kaufen<br />

operative Erholung mühsam, Kapital verbesserungswürdig, riskante, aber nicht aussichtslose Wette auf Banken-Erholung<br />

Zuliefergeschäft mit Assistenzsystemen aussichtsreich, günstige Kautschukpreise treiben Reifen-Marge, Aktie überzogen<br />

Nutzfahrzeuge von Schwellenländern abhängig, milliardenstarkes Russlandgeschäft als Risiko, kein Kauf mehr, halten<br />

Wertpapier-Geschäft schwierig, Behörden fordern mehr Eigenmittel, Kapitalerhöhung dürfte Kurs dämpfen, abwarten<br />

Umsätze steigen bei hoher Volatilität an den Börsen; aber regulatorische und juristische Risiken, vorerst kein Kauf<br />

Gewinner des Online-Booms, wenig krisenanfällig trotz Russlandanteil (3000 Mitarbeiter), Rücksetzer abwarten<br />

Heimatmarkt stabil, US-Mobilfunkgeschäft krisenresistent, Expansion in Osteuropa birgt Risiken, Halteposition<br />

Unsicherheit durch große Abhängigkeit <strong>vom</strong> Russlandgeschäft (Gaslieferungen, Pipelines, Förderung), kein Kauf<br />

langfristig wenig konjunkturabhängiges Wachstum, jedoch Risiken durch US-Gesundheitspolitik, meiden<br />

starke Position auf dem Gesundheitsmarkt schützt vor Krisen-Rückschlägen, Schulden hoch, Kauf nur bei Schwäche<br />

Branchenfusion kann Zementpreise stabilisieren, hoher Russland-Anteil riskant, Verschuldung drückt, Kurs anfällig<br />

trotz hohen Umsatzanteils in Russland und der Ukraine stabiler Geschäftsverlauf, Bewertung fortgeschritten, abwarten<br />

Chip-Aufschwung läuft, doch Nachfrage großer Kunden aus der Autoindustrie könnte im Krisenfall sinken, halten<br />

weiterhin Risiken am Kali-Markt, Ukraine-Krise macht alte Kartellpreise unwahrscheinlich, Erholung wacklig<br />

noch zu sehr abhäng <strong>vom</strong> Reifengeschäft, Druck von niedrigen Kautschukpreisen, hoher Asien-Anteil, Aktie teuer<br />

Industriegase-Geschäft wächst langsamer, hoher Umsatz-Anteil in asiatischen Schwellenländern, Aktie halten<br />

Geschäft krisenanfällig, steigender Ölpreis würde belasten, erwarteter hoher Gewinnanstieg unrealistisch, meiden<br />

durch Ausbau des Geschäfts mit der Elektronikindustrie erhöhen sich Asien-Anteil und Konjunkturanfälligkeit, abwarten<br />

Top-Position auf Rückversicherungsmarkt gleicht Preisdruck zum Teil aus, wenig krisenanfällig, Daueranlage<br />

Umbau nach Energiewende mühsam, Verkauf der Fördertochter Dea an russische Investoren umstritten, noch meiden<br />

wenig krisenanfälliges Basisgeschäft, mittelfristig geringere Renditen durch Cloud-Expansion, Kauf bei Schwäche<br />

Kampf um Alstom könnte Renditekurs bremsen, unsicherer Konzernumbau, Russland dürfte halten, dennoch vorerst meiden<br />

Strompreisrabatte helfen bei Stahlproduktion, großes Werk im Krisenland Brasilien belastet, nur Spekulation für Mutige<br />

Unsicherheit durch starkes Geschäft in Russland und China, deutliche Konjunkturabhängigkeit, kein Kauf mehr<br />

Gewinne/KGV und Ausschüttung/Dividendenrendite im Krisenfall nicht (grün), etwas (gelb) oder stark (rot) gefährdet; Quelle: Thomson Reuters, eigene Recherche<br />

80 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />

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Geld&Börse<br />

+++ 24.04.<strong>2014</strong> +++ Deutsche Bank braucht angeblich 10 Milliarden Euro frisches Kapital; Aktie<br />

»<br />

wandeln und verkaufen. Solchen<br />

Verkäufen müssen keine<br />

schlechten Nachrichten aus den<br />

Unternehmen zugrunde liegen.<br />

Dennoch war das Verhältnis<br />

von Verkäufern zu Käufern bei<br />

US-Unternehmen in den letzten<br />

20 Jahren nur zwei Mal höher als<br />

im April <strong>2014</strong>: Anfang 2007 und<br />

Anfang 2011 – also jeweils ein paar<br />

Monate vor einem Kurseinbruch.<br />

Das Warnsignal wird noch deutlicher,<br />

wenn man die Insiderverkäufe<br />

um die Verkäufe aus ausgeübten<br />

Aktienoptionen bereinigt,<br />

wie es Nejat Seyhun, Finanzprofessor<br />

von der University of Michigan,<br />

kürzlich getan hat. Seyhun<br />

studiert das Handelsgebaren der<br />

US-Unternehmensinsider seit<br />

Jahrzehnten, er sagt: „Um Optionen<br />

bereinigt, waren die Insiderverkäufe<br />

seit 25 Jahren nicht mehr<br />

so hoch. Zuletzt hatten wir sechs<br />

Mal mehr Verkäufer als Käufer,<br />

normalerweise liegt das Verhältnis<br />

bei drei.“<br />

In Europa bietet sich das gleiche Turmhohe Schulden Banken brauchen wieder neues Geld<br />

Bild: „Wenn der Markt eine Weile<br />

lang stark gestiegen ist, ist es zwar normal,<br />

dass die Insider vermehrt Aktien verkaufen;<br />

sie verhalten sich traditionell antizyklisch“,<br />

sagt Patrick Hable, Gründer von<br />

2IQ-Research, der aus London die Insider-<br />

Deals europäischer Unternehmenslenker<br />

untersucht. „Im Moment ist das Verhältnis<br />

von Käufern zu Verkäufern aber extrem<br />

niedrig. Auf 100 Verkäufer kommen nur 13<br />

Käufer. Anfang <strong>2014</strong> waren es noch 40 Käufer.<br />

Alles unter 20 ist ein Alarmzeichen“,<br />

warnt Hable.<br />

BESSER ABSICHERN<br />

Anleger, die dennoch nicht verkaufen wollen,<br />

müssen möglichen Rückschlägen aber<br />

nicht schutzlos ausgeliefert sein. Im Folgenden<br />

zeigen wir, wie sich zum Beispiel<br />

ein Depot aus Dax-Aktien im Wert von<br />

50 000 Euro mithilfe von Put-Optionen und<br />

Shortzertifikaten absichern lässt. Die Optionen<br />

gleichen