Wirtschaftswoche Ausgabe vom 2014-05-12 (Vorschau)
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Neue Serie<br />
Die Zukunft<br />
der Industrie<br />
15 Technologien,<br />
die Deutschland<br />
neuen Wohlstand<br />
bringen<br />
20<br />
<strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong>|Deutschland €5,00<br />
2 0<br />
4 1 98065 8<strong>05</strong>008<br />
Deutsche Bank<br />
Der Höllenjob des Anshu Jain<br />
Kalte Progression<br />
Hoffen auf SPD-Chef Sigmar Gabriel<br />
Warum das Risiko steigt.<br />
Wie Sie Ihr Depot absichern<br />
Schweiz CHF 8,20 | Österreich €5,30 | Benelux€5,30 | Griechenland€6,00 | GroßbritannienGBP 5,40 | Italien€6,00 | Polen PLN27,50 | Portugal€6,10 | Slowakei €6,10 | Spanien€6,00 | TschechischeRep.CZK 200,- | Ungarn FT 2000,-<br />
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Einblick<br />
Die Verhandlungen zum transatlantischen Freihandel<br />
stocken. Die Deutschen fürchten die Freiheit,<br />
obwohl sie gewinnen könnten. Von Roland Tichy<br />
Angst vor Hühnern<br />
FOTO: HEIKE ROST FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
AmHähnchen haben sich schon<br />
Männer die Zähne ausgebissen,<br />
deren Namen wir heute ehrfürchtig<br />
im Geschichtsbuch lesen.<br />
Konrad Adenauer, Charles de Gaulle<br />
und John F. Kennedy – Männer, die weder<br />
die Sowjets, die Nazis oder den Mann im<br />
Mond fürchteten, scheiterten an Hühnern,<br />
tiefgekühlten Schenkeln, Flügeln<br />
und Brüsten; genauer gesagt: an der Frage,<br />
ob und wie diese ohne Zollschranken<br />
tiefgekühlt den Atlantik überqueren dürfen.<br />
Die Protokolle zum Élysée-Vertrag,<br />
als deutsch-französisches Freundschaftsabkommen<br />
einer der Grundpfeiler der<br />
EU, dokumentieren umfangreiche und<br />
knochenharte Auseinandersetzungen zur<br />
Hähnchen-Importfrage. Der europäischamerikanische<br />
Freihandel scheiterte damals<br />
daran. Seither ist die Welt größer<br />
und bunter geworden. Aber dass die<br />
Amerikaner ihre Hähnchen zum Abtöten<br />
böser Bakterien in Chlor tunken, ist noch<br />
immer ein Importhindernis. Neu dazugekommen<br />
sind Risiken, die Europäer anfallen,<br />
sollten sie zu Hause genmodifizierten<br />
Mais essen, der ihnen beim<br />
USA-Urlaub so schmeckt.<br />
Die andere Seite ist nicht weniger pingelig.<br />
Europas Autos müssen wegen Italiens<br />
verwinkelter Gassen die Außenspiegel<br />
einklappen können – was im Land der unendlichen<br />
Prärie unnötig ist. Und Rohmilchkäse<br />
gilt dort als so gefährlich wie<br />
hierzulande hormonbehandelter Schinken.<br />
Ja, der Teufel liegt eben immer im Detail.<br />
Frankreichs Filmindustrie fürchtet<br />
sich vor Hollywood. Und in den USA darf<br />
der Blinker am Heck rot, in Europa muss er<br />
gelb sein.<br />
Neu indes ist: Nicht nur einzelne Wirtschaftsinteressen<br />
machen gegen das<br />
Freihandelsabkommen mobil – auch<br />
viele selbst ermächtigte Verbände, Verbraucherschützer<br />
und NGOs haben bereits<br />
Hunderttausende Unterschriften gesammelt.<br />
Dabei wären gerade die Deutschen die<br />
Nutznießer des Freihandels: Als Exportnation<br />
beweisen die Deutschen tagtäglich,<br />
dass sie nichts mehr fürchten müssen außer<br />
willkürliche Zollschranken. Auch das<br />
Schiedsgerichtsverfahren im Rahmen des<br />
Freihandels, das Investitionen vor willkürlichen<br />
Gesetzesänderungen schützen soll,<br />
bewahrt die Deutschen und ihre Direktinvestitionen<br />
von sagenhaften 1,196 Billionen<br />
Euro rund um den Globus vor dem Zugriff<br />
gieriger Politiker. Investitionsschutzabkommen,<br />
die früher deutsche<br />
Unternehmen vor den Kleptokratien in<br />
Entwicklungsländern schützen sollten,<br />
werden heute abgelehnt. Auch Deutschland<br />
hat vergessen, dass Investitionen, die<br />
auf Jahrzehnte angelegt sind, vor dem willkürlichen<br />
Zugriff der Politik geschützt<br />
werden müssen, weil Investoren eines<br />
brauchen: langfristigstabile Rahmenbedingungen.<br />
Die deutsche Energiepolitik<br />
beispielsweise hat mittlerweile das Verlässlichkeitsniveau<br />
der Politik von Simbabwe.<br />
DER KRIEG DER WELT<br />
Daher würde tatsächlich das transatlantische<br />
Freihandelsabkommen Europa wieder<br />
dazu bringen, die lästige und überflüssige,<br />
in der Summe schädliche Regelungswut<br />
zu überprüfen, die mal Glühbirnen<br />
und Staubsaugermotoren, mal Desinfektionsmittel<br />
oder Autospiegel zwangsnormiert.<br />
Der britische Historiker Niall Ferguson<br />
zeigt in seinem Werk „Krieg der Welt – Was<br />
ging schief im 20. Jahrhundert?“: Um 1900<br />
war die Welt so offen, so globalisiert und so<br />
vernetzt, wie sie es erst heute wieder ist. In<br />
der Wirtschaftskrise nach dem Ersten Weltkrieg<br />
wurden allüberall Schutzzölle, Überregulierung,<br />
Besteuerung und Defizitfinanzierung<br />
eingeführt – und der<br />
Wohlstand der Welt schrumpfte noch<br />
schneller, verschärfte die innenpolitischen<br />
Krisen bis zur Katastrophe. Noch am besten<br />
kam das britische Empire davon, weil<br />
es in sich eine riesige Freihandelszone war.<br />
Am ärgsten traf die Krise kleinere, auf sich<br />
zurückgeworfene Binnenwirtschaften wie<br />
Deutschland und Italien – die dann den<br />
Raubzug nach Lebensraum antraten. Freiheit<br />
ist eben auch immer Handlungsfreiheit<br />
– und Öffnung der Märkte wohlstandssteigernd.<br />
n<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 3<br />
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Überblick<br />
Menschen der Wirtschaft<br />
6 Seitenblick Das Ein-Kilometer-Hochhaus<br />
8 Steuerhinterziehung: BaFin torpediert<br />
Selbstanzeigen von Steuersündern<br />
9 Burger King: Dramatischer Absturz |<br />
Schwarzarbeit: Höherer Schaden<br />
10 Interview: Friedensnobelpreisträger Al Gore<br />
prophezeit Europas Niedergang<br />
<strong>12</strong> Qatar Airways: Zweifel am A380 | MBB<br />
Clean Energy: Angst um Anleihe | Berliner<br />
Schloss: Steuergeld statt Spenden<br />
14 Chefsessel | Start-up QLearning<br />
16 Chefbüro Jürgen Leiße, Deutschland-Chef<br />
des Lebensmittelmultis Mondelez<br />
Politik&Weltwirtschaft<br />
18 Steuern Wie sich die Bundesregierung an<br />
den Arbeitnehmern noch bereichern will<br />
21 Ortstermin Jungunternehmer trifft auf SPD<br />
22 Landwirtschaft Bauern verdienen mit<br />
ihren Kühen wieder richtig Geld<br />
24 Indien Im Wettstreit der asiatischen Wirtschaftsmächte<br />
hinkt das Land hinterher.<br />
Bringt der Machtwechsel die Wende? | Interview:<br />
Unternehmer Anand Mahindra über<br />
wirtschaftspolitische Defizite seines Landes<br />
32 Forum Europaparlamentarier Alexander<br />
Graf Lambsdorff über Verteilungskämpfe in<br />
der Energiepolitik<br />
33 Global Briefing | Berlin intern<br />
Der Volkswirt<br />
34 Kommentar | New Economics<br />
35 Konjunktur Deutschland<br />
36 Rohstoffradar Die Krise in der Ukraine<br />
treibt die Preise<br />
37 Denkfabrik ifo-Präsident Hans-Werner<br />
Sinn attackiert die Strategie der EZB<br />
Unternehmen&Märkte<br />
38 Deutsche Bank Zwei Jahre nach dem Start<br />
ist noch nicht klar, ob Anshu Jain der richtige<br />
Chef für das Geldinstitut ist | Die Bank greift<br />
bei Verfehlungen jetzt hart durch<br />
46 Interview: Rupert Stadler Der Audi-Chef<br />
erhöht beim Dreikampf die Drehzahl<br />
49 Media-Saturn Dem nächsten Chef der Elektronikkette<br />
droht ein Drei-Fronten-Krieg<br />
50 Merckle Adolf Merckles Sohn Ludwig hat<br />
den Pharmahändler Phoenix gerettet. Doch<br />
nun gefährdet der Erbe den Erfolg wieder<br />
52 Friedberg Wie eine Schraubenfabrikantin<br />
den Strukturwandel gemeistert hat<br />
54 Bayer Nach der jüngsten Übernahme sondiert<br />
Konzernchef Marijn Dekkers weitere<br />
Coups. Doch Kaufkandidaten sind rar<br />
56 CTS Eventim Der Ticket-Riese baut seine<br />
Macht aus und will offenbar nach Übersee<br />
59 Interview: Trevor Edwards Der Nike-<br />
Marken-Chef attackiert den Konkurrenten<br />
Adidas vor der Fußball-WM in Brasilien<br />
Titel Dax an der Decke<br />
China schwächelt, die Gewinnmargen<br />
vieler Unternehmen sind ausgereizt,<br />
und die Ukraine-Krise ist längst nicht<br />
gelöst:Nach fünf Jahren Hausse steigt<br />
an der Börse das Risiko. Wie Anleger<br />
ihr Depot jetzt vor möglichen Rückschlägen<br />
schützen. Seite 76<br />
Zahmer Tiger<br />
Anshu Jain ist nach zwei<br />
Jahren an der Spitze der<br />
Deutschen Bank ein<br />
Fremder geblieben. Von<br />
Beginn an stand er auf<br />
der Kippe. Sein Job ist<br />
ein Wettlauf gegen seine<br />
Vergangenheit.<br />
Seite 38<br />
Geld her!<br />
Die neue Steuerschätzung<br />
zeigt:Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang<br />
Schäuble schwimmt in<br />
den kommenden Jahren<br />
im Geld. Nun wächst<br />
der Druck auf Berlin, die<br />
Steuerzahler in dieser<br />
Legislaturperiode zu entlasten<br />
– zumindest bei<br />
der kalten Progression.<br />
Seite 18<br />
TITELILLUSTRATION: DMITRI BROIDO<br />
4 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: LAIF/STEFAN KRÖGER, LAIF/DOMINIK BUTZMANN, PR; ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS<br />
Neue Serie: Zukunft der Industrie<br />
Selbstfahrende Autos, smarte Roboter, mobiles Internet – 15 Technologien<br />
entscheiden über Deutschlands künftigen Wohlstand. Eine<br />
exklusive Studie verrät, wie wir den Umbruch schaffen. Seite 60<br />
Einen Schlag mehr<br />
Mehr Engagement, höhere Rendite: warum es sich für Arbeitgeber<br />
lohnt, ihre Angestellten am Kapital des Unternehmens zu beteiligen.<br />
Und warum Angestellte das Angebot annehmen sollten. Seite 70<br />
Jungbrunnen<br />
Gesundheit ist der<br />
Deutschen höchstes Gut.<br />
Luxushotels wie das<br />
Oceano auf Teneriffa laden<br />
zu Sesamölmassagen<br />
oder zum Entspannungsbad<br />
im hauseigenen Spa.<br />
Seite 98<br />
Nr. 20, <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong><br />
Technik&Wissen<br />
60 Serie Zukunft der Industrie 15 Innovationen<br />
haben das Zeug, die Wirtschaft radikal<br />
zu verändern | Interview: Der Präsident<br />
der Fraunhofer-Gesellschaft, Reimund Neugebauer,<br />
fordert ein europäisches Google<br />
Management&Erfolg<br />
70 Mitarbeiterbeteiligung Warum es sich für<br />
Arbeitgeber lohnt, ihre Angestellten am<br />
Kapital des Unternehmens zu beteiligen<br />
74 Kolumne: Sprengers Spitzen Wertschätzung<br />
muss neu interpretiert werden<br />
Geld&Börse<br />
76 Spezial Aktien Die Risiken an den<br />
Börsen nehmen zu. Anleger sollten ihr<br />
Depot absichern<br />
86 Steuerhinterziehung Wie deutsche Fahnder<br />
Schwarzgeld-Anleger jagen, die ihr Geld<br />
schon früh aus der Schweiz abgezogen haben<br />
88 US-Aktien Wasser wird weltweit knapp.<br />
Das eröffnet Chancen<br />
90 Steuern und Recht Kindergeld | Lebensversicherung<br />
| Besteuerung von Gold-<br />
Wertpapieren | Eigenbedarfskündigung |<br />
Widerruf bei Internet-Bestellung<br />
92 Geldwoche Kommentar: Von Shortsellern<br />
lernen | Trend der Woche: Neue Internet-<br />
Blase platzt | Dax-Aktien: Bayer | Hitliste:<br />
Exotenbörsen | Aktien: Conoco Phillips,<br />
Hawesko | Anleihe: COE Bank | Chartsignal:<br />
US-Dollar | Investmentfonds: Metzler<br />
European Growth | Nachgefragt:Vermögensverwalter<br />
Bert Flossbach warnt vor Hochfrequenzhandel<br />
Perspektiven&Debatte<br />
98 Urlaub Kliniken setzen auf Luxus, Hotels<br />
auf medizinische Anwendungen<br />
102 Kost-Bar<br />
Rubriken<br />
3 Einblick, 104 Leserforum,<br />
1<strong>05</strong> Firmenindex | Impressum, 106 Ausblick<br />
n Lesen Sie Ihre WirtschaftsWoche<br />
weltweit auf iPad oder iPhone:<br />
Diese Woche erklären wir, warum<br />
es sich für Arbeitgeber lohnt,<br />
Angestellte am Kapital zu<br />
beteiligen. Außerdem<br />
gibt es wieder einen<br />
360-Grad-Einblick ins<br />
Chefbüro.<br />
wiwo.de/apps<br />
n ADAC Der krisengebeutelte Autoclub<br />
debattiert auf seiner Hauptversammlung<br />
in Saarbrücken, wie<br />
man das verlorene Vertrauen zurückgewinnen<br />
kann. wiwo.de/adac<br />
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wirtschaftswoche<br />
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+wirtschaftswoche<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 5<br />
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Seitenblick<br />
WOLKENKRATZER<br />
Ein Kilometer Hochhaus<br />
Es soll das höchste Haus der Welt werden - der Kingdom Tower in<br />
Saudi-Arabien. Deutsche Unternehmen wetteifern um Aufträge für<br />
den milliardenschweren Prestigebau.<br />
Die höchsten Häuser der Welt<br />
Empire State<br />
Building<br />
381 Meter<br />
New York<br />
1930–1931<br />
Sears Tower<br />
442 Meter<br />
Chicago<br />
1970–1974<br />
Petronas Towers<br />
452 Meter<br />
Kuala Lumpur<br />
1992–1998<br />
Taipei 101<br />
508 Meter<br />
Taipeh<br />
1999–2004<br />
Schwergewicht Eigentlich sollte der Kingdom Tower<br />
1,6 Kilometer hoch werden. Dies aber ließ der<br />
Boden nicht zu. Selbst die Schrumpfversion wird<br />
fast eine Million Tonnen wiegen.<br />
Burj Khalifa<br />
828 Meter<br />
Dubai<br />
2004–2010<br />
Sky City<br />
838 Meter<br />
Changsha/China<br />
geplant<br />
Kingdom Tower<br />
1007 Meter<br />
Dschidda<br />
im Bau<br />
1000 m<br />
900 m<br />
800 m<br />
700 m<br />
600 m<br />
500 m<br />
400 m<br />
300 m<br />
200 m<br />
100 m<br />
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1007Meter wird der Kingdom<br />
Tower im saudischen Dschidda hoch<br />
sein und damit das erste Haus der Welt, das<br />
die Ein-Kilometer-Marke durchbricht. In<br />
diesen Tagen beginnen die Hochhausarbeiten<br />
an dem 1,2 Milliarden Dollar teuren Projekt.<br />
Auf 200 Etagen entstehen Hotels, Wohnungen,<br />
Büros und Läden. Der Einzug ist für 2018<br />
geplant. Angetrieben wird es <strong>vom</strong> saudischen<br />
Prinzen al-Walid ibn Talal Al Saud. Generalunternehmer<br />
ist die Bin-Laden-Gruppe,<br />
gegründet von Osama Bin Ladens Vater.<br />
300Pfähle hat die bayrische<br />
Tiefbaufirma Bauer 110 Meter tief in den<br />
Boden getrieben, um den Kingdom Tower zu<br />
verankern. Auch andere deutsche Unternehmen<br />
wollen an dem Prestigebau mitwirken,<br />
darunter Putzmeister. Der baden-württembergische<br />
Mittelständler hatte schon für das<br />
bisher höchste Haus der Welt, Burj Khalifa<br />
in Dubai, die Betonpumpen geliefert. Und<br />
Duravit möchte den Superwolkenkratzer wie<br />
bereits das Burj Khalifa mit Toiletten und<br />
Bidets ausrüsten.<br />
40Millionen Euro will Thyssen-<br />
Krupp in einen 244 Meter hohen Wolkenkratzer<br />
investieren – in Rottweil im<br />
Schwarzwald. Dort will der Essener Konzern<br />
Aufzüge für Superwolkenkratzer testen –<br />
beim Kingdom Tower kommt er aber nicht<br />
zum Zuge. Hier setzte sich Branchenkreisen<br />
zufolge der deutsch-finnische Konkurrent<br />
Kone durch. Er entwickelte ein Kohlefaserkabel,<br />
mit dem Aufzüge einen Höhenunterschied<br />
von einem Kilometer überwinden<br />
können. thomas.stoelzel@wiwo.de<br />
FOTO: JEDDAH ECONOMIC COMPANY/ADRIAN SMITH + GORDON GILL ARCHITECTURE,<br />
DESIGN ARCHITECTS OF THE PROJECT: ADRIAN SMITH AND GORDON GILL<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 7<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
Bringt Banker in<br />
Bredouille<br />
BaFin-Chefin König<br />
FINANZAUFSICHT<br />
Schlag gegen Steuersünder<br />
Die Finanzaufsicht BaFin torpediert<br />
die strafbefreiende Selbstanzeige<br />
für Steuersünder – ohne Debatte auf<br />
dem kurzen Dienstweg.<br />
Eigentlich ist Elke König als Präsidentin der<br />
Finanzaufsicht BaFin die Chefin einer Behörde. Die<br />
Kontrolleurin erlässt keine Gesetze, sondern achtet<br />
darauf, dass andere – vor allem Banken – sie hierzulande<br />
einhalten. Nun aber torpediert ihre Behörde<br />
ein Gesetz, auf dessen Erhalt sich die Bundesländer<br />
gerade erst geeinigt haben: den Paragrafen in der<br />
Abgabenordnung, der einem Steuersünder erlaubt,<br />
sich selbst anzuzeigen und damit straffrei davonzukommen.<br />
Wer den Weg wählt, muss seine kompletten<br />
Finanzen offenlegen. Ein Teilgeständnis reicht<br />
nicht. Hierfür brauchen Steuersünder aber meist<br />
die Hilfe ihrer Banker. Die wissen am besten, wie<br />
viel Geld wo angelegt und wann genau es wohin<br />
transferiert wurde. Doch den Berater des Vertrauens<br />
einzubinden kann jetzt gefährlich werden.<br />
Grund ist ein Rundschreiben, das die BaFin am<br />
5. März verschickt hat. Es führt offenbar dazu, dass<br />
Banker die Kunden, die sich selbst anzeigen<br />
wollen, wegen Verdachts auf Geldwäsche den<br />
Kriminalämtern melden.<br />
Dazu sind die Banker laut BaFin-Schreiben verpflichtet,<br />
wenn „nicht auszuschließen ist“, dass<br />
über ihren Arbeitgeber Transaktionen gelaufen<br />
sind, die mit der Steuerhinterziehung im Zusammenhang<br />
stehen. Das wird ein Banker wohl nie<br />
ausschließen können, zumal er keine Beweise für<br />
eine Geldwäsche haben muss. Es reichen schon<br />
Hinweise, dass es so gewesen sein könnte. „Doch<br />
genau das kann ein Banker im Einzelfall ja gar nicht<br />
prüfen“, sagt ein Bankvorstand. „Um sich nicht<br />
selbst strafbar zu machen, wird er deshalb im Zweifelsfall<br />
immer eine Verdachtsanzeige abgeben.“<br />
Damit wird die Selbstanzeige faktisch bedeutungslos:<br />
Sobald der Banker die Anzeige einreiche,<br />
sei die Tat einer Strafverfolgungsbehörde bekannt,<br />
sagt Christian Rosinus von der Kanzlei AC Tischendorf.<br />
Eine Selbstanzeige sei aber nur so lange strafbefreiend,<br />
wie die Tat entweder unentdeckt sei oder<br />
der Täter zumindest davon ausgehen könne, dass<br />
er noch nicht aufgeflogen sei. Beides dürfte künftig<br />
in vielen Fällen nicht mehr gegeben sein sein.<br />
Die BaFin ist sich der Folgen ihres Schreibens<br />
durchaus bewusst. „Es ist nicht zu verkennen“, teilt<br />
die Aufsichtsbehörde in einer Stellungnahme mit,<br />
dass die Verwaltungspraxis in Verbindung mit dem<br />
Geldwäschegesetz Auswirkungen auf eine beabsichtigte<br />
Selbstanzeige von Bankkunden haben<br />
könne.<br />
Im Klartext: Die BaFin hat damit die strafbefreiende<br />
Selbstanzeige praktisch abgeschafft – auf dem<br />
kleinen Dienstweg, ohne Bundestagsdebatte.<br />
melanie.bergermann@wiwo.de | Frankfurt<br />
Erledigt<br />
Steuerstrafverfahren,<br />
die aufgrund von Selbstanzeigen<br />
eingestellt<br />
wurden<br />
8172<br />
2009<br />
16014 16<strong>05</strong>9<br />
Quelle:Deutscher Bundestag<br />
11900<br />
2010 2011 20<strong>12</strong><br />
FOTOS: LAIF/CHRISTOPH PAPSCH, PR, PLAINPICTURE/HIROYA MINAKUCHI<br />
8 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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BURGER KING<br />
Dramatischer Absturz<br />
Vor gut einem Jahr hat Burger<br />
King 91 Filialen dem Franchisenehmer<br />
Yi-Ko Holding<br />
überlassen, seither reißt der Ärger<br />
nicht ab, wie die Wirtschafts-<br />
Woche berichtete. Nachdem<br />
auch RTL die skandalösen Zustände<br />
aufzeigte, laufen Burger<br />
King die Kunden weg. Nur 15<br />
Prozent aller potenziellen<br />
Kunden würden dort jetzt einen<br />
Hamburger bestellen, ergab<br />
eine Analyse des Meinungsforschers<br />
YouGov. Der Wert hat<br />
sich binnen Kurzem halbiert.<br />
„Auch das Image ist im freien<br />
Fall“, sagt YouGov-Manager Markus<br />
Braun. Auf einer Skala von<br />
plus 100 bis minus 100 stürzte<br />
der Image-Wert von plus 5,7 auf<br />
minus 29,5 Punkte ab. Schichtleiter<br />
berichten von „dramatischen<br />
Umsatzeinbußen“. Auch<br />
Andreas Bork, Deutschland-<br />
Chef von Burger King, räumte<br />
Rückgänge ein und versucht<br />
nun, die Probleme zu lösen.<br />
Noch in dieser Woche trifft er<br />
sich mit Vertretern der Gewerkschaft<br />
NGG. Sie wollen über die<br />
Arbeitsbedingungen und die<br />
vielen Kündigungen reden, die<br />
Yi-Ko gegen Betriebsräte aussprach.<br />
In rund 300 Fällen hatte<br />
die NGG Mitarbeitern der Burgerkette<br />
geholfen, nicht oder<br />
zu spät gezahlte Löhne und<br />
Zuschläge einzuklagen. Etwa<br />
zwei Drittel der Verfahren sind<br />
noch offen. „Unser Ziel ist es,<br />
für einen Großteil der Fälle eine<br />
schnelle, einvernehmliche<br />
Lösung innerhalb der nächsten<br />
sechs Wochen zu finden“, teilt<br />
Burger King jetzt mit.<br />
Das Unternehmen verzichtet<br />
dabei künftig auf den umstrittenen<br />
Rechtsanwalt Helmut<br />
Naujoks, den Yi-Ko angeheuert<br />
hatte. Der auf die „Kündigung<br />
der Unkündbaren“ spezialisierte<br />
Jurist werde nicht mehr<br />
beschäftigt, so Burger King.<br />
Kunden flüchten<br />
Deutschland-Chef Bork<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
Aufgeschnappt<br />
Wal verhökert Ein fettes Angebot<br />
stellte die kanadische Gemeinde<br />
St. George bei Ebay ein: einen<br />
zwölf Meter langen Pottwal. Er<br />
war angeschwemmt worden,<br />
starb, doch dem Dorf fehlte das<br />
Geld zum Abtransport. Dutzende<br />
Gebote gingen ein, das höchste<br />
lag bei 2000 Dollar. Dann stoppte<br />
Ebay die Auktion. Tiere – tot<br />
oder lebendig – dürfen dort nicht<br />
versteigert werden.<br />
Medaillen versilbert Die Erinnerung<br />
an ihre Siege kann ihr niemand<br />
nehmen, ihre Medaillen<br />
gibt Sandra Völker notgedrungen<br />
ab. Rund 400 Auszeichnungen<br />
versteigert die ehemalige<br />
Spitzenschwimmerin im Internet,<br />
darunter auch die Silbermedaille,<br />
die sie bei den Olympischen<br />
Spielen 1996 in Atlanta<br />
gewonnen hat. 100 000 Euro erhofft<br />
sich die 40-Jährige durch<br />
die Auktionen. Dann käme sie<br />
aus der Privatinsolvenz heraus.<br />
SCHWARZARBEIT<br />
Höherer<br />
Schaden<br />
Schwarzarbeiter haben den<br />
deutschen Staat im vergangenen<br />
Jahr um rund 777 Millionen<br />
Euro geschädigt, etwa durch die<br />
Nichtzahlung von Sozialbeiträgen.<br />
20<strong>12</strong> hatte der Schaden<br />
knapp 752 Millionen betragen.<br />
Allein die Finanzkontrolle<br />
Schwarzarbeit (FKS) überprüfte<br />
2013 etwa 64 000 Arbeitgeber,<br />
davon rund 25 300 Baubetriebe.<br />
Gegen die Sünder verhängten<br />
die Zollprüfer von Bundesfinanzminister<br />
Wolfgang<br />
Schäuble (CDU) Geldbußen<br />
in Höhe von 44,7 Millionen Euro.<br />
Das geht aus Stellungnahmen<br />
des Ministeriums auf Anfragen<br />
der Grünen-Fraktion im<br />
Bundestag hervor. 20<strong>12</strong> hatte<br />
die FKS 66 000 Firmen kontrolliert<br />
und damit 2000 mehr als<br />
2013, aber weniger Bußgeld<br />
kassiert:41,3 Millionen Euro.<br />
Von 2015 an soll die FKS auch<br />
überwachen, ob Firmen den<br />
Mindestlohn zahlen. Die grüne<br />
Abgeordnete Beate Müller-<br />
Gemmeke kritisiert, mit 6481<br />
Planstellen könne die FKS „weder<br />
ihrer Aufgabe noch die Bundesregierung<br />
ihrer Schutzfunktion<br />
für die Beschäftigten<br />
gerecht werden“.<br />
max.haerder@wiwo.de I Berlin<br />
* gerundet; Quelle: Parteiangaben<br />
Wenig Aufwand für Brüssel<br />
Kosten der Wahlkampagnen (in Millionen Euro)*<br />
Europawahl 2009<br />
Europawahl <strong>2014</strong><br />
Bundestagswahl 2013<br />
10 10 20 11 11 23 1 2 6 3 3 6 1 1 4 2 2<br />
IN EIGENER SACHE<br />
Neues, schlankes Logo<br />
Die markanten roten Quadrate<br />
bleiben. Aber nach fast 20<br />
Jahren war es an der Zeit, das<br />
bekannte zweizeilige Logo der<br />
WirtschaftsWoche ein wenig<br />
zu überarbeiten. US-Zeitschriftendesigner<br />
Mario Garcia hatte<br />
es 1996 entwickelt. Nun wurde<br />
der Klassiker von Creative<br />
Director Holger<br />
Windfuhr und<br />
dem bekannten<br />
britischen Logodesigner<br />
Miles Newlyn behutsam<br />
modernisiert – ohne dass<br />
der Wiedererkennungswert<br />
leidet. Die Schrift kommt nun<br />
deutlich schlanker daher, von<br />
einigen horizontalen Serifen<br />
befreit. Kleine Diagonalen unterstreichen<br />
den dynamischen<br />
und frischen Gesamteindruck.<br />
Ihre Meinung? Wir<br />
freuen uns auf Ihr<br />
Feedback.<br />
wiwo@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 9<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
FLOSKELCHECK<br />
Kalte<br />
Progression<br />
Der Frühling naht, die kalte<br />
Jahreszeit geht. Und wenn es<br />
nach Sigmar Gabriel geht,<br />
geht bald auch die kalte<br />
Progression. Dann wird es<br />
wärmer in Deutschland.<br />
Schließlich will die SPD eine<br />
Fortschrittspartei sein. Die<br />
eiskalte Progression spielt<br />
zwar dem Finanzminister in<br />
die Karten, aber „Mehr Netto<br />
<strong>vom</strong> Brutto“ ist gerechter.<br />
Wer hat’s erfunden? Okay,<br />
die FDP. Nun ja, besser gut<br />
geklaut als schlecht selbst<br />
erfunden. Schließlich will<br />
die SPD eine Gerechtigkeitspartei<br />
sein. Und wenn einem<br />
außerdem die Kanzlerin<br />
sonst schon alle Themen<br />
weggenommen hat...<br />
Schließlich will die SPD<br />
wieder kanzlerfähig werden.<br />
Und Siggi Pop den Sessel<br />
mit der ganz hohen Lehne<br />
besetzen. Daher ist die<br />
Bekämpfung der kalten Progression<br />
für den SPD-Chef<br />
wichtig – der Finanzminister<br />
ist ja von der Konkurrenz...<br />
DER FLOSKELCHECKER<br />
Hans Gerzlich, 47, Diplom-<br />
Ökonom, ehemaliger Marketing-Referent<br />
und heute<br />
Wirtschaftskabarettist und<br />
Bürocomedian.<br />
INTERVIEW Al Gore<br />
»Europa steht vor einem<br />
historischen Niedergang«<br />
Der Friedensnobelpreisträger und frühere<br />
US-Vizepräsident beklagt Fehler in der Euro-Politik<br />
und hofft auf ein Freihandelsabkommen.<br />
Herr Gore, Sie haben analysiert,<br />
wie sich die Welt politisch<br />
ändert, und prognostizieren:<br />
Die USA verlieren an Macht,<br />
Nationalstaaten an Gewicht.<br />
Fühlen Sie sich durch die<br />
Ukraine-Krise bestätigt?<br />
Ich bin sehr besorgt über die Situation<br />
dort. Mir wäre lieber, ich<br />
läge falsch. Fakt ist:Russland<br />
testet seine Grenzen aus und<br />
spürt wenig Gegenwind. Das<br />
Land sucht seine Rolle in einer<br />
Welt, in der die machtpolitischen<br />
Verhältnisse in Bewegung<br />
sind. Die USA im Westen<br />
und China im Osten sind feste<br />
Größen. Russland fühlt sich zu<br />
klein im Konzert der Großen.<br />
Die Ukraine ist da eine willkommene<br />
Spielwiese, da das Land<br />
innerlich zerrissen ist.<br />
Wie lässt sich die Gewalt in der<br />
Ostukraine eindämmen?<br />
Dank der engen wirtschaftlichen<br />
Verflechtungen ist auch<br />
Russland unter Druck. Die<br />
Wirtschaft schwächelt, die<br />
Börsen sind abgestürzt. Russlands<br />
Präsident Putin spielt ein<br />
gefährliches Spiel. Das müssen<br />
wir ihm klarmachen – und ihn<br />
auffordern, mäßigend auf die<br />
Separatisten einzuwirken.<br />
Wie bewerten Sie die Rolle<br />
Europas – in einem Konflikt,<br />
der direkt an den Außengrenzen<br />
der Europäischen<br />
Union tobt?<br />
Europa steht in meinen Augen<br />
an der Schwelle zu einem historischen<br />
Verlust an Macht, Einfluss<br />
und Perspektiven. Ausgangspunkt<br />
war die Schaffung<br />
der Euro-Zone, bei der es die<br />
Politik verpasst hat, die notwendige<br />
finanzpolitische Integration<br />
herbeizuführen. Aus diesem<br />
Versäumnis heraus entwickelte<br />
DER WELTRETTER<br />
Al Gore, 66, ist Autor, Berater<br />
und NGO-Gründer. Für seinen<br />
Einsatz für den Klimaschutz<br />
erhielt der ehemalige Vizepräsident<br />
der USA den Friedensnobelpreis.<br />
Am Montag erscheint<br />
sein neues Buch „Die Zukunft –<br />
Sechs Kräfte, die unsere Welt<br />
verändern“.<br />
sich eine schwere politische<br />
und wirtschaftliche Krise, die<br />
bis heute nicht gelöst ist. Es ist<br />
für mich daher keine Überraschung,<br />
dass Europa den<br />
Russen wenig entgegenzusetzen<br />
hat.<br />
Die EU und die USA verhandeln<br />
über einen gemeinsamen<br />
Binnenmarkt. Könnte das<br />
Freihandelsabkommen den<br />
Niedergang der USA und der<br />
EU abmildern?<br />
Ich bin seit jeher ein Verfechter<br />
des Freihandels und würde es<br />
sehr begrüßen, wenn Europa<br />
und die USA einen gemeinsamen<br />
Binnenmarkt schüfen. So<br />
entstünden auf beiden Seiten<br />
des Atlantiks viele Jobs, und es<br />
würde ein bisschen den Verlust<br />
der Arbeitsplätze kompensie-<br />
ren, die durch den Einsatz von<br />
Maschinen sowie durch die<br />
Verlagerung von Jobs in Niedriglohnländer<br />
verloren gegangen<br />
sind.<br />
Die Gespräche werden überschattet<br />
von der Abhöraffäre<br />
des US-Geheimdienstes NSA.<br />
Wie bewerten Sie die Überwachung<br />
der Bürger im Inland<br />
und im Ausland durch die US-<br />
Regierung?<br />
Die USA spionieren im großen<br />
Stil, nicht nur die NSA. Telefone<br />
werden abgehört, Zollbeamte<br />
dürfen Dateien von privaten<br />
Computern kopieren – ohne jeden<br />
Verdacht. Die Regierung<br />
bezuschusst Kameras, die – auf<br />
Streifenwagen montiert – die<br />
Nummernschilder sämtlicher<br />
Autos fotografieren, die ihnen<br />
begegnen. Die Angst vor Terroranschlägen<br />
dient als Rechtfertigung<br />
für ein Maß an staatlicher<br />
Überwachung, das noch<br />
vor wenigen Jahren die meisten<br />
Amerikaner schockiert hätte.<br />
Sie fordern seit Langem mehr<br />
Umweltschutz. Fakt ist: Die<br />
globalen Treibhausgase steigen<br />
weiter. Was ist zu tun?<br />
Wir müssen den Übergang zu<br />
einer kohlenstoffarmen Welt<br />
beschleunigen. Ich schlage vor,<br />
eine CO 2 -Steuer einzuführen,<br />
die den für die globale Erderwärmung<br />
verantwortlichen<br />
Treibhausgas-Emissionen einen<br />
angemessenen Marktpreis<br />
zuweist. Gekoppelt werden sollte<br />
das mit niedrigen Grenzwerten<br />
für Emissionen.<br />
Bundeskanzlerin Angela Merkel<br />
lehnt zu strenge Grenzwerte<br />
etwa beim CO 2 -Ausstoß von<br />
Neuwagen mit Blick auf die<br />
heimischen Autobauer ab.<br />
Ich verstehe, dass Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel unter enormem<br />
Druck der Wirtschaft steht.<br />
Deutschland ist in vielen Punkten<br />
beim Klimaschutz – etwa<br />
beim Ausbau der erneuerbaren<br />
Energien – Vorreiter. Aber im<br />
Verkehr müssen wir umweltfreundlicher<br />
werden. Da müssen<br />
wir mehr tun, in den USA<br />
und auch in Deutschland.<br />
tim.rahmann@wiwo.de<br />
ILLUSTRATION: TORSTEN WOLBER; FOTO: PR<br />
10 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
QATAR AIRWAYS<br />
Zweifel am<br />
Super-Airbus<br />
Angst ums Hemd der Passagiere<br />
Qatar-Chef Al Baker<br />
Bisher hat Airbus-Chef Tom<br />
Enders für seinen Riesenflieger<br />
A380 nur 180 sichere Bestellungen<br />
erhalten – zu wenig, um<br />
jemals die Entwicklungskosten<br />
von geschätzt bis zu 15 Milliarden<br />
Euro zu verdienen. Da zieht<br />
Akbar Al Baker auch noch<br />
über den Superjumbo her. „Der<br />
A380 war ein effizientes Flugzeug<br />
bei einem Ölpreis von 30<br />
bis 40 Dollar pro Barrel“, sagt<br />
der Chef der Nobellinie Qatar<br />
Airways aus dem Emirat Katar.<br />
Er selbst hat 13 Exemplare geordert,<br />
aber das bremst ihn nicht<br />
in seiner Kritik. „Jetzt bei einem<br />
Ölpreis von weit über 100 Dollar<br />
ist die Maschine bestenfalls<br />
ein schwieriges Flugzeug, und<br />
auf extrem langen Strecken verliert<br />
man mit ihm leicht das<br />
letzte Hemd“, kritisiert Al Baker.<br />
Er will sein Urteil nicht ändern,<br />
obwohl Airbus jetzt diskutiert,<br />
ob die Triebwerke durch<br />
effizientere Motoren der neuen<br />
Generation ersetzt werden sollen.<br />
„Das“, sagt Akbar, „spart am<br />
Ende nur ein bis zwei Prozent<br />
der Betriebskosten und lohnt<br />
den Aufwand nicht.“<br />
ruediger.kiani-kress@wiwo.de<br />
TOP-TERMINE VOM <strong>12</strong>.<strong>05</strong>. BIS 18.<strong>05</strong>.<br />
<strong>12</strong>.<strong>05</strong>. DGB Der Bundeskongress des Deutschen Gewerkschaftsbundes<br />
(DGB) in Berlin wählt am Montag<br />
einen neuen Vorsitzenden. Kandidat ist Reiner<br />
Hoffmann, 58. Amtsinhaber Michael Sommer, 62,<br />
tritt nicht mehr an.<br />
13.<strong>05</strong>. Bankenrecht Der Bundesgerichtshof verhandelt<br />
am Dienstag darüber, ob Banken und Sparkassen<br />
von Kunden ein Bearbeitungsentgelt fordern dürfen,<br />
wenn die einen Darlehensvertrag abschließen.<br />
Rundfunkgebühr Der Verfassungsgerichtshof<br />
Rheinland-Pfalz entscheidet, ob die Anfang 2013<br />
eingeführte Zwangsabgabe für den Rundfunk<br />
rechtmäßig ist. Zwei Tage später, am Donnerstag,<br />
verkündet der Bayerische Verfassungsgerichtshof<br />
sein Urteil zum neuen Rundfunkbeitrag.<br />
14.<strong>05</strong>. Porsche Das Landgericht Braunschweig<br />
verhandelt am Mittwoch<br />
über Klagen von Fonds und Anlegern,<br />
die von Porsche Schadensersatz<br />
von insgesamt 2<strong>12</strong> Millionen<br />
Euro fordern. Hintergrund ist der gescheiterte Plan<br />
von Porsche, 2008/09 VW zu übernehmen.<br />
15.<strong>05</strong>. Konjunktur Das Statistische Bundesamt berichtet<br />
am Donnerstag über das deutsche Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) im ersten Quartal. Im vierten Quartal<br />
war es gegenüber dem Vorquartal um 0,4 Prozent<br />
gestiegen und gegenüber dem Vorjahresquartal<br />
um 1,3 Prozent. Über das BIP der Euro-Länder<br />
informiert die EU-Behörde Eurostat.<br />
18.<strong>05</strong>. Mindestlohn Die Schweizer stimmen am Sonntag<br />
darüber ab, ob das Land einen gesetzlichen<br />
Mindestlohn von 22 Franken (rund 18 Euro) pro<br />
Stunde einführen soll. In Deutschland gilt von 2015<br />
an ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro.<br />
MBB CLEAN ENERGY<br />
Angst um Anleihe<br />
In die Liste notleidender Mittelstandsanleihen<br />
wie Zamek<br />
oder Strenesse reiht sich<br />
womöglich auch MBB Clean<br />
Energy ein. Das bayrische<br />
Unternehmen sammelte<br />
2013 bei Anlegern 72 Millionen<br />
Euro ein. Das Geld sollte<br />
in bestehende Wind- und<br />
Solarparks fließen. Am Dienstag<br />
sagte MBB-Clean-Energy-<br />
Chef Eckhart Misera die<br />
erstmals fällige Zinszahlung<br />
von 4,5 Millionen Euro ab. Er<br />
will die Auszahlung „zeitnah“<br />
nachholen. Das hänge von<br />
einem neuen Investor ab.<br />
Skeptische Anleihegläubiger<br />
fürchten hingegen um ihr Geld.<br />
Denn wofür Misera die 72 Millionen<br />
Euro ausgegeben hat, ist<br />
unklar. Jedenfalls nicht für angeblich<br />
schon abgeschlossene<br />
Geschäfte. So dementierte der<br />
BERLINER SCHLOSS<br />
Steuergeld<br />
statt Spenden<br />
Der Nachbau des Berliner<br />
Schlosses droht den Steuerzahler<br />
stärker zu belasten als kalkuliert.<br />
Insgesamt soll es 619 Millionen<br />
Euro kosten, davon<br />
Wirtschaft hält sich zurück<br />
Modell des Berliner Schlosses<br />
sollen 109 Millionen Euro aus<br />
Spenden finanziert werden.<br />
Bisher gingen laut Bundesbauministerium<br />
aber nur 17,6 Millionen<br />
Euro an Spenden ein.<br />
Bleibt es bei der Zurückhaltung<br />
bis zur Fertigstellung 2018,<br />
könnte der Bund gezwungen<br />
sein, nachzuschießen. Eigentlich<br />
soll er nur 478 Millionen<br />
Euro zahlen. 32 Millionen Euro<br />
übernimmt die Stadt Berlin.<br />
Für Arbeiten an Fassade und<br />
Kuppel „benötigen wir in diesem<br />
und im nächsten Jahr weitere<br />
Millionenspenden“, so die<br />
Stiftung Berliner Schloss. Bisher<br />
lägen „keine größeren Spendenzusagen<br />
aus dem Kreis der<br />
deutschen Wirtschaft vor“.<br />
christian.schlesiger@wiwo.de | Berlin<br />
US-Maschinenbaukonzern<br />
Dresser-Rand im Februar den<br />
von MBB Clean Energy angekündigten<br />
Erwerb von drei Solarparks<br />
auf Sizilien. Und den<br />
Windpark Nulvi-Tergo auf Sardinien,<br />
den Misera im September<br />
2013 erworben haben will,<br />
führt der angebliche Verkäufer<br />
Fri-el immer noch im eigenen<br />
Portfolio. MBB Clean Energy erklärt<br />
auf Anfrage, dass sich der<br />
Kauf dieser Parks „aufgrund der<br />
Gespräche mit Großinvestoren<br />
verzögert“ habe.<br />
harald.schumacher@wiwo.de, mario brück<br />
FOTOS: GETTY IMAGES/BLOOMBERG, BLOOMBERG/PETER FOLEY, LAIF/ZENIT/LANGROCK<br />
<strong>12</strong> Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft<br />
CHEFSESSEL<br />
START-UP<br />
SIEMENS<br />
Lisa Davis, 50, leitet von<br />
August an das Energiegeschäft<br />
des Münchner Technologiekonzerns<br />
sowie dessen<br />
Aktivitäten in Nord- und<br />
Südamerika. Derzeit führt<br />
die Chemie-Ingenieurin die<br />
Strategieabteilung des britisch-niederländischen<br />
Ölkonzerns<br />
Shell und sitzt dem<br />
Aufsichtsrat von Shell<br />
Deutschland vor. Bei Siemens<br />
löst sie Michael Süß,<br />
50, ab. Der Personalwechsel<br />
ist Teil eines breit angelegten<br />
Programms, mit dem Siemens-Chef<br />
Joe Kaeser, 56,<br />
das Unternehmen zu alter<br />
Stärke zurückführen will. In<br />
den vergangenen Jahren waren<br />
die Münchner im Vergleich<br />
zu General Electric bei<br />
Rendite und Innovationen<br />
zurückgefallen. Davis soll<br />
neue Akzente setzen.<br />
BEIERSDORF<br />
May Shana’a wird Anfang Oktober<br />
Entwicklungschefin des<br />
Hamburger Kosmetikkonzerns.<br />
Der bisherige Leiter der Hautforschung,<br />
Klaus-Peter Wittern,<br />
gilt bei Beiersdorf als Ikone, seit<br />
1977 arbeitet er schon beim Nivea-Hersteller.<br />
Wittern war es,<br />
der den hauteigenen Q10 als<br />
Wirkstoff in Hautpflegeprodukten<br />
entdeckte und das Nivea<br />
Black & White Deo entwickelte,<br />
die erfolgreichsten Produktneuheit<br />
in der über 130-jährigen<br />
Firmenhistorie. Shana’a war<br />
mehr als 20 Jahre lang im Bereich<br />
der Körperpflege und Kosmetik<br />
tätig. Zuletzt leitete sie die<br />
Forschungs- und Entwicklungsabteilung<br />
der amerikanischen<br />
Chemiefirma Ashland Specialty<br />
Ingredients. Zuvor war sie in<br />
den Forschungsabteilungen<br />
von Johnson & Johnson (bebe)<br />
sowie bei Unilever (Dove).<br />
SAP<br />
Vishal Sikka, 46, Technikvorstand<br />
des Softwarekonzerns, ist<br />
zurückgetreten – „aus persönlichen<br />
Gründen“, so SAP. Für<br />
Sikka rücken Vertriebschef Rob<br />
Enslin, 51, und Bernd Luekert,<br />
46, Chef der Anwendungsentwicklung,<br />
in den Vorstand auf.<br />
Sikka galt als Schützling von<br />
SAP-Gründer Hasso Plattner,<br />
70, der betonte: „Unsere<br />
Freundschaft bleibt bestehen.“<br />
WiWo-Reise zu Start-ups<br />
Wollten Sie schon immer<br />
einmal den experimentellen<br />
Gründergeist der Berliner<br />
Start-up-Szene – natürlich<br />
außerhalb des Regierungsviertels<br />
– persönlich und live<br />
erleben? Sich von neuen<br />
Geschäftsideen inspirieren<br />
lassen? Dann melden Sie<br />
sich umgehend an für die<br />
einmalige WirtschaftsWoche<br />
Start-up-Tour am 13. Juni<br />
dieses Jahres.<br />
Alle Details zu dieser<br />
exklusiven Erkundungsreise<br />
finden Sie im Internet unter:<br />
www.wiwo.de/startup<br />
QLEARNING<br />
Büffeln per Smartphone<br />
Wie viele Studenten ärgerte sich Korbinian Weisser (2. Reihe<br />
Mitte) über die Materialien zur Vorbereitung einer Klausur. Gemeinsam<br />
mit seinem Kommilitonen Felix Klühr (ganz links) entwarf<br />
der angehende Betriebswirt eigene Tests zum Üben. „Es wäre<br />
schade um die Arbeit, wenn die nach uns keiner weiternutzt“, sagte<br />
sich Weisser. Da zwei andere Studenten für ihren Kurs eine Smartphone-App<br />
programmieren mussten, taten sie sich zusammen.<br />
Nach dem Uni-Abschluss gründeten sie das Start-up QLearning.<br />
Mit ihrer kostenlosen App bieten sie nun Studenten Multiple-<br />
Choice-Tests und andere Materialien zur Prüfungsvorbereitung<br />
an. Der Schwerpunkt liegt auf Wirtschaftswissenschaften, Materialien<br />
für Ingenieure und Naturwissenschaftler sollen verstärkt<br />
hinzukommen. Die Inhalte sind auf spezifische Kurse zugeschnitten<br />
und werden von Studenten erstellt, die diese erfolgreich<br />
absolviert haben. Geld verdient QLearning mit Werbung von<br />
Unternehmen wie Deloitte, Roland Berger oder Rewe.<br />
Unter den 45 Hochschulen sind auch erste Institute aus anderen<br />
Ländern, so aus der Schweiz und aus den Niederlanden.<br />
Weisser will in weitere<br />
Fakten zum Start<br />
Team momentan 15 Mitarbeiter<br />
Angebot derzeit Materialien für<br />
220 Kurse an 45 Hochschulen<br />
Finanzierung von der Deutschen<br />
Telekom, K5 Venture und M-Investar<br />
mehrere Hunderttausend Euro<br />
europäische Staaten<br />
expandieren. „Speziell in<br />
Großbritannien und in<br />
Skandinavien, aber auch<br />
ein wenig in Polen, Frankreich,<br />
Italien oder Spanien“,<br />
kündigt der Unternehmensgründer<br />
an.<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA, PR<br />
14 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Menschen der Wirtschaft | Chefbüro<br />
Jürgen Leiße<br />
Deutschland-Chef des Lebensmittelmultis Mondelez<br />
Noch prangt Jacobs auf dem<br />
blauen Banner, das im Chefbüro<br />
hängt. „Nur die großen geschäftstreibenden<br />
Marken stehen<br />
darauf“, sagt Jürgen Leiße,<br />
51, der die Geschäfte des amerikanischen<br />
Lebensmittelriesen<br />
Mondelez in Deutschland, Österreich<br />
und der Schweiz leitet.<br />
Milka-Schokolade, Philadelphia-Käse<br />
und Oreo-Kekse gehören<br />
ebenso dazu wie Jacobs<br />
und Tassimo. Doch die beiden<br />
Kaffeemarken kann Leiße bald<br />
streichen. Mondelez bringt sie<br />
in das Unternehmen Jacobs<br />
Douwe Egberts ein, das der<br />
Konzern jetzt mit der niederländischen<br />
Kaffeefirma D.E.Masters<br />
Blenders gründet. Hinter<br />
ihr steht die deutsche Unternehmerfamilie<br />
Reimann.<br />
Seit Sommer<br />
2010 residiert Leiße<br />
im Chefbüro in Bremen,<br />
gemeinsam mit<br />
dem hiesigen Finanzchef<br />
und dem Chefjuristen.<br />
Die letzten<br />
Einzelbüros wurden<br />
360 Grad<br />
In unseren App-<br />
<strong>Ausgabe</strong>n finden<br />
Sie an dieser<br />
Stelle ein interaktives<br />
360°-Bild<br />
20<strong>12</strong> aufgelöst. „Sie passen<br />
nicht mehr zu der Art und Weise,<br />
wie wir operieren wollen:<br />
transparent und schnell“, sagt<br />
Leiße. „Wir haben einen anderen<br />
Kommunikationsstil als<br />
früher.“ Dazu trügen nicht nur<br />
Notebooks und Smartphones<br />
bei, sondern eben auch die<br />
Form der Büros. „Die Leute verstehen<br />
sich ganz anders, wenn<br />
sie keine Wände zwischen<br />
sich haben“,<br />
lobt Leiße. Genauso<br />
wichtig ist ihm sein<br />
„Tagesjournal“. So<br />
nennt er die Kladde,<br />
die er fast immer bei<br />
sich trägt. „Ich schreibe<br />
permanent mit“,<br />
zumal er in Konferenzen sein<br />
Smartphone ausschaltet und<br />
auf seinen Laptop verzichtet.<br />
„Der Respekt gegenüber den<br />
Kollegen gebührt es, dass man<br />
in Besprechungen nicht permanent<br />
mit dem iPhone operiert.“<br />
Komplett abschalten kann<br />
Leiße zu Hause – am Herd. „Kochen<br />
hat was Entspannendes“,<br />
sagt Leiße. „Ich probiere viel<br />
aus. Manchmal freut sich meine<br />
Familie, manchmal nicht. Mit<br />
seiner Frau und seinem fünfjährigen<br />
Sohn wohnt er in<br />
einem Bremer Vorort „mit dörflichem<br />
Charakter“, wie Leiße<br />
betont. Aber „in weniger als<br />
20 Minuten bin ich im Büro“.<br />
hermann.olbermann@wiwo.de<br />
FOTO: ARNE WEYCHARDT FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
16 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Wolfgang, rück die<br />
Kohle raus!<br />
STEUERN | Die neue Steuerschätzung belegt: Der Staat schwimmt geradezu im Geld.<br />
Noch weigert sich der Bundesfinanzminister, die durch kalte Progression geschröpften<br />
Arbeitnehmer in Deutschland zu entlasten. Doch der Druck auf Wolfgang Schäuble<br />
wächst – auch aus der SPD und den Gewerkschaften.<br />
Der Silvester-Klassiker „Dinner<br />
for one“ lässt grüßen. „Same<br />
procedure as last year“, fragt<br />
der getreue Diener seine Chefin.<br />
Und Miss Angie antwortet<br />
wie stets: „Same procedure as every year,<br />
Wolfgang!“<br />
Finanzminister Schäuble kann sich vorerst<br />
darauf einrichten, dass Kanzlerin Angela<br />
Merkel beim traditionell eingeübten<br />
Ablauf bleibt: Mögen die Hochrechnungen<br />
der Steuerschätzer auch immer weiter<br />
steigende Einnahmen hergeben, es bleibt<br />
beim strengen Nein auf die Frage, ob die<br />
Bürger nicht endlich wenigstens etwas von<br />
dem zurückbekommen könnten, was sie<br />
durch die sogenannte kalte Progression zu<br />
viel beim Finanzamt abliefern müssen.<br />
Dieses Mal setzte Miss Angie sogar noch<br />
einen drauf. Ihr fehle die „Fantasie“, um<br />
sich vorzustellen, wie sich eine Rückgabe<br />
des Extra-Inkassos überhaupt finanzieren<br />
ließe.<br />
Seit Donnerstag vergangener Woche bedarf<br />
es freilich keiner blumigen Vorstellungskraft<br />
mehr, denn der Beweis liegt<br />
Schwarz auf Weiß vor: Dank des Wirtschaftswachstums<br />
und der Preissteigerungen<br />
sprudeln die Steuereinnahmen unvermindert<br />
weiter. Bis zum Ende des Prognosezeitraums<br />
2018 summiert sich das Plus<br />
für Bund, Länder und Kommunen im Vergleich<br />
zu diesem Jahr auf über 240 Milliarden<br />
Euro. Allein im Jahr 2018 stehen ihnen<br />
dann satte 96 Milliarden mehr zur Verfügung.<br />
Das sind noch einmal 16,4 Milliarden<br />
Euro mehr als bei der letzten Steuerschätzung<br />
im vergangenen November kalkuliert.<br />
Die Stadtkämmerer und Finanzminister<br />
eilen von Rekord zu Rekord.<br />
Es läuft und läuft und läuft...<br />
Einnahmen desStaates ausder kalten<br />
Progression beider Einkommensteuer*<br />
2011<br />
20<strong>12</strong><br />
2013<br />
<strong>2014</strong><br />
2015<br />
2016<br />
2017<br />
2,9<br />
5,7<br />
7,6<br />
9,2<br />
<strong>12</strong>,2<br />
* in Milliarden Euro; Quelle: Bund der Steuerzahler<br />
15,7<br />
18,7<br />
Doch Schäuble rechnet sich trickreich<br />
arm. Nicht mit Bedauern, eher mit stiller<br />
Zufriedenheit stellt der Kassenwart fest,<br />
dass „entgegen vieler Spekulationen“ nun<br />
doch kein Geld für Steuerentlastungen in<br />
Sicht sei, „keinerlei Spielraum“. Für das laufende<br />
Jahr ergebe sich sogar ein kleiner<br />
Rückgang bei den Einnahmen. Und natürlich<br />
habe man für die Berechnungen noch<br />
nicht einmal „Verschlechterungen aus den<br />
geopolitischen Entwicklungen“ einkalkuliert.<br />
Ein möglicher Konjunktureinbruch<br />
durch die Ukraine-Krise ist also gedanklich<br />
noch zusätzlich abzuziehen.<br />
Statt mit der November-Prognose vergleicht<br />
er die am Donnerstag vorgestellte<br />
Schätzung lieber mit dem Eckwertebeschluss<br />
für den <strong>2014</strong>er-Bundeshaushalt<br />
und der mittelfristigen Finanzplanung<br />
<strong>vom</strong> März. Da hatte die Regierung schon<br />
mit höheren Einnahmen kalkuliert – aber<br />
auch mit höherem Finanzbedarf. Denn die<br />
neue schwarz-rote Regierung hat in ihrem<br />
Koalitionsvertrag etliche neue <strong>Ausgabe</strong>n<br />
festgeschrieben, die finanziert sein wollen:<br />
für Bildung und Forschung, für soziale Förderung<br />
und Straßenbau, für Entwicklungshilfe<br />
und Wohnungsbau. Nur für die Steuerzahler,<br />
deren Belastung durch die kalte<br />
Progression von Jahr zu Jahr wächst, bleibt<br />
wieder nichts übrig. Die Steuerquote steigt.<br />
Bei historisch niedriger Geldentwertung<br />
von unter zwei Prozent pro Jahr klingt ein<br />
steuerlicher Inflationsausgleich vielleicht<br />
zunächst vernachlässigbar. Beim genauen<br />
Nachrechnen entpuppt sich die kalte Progression<br />
aber als gigantische Umverteilung<br />
von Privat zum Staat. Gerechnet seit dem<br />
Jahr 2010, addieren sich die Sonderlasten<br />
der Bürger und kleinen Unternehmen, die<br />
beispielsweise als GbR oder Einzelkaufmann<br />
nach der Einkommensteuertabelle<br />
abkassiert werden, auf gigantische 72 Milliarden<br />
Euro, hat das Steuerzahlerinstitut errechnet.<br />
Allein in dieser Legislaturperiode<br />
werden es 55,8 Milliarden Euro sein, weil<br />
die schwarz-gelbe Bundesregierung ihr<br />
Entlastungs-Vorhaben zu spät startete und<br />
es den SPD-geführten Ländern im Bundesrat<br />
leicht machte, den damaligen Gesetzentwurf<br />
zu blockieren.<br />
ENORME SUMME<br />
Die enorme Summe kommt zustande, weil<br />
selbst eine Lohnerhöhung, die nur die<br />
Preissteigerung ausgleicht, zu einem höheren<br />
Steuersatz führt. In einem progressiven<br />
Steuertarif steigt die Belastung auch dann,<br />
wenn die Kaufkraft real gar nicht zunimmt.<br />
Das nennen Experten „kalte Progression“.<br />
Das Steuerzahlerinstitut nimmt als Basis<br />
für seine Berechnungen das Ausgangsjahr<br />
2010, weil der Lohn- und Einkommen-<br />
»<br />
FOTO: LAIF/STEFAN THOMAS KRÖGER<br />
18 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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€Bis 2018 summiert sich das<br />
Steuer-Plus für Bund, Länder und<br />
Kommunen im Vergleich zu diesem<br />
Jahr auf über 240 Milliarden Euro.<br />
Allein im Jahr 2018 stehen ihnen<br />
dann rund 96 Milliarden Euro<br />
mehr zur Verfügung.<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
steuertarif damals letztmalig reformiert<br />
und angepasst wurde. Seitdem hat der Gesetzgeber<br />
lediglich in diesem Jahr den<br />
Grundfreibetrag von 8004 auf 8130 Euro erhöht.<br />
Im Januar 2015 springt er dann auf<br />
8354 Euro. Deren Entlastungswirkung haben<br />
die Wissenschaftler bereits einkalkuliert.<br />
Trotzdem kommen jene horrenden<br />
55,8 Milliarden Euro zusammen. Der Sachverständigenrat<br />
berechnet seine Progressionswerte<br />
sogar auf der Basis von 2006,<br />
während das Bundesfinanzministerium<br />
das Jahr 2013 als Ausgangswert ansetzt.<br />
Kein Wunder, dass bei den Regierungsbeamten<br />
geringere Werte herauskommen.<br />
RUF NACH ENTLASTUNG<br />
Kein Wunder aber auch, dass angesichts<br />
der immer neuen realen Einnahmerekorde<br />
die Rufe nach Entlastung immer lauter<br />
werden. „In die Steinkohlesubventionierung<br />
fließen Milliarden, für die Förderung<br />
von Kinofilmen wie ‚Monuments Men‘ haben<br />
die Steuerzahler über 8,5 Millionen<br />
Euro bezahlen müssen“, schimpft Reiner<br />
Holznagel, Präsident des Bundes der Steuerzahler.<br />
„Damit Kleingärtner mehr über<br />
die Ökologie erfahren, stellt die Politik über<br />
160 000 Euro zur Verfügung. Wenn es aber<br />
um den Abbau der kalten Progression geht,<br />
entdecken unsere Spitzenpolitiker Haushaltslöcher,<br />
Investitionsbedarf bei der Infrastruktur<br />
und die Notwendigkeit, noch<br />
mehr Geld in die Bildung zu investieren.“<br />
Sparen, entlasten und Prioritäten setzen<br />
seien im politischen Berlin anscheinend<br />
Fremdwörter. Holznagels Forderung: „Angesichts<br />
der gigantischen Steuereinnahmen<br />
müssen endlich die Steuerzahler entlastet<br />
werden – sprich: Die kalte Progression<br />
muss abgebaut werden!“<br />
Im Lichte der Rekordeinnahmen kommt<br />
Unterstützung neuerdings sogar von der<br />
SPD. „Schäuble muss einen Vorschlag machen,<br />
wie wir das Thema kalte Progression<br />
in dieser Legislaturperiode lösen können“,<br />
verlangt der Parteivorsitzende und Vizekanzler<br />
Sigmar Gabriel <strong>vom</strong> Finanzminister.<br />
„Das kann man nicht machen, bei diesen<br />
Riesensteuereinnahmen das Thema<br />
nicht anzugehen.“<br />
Zwei Gründe führt er an, weshalb jetzt<br />
alles anders sei als vor der Bundestagswahl.<br />
„Damals hatten wir diese Riesensteuereinnahmen<br />
nicht – und jetzt haben<br />
wir die Gewerkschaften an unserer Seite.<br />
Das ist ein großer Vorteil.“ Und der zeige<br />
bereits Wirkung, denn unter den Genossen<br />
bröckele der Widerstand gegen einen Abbau<br />
der kalten Progression, den die SPD im<br />
Klammheimlich kassiert der Staat immer mehr<br />
Zusätzliche Belastung durch die kalte Progression in dieser Legislaturperiode (in Euro)<br />
Zu versteuerndes<br />
Jahreseinkommen*<br />
24 000<br />
42 000<br />
75 000<br />
<strong>12</strong>0 000<br />
250 000<br />
24 000<br />
42 000<br />
75 000<br />
<strong>12</strong>0 000<br />
250 000<br />
Kalte<br />
Progression<br />
<strong>2014</strong><br />
175<br />
399<br />
558<br />
558<br />
1110<br />
Single<br />
Familie (Ehepaar mit 2 Kindern)<br />
151<br />
298<br />
663<br />
1115<br />
1115<br />
Kalte<br />
Progression<br />
2015<br />
* Basisjahr 2010 (letzte Tarifreform), Annahmen: Tarif <strong>2014</strong>; keine Tarifänderungen 2015 bis 2017; unterstellte Inflationsraten<br />
2011 bis 2017: (2,1 %; 2,0 %; 1,5;1,5 %; 1,8 %; 1,8 %; 1,8 %); Solidaritätszuschlag ist berücksichtigt;<br />
Quelle: Deutsches Steuerzahlerinstitut des Bundes der Steuerzahler<br />
Wahlprogramm fest mit einer Erhöhung<br />
des Spitzensteuersatzes verknüpft hatte.<br />
„In der Fraktion teilen die meisten meine<br />
Position. Da sind nur noch ganz wenige<br />
anderer Meinung.“ Außerdem erinnert Gabriel<br />
daran, dass eine Gegenfinanzierung<br />
durch einen höheren Spitzensteuersatz für<br />
gut Verdienende nicht mehr infrage komme.<br />
„Die SPD-Mitglieder haben mit 80 Prozent<br />
gegen Steuererhöhungen gestimmt“,<br />
verweist er fast schon frech auf die hohe<br />
Rate, mit der die Genossen in der Mitgliederbefragung<br />
dem Koalitionsvertrag ihren<br />
Segen gaben.<br />
Wo geht es hin, das schöne Geld?<br />
<strong>Ausgabe</strong>n des Bundes nach Aufgabenbereichen<br />
Politische Führung/Verwaltung<br />
Verteidigung<br />
Bildung, Forschung, Kultur<br />
Soziale Sicherung<br />
Gesundheit, Umwelt, Sport<br />
Wohnungswesen<br />
Ernährung<br />
Gewerbe, Energie, Wasserwirtschaft<br />
Verkehrs- und Nachrichtenwesen<br />
Finanzwirtschaft, Schulden<br />
Zum Vergleich:<br />
Steuereinnahmen des Bundes<br />
* Entwurf des Bundeshaushaltes<br />
20<strong>05</strong><br />
7,8<br />
27,8<br />
11,4<br />
133,0<br />
0,9<br />
1,8<br />
1,0<br />
5,5<br />
11,1<br />
38,5<br />
190,2<br />
243<br />
531<br />
724<br />
724<br />
1430<br />
230<br />
420<br />
887<br />
1447<br />
1447<br />
Kalte<br />
Progression<br />
2016<br />
313<br />
668<br />
893<br />
893<br />
1755<br />
3<strong>12</strong><br />
543<br />
1<strong>12</strong>2<br />
1787<br />
1787<br />
Kalte<br />
Progression<br />
2017<br />
385<br />
8<strong>12</strong><br />
1066<br />
1066<br />
2086<br />
400<br />
671<br />
1366<br />
2131<br />
2131<br />
In dieser Legislaturperiode<br />
zu viel gezahlt<br />
1116<br />
2410<br />
3241<br />
3241<br />
6381<br />
1093<br />
1932<br />
4038<br />
6480<br />
6480<br />
Auch ein Veto der SPD-regierten Bundesländer<br />
hält der Parteichef heute für<br />
weitaus unwahrscheinlicher als vor der<br />
Bundestagswahl: „Für die SPD-Länder wäre<br />
es heute viel schwieriger, das zu verweigern“,<br />
glaubt Gabriel. „Man sollte nicht unterschätzen,<br />
dass die Haltung der Gewerkschaften<br />
auch in den Ländern wirkt.“<br />
Mit den üppigen Lohnabschlüssen von<br />
über drei Prozent sehen vor allem die Chemiegewerkschaft<br />
IG BCE und die IG Metall<br />
dringenden Bedarf, dass von dem Geldsegen<br />
der Arbeitgeber auch genügend bei<br />
den Kollegen ankommt. Der DGB warb gar<br />
<strong>2014</strong>*<br />
13,8<br />
32,4<br />
19,2<br />
148,2<br />
2,0<br />
2,2<br />
1,0<br />
4,4<br />
16,4<br />
35,8<br />
268,2<br />
Veränderung<br />
(in Mrd. Euro)<br />
6,0<br />
4,6<br />
7,8<br />
15,2<br />
1,1<br />
0,4<br />
0<br />
–1,1<br />
5,3<br />
–2,7<br />
78,0<br />
Veränderung<br />
(in Prozent)<br />
76,9<br />
16,5<br />
68,4<br />
11,4<br />
<strong>12</strong>2,2<br />
22,2<br />
0<br />
–20,0<br />
47,7<br />
–7,0<br />
41,0<br />
FOTOS: CORBIS/WESTEND61/BERG/MITO IMAGES<br />
20 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
mit dem Argument, durch einen Abbau der<br />
kalten Progression ließe sich die wachsende<br />
Kluft zwischen Arm und Reich wenigstens<br />
ein wenig verringern.<br />
UNION VERÄRGERT<br />
Der Koalitionspartner Union sieht die Vorstöße<br />
aus dem Lager der Genossen mit<br />
wachsendem Ärger. Schließlich hatte die<br />
SPD in der vergangenen Legislaturperiode<br />
den entsprechenden Gesetzentwurf der<br />
schwarz-gelben Regierung zweieinhalb<br />
Jahre lang blockiert. „Damals hätten wir<br />
die Spielräume gehabt“, schimpft die sonst<br />
so ruhige CSU-Landesgruppenvorsitzende<br />
Gerda Hasselfeldt. „Jetzt haben wir einen<br />
ausgeglichenen Haushalt als oberstes Ziel<br />
vereinbart.“ Außerdem sei ein 23 Milliarden<br />
Euro schweres <strong>Ausgabe</strong>npaket zu<br />
schultern. Bei der Entlastung der Steuerzahler<br />
brauche die Union keine Nachhilfe.<br />
„Ich hätte mir gewünscht, dass die SPD die<br />
Vertretung der Arbeitnehmerinteressen<br />
früher entdeckt hätte.“ Jetzt stelle sie munter<br />
Forderungen auf, und die Union solle<br />
dann sagen, dass die nicht finanzierbar<br />
sind. „Diese Arbeitsteilung ist unkollegial.“<br />
SPD-Chef Gabriel will das nicht auf sich<br />
sitzen lassen: „Das Spiel können wir endlos<br />
weiterspielen: Warum hat die Union damals<br />
nicht zugestimmt, als wir die Entlastung<br />
mit Subventionsabbau gegenfinanzieren<br />
wollten? So kommen wir nicht weiter.“<br />
NEUE SPIELRÄUME AB 2016<br />
Auch Hasselfeldts Parteifreund Hans Michelbach<br />
wirbt für mehr Mut – und Geduld.<br />
„Es ist verständlich, dass man erst<br />
mal das Ziel des ausgeglichenen Haushalts<br />
erreichen will“, sagt der Finanz- und Mittelstandspolitiker.<br />
„Aber danach kann man<br />
sich ja neue Ziele setzen.“ Der Haushalt ohne<br />
neue Schulden werde ja schon 2015<br />
Realität. „Ab 2016 gibt es neue Spielräume.<br />
Der steuergefräßige Staat kann nicht auf<br />
Dauer die Einnahmen aus der kalten Progression<br />
für sich behalten.“ Wenn die Inflation<br />
nur etwas ansteigt, werde das für die<br />
Arbeitnehmer zum Problem.<br />
Schäuble indes ist entschlossen, keinen<br />
Euro rauszurücken. „Die Aufgabe der Regierung<br />
ist es, auf die Faktenlage hinzuweisen“,<br />
sagt er nüchtern. Und das will er beständig<br />
tun, denn „schon die alten Römer<br />
wussten: Die Wiederholung ist die Mutter<br />
allen Lernens.“ Die Anwälte der Steuerzahler<br />
müssen also mindestens genauso ausdauernd<br />
mahnen wie Schäuble. Same procedure<br />
as every year, Wolfgang.<br />
n<br />
henning.krumrey@wiwo.de | Berlin<br />
So fern –<br />
und doch fast nah<br />
BUNDESTAG | Junge Unternehmer hospitieren eine Woche lang bei<br />
Abgeordneten. Kann man bei dieser Politik miteinander reden?<br />
Es ist Tag drei von fünf in der Hauptstadt,<br />
als Maurice Dietrich sein Besteck<br />
neben das Mittagsschnitzel<br />
legt, um ein Vorurteil abzuräumen, ein für<br />
alle Mal. „Die müssen“, sagt er, „echt viel<br />
tun für ihre Diäten.“ Die, das sind die Abgeordneten<br />
des Deutschen Bundestages.<br />
Und Dietrich – 25 Jahre, Prokurist bei der<br />
gleichnamigen Mittelständlergruppe seines<br />
Vaters – weiß jetzt, wovon er redet. Er<br />
ist schließlich so nah dran wie nie zuvor.<br />
„Junge Wirtschaft trifft Politik“ heißt das<br />
Programm, das 150 Mitglieder aus dem<br />
Verband der Wirtschaftsjunioren und<br />
ebenso viele Parlamentarier zu ungewohnten<br />
Pärchen verkuppelt. Miteinander diskutieren<br />
statt übereinander schimpfen – so<br />
lautet die inoffizielle Überschrift. Und<br />
gleichzeitig die Hoffnung. Denn zu streiten,<br />
über Rente oder Mindestlohn, gäbe es<br />
gerade genug, besonders wenn man wie<br />
Dietrich in der Regierungsfraktion der SPD<br />
hospitiert. Gegen die Rentenpläne organisieren<br />
die Jungunternehmer in ihrer Berlin-Woche<br />
sogar eigens eine Demo.<br />
Warum, dass erfährt die SPD-Abgeordnete<br />
Petra Crone gleich am Montag, schon<br />
wenige Minuten nach dem freundlichen<br />
Willkommens-Händedruck in ihrem Büro.<br />
Da erzählt Dietrich seiner Gastgeberin von<br />
einem seiner altgedienten Mitarbeiter, der<br />
die Tage zählt, bis die abschlagsfreie Rente<br />
ab 63 endlich Gesetz ist. Er schildert, welche<br />
Schwierigkeiten er hat, diese Lücke auf<br />
die Schnelle zu füllen.<br />
Aber Streit? Streit klingt anders. „Kritik<br />
an unserer Politik ist in Ordnung“, sagt Crone.<br />
„Ich erkenne sie an – aber ich muss<br />
eben auch andere Sichtweisen berücksichtigen.“<br />
Crone und Dietrich kommen aus<br />
demselben Wahlkreis Olpe/Märkischer<br />
Kreis in Nordrhein-Westfalen, Dietrichs<br />
Onkel ist in der Heimat sogar Crones Nachbar.<br />
Außerdem: Bei Problemen wie<br />
»Die müssen<br />
echt viel tun<br />
für ihre Diäten«<br />
Wie nett hier!<br />
Petra Crone trifft<br />
Maurice Dietrich<br />
»<br />
Maurice Dietrich<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 21<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
Fachkräftemangel und Landflucht sind<br />
sich die beiden sehr schnell wieder einig.<br />
Das hilft.<br />
Die Sozialdemokratin muss sich in einem<br />
tiefschwarzen Wahlkreis behaupten,<br />
gerade deswegen will sie die örtlichen<br />
Handwerkskammern und Arbeitgeberverbände<br />
nicht alleine der CDU-Konkurrenz<br />
überlassen, regelmäßig besucht sie Betriebe.<br />
Dass die SPD keine Wirtschaftspartei<br />
sei, „stimmt doch gar nicht“, findet sie. Deshalb<br />
mache sie ja auch bei diesem Programm<br />
mit: „Weil ich die Denke noch besser<br />
verstehen will.“<br />
Das Tempo im Regierungsviertel wiederum<br />
nötigt Dietrich Respekt ab. Arbeitsgruppe,<br />
Fraktionssitzung, das Rennen von<br />
Ausschuss zu Ausschuss, Papiere hier, Anfragen<br />
dort, vielleicht noch eine Rede im<br />
Plenum, Abendempfänge, so geht es <strong>vom</strong><br />
frühen Morgen bis hinein in die Frühlingsnächte.<br />
Dienstschluss? Die Leben als Unternehmer<br />
und als Politikerin haben da eine<br />
bemerkenswerte Parallele: Sie saugen<br />
einen ziemlich auf. Sie lassen wenig Zeit<br />
zum Innehalten, Nachdenken – erst recht<br />
nicht zum Infragestellen.<br />
EIGENTLICH NIE FEIERABEND<br />
Dietrich hat im 70-Leute-Betrieb des Vaters<br />
schon als Schüler sein erstes Geld verdient<br />
und später dort Industriekaufmann<br />
gelernt. Heute leitet er den Betrieb für filigrane<br />
Kunststoffkomponenten in Autos<br />
oder Medizingeräten schon mit, obwohl zu<br />
seinem Management-Bachelor in Köln<br />
noch vier Klausuren fehlen. Isst er abends<br />
mit seinen Eltern, dann gibt es immer das<br />
gleiche Tischgespräch als Beilage: das Geschäft.<br />
„Eigentlich ist nie Feierabend“, sagt<br />
er, „die Firma ist immer im Kopp.“<br />
Dass dieses vermeintlich ferne, hektische<br />
Schauspiel namens Politik für Dietrich<br />
und seine Leute ziemlich handfeste<br />
Folgen haben kann, wird ihm endgültig<br />
deutlich, als er am vergangenen Donnerstag<br />
im Bundestag auf den Besucherplätzen<br />
sitzt und der Debatte zum Erneuerbaren-<br />
Energien-Gesetz lauscht. In diesem Jahr<br />
hat die Firmen-Gruppe die EEG-Befreiung<br />
verloren. „Das ist schon ein bisschen Geld“,<br />
sagt der Juniorchef. „Und da brauchen Sie<br />
keinem Kunden mit kommen.“ Will heißen:<br />
Die Firma muss es mühsam an anderer<br />
Stelle herausschwitzen.<br />
Petra Crone wird auch über dieses Gesetz<br />
abstimmen und vielleicht bei ihrer<br />
Entscheidung an Maurice Dietrich und die<br />
Folgen denken. Vielleicht.<br />
n<br />
max.haerder@wiwo.de I Berlin<br />
Milchgeld<br />
LANDWIRTSCHAFT | Fünf Jahre nach der großen Milchkrise:<br />
Der Strukturwandel hat stattgefunden, doch von klagenden Bauern<br />
hört man nichts mehr. Denn wer heute noch Kühe hat, verdient<br />
gutes Geld damit.<br />
Ihre Kühe sind weg, nach 600 Jahren<br />
Familienbetrieb. Christine Schneebichler<br />
und ihr Mann haben die Tiere verkauft,<br />
alle 50, auf einen Schlag. Sie sagt:<br />
„Wir haben einfach nicht mehr länger<br />
durchgehalten.“ Schneebichler ist eine beherzte<br />
Bäuerin, Ende 40, aus dem oberbayrischen<br />
Dorf Neubeuern. Ihr Leben<br />
spielte sich immer irgendwo ab zwischen<br />
Hof, Dorf und der einen oder anderen<br />
Fahrt ins benachbarte Rosenheim, von Zeit<br />
zu Zeit ging es auch mal nach München.<br />
Vor fünf Jahren aber wurde auf einmal alles<br />
anders. Statt in Neubeuern war sie nun in<br />
Berlin, campierte auf der großen Wiese<br />
zwischen Kanzleramt und Bundestag. Besser:<br />
Sie stand im Hungerstreik – und<br />
Deutschland schaute ihr dabei zu. Denn<br />
Schneebichler war plötzlich zum Mittelpunkt<br />
einer bundesweiten Diskussion<br />
geworden, die in der Rückschau fast ein<br />
bisschen absurd, zumindest aber ziemlich<br />
überdreht anmutet.<br />
Im Frühling 2009, während die Welt über<br />
die Finanzkrise grübelte, gab es in<br />
Deutschland nur ein Thema: den Milchpreis.<br />
Auf 23 Cent war der Abnahmepreis<br />
gesunken, die Bauern<br />
sagten: Davon können wir<br />
nicht leben. So vergossen<br />
sie ihre Milch auf der Straße.<br />
Und Deutschland<br />
nahm Anteil.<br />
Im Frühling <strong>2014</strong> liegt<br />
der Milchpreis bei über<br />
40 Cent. Wer immer<br />
noch Kühe hat, der<br />
verdient gerade gutes<br />
Geld damit. In fünf Jahren<br />
hat sich in der<br />
Milchwirtschaft alles<br />
geändert. Damit ist die<br />
Branche ein eindringliches<br />
Beispiel dafür,<br />
was passiert, wenn<br />
Subventions- auf<br />
Marktwirtschaft trifft –<br />
und wie heilsam es ist,<br />
wenn diese Verbindung<br />
endet.<br />
Lukratives Melken<br />
Milchpreis in Euro<br />
(Jahresmittel)<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20 <strong>05</strong> 13<br />
Quelle: Milchindustrie<br />
40 Cent, das bedeutet einen Preisanstieg<br />
um mehr als 50 Prozent. Innerhalb von<br />
fünf Jahren. Gerade haben die Discounter<br />
wieder ihre Preise für das kommende halbe<br />
Jahr verhandelt. Hätte das 2009 einer<br />
vorhergesagt, die Öffentlichkeit hätte über<br />
die Bauern vielleicht die Nase gerümpft, so<br />
wie es heute der eine oder andere tut,<br />
wenn er an den Streik der Lufthansa-Piloten<br />
denkt.<br />
DIE BAUERN KLAGTEN<br />
Doch die Lage war anders. Milchbauern<br />
hatten sich über Jahrzehnte an Subventionen<br />
gewöhnt, Milchseen waren in den<br />
Achtzigerjahren ein Synonym für die Fehlsteuerungen<br />
der EU, wie es heute Olivenkännchen<br />
oder die Gurkenkrümmung<br />
sind. Lange Jahre hatte man den Bauern einen<br />
auskömmlichen Milchpreis garantiert.<br />
2015 aber wird die Quote fallen. Um das<br />
vorzubereiten, wurde sie Jahr für Jahr erhöht.<br />
Die Bauern erhöhten die Produktionsmengen<br />
– und es gab zu viel Milch auf<br />
dem Markt. Das nutzten die großen Lebensmitteleinzelhändler.<br />
Sie drückten die<br />
Preise, man könnte das Marktwirtschaft<br />
nennen. Die Bauern aber klagten<br />
und fanden Gehör.<br />
Christine Schneebichler engagierte<br />
sich damals im Bund der<br />
Milchviehhalter. So wortgewandt<br />
sie ist, so schnell wurde<br />
sie zum Vorsprecher der<br />
Gruppe. Noch heute<br />
ist sie begeistert, wie<br />
gut das damals geklappt<br />
hat. „Wir haben<br />
überall gespürt, dass das<br />
Schicksal der Bauern die<br />
Menschen betroffen macht“,<br />
sagt Schneebichler. Sie wurde<br />
zu Talkshows eingeladen,<br />
organisierte Demonstrationen.<br />
So wurde auch ihre Forderung<br />
ziemlich schnell salonfähig:<br />
Der Markt ruiniert<br />
uns, die Politik soll helfen.<br />
Konkret wollte sie erreichen,<br />
dass der Milchpreis in die<br />
FOTOS: DDP IMAGES/STEFFI LOOS, FOTOLIA<br />
22 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Im Frühjahr 2009 trat Christine Schneebichler<br />
in den Hungerstreik – aus Protest<br />
gegen den niedrigen Milchpreis. Der hat<br />
aktuell ein Rekordhoch erreicht, doch davon<br />
hat sie nichts. Die Kühe sind verkauft – ihr<br />
geht es trotzdem gut<br />
Hand der Bauern gelegt würde, die ihn an<br />
den Produktionskosten ausrichten würden.<br />
Klingt nach Sozialismus, doch 2009<br />
konnte man das sagen.<br />
Schneebichler wollte einen „Milchgipfel“,<br />
auf dem die Politik das beschließen<br />
sollte. Als daraus nichts wurde, campierte<br />
sie im Mai 2009 mit 200 anderen Bauern<br />
vor dem Kanzleramt. Sechs von ihnen hörten<br />
auf zu essen. Es war der Höhepunkt der<br />
Milchkrise, Schneebichler wurde zum<br />
Symbol der Verzweiflung einer ganzen Bevölkerungsgruppe.<br />
„Damals hat das ganze<br />
Bundeskabinett über mich gesprochen“,<br />
sagt sie heute stolz.<br />
Die Bäuerinnen beendeten den kräftezehrenden<br />
Streik schließlich mit einem<br />
vermeintlichen Erfolg. Bundeskanzlerin<br />
Angela Merkel hatte sie eingeladen und<br />
mit pathetischen Worten Hilfe zugesagt.<br />
„Die Lage der Milchbauern ist extrem<br />
ernst“, so Merkel damals. Noch vor der<br />
Sommerpause wolle sie sich kümmern.<br />
<strong>2014</strong> sind es nicht mehr Discounterpreise,<br />
sondern chinesische Beamte, vor denen<br />
die Milchbauern zittern. Denn aus Merkels<br />
Ankündigungen ist nie etwas geworden.<br />
Stattdessen haben die Milchbauern sich<br />
selbst geholfen. In den vergangenen Jahren<br />
ist die Anzahl der produzierenden Betriebe<br />
gesunken, zugleich sind die durchschnittlichen<br />
Mengen pro Betrieb gestiegen,<br />
Marktbereinigung der klassischen<br />
Art.<br />
Auch haben die Bauern<br />
neue Märkte erobert. Der Export<br />
in Länder außerhalb der<br />
Europäischen Union macht<br />
derzeit schon 14 Prozent der<br />
Gesamtmenge aus. Allein<br />
die Ausfuhren nach China<br />
haben sich innerhalb des<br />
vergangenen Jahres verdoppelt.<br />
Dort ist Deutschland<br />
inzwischen der wichtigste<br />
Importeur von Milchprodukten,<br />
zu einem Durchschnittspreis<br />
von deutlich<br />
über zwei Euro pro Liter.<br />
Anfang des Jahres haben<br />
die chinesischen Behörden<br />
erstmals ihre eigenen<br />
Kontrolleure nach<br />
Deutschland geschickt, um die Qualität des<br />
wichtigen Importgutes zu überprüfen: „Sie<br />
waren sehr zufrieden“, jubelt ein Sprecher<br />
des Verbandes der Milchwirtschaft.<br />
Christine Schneebichler bekommt von<br />
diesem Boom nichts mehr mit. Im Sommer<br />
20<strong>12</strong> hat sie ihre Kühe verkauft. Auf<br />
dem Dach des einstigen Stalles stehen<br />
heute Solaranlagen, drinnen haben sich<br />
Handwerksbetriebe und Logistiker eingemietet.<br />
Die Schneebichlers selber leben<br />
von der Miete und der Herstellung von<br />
Saatgut. Die Milchwirtschaft hat sich in den<br />
kleinen Ställen mitten im Ort einfach nicht<br />
mehr gelohnt. Denn Neubeuern liegt an<br />
der Kreuzung zweier Autobahnen, noch<br />
dazu im erweiterten Münchner Umland,<br />
Traumlage für Immobilienbesitzer. „Uns<br />
geht es heute finanziell besser“, sagt sie.<br />
KEINE KÜHE, KEINE MÜHE<br />
Schneebichler erzählt dann, wie enttäuscht<br />
sie von der Politik ist und wie viele andere<br />
Höfe entweder aufgegeben hätten oder<br />
kräftig gewachsen seien. Sie berichtet voller<br />
Wut, beklagt das Ende der bäuerlichen<br />
Landwirtschaft. Doch eigentlich ist ihre Geschichte<br />
ein Beleg für wirtschaftlich höchst<br />
erfolgreichen Strukturwandel: Die Betriebe,<br />
die heute noch existieren, verdienen<br />
dank effizienter Anlagen und hoher Nachfrage<br />
gutes Geld. In Orten wie Neubeuern<br />
lässt sich mit anderen Dingen mehr verdienen,<br />
also setzen sie sich durch. Zumindest<br />
eine gute Sache findet daran sogar Christine<br />
Schneebichler: „Wenn heute ein Dorffest<br />
ist, dann kann ich sogar mal bis zum<br />
Ende bleiben.“ Keine Kühe, keine Mühe. n<br />
konrad.fischer@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 23<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Narenda Modi<br />
und das<br />
Rennen der Elefanten<br />
INDIEN | Im Duell der asiatischen Wirtschaftsmächte hinkt das Land seinem ewigen Rivalen China<br />
hoffnungslos hinterher. Narendra Modi, der Wunschkandidat der indischen Wirtschaft, will das<br />
ändern. Ende dieser Woche steht er aller Voraussicht nach als Sieger der Parlamentswahl fest. Doch<br />
mit ihm verbinden sich nicht nur Hoffnungen, sondern auch die Angst vor ethnischen Konflikten.<br />
Ideen hat Anil Khaitan viele. „Das Rückgrat<br />
einer Volkswirtschaft der Größe Indiens<br />
muss das produzierende Gewerbe<br />
sein“, sagt er, denn nur so ließen sich auch<br />
Jobs für die jungen Leute schaffen, die jährlich<br />
neu auf den Arbeitsmarkt strömen.<br />
Wenn Indiens Wirtschaft um acht Prozent<br />
wachsen solle, müsse die Industrie rund<br />
doppelt so viel produzieren wie derzeit.<br />
Geschieht dies nicht, sieht er für die Zukunft<br />
schwarz: „Wenn jeder zweite junge<br />
Inder keine ökonomische Perspektive hat,<br />
wird er im schlimmsten Fall ein Terrorist.“<br />
Dies zu verhindern, glaubt Anil Khaitan,<br />
setzt eine bessere Bildung, eine funktionierende<br />
Infrastruktur und eine liberalere<br />
Wirtschaftspolitik voraus. „Wir müssen<br />
aufhören, den Leuten Fische zu schenken“,<br />
sagt er, „gebt ihnen lieber eine Angel, damit<br />
sie selber fischen können.“<br />
Khaitan redet wie ein Politiker, ist aber<br />
Unternehmer – durch und durch. Als Juniorchef<br />
von Shalimar Industries führt er<br />
einen Mischkonzern mit Unternehmen in<br />
der Stahl-, Pharma-, Papier- und Rohstoffbranche.<br />
Alle zusammen setzen sie pro<br />
Jahr eine halbe Milliarde Dollar um. In der<br />
indischen Parlamentswahl, die schon seit<br />
dem 7. April läuft und deren Sieger am<br />
Freitag dieser Woche feststehen wird, hat<br />
er seine ganz Hoffnung auf Narenda Modi<br />
gesetzt, den 63-jährigen Spitzenkandidat<br />
der Indischen Volkspartei BJP. Der hat als<br />
Regierungschef der Provinz Gujarat seinen<br />
Landstrich in ein westindisches Musterländle<br />
verwandelt. Nun, so hoffen viele in<br />
der indischen Wirtschaft, soll er die Wandlung<br />
im Großen vollbringen. Modi „führt<br />
Indien dorthin, wo China heute ist“, hofft<br />
Anil Khaitan, er werde dieses riesige Land<br />
wie ein CEO führen – und die lähmende<br />
Korruption mit starker Hand bekämpfen.<br />
Nötig wäre es, denn die aktuelle Regierung<br />
unter Führung der <strong>vom</strong> Gandhi-Klan<br />
dominierten Kongresspartei hinterlässt<br />
das Land als Sanierungsfall. Mit Protektionismus<br />
und einer inkonsistenten Wirtschaftspolitik<br />
hat sie die Wirtschaft des<br />
Landes gelähmt. Direkte Hilfen für Arme<br />
und Festpreise für Agrarprodukte sollten<br />
bei der Armutsbekämpfung helfen – dabei<br />
liegt der Mangel eher darin, dass das Land<br />
zu wenig Nahrungsmittel produziert. Die<br />
Notenbank musste unlängst mit drastisch<br />
»Die Regierung<br />
teert am Tag<br />
1,5 km Straße,<br />
versprochen<br />
waren 11«<br />
Satyakam Kohli, BJP-Partei<br />
einmal der Strom aus. Die neue Regierung<br />
muss auch am Investitionsklima feilen, damit<br />
ausländische Investoren ihr Geld nicht<br />
länger lieber nach China tragen. Der ewige<br />
Rivale Indiens ist zwar härter umkämpft, hat<br />
höhere Löhne und schärferen Wettbewerb<br />
auf den Märkten, zieht aber noch immer das<br />
Gros gerade der deutschen Asien-Investitionen<br />
an. Um hier aufzuholen, müsste Indien<br />
auch einen radikalen Kampf gegen Korruption<br />
und bürokratische Ineffizienz führen.<br />
„Ohne Schmiergeld geht in diesem Land<br />
nichts“, sagt ein deutscher Investor.<br />
So ruht die Hoffnung auf dem Sohn eines<br />
Teehändlers. Doch allen Vorschusslorbeeren<br />
aus Wirtschaftskreisen zum Trotz – so<br />
ungetrübt ist der Glanz des bärtigen Hoffnungsträgers<br />
nicht. Als 2002 in Gujarat Unruhen<br />
zwischen Hindus und Muslimen<br />
ausbrachen, soll er als Regierungschef der<br />
Provinz die Polizei absichtlich zurückgehalten<br />
haben, bis am Ende ein Massaker<br />
mit rund 1000 überwiegend muslimischen<br />
Opfern zu beklagen war. Was Modi vehement<br />
als „Propaganda“ bestreitet, wirft ihm<br />
die Opposition bis heute vor. Modi hat dies<br />
den Ruf als Spalter eingebracht, der dem<br />
hindu-nationalistischen RSS innerhalb der<br />
BJP-Partei nahesteht: einer Art Geheimbund,<br />
der die Dominanz der Hindu-Kultur<br />
im Vielvölkerstaat propagiert.<br />
erhöhten Leitzinsen massive Kapitalabflüsse<br />
und den Absturz der Landeswährung<br />
Rupie stoppen. Letztlich hat die Regierung<br />
weder die Armut noch die Inflation<br />
gestoppt, wohl aber die Investitionen abgewürgt.<br />
Im vergangenen Jahr stieg das Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) nur mehr um 4,6 Die USA und die EU hatten ihn deswegen<br />
NEIGUNG ZUM AUTORITÄREN<br />
Prozent – das schwächste Wachstum seit bis vor Kurzem mit einem Einreiseverbot<br />
fünf Jahren.<br />
belegt. In Indien selbst wurde er hingegen<br />
Soll sich der Trend wenden, muss die von einem Gericht freigesprochen. Ob also<br />
neue Regierung vor allem die Infrastruktur der Machtmensch mit seiner unverhohlenen<br />
Neigung zum Autoritären die liberalen<br />
entwickeln. Dafür gibt es zwar gigantische<br />
Pläne – aber die stehen bislang nur auf Papier.<br />
Im Alltag fällt selbst in der Industrie-<br />
auf das ganze heterogene Land übertragen<br />
Reformen aus Gujarat im Handumdrehen<br />
hochburg Pune wöchentlich mindestens kann, ist fraglich. Selbst mit einem star-»<br />
FOTO: REUTERS/AMIT DAVE<br />
24 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Zweikampf der asiatischen Wirtschaftsriesen<br />
IndiensWirtschaftwächst langsamer...<br />
Bruttoinlandsprodukt<br />
Veränderung zum Vorjahr in Prozent<br />
15<br />
...produziertweniger Wohlstand...<br />
Reales Pro-Kopf-Einkommen<br />
kaufkraftbereinigt, in 1000 Dollar<br />
<strong>12</strong><br />
...und schafftweniger Jobs<br />
Arbeitslosenrate<br />
in Prozent<br />
<strong>12</strong><br />
Indien<br />
China<br />
<strong>12</strong><br />
9<br />
6<br />
10<br />
8<br />
6<br />
4<br />
2<br />
10<br />
8<br />
6<br />
04 <strong>05</strong><br />
06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />
3<br />
99 01 03 <strong>05</strong> 07 09 11 13<br />
0<br />
04 <strong>05</strong> 06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />
4<br />
ab 2013 Prognose; Quelle: IHS<br />
Soll Indien dahin führen,<br />
wo China heute ist<br />
BJP-Spitzenkandidat Modi<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 25<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
»<br />
ken Wahlergebnis im Rücken wird sich<br />
die BJP – wie in Indien üblich – mit vier bis<br />
fünf Koalitionspartnern arrangieren müssen.<br />
Was per se jedes Reformvorhaben gefährden<br />
kann.<br />
„Modi könnte Indien zumindest in eine<br />
autoritäre Richtung treiben“, fürchtet Klaus<br />
Voll, der seit mehr als 30 Jahren im Land<br />
lebt und derzeit unter anderem ein dortiges<br />
Fraunhofer-Institut berät. In dessen<br />
Partei gebe es viele Strömungen, die Indien<br />
als Reich der Hindus sehen, was wiederum<br />
Konflikte mit ethnischen Minderheiten<br />
heraufbeschwören könnte. Der liberale<br />
Wirtschaftsflügel dagegen ist nur einer<br />
von vielen – und derzeit auch nicht unbedingt<br />
der stärkste. Andere Beobachter<br />
stellen fest, dass Modi in den vergangenen<br />
Jahren sehr viel pragmatischer und moderater<br />
geworden sei: „Modi wird sich mit<br />
anderen Parteien in einer Koalitionsregierung<br />
arrangieren müssen“, sagt Lars Peter<br />
Schmidt von der CDU-nahen Konrad-<br />
Adenauer-Stiftung in Neu-Delhi, „sofern er<br />
nationalistische Vorstellungen hat, wird er<br />
sie gegen seine Partner nicht durchsetzen<br />
können.“<br />
Indien fällt zurück<br />
Internationale Währungsreserven (ohne Gold)<br />
in Indien und China<br />
04 <strong>05</strong><br />
ab 2013: Prognose; Quelle: IHS<br />
China<br />
in Billionen Dollar<br />
Indien<br />
06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />
Auf Chinas Spuren<br />
KALTE LUFT<br />
Dienstag vergangener Woche in Neu-Delhi,<br />
der Wahlkampf läuft seit Wochen auf<br />
Hochtouren, drei Tage später wird auch in<br />
der Hauptstadt gewählt. Nalin Satyakam<br />
Kohli, den man in Deutschland wohl Generalsekretär<br />
nennen würde, sitzt im Botschaftsviertel<br />
in einer Hinterhofbaracke<br />
und will erklären, was Modis Partei in Sachen<br />
Wirtschaft vorhat. Hinter ihm bläst eine<br />
Klimaanlage kalte Luft in den Raum, vor<br />
ihm flimmern die Bilder einer Farbbeutel-<br />
Attacke auf Arviond Kejriwal über den Monitor<br />
– den Anti-Korruptions-Kämpfer und<br />
Modi-Gegner.<br />
Kohli macht den Mund auf und formuliert<br />
druckreif: „Die Regierung teert am Tag<br />
nur 1,5 Kilometer Straße, versprochen waren<br />
11.“ Das Wachstum stürze ab, und<br />
schuld sei nur die Kongresspartei: „Als sie<br />
die Regierung von uns übernahmen, war<br />
Indien ein Stern am Himmel. Heute ist die<br />
Wachstumsstory gescheitert.“ Auch in Indien<br />
sollte man nicht mit einem Parteikader<br />
sprechen, wenn man Konkretes über<br />
Inhalte und politische Programme erfahren<br />
will.<br />
Ohnehin ist das Durchsetzen von Reformen<br />
in Indien eine vertrackte Sache. Selbst<br />
die neuerdings als wirtschaftsfeindlich verschriene<br />
Kongresspartei hat unter Führung<br />
des greisen Ministerpräsidenten Manmohan<br />
Singh eine Liberalisierung vorangebracht<br />
– um damit im Parlament krachend<br />
zu scheitern. Das galt etwa für die Öffnung<br />
des Einzelhandels, wo zwar Ein-Marken-<br />
Geschäfte wie Adidas mittlerweile erlaubt<br />
sind, nicht aber Handelsketten mit zig Marken<br />
im Sortiment. Mächtige Konzerne wie<br />
Wal-Mart und Tesco haben in den vergangenen<br />
Jahren immer wieder den Eintritt in<br />
den Wachstumsmarkt Indien versucht, nur<br />
um stets am Widerstand der Behörden zu<br />
scheitern.<br />
Der Handel ist ein schwieriges Terrain in<br />
Indien. Mehr als vier Fünftel der Beschäftigten<br />
sind in der Subsistenzwirtschaft tätig,<br />
was neben kleinbäuerlichen Strukturen<br />
vor allem die im Stadtbild omnipräsenten<br />
Shops in Blechverschlägen einschließt. Die<br />
Händler, noch mehr aber die Agrarproduzenten<br />
fürchten die Konkurrenz durch internationale<br />
Handelsketten – und lobbyieren<br />
erfolgreich gegen deren Zulassung. Die<br />
Verhandlungen über Freihandel mit der<br />
5<br />
4<br />
3<br />
2<br />
1<br />
0<br />
Absturz gestoppt<br />
Ein EuroinIndischen Rupien<br />
04 <strong>05</strong> 06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />
Quelle: IHS<br />
Exporte und Importe (in Prozent des Bruttoinlandsprodukts)<br />
Importe<br />
*ab2013 Prognose; Quelle: IHS<br />
Indien<br />
25<br />
20<br />
15<br />
Exporte<br />
in Rupien<br />
EU sind hieran gescheitert, und auch die<br />
BJP rückt keinen Meter <strong>vom</strong> Widerstand<br />
gegen diese „Multi-Brand-Retailer“ ab.<br />
Insofern hat die Metro Group noch<br />
einmal Glück gehabt. Der Düsseldorfer<br />
Handelskonzern darf sich als Großhändler<br />
in Indien niederlassen und ist seit 2003 mit<br />
16 Märkten in zwölf Städten präsent. Für<br />
einen Markt mit 1,2 Milliarden Einwohnern<br />
ist das erstaunlich wenig. „Das<br />
Finden passender Grundstücke ist eine<br />
Herausforderung bei der Expansion in Indien“,<br />
sagt Rajeev Bakshi, Managing Direktor<br />
von Metro Cash & Carry Indien. Land<br />
sei in den stark besiedelten Urbanisationen<br />
nicht nur schwer zu finden und damit<br />
meistens teuer, auch der Kaufprozess und<br />
die Registrierung brauchen in der Regel ihre<br />
Zeit. „Insofern wachsen wir in Indien<br />
bisher zwar nicht rapide, dafür aber stetig<br />
und nachhaltig“, so der Manager. Auch hat<br />
in Indien jeder Laden seine eigenen Einkaufsstrukturen<br />
und seine eigenen Liefe-<br />
90<br />
80<br />
70<br />
60<br />
50<br />
China<br />
Exporte<br />
Importe<br />
10<br />
15<br />
04 06 08 10 <strong>12</strong> 14 04 06 08 10 <strong>12</strong> 14<br />
40<br />
35<br />
30<br />
25<br />
20<br />
26 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTO: CONI HÖRLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
„Gebt den Leuten eine Angel – keine Fische“ Unternehmer Anil Khaitan<br />
ranten. Es dauert beinahe eine Woche, bis<br />
ein Lkw aus Bangalore die 2000 Kilometer<br />
bis Delhi bewältigt hat. Folglich kann<br />
der deutsche Großhändler seine Filialen<br />
nicht aus Zentrallagern bedienen, wie das<br />
sogar in den riesigen Weiten Russlands<br />
möglich ist.<br />
ABSURDE SITUATION<br />
Laut Studien vergammelt die Hälfte der in<br />
Indien angebauten Lebensmittel auf dem<br />
Weg zum Markt, da der Transport zu lange<br />
dauert oder geeignete Lagerkapazitäten<br />
fehlen. Was zu der absurden Situation<br />
führt, dass ein Land mit einigen Hundert<br />
Millionen Bauern auf den Import von Lebensmitteln<br />
angewiesen ist, was auf die<br />
Leistungsbilanz drückt. Statt gut geplant<br />
und koordiniert einfach nur Straßen und<br />
Schienen zu bauen, müht sich die Regierung<br />
in Megaprojekten wie dem Delhi-<br />
Mumbai-Korridor ab: ein auf 90 Milliarden<br />
Dollar taxierter Ausbau von Straßen, Zugund<br />
Flugverbindungen zwischen den beiden<br />
Wirtschaftszentren, flankiert von Gewerbegebieten.<br />
Bislang sind dies nur hehre Pläne. In der<br />
Realität stecken Autofahrer in Bangalore<br />
ständig im Stau fest, und selbst auf halbwegs<br />
befahrbaren Autobahnen wie jener<br />
zwischen Mumbai und Pune kraxeln<br />
klapprige Lkws im Schneckentempo die<br />
Berge hinauf, weil die Motoren vor den<br />
Steigungen kapitulieren.<br />
»Das Finden<br />
passender Grundstücke<br />
ist eine<br />
Herausforderung«<br />
Rajeev Bakshi, Metro-Manager<br />
Es sind derlei Bürden des Alltags, die Indien<br />
als globale Wachstumslokomotive<br />
ausbremsen. China dagegen ist wesentlich<br />
effizienter organisiert – nicht nur, weil es<br />
sich das leisten kann, sondern auch, weil<br />
sein autoritärer Kontrollstaat nicht so viele<br />
Interessen austarieren muss und Ressourcen<br />
einfach umverteilen kann. Andererseits<br />
hat Indien, was China fehlt: eine kluge<br />
High-Tech-Elite, die als Programmierer<br />
zum Beispiel für SAP und Microsoft arbeisen<br />
produktiven Inseln stinken die Slums<br />
in den Himmel, versinken die Städte im<br />
Verkehrschaos, wuchert die Korruption,<br />
funktioniert nichts.<br />
Eine dieser Inseln ist das neue Forschungszentrum<br />
von Henkel in Pune. Dort<br />
beliefert der Düsseldorfer Chemiekonzern<br />
die Autoindustrie mit Klebstoffen. Das<br />
klingt simpel und erfordert auf den ersten<br />
Blick sicher kein Entwicklungszentrum.<br />
Aber dessen Direktor Pradhyumna Ingle<br />
widerspricht: „Wer in Indien erfolgreich<br />
sein will, muss sich diesem Markt anpassen.“<br />
Was für Klebstoffe bedeute, dass die<br />
Haftfestigkeit an die höhere Luftfeuchtigkeit<br />
adaptiert werden muss. Das übernehmen<br />
Chemiker, die in Testgeräten Klimaänderungen<br />
simulieren und am Mikroskop die<br />
Konsistenz der Materialien untersuchen.<br />
Zwar könnte man dies auch in Düsseldorf<br />
machen. Aber: „Wir pflegen einen ständigen<br />
Kontakt zu den hiesigen Kunden, die<br />
ihre Ideen und Verbesserungsvorschläge<br />
einbringen“, sagt Entwicklungschef Ingle.<br />
Henkel ist mit Klebstoffen gut im Geschäft,<br />
auch wenn die Autobranche kriselt<br />
und das Wachstum niedrig ist. Allerdings<br />
haben die Düsseldorfer im Konsumgütersektor<br />
die Flinte ins Korn geworfen: Aus<br />
dem Handel mit Waschmitteln hat sich das<br />
Unternehmen zurückgezogen, weil die<br />
deutsche Marke in Indien nicht etabliert<br />
werden konnte. Damit kämpfen auch andere<br />
Markenhersteller, etwa Dr. Oetker – deren<br />
Branding schon bei der Aussprache an<br />
Grenzen stößt. Die Bielefelder fahren dennoch<br />
eine Fertigung nahe Neu-Delhi hoch,<br />
auch wenn sie nicht viel darüber reden.<br />
Indien beherbergt im Grunde eine Binnenwirtschaft.<br />
Der Außenhandel mit<br />
Deutschland ist von 2011 bis 2013 um 2 auf<br />
16 Milliarden Euro gesunken, was nicht<br />
einmal einem Fünftel des Handelsvolumens<br />
mit Russland entspricht. Dennoch<br />
verspricht Indien prinzipiell hohe Wachstumsraten<br />
– sofern man vor Ort Präsenz<br />
zeigt und Produkte in Indien für Indien<br />
produziert. Das predigt Heinrich Bruellau,<br />
der gerade im westindischen Pune im Auftrag<br />
des Wuppertaler Mittelständlers<br />
Schmersalin eine Schalter-Fertigung aufbaut,<br />
seit Jahren. Der Grauschopf kam<br />
einst als VW-Manager nach Pune, ist nun<br />
über 60 und somit schon aus Altersgründen<br />
für Inder ein respektierter Partner.<br />
Vielleicht ist das der Grund, weshalb er das<br />
Werk in der für Indien kurzen Zeit von nur<br />
zwei Jahren aus dem Boden gestampft hat.<br />
Deutsche Wertarbeit beginnt für Bruellau<br />
damit, dass er im Werke nicht ein<br />
tet. Forscher, die mitdenken, statt bloß Befehle<br />
der Vorgesetzten zu befolgen. Darum<br />
sind Inder potenziell innovativer als Chinesen,<br />
sagen deutsche Manager.<br />
In jeder Stadt und jedem Staat findet<br />
man Ecken, in denen echte Hochtechnologie<br />
entwickelt wird, wo global wettbewerbsfähige<br />
Unternehmen <strong>vom</strong> Schlage<br />
des IT-Entwicklers Infosys sitzen. Das Problem<br />
ist nur: Links und rechts neben die- »<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 27<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
INTERVIEW Anand Mahindra<br />
»Schreibt<br />
Indien<br />
nie ab!«<br />
Der Chef eines der größten<br />
indischen Mischkonzerne über<br />
die schlechte Konjunktur und<br />
den vermutlichen Wahlausgang.<br />
„Meine Leute müssen sich an Reinheit gewöhnen“ Deutscher Ex-Pat-Manager Bruellau<br />
»<br />
Körnchen Staub zulässt. Einsam kurvt<br />
deswegen ein junger Inder mit der Putzmaschine<br />
durch die Halle. Tag für Tag, von<br />
morgens bis abends. „Der Staub zieht<br />
durch alle Ritzen, und die Mitarbeiter<br />
kümmern sich nicht darum“, sagt der Kaufmann.<br />
Der Fulltime-Job des Putzmanns<br />
soll psychologische Effekte haben: „Meine<br />
Leute müssen sich angewöhnen, wie wichtig<br />
Reinheit in der Produktion ist.“<br />
Im Moment ist das ein Leichtes: Sechs<br />
Mitarbeiter montieren im Monat 1000<br />
Stecker, kaum ein Drittel des riesigen blauweißen<br />
Neubaus ist belegt. „Indien steckt in<br />
der Wirtschaftskrise, viele Kunden halten<br />
ihre Investitionen zurück“, erklärt Bruellau.<br />
„Aber der Markt wird wieder anspringen,<br />
und dann müssen Sie vor Ort sein.“ Denn<br />
Indien sei preislich so sensibel, dass Importe<br />
aus Deutschland den Kunden schon wegen<br />
der hohen Steuern und Zöllen zu teuer<br />
seien, Wertarbeit hin oder her. „Wenn Sie<br />
über die lokale Produktion die niedrigen<br />
Lohnkosten mitnehmen und deutsche<br />
Qualität beibehalten“, sagt Bruellau, „dann<br />
sind Sie hier gut im Geschäft.“<br />
Überheblichkeit beim Produktmanagement<br />
betrachtet Heinrich Bruellau als einen<br />
von drei typischen Fehlern, die deutsche Investoren<br />
beim Markteintritt in Indien machen.<br />
Ein anderer sei, dass Ausländer den<br />
Ärger beim Kauf von Land unterschätzen,<br />
dessen Besitzrechte häufig nicht geklärt seien.<br />
Drittens nehme der Deutsche den Auf-<br />
wand bei der Qualifizierung von Fachpersonal<br />
auf die leichte Schulter. Nur weil die Inder<br />
leidlich Englisch sprechen, könnten sie<br />
noch keine Maschine bedienen.<br />
LIEBER HEUTE ALS MORGEN<br />
Trotz Erfahrung und respektablem Alter<br />
musste auch Heinrich Bruellau seine<br />
Schneisen durch den Dschungel der indischen<br />
Bürokratie schlagen. Er ließ 200 Bäume<br />
pflanzen und vier Treppenhäuser betonieren,<br />
um die Auflagen von Umwelt- und<br />
Brandschutzbehörden akkurat zu erfüllen.<br />
Andere schmieren die Beamten, die Deutschen<br />
natürlich nicht. „Die Inder schießen<br />
sich mit diesem hohen Maße an Korruption<br />
selbst ins Knie“, sagt Bruellau, „denn das<br />
bremst ihren Aufschwung.“ Er rechnet damit,<br />
dass die neue indische Regierung die<br />
Bürokratie abbauen und Indien als Standort<br />
für Investitionen attraktiver machen wird.<br />
„Deutsche Unternehmen sollten sich lieber<br />
heute mit Indien als Markt beschäftigen“,<br />
rät der Indien-Veteran, sonst sei gegen<br />
die lokalen Wettbewerber morgen kein<br />
Boden mehr gutzumachen. Und vor Narendra<br />
Modi hat er keine Angst? Der Hamburger<br />
will es mal so formulieren: Er hoffe,<br />
dass die neue Regierung die indische Wirtschaft<br />
nicht zu ungestüm nach vorne bringe.<br />
„Wenn ein Elefant zu rennen beginnt,<br />
kann es für alle anderen sehr schnell gefährlich<br />
werden.“<br />
n<br />
florian.willershausen@wiwo.de<br />
Herr Mahindra, die indische Wirtschaft<br />
wuchs 2013 so schwach wie seit fünf<br />
Jahren nicht. Was bedeutet das für Ihre<br />
Geschäfte?<br />
Als Unternehmer wünsche ich mir natürlich,<br />
dass die Wirtschaft stärker<br />
wächst. Aber wir konnten die konjunkturelle<br />
Großwetterlage antizipieren und<br />
waren darauf vorbereitet, die Kosten<br />
rechtzeitig zu senken. Das ist uns auch<br />
gelungen, und deswegen haben wir das<br />
vergangene Jahr trotz des negativen<br />
Wirtschaftsklimas gut überstanden. Uns<br />
hilft aber auch, dass wir um bestimmte<br />
Sektoren einen großen Bogen machen –<br />
zum Beispiel Bau und Infrastruktur.<br />
Wieso das? Gerade in diesen Bereichen<br />
plant doch die indische Regierung<br />
Investitionen in Milliardenhöhe.<br />
Höflich ausgedrückt, erfordern solche<br />
Projekte in Indien Ressourcen und Fähigkeiten,<br />
die wir nicht haben. Wir müssten<br />
uns stark mit den Behörden auseinandersetzen,<br />
um bevorzugten Zugang<br />
etwa zu Rohstoff-Projekten zu bekommen.<br />
Das wollen wir nicht, das können<br />
wir nicht. Also machen wir überhaupt<br />
keine Geschäfte, die staatliche Lizenzen<br />
erfordern oder bei denen wir uns einer<br />
staatlichen Regulierung unterwerfen<br />
müssten. Wir ziehen ein Engagement in<br />
Sektoren vor, die mit dem Privatkonsum<br />
zusammenhängen – so können wir unser<br />
Schicksal selbst bestimmen.<br />
Viele Unternehmer machen die indische<br />
Regierung für den Abschwung verantwortlich.<br />
Was lief aus Ihrer Sicht falsch?<br />
Man hat Infrastruktur-Investitionen verschlafen,<br />
Genehmigungen verschleppt,<br />
es kam zu Stillstand und Blockaden im<br />
politischen Prozess, sodass schließlich<br />
die Investitionen in die indische Ökono-<br />
FOTOS: CONI HÖRLER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, GETTY IMAGES/HINDUSTAN TIMES/JASJEET PLAHA<br />
28 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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mie zurückgingen. Aber diese Schwächephase<br />
hatte auch positive Aspekte: Aufgrund<br />
der Überregulierung kam es zu<br />
einem enormen Aufschrei wegen des willkürlichen<br />
Rent-Seeking...<br />
...also Fällen, in denen Beamte die Hand<br />
aufhalten oder sich Behördenvertreter<br />
schmieren lassen, um bestimmten Unternehmen<br />
Vorteile zu verschaffen.<br />
Oder sogar willkürlich Lizenzen zur Förderung<br />
von Rohstoffen vergeben. Dagegen<br />
sind die Inder vorgegangen: über den<br />
Rechtsweg, mit öffentlichen Anfragen,<br />
mithilfe der Medien. Schon das Vorgehen<br />
gegen Willkür macht unser Land stärker.<br />
Indien ist keine Bananenrepublik. Dies ist<br />
kein Wirtschaftssystem, das nur ein oder<br />
zwei Business-Familien dominieren. Wir<br />
haben viel mehr Tiefgang. Und wann immer<br />
hier jemand versucht, zu viel Macht in<br />
seinen Händen zu halten, wird die demokratische<br />
Gesellschaft reagieren.<br />
Reichen staatliche Investitionen aus,<br />
um Indiens Wachstum wieder in Richtung<br />
zehn Prozent zu führen?<br />
Nein, aber wir sollten eines nicht vergessen:<br />
Indien hat eine hohe Sparquote, fast<br />
30 Prozent. Daraus lassen sich Investitionen<br />
finanzieren. Global ist zudem Geld im<br />
Überfluss vorhanden – und es gibt in der<br />
Welt nur sehr wenige Möglichkeiten, es<br />
sinnvoll zu investieren. Als der Markt<br />
jüngst bemerkte, dass die indische Notenbank<br />
den Abwärtstrend der Rupie aufhalten<br />
würde, ging es mit der Währung sofort<br />
aufwärts. Und nun notieren unsere Börsen<br />
auf einem Allzeithoch.<br />
Scheinbar erwarten die Märkte den<br />
Wahlsieg von Narendra Modi, der als<br />
Hoffnungsträger der Wirtschaft gilt...<br />
Ja, das hat mich auch überrascht. Wenn<br />
die Märkte also schon vor der Stimmenauszählung<br />
so positiv reagieren, dann<br />
können wir im Falle eines eindeutigen<br />
Wahlergebnisses mit Kapitalzufluss rechnen.<br />
In der Welt liegt noch viel Geld auf<br />
Halde, das womöglich bald nach Indien<br />
fließt, sobald es weitere Zeichen für eine<br />
stabile wirtschaftliche Entwicklung gibt.<br />
Vor allem in Neu-Delhi freut sich jeder<br />
Unternehmer auf den wahrscheinlichen<br />
Wahlsieg der BJP. Warum?<br />
Wir haben keine Präferenz für einzelne<br />
Parteien, sondern sponsern alle Parteien<br />
in gleichem Maße. Und zwar seit fünf Legislaturperioden<br />
– und völlig transparent.<br />
Wir wollen die Demokratie fördern und<br />
keine Partei. Wenn eine Regierung an der<br />
Macht ist, machen wir hartes Lobbying für<br />
das, was das Land voranbringt.<br />
Die Frage war auch nicht, wen Sie fördern.<br />
Sondern warum die indische Wirtschaft<br />
geschlossen hinter Modi steht.<br />
Die Wirtschaft hofft stets auf Stabilität.<br />
Und das ist beim klaren Sieg einer Partei<br />
wahrscheinlicher. Vermutlich ist es der<br />
Wunsch nach stabilen Verhältnissen, den<br />
man gerade unter Neu-Delhis Unternehmern<br />
spürt. Aus privaten Gesprächen<br />
weiß ich, dass alle Unternehmer dieselbe<br />
Meinung über ihn haben.<br />
DER PRAGMATIKER<br />
Mahindra, 59, ist in dritter Generation<br />
führender Manager der Mahindra Group,<br />
einem der größten Mischkonzerne Indiens.<br />
Fürchten Sie einen Börsencrash, wenn<br />
das Wahlergebnis eine breite Koalitionsregierung<br />
nötig macht?<br />
Nein, selbst dann mache ich mir keine Sorgen.<br />
In der Vergangenheit ist Indien selbst<br />
dann gewachsen, wenn eine ineffiziente<br />
Regierung an der Macht war. Zugegeben,<br />
internationale Investoren waren in den<br />
vergangenen fünf Jahren enttäuscht, weil<br />
unser Land hinter den ökonomischen Erwartungen<br />
zurückgeblieben ist. Aber nun<br />
strömt so schnell so viel Kapital zurück ins<br />
Land, dass die Botschaft für alle lautet:<br />
Schreibt Indien niemals ab!<br />
Würden Sie sagen, ausländische Investoren<br />
unterschätzen den indischen Markt?<br />
Ja, absolut. Indien ist ein Zirkus, wo immer<br />
etwas los ist. Und selbst wenn die<br />
versprochene große Show nicht stattfindet,<br />
erscheinen immer ein paar Solokünstler,<br />
die etwas können. In der vergangenen<br />
Legislaturperiode waren das<br />
der Chef der Notenbank, Raghuram<br />
Rajan, und der Finanzminister, die gute<br />
Arbeit geleistet haben. Also kauft Tickets<br />
für die Indien-Show!<br />
Indien ist ein gewaltiger Binnenmarkt,<br />
kaum integriert in die Weltwirtschaft.<br />
Glauben Sie, dass sich Indien bald der<br />
Welt öffnen wird?<br />
Wir werden nie ein großer Rohstoff-Exporteur<br />
werden, aber als Importeur<br />
spielt Indien eine immer größere Rolle in<br />
der Weltwirtschaft. Unsere Exporte<br />
werden in dem Maße wachsen, wie wir<br />
unsere Infrastruktur-Probleme in den<br />
Griff kriegen. In Chennai ist ein großer<br />
Hafen für die Verschiffung von Autos in<br />
Betrieb gegangen, was etwa Hyundai<br />
ermöglicht, aus Indien in die Welt zu<br />
exportieren. Mit dem Wachstum von<br />
Importen und Exporten werden auch<br />
unsere Geschäftsleute verstärkt im<br />
Ausland investieren und die Integration<br />
des Landes in die Weltwirtschaft stärken.<br />
Das setzt aber voraus, dass die teils<br />
hohen Schutzzölle reduziert werden,<br />
von denen auch Ihre Gruppe profitiert.<br />
Fürchten Sie niedrigere Zölle?<br />
Ob die Zölle hoch sind oder niedrig,<br />
spielt keine Rolle. Alle namhaften<br />
Fahrzeughersteller sind vor Ort und produzieren<br />
zu indischen Bedingungen.<br />
Umgekehrt sind indische Unternehmen<br />
global wettbewerbsfähig, sofern wir<br />
effiziente Strukturen haben. Es ist für<br />
ausländische Unternehmen ein Leichtes,<br />
in Indien zu investieren. Unser<br />
Land hat einen der offensten Märkte<br />
der Welt.<br />
Die EU verhandelt seit Jahren über ein<br />
Freihandelsabkommen mit Indien –<br />
ohne Erfolg. Hat der Handel mit Europa<br />
für Indien keine Priorität mehr?<br />
Jedes Handelsabkommen ist wichtig.<br />
Die Verhandlungen mit der EU stocken,<br />
weil sich Brüssel gegen die Öffnung der<br />
Dienstleistungssektoren für indische<br />
Wettbewerber sträubt. Hier kommt uns<br />
die EU sehr protektionistisch vor, was<br />
uns wiederum in Bezug auf den Einzelhandel<br />
vorgeworfen wird. Das ist ein Geben<br />
und Nehmen.<br />
n<br />
florian.willershausen@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 29<br />
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Politik&Weltwirtschaft<br />
Wettbewerb statt Anarchie<br />
FORUM | Das Erneuerbare-Energien-Gesetz führt zu grotesken Verteilungskämpfen. Nur der Umstieg<br />
auf marktwirtschaftliche Anreize macht Strom sicher und preiswert. Von Alexander Graf Lambsdorff<br />
Schaut die Welt auf Deutschlands<br />
Energiepolitik, dann<br />
reibt sie sich die Augen: Da<br />
kämpfen Windenergie-Länder gegen<br />
Biomasse-Länder; beide gemeinsam<br />
gegen industriell geprägte<br />
Länder und den Bund; der Bund<br />
wiederum gegen die Europäische<br />
Kommission, die Deutschland den<br />
Spiegel seiner Subventionswirtschaft<br />
vorhält. Kurz gesagt: Am<br />
Futtertrog des Erneuerbaren-Energien-Gesetzes<br />
(EEG) wird es eng.<br />
Verbraucher und Industrie wollen<br />
ihn nicht länger beliebig füllen.<br />
Kaum einer versteht mehr, warum<br />
der Staat Industrie und Verbraucher<br />
mit 21 Milliarden Euro für die Produktion<br />
regenerativer Energie belastet,<br />
die einen Marktwert von etwa<br />
einem Zehntel dieser Summe besitzt.<br />
Da werden die Sitten rauer.<br />
„Gruppen-anarchische Kämpfe“ hat das Walter Eucken, der<br />
geistige Vater der sozialen Marktwirtschaft, genannt. Sie entstehen<br />
immer dann, wenn Branchen planwirtschaftlich gelenkt werden.<br />
Dann nämlich denkt niemand mehr darüber nach, wie er durch<br />
gute Produkte zu günstigen Preisen am Markt erfolgreich ist. Alle<br />
gedankliche Energie wird stattdessen für die Frage aufgewendet,<br />
wie man den Gesetzgeber dazu bringt, den Fluss<br />
der Subventionen in die eigene Tasche zu lenken.<br />
KEIN STROM, ABER GELD<br />
Die Ergebnisse dieser Verteilungskämpfe sind grotesk:<br />
EEG-Strom wird ohne Rücksicht darauf produziert,<br />
ob er überhaupt nachgefragt wird und abtransportiert<br />
werden kann. Notfalls wird er zu Negativpreisen<br />
ins Ausland verramscht und überlastet<br />
die Netze unserer Nachbarn. Fehlen die Verteilnetze,<br />
etwa bei Windparks in Küstennähe, werden<br />
diese regelmäßig zwangsabgeschaltet. Es fließt<br />
zwar kein Strom, aber das Geld der Verbraucher.<br />
Die aktuell diskutierte EEG-Reform beseitigt diese<br />
Missstände nicht. Im Gegenteil: Windräder an<br />
windarmen Standorten sollen jetzt sogar einen Bonus<br />
erhalten.<br />
Die nukleare Bilanz ist ebenfalls zweifelhaft:<br />
Deutschland kann seinen Atomausstieg derzeit nur<br />
fortsetzen, weil wir die Stabilität der Stromversorgung<br />
mit französischem Atomstrom absichern. Das<br />
verlässliche Atomkraftwerk Grafenrheinfeld wird<br />
abgeschaltet, während im Erdbebengebiet westlich<br />
Lambsdorff, 47, ist seit<br />
2004 Mitglied des Europäischen<br />
Parlaments.<br />
Davor arbeitete der FDP-<br />
Politiker ab 1995 in verschiedenen<br />
Funktionen<br />
im Auswärtigen Amt der<br />
Bundesregierung.<br />
des Rheins das älteste Kernkraftwerk<br />
Frankreichs, Fessenheim, bereitstehen<br />
muss, um einen deutschen<br />
Blackout abzuwenden.<br />
Die wohlfahrtsökonomischen<br />
Ergebnisse sind bizarr: Investoren<br />
profitieren von der garantierten<br />
Förderung eigener EEG-Anlagen,<br />
während alle Haushalte, auch einkommensschwache,<br />
mit der EEG-<br />
Umlage belastet werden. Das EEG<br />
vernichtet volkswirtschaftliche<br />
Werte, es gefährdet die industrielle<br />
Basis unseres Landes und damit<br />
Arbeitsplätze.<br />
Deutschland muss dringend aufwachen:<br />
Das Ziel einer nachhaltigen,<br />
sicheren und günstigen Energieversorgung<br />
ist nur im Einklang<br />
mit physikalischen Gesetzmäßigkeiten<br />
und ökonomischer Vernunft<br />
zu erreichen. Daher benötigen wir<br />
sofort den Stopp der finanziellen Förderung neuer EEG-Anlagen<br />
und so schnell wie möglich den Ausstieg aus dem EEG.<br />
Statt einer heiß laufenden Subventionsmaschine brauchen wir<br />
den frischen Wind des Wettbewerbs: ein europaweites Mengensystem<br />
statt 28 nationale Fördersysteme. Die Energieversorger<br />
wären verpflichtet, einen bestimmten Anteil erneuerbarer Energien<br />
zu verkaufen, aber ohne planwirtschaftliche<br />
Detailvorgaben und Vergütungsgarantien. So gäbe<br />
es echten, europaweiten Wettbewerb, in dem sich<br />
besonders günstige oder verlässliche Anbieter<br />
durchsetzen.<br />
In einem europäischen Markt könnte der Verbraucher<br />
auch sehen, dass Strom in Finnland nur<br />
etwa die Hälfte kostet, und selbst entscheiden, wie<br />
viel ihm Strom welcher Erzeugungsart wert ist. Die<br />
deutsche Politik könnte sich nicht länger durch<br />
protektionistische Abschirmung dem Wettbewerb<br />
entziehen. Unser Land kann seinen Wohlstand<br />
mehren, wenn der Ökostrom dort produziert wird,<br />
wo das am besten funktioniert: Solarstrom aus<br />
Südeuropa, Wasserkraft aus Skandinavien und<br />
Windenergie von der deutschen Küste würden<br />
den Geldbeutel der Bürgerinnen und Bürger schonen<br />
und über bezahlbare Strompreise die internationale<br />
Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen<br />
sichern.<br />
Europäischen Wettbewerb bei der Energie statt<br />
planwirtschaftlicher Gruppenanarchie – das<br />
braucht die deutsche Energiepolitik!<br />
n<br />
FOTOS: LAIF/ZENIT/LANGROCK, GETTY IMAGES/KOEHLER<br />
32 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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FOTOS: SAMMY HART, WERNER SCHUERING FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, ACTION PRESS/WIKTOR DABKOWSKI<br />
PARIS | Kreditkarte?<br />
Non merci! Die<br />
Franzosen lieben<br />
ihre altmodischen<br />
Schecks. Von Karin<br />
Finkenzeller<br />
Amour fou am<br />
Marktstand<br />
Neulich auf dem<br />
Wochenmarkt am Pariser<br />
Boulevard Richard Lenoir:<br />
Während ich am Gemüsestand<br />
stehe, nimmt die<br />
Kundin vor mir einen<br />
Bund Karotten in Empfang. Doch anstatt<br />
der Marktfrau ein paar Münzen in die<br />
Hand zu drücken, zückt sie einen Block<br />
und beginnt zu schreiben. Da ist er wieder:<br />
der unkaputtbare französische Scheck.<br />
Andernorts in Europa fast ausgestorben,<br />
von Kredit- und EC-Karten erstickt,<br />
ist er in Frankreich nicht unterzukriegen.<br />
Laut Zentralbank stellten die Franzosen<br />
20<strong>12</strong> insgesamt 2,8 Milliarden Schecks<br />
im Wert von knapp 1,63 Billionen Euro<br />
aus. Frankreich liegt damit an der Spitze<br />
Europas. 66 Prozent aller Schecks, die<br />
auf dem Kontinent eingereicht werden,<br />
sind französischer Natur. Einkäufe, Miete,<br />
Stromrechnung, Kinderkrippe, Schulkantine,<br />
die Anzahlung für den nächsten<br />
Urlaub, ja selbst Löhne werden häufig<br />
noch mit signierten Papieren beglichen.<br />
Es ist wie eine Amour fou. Schecks gelten<br />
in Frankreich als vertrauenswürdiger<br />
Bargeldersatz, sie sind immer griffbereit<br />
und vor allem: gebührenfrei. Vor ein paar<br />
Jahren wollten die Banken mal Gebühren<br />
einführen, weil sie die Bearbeitung der<br />
Schecks pro Jahr 2,5 Milliarden Euro<br />
kostet. Nach einem Proteststurm knickten<br />
die Finanzinstitute aber schnell<br />
wieder ein. Zur Umstellung auf SEPA-<br />
Überweisungen in diesem Jahr teilten sie<br />
ihren Kunden beflissen mit, dass sich am<br />
Gebrauch der Schecks selbstverständlich<br />
nichts ändern werde. Für ein wenig Nostalgie<br />
muss man also auch künftig in<br />
Frankreich nicht weit gehen – allenfalls<br />
bis zum nächsten Marktstand.<br />
Karin Finkenzeller ist Frankreich-<br />
Korrespondentin der WirtschaftsWoche.<br />
BERLIN INTERN | Der Europawahlkampf stellt die<br />
deutsche Politik vor Probleme. In Brüssel wollen ihre<br />
Parteifamilien etwas völlig anderes, als die Spitzenleute<br />
hierzulande versprechen. Von Henning Krumrey<br />
Vielfache Einfalt<br />
Wer zu Schizophrenie neigt, kann<br />
entweder zum Psychiater gehen<br />
oder für das Europaparlament<br />
kandidieren. Bei den Kampagnen für den<br />
Straßburg-Brüsseler Abgeordnetenolymp<br />
ist eine gespaltene Persönlichkeit äußerst<br />
hilfreich. Zu sehr klaffen die Ziele der europäischen<br />
Parteiverbünde und die heimischen<br />
Wahlversprechen auseinander.<br />
Die bürgerlichen Parteien präsentieren<br />
sich zwischen Flensburg und Passau als<br />
Hüter der Stabilität und eines starken Euro.<br />
Der von der rot-grünen Bundesregierung<br />
Ihr Name ist Bond – Euro-Bond Spitzenkandidaten<br />
Juncker, Schulz, Verhofstadt<br />
unter Gerhard Schröder aufgeweichte<br />
Maastricht-Vertrag sei nachzuschärfen.<br />
Und vor allem: keine Vereinigten Staaten<br />
von Europa und keine Euro-Bonds, also<br />
gemeinsame Einheitsschuldtitel von soliden<br />
und allzu freigiebigen Ländern. Einheit<br />
in Vielfalt, lautet das Motto.<br />
Dumm nur, dass die europäischen Parteifamilien<br />
und deren Spitzenkandidaten<br />
das ganz anders sehen als deren deutsche<br />
Ableger. Die Traditionsparteien setzen auf<br />
vielfache Einfalt, dass die Wähler die Unterschiede<br />
schon nicht bemerken.<br />
So plädierte Jean-Claude Juncker, der<br />
ehemalige luxemburgische Ministerpräsident<br />
und heutige Vormann der Europäischen<br />
Volkspartei EVP, in der Euro-Krise als<br />
einer der Ersten für den gemeinsamen<br />
Schuldentopf; bei Euro-Bonds haften alle<br />
gemeinsam für die Verbindlichkeiten einzelner<br />
Staaten des Währungsverbundes.<br />
Jahrelang wurde Juncker nicht müde, seine<br />
Forderung zu wiederholen. Erst seit er Spitzenkandidat<br />
der Europäischen Volkspartei<br />
ist, tritt er leiser auf, sagt aber weiterhin:<br />
„Ich halte sie langfristig für ein richtiges<br />
Instrument.“<br />
„Juncker ist gegen Euro-Bonds, das hat<br />
er klar gesagt“, versichert dagegen der<br />
Spitzenkandidat der CDU für Deutschland,<br />
der frühere niedersächsische Ministerpräsident<br />
David McAllister. Und auch Finanzminister<br />
Wolfgang Schäuble weiß von der<br />
Wandlung des schlitzohrigen Luxemburgers<br />
nur Gutes zu berichten: „Ich habe ihn<br />
überzeugt“, verkündet er stolz. Es habe<br />
allerdings einige Mühe gekostet.<br />
Auch die Sozialdemokraten haben ein<br />
Problem mit ihrem Spitzenmann. „Ich bin<br />
nach wie vor für Euro-Bonds“, verteidigt<br />
Martin Schulz seine traditionelle Position,<br />
während die SPD inzwischen – aus Angst<br />
vor dem deutschen Wähler – einen Altschuldentilgungsfonds<br />
favorisiert, der nur<br />
eine teilweise Vergemeinschaftung von<br />
Schulden vorsieht. Dafür wirbt er hierzulande<br />
für eine Rückverlagerung von Kompetenzen<br />
aus Brüssel in die nationale<br />
Zuständigkeit, was seine Freunde der<br />
Europäischen Sozialdemokraten nicht<br />
so vehement verlangen.<br />
Die Liberalen behelfen sich gar mit einem<br />
Trick. Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner<br />
und sein heimischer Spitzenkandidat<br />
Alexander Graf Lambsdorff preisen den<br />
finnischen Parteifreund Olli Rehn als Stabilitätsanker<br />
an. Der verteidige als EU-Währungskommissar<br />
einen starken Euro. Den<br />
wahren liberalen Spitzenkandidaten, den<br />
EP-Fraktionsvorsitzenden Guy Verhofstadt,<br />
verschweigen die beiden deutschen<br />
Wahlkämpfer dagegen verschämt.<br />
Kein Wunder, denn der Belgier ist ein<br />
glühender Verfechter eines zentralistischen<br />
Europas, das die FDP nun gerade bekämpft.<br />
Eine EU-eigene Steuer, Mehrheitsentscheidungen<br />
im Rat über den Haushalt,<br />
die „Vereinigten Staaten von Europa“. Und<br />
natürlich „so schnell wie möglich“ Euro-<br />
Bonds als „einzigen Weg, die Krise zu stoppen“,<br />
verlangte er noch 20<strong>12</strong>.<br />
Ungespalten treten nur Grüne und Linke<br />
auf: Die sagen national wie kontinental,<br />
dass sie Euro-Bonds wollen.<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 33<br />
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Der Volkswirt<br />
KOMMENTAR | Die EZB will im Juni<br />
an der Zinsschraube drehen. Das<br />
weckt Zweifel an ihrer Unabhängigkeit.<br />
Von Angela Hennersdorf<br />
Kampfansage<br />
Zweimal im Jahr geht<br />
der Rat der Europäischen<br />
Zentralbank<br />
(EZB) auf Reisen.<br />
Dann beraten die Notenbanker<br />
ihre geldpolitische Strategie<br />
nicht im Frankfurter Eurotower,<br />
sondern folgen der<br />
Einladung einer nationalen<br />
Zentralbank. Am vergangenen<br />
Donnerstag lud die Belgische<br />
Nationalbank in ihr Domizil in<br />
Brüssel. Und da all die Notenbanker<br />
schon einmal in der<br />
europäischen Hauptstadt versammelt<br />
waren, schaute auch<br />
Euro-Gruppen-Chef Jeroen<br />
Dijsselbloem vorbei. Im Gepäck<br />
hatte der Niederländer eine<br />
Präsentation über die ökonomische<br />
Lage in den Euro-Ländern.<br />
Was Dijsselbloem präsentierte,<br />
brachte EZB-Präsident<br />
Mario Draghi ins Schwärmen.<br />
„Tolle strukturelle Reformen“<br />
habe etwa Portugal vollzogen,<br />
so Draghi. Jetzt die positiven<br />
Fortschritte in den Euro-Krisenländern<br />
zu sehen, nach „all<br />
den Schmerzen“, die diese<br />
durchgemacht hätten, das sei<br />
doch fantastisch.<br />
WARTEN AUF DEN JUNI<br />
Na, wenn das so ist, warum<br />
macht sich Draghi dann Sorgen?<br />
Zwar hat die EZB in der<br />
vergangenen Woche den Leitzins<br />
auf einem Rekordtief von<br />
0,25 Prozent und den Einlagensatz<br />
bei null belassen. Der Spitzenrefinanzierungssatz<br />
blieb<br />
unverändert bei 0,75 Prozent.<br />
Doch im gleichen Atemzug<br />
kündigte Draghi an, im Juni die<br />
Leitzinsen senken zu wollen,<br />
um die Wirtschaft in den Euro-<br />
Ländern zu stützen. Der Zusatz<br />
„falls nötig“, den er sonst immer<br />
lautstark betont, war diesmal<br />
kaum zu hören.<br />
Beugt sich Draghi hier etwa<br />
dem Druck von außen? In den<br />
vergangenen Wochen sind die<br />
als gute Vorschläge getarnten<br />
Attacken immer heftiger geworden.<br />
IWF-Chefin Christine Lagarde<br />
forderte Draghi mehrmals<br />
auf, via Geldpolitik die Wirtschaft<br />
im Euro-Raum anzukurbeln.<br />
Kürzlich folgte die Organisation<br />
für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(OECD). Sie verlangte von<br />
der EZB, wegen der anhaltend<br />
niedrigen Inflation die Leitzinsen<br />
zu senken.<br />
DEN EURO DRÜCKEN<br />
Vor knapp zwei Wochen kündigte<br />
dann auch noch der neue<br />
französische Regierungschef<br />
Manuel Valls an, das Thema<br />
Geldpolitik nach der Europawahl<br />
auf die Agenda zu setzen.<br />
Es gelte, den Euro-Wechselkurs<br />
kräftig zu drücken. Der französische<br />
Wirtschaftsminister Arnaud<br />
Montebourg will gar „eine<br />
Schlacht eröffnen, um den Euro<br />
zu senken“.<br />
Diese Äußerungen sind eine<br />
Kampfansage an die Unabhängigkeit<br />
der Notenbank. Er sei ja<br />
dankbar für all die Ratschläge,<br />
die er erhalten habe, sagte<br />
Draghi in der vergangenen Woche,<br />
beeilte sich aber hinzuzufügen:<br />
„Wir sind unabhängig.“<br />
Doch genau daran zweifeln Kritiker,<br />
seit die EZB im Gespann<br />
mit IWF und EU Pleitestaaten<br />
und deren marode Banken zu<br />
retten versucht. Spätestens mit<br />
der Ankündigung Draghis, im<br />
Juni an der Zinsschraube drehen<br />
zu wollen (weil der EZB der<br />
starke Euro in Verbindung mit<br />
niedriger Inflation starke Sorgen<br />
mache), stellt sich die Frage<br />
nach der Unabhängigkeit mit<br />
neuer Heftigkeit.<br />
NEW ECONOMICS<br />
Papier macht ungleich<br />
Ein neues Ökonomie-Buch kommt zu einem provokanten<br />
Schluss: Gegen Ungleichheit helfen keine höheren<br />
Steuern. Nötig ist ein anderes Geldsystem.<br />
Wenn es um die Frage<br />
geht, warum die Reichen<br />
immer reicher<br />
werden: Kann da ein Büchlein<br />
mit gerade mal 180 Seiten, ohne<br />
Formeln, Grafiken und Tabellen,<br />
mit dem datenbeladenen<br />
und hochgelobten 700-Seiten-<br />
Wälzer des französischen Ökonomen<br />
Thomas Piketty konkurrieren?<br />
Die Antwort lautet: Ja!<br />
Weil es eine Erklärung UND einen<br />
Ausweg aus der Misere präsentiert.<br />
Die Rede ist von dem<br />
soeben erschienenen Buch der<br />
Ökonomen Andreas Marquart<br />
und Philipp Bagus mit dem Titel<br />
„Warum andere auf Ihre<br />
Kosten immer reicher werden<br />
...und welche Rolle der Staat<br />
und unser Papiergeld dabei<br />
spielen“. Die zentrale These in<br />
diesem blendend geschriebenen<br />
Werk lautet:Schuld an der<br />
zunehmenden Ungleichheit<br />
von Einkommen und Vermögen<br />
ist unser Geldsystem.<br />
KREDIT AUS DEM NICHTS<br />
Das staatliche Papiergeldmonopol<br />
ermöglicht es den Zentralbanken<br />
im Zusammenspiel mit<br />
den Geschäftsbanken, Geld<br />
und Kredite aus dem Nichts zu<br />
schöpfen. Es reizt Regierungen,<br />
Unternehmen und Bürger an,<br />
sich über alle Maßen zu verschulden.<br />
Bei dieser Kreditbonanza<br />
aber sind all die im Vorteil,<br />
die nahe an der Geldquelle<br />
sitzen: Finanzindustrie, Staat<br />
und Großunternehmen.<br />
Sie erhalten das<br />
aus dem Nichts erzeugte<br />
Geld als Erste<br />
– und können Waren<br />
und Vermögensgüter<br />
kaufen, wenn deren<br />
Preise noch niedrig<br />
sind. Arbeitnehmer<br />
und Rentner hingegen,<br />
die das frisch gedruckte<br />
Geld – wenn überhaupt<br />
– als Letzte erhalten, gucken in<br />
die Röhre. Sie können erst kaufen,<br />
wenn die Preise bereits gestiegen<br />
sind. Auf der Gewinnerseite<br />
steht mithin, wer schon<br />
Vermögen hat. Er kann es beleihen,<br />
um mit dem Kredit weitere<br />
Vermögensgüter wie Aktien<br />
und Immobilien zu erwerben.<br />
Die Kreditschöpfung beschleunigt<br />
so die Kapitalkonzentration<br />
in den Händen der Vermögenden.<br />
Die Ungleichheit nimmt<br />
zu. Schuldner gewinnen, Sparer<br />
verlieren. Weil der Staat unbegrenzten<br />
Zugang zu Krediten<br />
hat, weitet er seine Aktivitäten<br />
ungehemmt aus. Seine auf<br />
Pump finanzierten Sozialleistungen<br />
verdrängen privates Engagement.<br />
Soziale und familiäre<br />
Strukturen erodieren, es<br />
entsteht eine „schwere Moralund<br />
Wertekrise“, so die Autoren.<br />
Als Gegenmittel schlagen sie einen<br />
radikalen Schnitt vor: Dem<br />
Staat müsse das Geldmonopol<br />
entrissen werden. Geld müsse<br />
wieder werden, was es einmal<br />
war: ein durch eine Handelsware<br />
wie Gold vollgedecktes<br />
Tauschmittel des freien Marktes.<br />
Das Buch, das sich ausdrücklich<br />
auch an Nichtökonomen<br />
wendet, führt den Leser<br />
auf leicht verständliche Weise<br />
in die „Österreichische Schule“<br />
der Nationalökonomie ein. Wer<br />
wissen will, wie unser Geldsystem<br />
funktioniert und warum<br />
es zu schweren Krisen<br />
führt, der sollte<br />
dieses Buch lesen.<br />
malte.fischer@wiwo.de<br />
Andreas Marquart,<br />
Philipp Bagus<br />
Warum andere auf<br />
Ihre Kosten immer<br />
reicher werden<br />
FBV, 16,99 Euro<br />
FOTO: FRANK SCHEMMANN FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
34 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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KONJUNKTUR DEUTSCHLAND<br />
Signale stehen weiter<br />
auf Aufschwung<br />
Noch schlagen die Ukraine-Krise<br />
und die neue Eiszeit mit<br />
Russland nicht auf die Konjunktur<br />
durch. In ihrer neuen Frühjahrsprognose<br />
sagt die EU-<br />
Kommission für <strong>2014</strong> ein<br />
Wachstum in der Euro-Zone<br />
von 1,2 Prozent voraus, 2015<br />
sollen es 1,7 Prozent werden.<br />
Auch in Deutschland stehen die<br />
Konjunktursignale auf Grün:<br />
Der Earlybird-Frühindikator,<br />
den die Commerzbank exklusiv<br />
für die WirtschaftsWoche ermittelt,<br />
ist im April um 0,23 auf 2,28<br />
Zähler gestiegen und hat damit<br />
seinen Rückgang im Vormonat<br />
größtenteils wettgemacht (siehe<br />
Grafik). Das Konjunkturbarometer<br />
hat einen Vorlauf gegenüber<br />
der Realwirtschaft von<br />
sechs bis neun Monaten. Es erfasst<br />
den Außenwert des Euro,<br />
die kurzfristigen Realzinsen sowie<br />
(als Messgröße für die Lage<br />
der Weltwirtschaft) den Einkaufsmanagerindex<br />
für die US-<br />
Industrie (ISM).<br />
Grund für den aktuellen Aufwärtstrend<br />
war vor allem ein<br />
niedrigerer Realzins. Zudem<br />
präsentierte sich die Weltwirtschaft<br />
in besserer Verfassung als<br />
im Vormonat – der ISM-Index<br />
ist im April erneut gestiegen.<br />
Zwar fiel das amerikanische<br />
Wirtschaftswachstum im ersten<br />
Quartal mit 0,1 Prozent überraschend<br />
schwach aus. Doch<br />
dürfte dies vor allem am extrem<br />
strengen Winter in den USA gelegen<br />
haben.<br />
Getrübt wird das konjunkturelle<br />
Umfeld in Deutschland<br />
derzeit durch den starken Euro,<br />
der deutsche Exporte verteuert.<br />
Der reale Außenwert liegt aktuell<br />
etwa 3,5 Prozent höher als<br />
vor einem Jahr. „So stark wie in<br />
den vergangenen eineinhalb<br />
Jahren hat der Euro in den vergangenen<br />
zehn Jahren nie zugelegt“,<br />
schreiben die Commerzbank-Ökonomen<br />
in ihrer<br />
Analyse. Doch „angesichts des<br />
guten Zustandes der Weltwirtschaft<br />
und der sehr expansiv<br />
ausgerichteten Geldpolitik<br />
dürfte die Aufwertung des Euro<br />
kaum ausreichen, um den Aufschwung<br />
zu stoppen“.<br />
Wieder erholt<br />
Bruttoinlandsprodukt und Earlybird-Konjunkturbarometer<br />
4,0<br />
3,0<br />
2,0<br />
1,0<br />
0<br />
–1,0<br />
–2,0<br />
–3,0<br />
–4,0<br />
Bruttoinlandsprodukt 1 Earlybird 2<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
08 2009 2010 2011 20<strong>12</strong> 2013 <strong>2014</strong><br />
1<br />
zum Vorquartal (in Prozent); 2 gewichtete Summe aus kurzfristigem realemZins, effektivemrealem<br />
Außenwertdes Euro und US-Einkaufsmanagerindex;Quelle:Commerzbank<br />
4,0<br />
3,0<br />
2,0<br />
1,0<br />
0<br />
–1,0<br />
–2,0<br />
–3,0<br />
–4,0<br />
Rückschlag für<br />
die Industrie<br />
Damit hatten die wenigsten Analysten<br />
gerechnet: Die Auftragseingänge<br />
der deutschen Industrie<br />
sind im März erstmals seit<br />
vier Monaten wieder zurückgegangen.<br />
Die Bestellungen sanken<br />
vor allem wegen einer<br />
schwächeren Nachfrage aus der<br />
Euro-Zone um 2,8 Prozent gegenüber<br />
dem Vormonat. Im Februar<br />
hatte es in den Auftragsbüchern<br />
der Unternehmen noch<br />
ein Plus von 0,9 Prozent gegeben.<br />
Während ausländische Kunden<br />
insgesamt 4,6 Prozent weniger<br />
orderten, schrumpfte die<br />
inländische Nachfrage etwas<br />
moderater (minus 0,6 Prozent).<br />
Den stärksten Einbruch verzeichneten<br />
die Hersteller von<br />
Konsumgütern (minus 5,3<br />
Prozent).<br />
Ökonomen sehen das Minus<br />
gleichwohl gelassen, da es vor<br />
allem auf eine hohe Zahl von<br />
Großaufträgen im Vormonat<br />
zurückgeht.<br />
Volkswirtschaftliche<br />
Gesamtrechnung<br />
Reales Bruttoinlandsprodukt<br />
Privater Konsum<br />
Staatskonsum<br />
Ausrüstungsinvestitionen<br />
Bauinvestitionen<br />
Sonstige Anlagen<br />
Ausfuhren<br />
Einfuhren<br />
Arbeitsmarkt,<br />
Produktion und Preise<br />
Industrieproduktion 1<br />
Auftragseingänge 1<br />
Einzelhandelsumsatz 1<br />
Exporte 2<br />
ifo-Geschäftsklimaindex<br />
Einkaufsmanagerindex<br />
GfK-Konsumklimaindex<br />
Verbraucherpreise 3<br />
Erzeugerpreise 3<br />
Importpreise 3<br />
Arbeitslosenzahl 4<br />
Offene Stellen 4<br />
Beschäftigte 4, 5<br />
20<strong>12</strong> 2013<br />
Durchschnitt<br />
0,7<br />
0,8<br />
1,0<br />
–4,0<br />
–1,4<br />
3,4<br />
3,2<br />
1,4<br />
20<strong>12</strong> 2013<br />
Durchschnitt<br />
–0,9<br />
–4,2<br />
0,1<br />
3,3<br />
1<strong>05</strong>,0<br />
46,7<br />
5,9<br />
2,0<br />
2,0<br />
2,1<br />
2897<br />
478<br />
29006<br />
0,4<br />
0,9<br />
0,7<br />
–2,4<br />
0,1<br />
3,0<br />
0,8<br />
0,9<br />
–0,2<br />
2,5<br />
0,2<br />
–0,2<br />
106,9<br />
50,6<br />
6,5<br />
1,5<br />
–,1<br />
–2,5<br />
2950<br />
435<br />
29381<br />
IV/<strong>12</strong> I/13 II/13 III/13 IV/13<br />
Veränderung zum Vorquartal in Prozent<br />
–0,5<br />
0,1<br />
0,1<br />
–0,3<br />
–1,1<br />
1,1<br />
–1,6<br />
–0,9<br />
Januar<br />
<strong>2014</strong><br />
0,4<br />
0,1<br />
2,0<br />
2,2<br />
110,6<br />
56,3<br />
7,6<br />
1,3<br />
–1,1<br />
–2,3<br />
2927<br />
443<br />
29629<br />
1 Volumen, produzierendes Gewerbe, Veränderung zum Vormonat in Prozent; 2 nominal, Veränderung zum Vormonat in<br />
Prozent; 3 Veränderung zum Vorjahr in Prozent; 4 in Tausend, saisonbereinigt; 5 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte;<br />
alle Angaben bis auf Vorjahresvergleiche saisonbereinigt; Quelle: Thomson Reuters<br />
0,0<br />
0,3<br />
0,2<br />
–1,4<br />
–1,5<br />
–0,9<br />
–1,0<br />
–0,5<br />
Februar<br />
<strong>2014</strong><br />
0,6<br />
0,9<br />
0,4<br />
–1,4<br />
111,3<br />
54,8<br />
8,3<br />
1,2<br />
–0,9<br />
–2,7<br />
2911<br />
444<br />
29693<br />
0,7<br />
0,6<br />
–0,4<br />
0,5<br />
1,7<br />
1,6<br />
2,4<br />
1,9<br />
März<br />
<strong>2014</strong><br />
–0,5<br />
–2,8<br />
–0,7<br />
–<br />
110,7<br />
53,7<br />
8,5<br />
1,0<br />
–0,9<br />
–3,3<br />
2897<br />
446<br />
–<br />
0,3<br />
0,2<br />
1,2<br />
0,1<br />
2,1<br />
1,4<br />
0,2<br />
0,8<br />
April<br />
<strong>2014</strong><br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
111,2<br />
54,1<br />
8,5<br />
1,3<br />
–<br />
–<br />
2872<br />
448<br />
–<br />
0,4<br />
–0,1<br />
0,0<br />
1,4<br />
1,4<br />
1,2<br />
2,7<br />
0,6<br />
Mai<br />
<strong>2014</strong><br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
8,5<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–<br />
Letztes Quartal<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
1,3<br />
1,0<br />
1,0<br />
0,0<br />
3,2<br />
2,1<br />
4,1<br />
2,7<br />
Letzter Monat<br />
zum Vorjahr<br />
in Prozent<br />
5,1<br />
3,1<br />
–1,9<br />
4,6<br />
6,7<br />
<strong>12</strong>,4<br />
37,1<br />
–<br />
–<br />
–<br />
–2,5<br />
3,2<br />
1,5<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 35<br />
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Der Volkswirt<br />
WELTWIRTSCHAFT<br />
Vorsicht, Engpass<br />
Die eskalierende Ukraine-Krise ist nicht nur ein Risiko<br />
für den internationalen Öl- und Gasmarkt – sie treibt<br />
auch die Preise für andere Rohstoffe in die Höhe.<br />
Wenn Ökonomen über<br />
Bodenschätze und deren<br />
Preise diskutieren,<br />
geht es selten allein um die<br />
Gesetze von Angebot und Nachfrage<br />
– sondern fast immer auch<br />
um Politik und Psychologie. Kein<br />
anderer Wirtschaftsbereich ist<br />
derart von „geopolitischen“ Faktoren<br />
beeinflusst wie der Rohstoffmarkt.<br />
In der jüngeren Vergangenheit<br />
waren es vor allem<br />
Unruhen im Nahen Osten, die<br />
die Notierungen auf Achterbahnfahrt<br />
schickten. Nun sind es<br />
der drohende Bürgerkrieg in der<br />
Ukraine und der machtpolitische<br />
Konflikt zwischen dem<br />
Westen und Russland.<br />
„Wenn die Lage in der<br />
Ukraine weiter eskaliert<br />
und es womöglich zu einem<br />
offenen Konflikt<br />
zwischen Russland<br />
und der Ukraine<br />
kommt, werden die<br />
Preise für viele Rohstoffe<br />
steigen“, warnt<br />
Eugen Weinberg,<br />
Chef-Rohstoffanalyst<br />
der Commerzbank.<br />
Schon jetzt sind manche<br />
Notierungen nach<br />
oben geschossen. So<br />
hat sich etwa der Preis<br />
des für die Edelstahlproduktion<br />
wichtigen Rohstoffs<br />
Nickel seit Jahresbeginn um<br />
rund 30 Prozent erhöht. Aktuell<br />
notiert Nickel auf dem höchsten<br />
Stand seit mehr als einem Jahr,<br />
Tendenz weiter steigend. Spätestens<br />
im dritten Quartal droht eine<br />
massive Angebotslücke.<br />
Der Startschuss für die<br />
Nickel-Hausse ertönte zwar fern<br />
von Russland: Im Januar verhängte<br />
der wichtige Exporteur<br />
Indonesien ein Ausfuhrverbot<br />
für Nickelerz. Doch dürfte die<br />
Energie<br />
Erdöl<br />
(Brent)<br />
Diesel<br />
Ukraine-Krise den Preistrend<br />
weiter angeheizt haben. Denn<br />
der weltgrößte Einzelproduzent<br />
von veredeltem Nickel heißt Norilsk<br />
Nickel – und sitzt in Moskau.<br />
Für die Märkte gibt es derzeit<br />
zwei Schreckensszenarien.<br />
Erstens, dass der Westen seine<br />
Sanktionen gegen Russland<br />
verschärft und dabei auch den<br />
Import russischer Rohstoffe einschränkt.<br />
Und zweitens, dass<br />
Zucker<br />
Weizen<br />
Gasöl<br />
Raps<br />
Kohle<br />
Landwirtschaftsprodukte<br />
Mais<br />
Volatilitäten im Zeitraum<br />
<strong>vom</strong> 1.5.2013 bis 30.4.<strong>2014</strong><br />
23,1<br />
Strom<br />
Kakao<br />
Baumwolle<br />
Flugbenzin<br />
Emissionsrechte<br />
16,3 14,8<br />
15,6<br />
16,7<br />
16,7<br />
22,4<br />
19,0<br />
38,1<br />
Vergleichswerte<br />
in<br />
%<br />
100<br />
62,7<br />
50<br />
30<br />
20<br />
10<br />
6,3<br />
0<br />
10<br />
24,0 18,3 20<br />
22,0<br />
Palladium<br />
Russlands Präsident Putin trotz<br />
der damit verbundenen Einnahmeausfälle<br />
bestimmte Rohstoffexporte<br />
drosselt, um dem Westen<br />
zu schaden.<br />
Ein möglicher Kandidat wäre<br />
neben Nickel das Edelmetall Palladium,<br />
wichtig vor allem für die<br />
Chemie- und Autoindustrie.<br />
Russland ist bei diesem Rohstoff<br />
mit einem Weltmarktanteil von<br />
rund 40 Prozent die Nummer<br />
eins. „Ein Ausbleiben der russischen<br />
Lieferungen würde bei einigen<br />
Automodellen womöglich<br />
einen kompletten Produktionsstopp<br />
bedeuten. Die Lagerbestände<br />
sind wegen der starken<br />
physischen Anlegernachfrage<br />
und einer fallenden Minenproduktion<br />
gering“, warnt Experte<br />
Weinberg.<br />
30 29,4<br />
50<br />
100<br />
Euro-/<br />
Dollar-<br />
Kurs<br />
16,0<br />
Silber<br />
Zinsen<br />
18,1<br />
18,3<br />
19,9<br />
18,6<br />
21,8<br />
16,6<br />
19,4<br />
19,2<br />
17,9 20,4<br />
Platin<br />
Eisenfeinerz<br />
Edelmetalle<br />
Quelle:<br />
Commerzbank<br />
Gold<br />
Blei<br />
Aluminium<br />
n Der Rohstoffradar misst die Volatilität ausgewählter Preise und ist<br />
damit ein wichtiger Indikator für Unternehmen und Anleger.<br />
Er stellt die durchschnittliche prozentuale Abweichung <strong>vom</strong> Mittelwert<br />
der vergangenen zwölf Monate grafisch dar. Hohe Schwankungsbreiten<br />
signalisieren steigende Preis- und Planungsrisiken. Der Rohstoffradar<br />
erscheint dreimal jährlich exklusiv in der WirtschaftsWoche.<br />
Zinn<br />
Kupfer<br />
Nickel<br />
Zink<br />
Was steigt, was fällt<br />
Preisentwicklungausgewählter<br />
Rohstoffe seit Jahresbeginn<br />
Angespannt ist die Lage auch<br />
bei Weizen. Zum Jahresbeginn<br />
rechneten die meisten Investoren<br />
mit fallenden Preisen –<br />
stattdessen ist Weizen über 20<br />
Prozent teurer geworden. Hauptverantwortlich<br />
dafür ist zwar die<br />
Trockenheit in wichtigen Anbaugebieten<br />
der USA. Aber auch<br />
beim Weizen ist die Ukraine-<br />
Krise ein psychologischer<br />
Katalysator für Preissprünge:<br />
Russland ist der fünftgrößte<br />
Weizenexporteur<br />
der Welt, die Ukraine<br />
liegt auf Rang sechs.<br />
Richtig ist allerdings<br />
auch dies: Entspannen<br />
sich Erntesituation<br />
und Ukraine-Krise,<br />
könnte der Preis wieder<br />
herunterkrachen. Weizen<br />
zählt zu den Rohstoffen<br />
mit den höchsten<br />
Preisausschlägen nach<br />
oben und unten. Das zeigt<br />
der Rohstoffradar, den die<br />
Commerzbank dreimal jährlich<br />
für die WirtschaftsWoche ermittelt<br />
und der die Volatilität widerspiegelt.<br />
Bei nur drei Rohstoffen<br />
(Silber, Mais, Zucker) schwankten<br />
die Notierungen in den vergangenen<br />
zwölf Monaten stärker<br />
als bei Weizen. Der Silberpreis<br />
pendelte um 29,4 Prozent um<br />
seinen Mittelwert. Bei Weizen<br />
waren es 22,4 Prozent – und<br />
womöglich bald mehr.<br />
Industriemetalle<br />
Nickel<br />
Weizen (CBOT)<br />
Mais<br />
Palladium<br />
Gold<br />
Zucker<br />
Benzin (95)<br />
Rohöl (WTI)<br />
–3<br />
–9<br />
Quelle: Commerzbank;<br />
Stand 6.5.<strong>2014</strong><br />
21<br />
20<br />
14<br />
9<br />
6<br />
4<br />
1<br />
Diesel<br />
Kupfer<br />
in Prozent<br />
34<br />
bert.losse@wiwo.de<br />
36 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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DENKFABRIK | Das Quantitative-Easing-Programm der Europäischen Zentralbank<br />
ist ein Fall für das Bundesverfassungsgericht. Denn es geht hier nicht um Geldpolitik,<br />
sondern um fiskalische Rettungsaktionen. Wie bei den bisherigen Euro-Rettungsschirmen<br />
muss am Ende der Steuerzahler die Zeche zahlen. Von Hans-Werner Sinn<br />
Neues Schutzversprechen<br />
FOTO: ROBERT BREMBECK FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE, F1ONLINE<br />
Quantitative Easing<br />
(QE), also quantitative<br />
Lockerung, heißt<br />
das neue Zauberwort<br />
der Europäischen Zentralbank<br />
(EZB). Gemeint ist das hinter<br />
verschlossenen Türen vorbereitete<br />
Programm zum Aufkauf<br />
privater und staatlicher Wertpapiere<br />
durch die EZB, das den<br />
Banken und der Wirtschaft<br />
Südeuropas helfen soll. Der<br />
EZB-Rat hat das Programm auf<br />
seiner Sitzung am vergangenen<br />
Donnerstag wegen großer Widerstände<br />
in einigen Euro-Ländern<br />
zwar noch nicht aktiviert,<br />
doch er hält es weiter in petto.<br />
derter Gewinnausschüttungen<br />
der Notenbanken an die Finanzminister<br />
oder in Form von Verlusten<br />
der Rettungsschirme, die von<br />
den Parlamenten im Nachhinein<br />
aufgespannt werden müssen, um<br />
die EZB zu entlasten. Dem deutschen<br />
Verfassungsgericht ist wegen<br />
der Mandatsüberschreitung<br />
der EZB vor Kurzem bekanntlich<br />
der Kragen geplatzt – die Richter<br />
haben der EZB Machtmissbrauch<br />
vorgeworfen.<br />
Das Gericht sollte nun auch das<br />
neue QE-Programm der EZB einer<br />
kritischen Prüfung unterziehen.<br />
Denn hier geht es trotz aller gegenteiligen<br />
Beteuerungen aber-<br />
»Die Stresstests<br />
für die Europäische<br />
Bankenunion<br />
könnten zu<br />
einem Desaster<br />
führen«<br />
mals um fiskalische Rettungsaktionen<br />
statt um Geldpolitik. Als die<br />
<strong>vom</strong> Euro hervorgerufene inflationäre<br />
Kreditblase platzte, wurden<br />
in die Bilanzen der Banken Frankreichs<br />
und Südeuropas riesige Löcher<br />
gerissen.<br />
Man hat die Öffentlichkeit darüber<br />
bislang noch mithilfe einer<br />
kreativen Buchführung hinweggetäuscht,<br />
doch ist die Not groß,<br />
weil sich die Wahrheit nicht mehr<br />
lange zurückhalten lässt. Die in<br />
diesem Jahr anstehenden Stresstests<br />
für die neue Bankenunion<br />
könnten zu einem Desaster führen,<br />
wenn keine Maßnahmen zur<br />
Wertsicherung der Bankaktiva ergriffen<br />
werden. Der Erwerb der ge-<br />
BAIL-OUT-PROGRAMME<br />
Wenn die Notenbank große Programme<br />
mit undurchsichtigen<br />
Namen ankündigt, müssen die<br />
Steuerzahler stets auf der Hut<br />
sein. Denn dahinter verbirgt<br />
sich regelmäßig ein Bail-out-<br />
Programm zur Rettung bedrohter<br />
Banken oder Staaten sowie<br />
ihrer Gläubiger. So war es mit<br />
dem Securities Markets Programme<br />
(SMP), mit dem für<br />
223 Milliarden Euro Staatspapiere<br />
der Krisenländer gekauft<br />
wurden, oder mit den Outright<br />
Monetary Transactions (OMT),<br />
mit denen die EZB ankündigte,<br />
solche Staatspapiere in Zukunft<br />
notfalls unbegrenzt zu kaufen.<br />
Auch die durch die sogenannten<br />
Target-Salden gemessenen<br />
Sonderkredite aus der Druckerpresse<br />
für die Banken Südeuropas<br />
erwiesen sich als ein<br />
gigantisches fiskalisches Rettungsprogramm,<br />
das mit Geldpolitik<br />
wenig zu tun hat.<br />
Die drohenden Verluste aus<br />
solchen Politikmaßnahmen werden<br />
beim Steuerzahler abgeladen.<br />
Er trägt sie in Form verminfährdeten<br />
Papiere mit frischem<br />
Geld aus der Druckerpresse erscheint<br />
vielen als einzige Möglichkeit,<br />
dieses Ziel zu erreichen.<br />
Man hätte auch den Weg der<br />
Rekapitalisierung der Banken mit<br />
den Mitteln des Rettungsschirms<br />
ESM wählen können. Da dieser<br />
Weg jedoch auf wachsende Widerstände<br />
bei den Parlamenten<br />
stieß, nimmt der EZB-Rat die Sache<br />
jetzt selbst in die Hand. Irgendeine<br />
geldpolitische Begründung<br />
wird sich schon finden<br />
lassen, und später muss man halt<br />
noch die Parlamente überzeugen,<br />
mit fiskalischen Rettungsaktionen<br />
nachzurücken.<br />
Dass die EZB jetzt aktiv werden<br />
will, liegt auch daran, dass sie ohnehin<br />
schon gefährdet ist – weil<br />
sie immer schlechtere Papiere als<br />
Pfand für ihre Kredite akzeptiert<br />
hat. So akzeptierte sie Staatspapiere,<br />
die von den Ratingagenturen<br />
kein Investment Grade mehr<br />
erhalten, sowie nicht gehandelte<br />
ABS-Papiere, die sich Banken aus<br />
ihrem Investitionsschrott zusammengeklebt<br />
hatten. Die Hälfte der<br />
Zentralbankgeldmenge des Euro-<br />
Systems wurde auf diese Weise zu<br />
Target-Krediten für die Banken<br />
der Krisenländer.<br />
Es ist nicht ganz klar, ob das<br />
neue QE-Programm mit einer Ausweitung<br />
der Geldmenge einherge-<br />
hen soll oder ob die Geldmengenwirkungen<br />
durch eine<br />
Rücknahme der Refinanzierungskredite<br />
sterilisiert werden<br />
sollen. Auf die erste Möglichkeit<br />
spekuliert etwa der neue französische<br />
Ministerpräsident Manuel<br />
Valls, der von der EZB eine ultralockere<br />
Geldpolitik und aktive<br />
Wechselkurspolitik fordert. Valls<br />
hofft, dass der Euro-Kurs dadurch<br />
fällt und den lahmenden<br />
Export seines Landes ankurbelt.<br />
EURO-KURS SOLL SINKEN<br />
Die Schutzversprechen in Form<br />
des OMT-Programms und das<br />
Aufkaufversprechen seitens des<br />
Rettungsschirms ESM hatten<br />
den Kauf der Staatspapiere<br />
Südeuropas für Investoren aus<br />
Nicht-Euro-Ländern attraktiv<br />
gemacht. Dadurch kam es zu einer<br />
spürbaren Euro-Aufwertung.<br />
Wenn aus dem Schutzversprechen<br />
eine tatsächliche<br />
Kaufhandlung wird, so tritt die<br />
gegenteilige Wirkung ein. Denn<br />
nun werden private Anleger aus<br />
Nicht-Euro-Ländern verdrängt<br />
und überweisen ihr Geld ins<br />
Ausland – was wiederum den<br />
Euro-Kurs senkt.<br />
Sollte die EZB hingegen das<br />
QE-Programm sterilisieren wollen,<br />
ähnelt die Situation dem,<br />
was bei einem formellen Bankenkonkurs<br />
geschieht: Sie<br />
tauscht ihre Kreditforderungen<br />
gegen die Banken gegen Eigentum<br />
an den Bankaktiva ein. Sie<br />
erspart den Banken die Konkursprozedur<br />
und kann den guten<br />
Schein der Finanzstabilität<br />
wahren.<br />
Hans-Werner Sinn ist Präsident<br />
des ifo Instituts und Ordinarius<br />
an der Ludwig-Maximilians-<br />
Universität in München.<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 37<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Chef im Schatten<br />
DEUTSCHE BANK | Seit zwei Jahren steht Anshu Jain neben<br />
Jürgen Fitschen an der Spitze von Deutschlands größtem<br />
Kreditinstitut. Seit zwei Jahren macht er fast alles<br />
richtig. Und hat für seine Kritiker trotzdem noch nicht<br />
bewiesen, dass er der Richtige für den Job ist.<br />
Dann eben auch mal Wuppertal.<br />
130 Angestellte der<br />
Deutschen Bank sind in die<br />
größte Filiale im Stadtteil<br />
Elberfeld gekommen, um<br />
ihren obersten Chef zu treffen. Eineinhalb<br />
Stunden beantwortet Anshu Jain<br />
Fragen auf Englisch, was er sagt, wird<br />
auf Wunsch simultan übersetzt. Er erklärt,<br />
bleibt freundlich, sachlich auch<br />
bei kritischen Fragen. Da gibt es viele:<br />
Wie konnte es mit der Bank so weit<br />
kommen? Was wusste er selbst? Wann<br />
ist es endlich vorbei? Und wer zahlt am<br />
Ende für die Verfehlungen? Jain weicht<br />
nicht aus, berichten Teilnehmer, er<br />
wirkt offen, ehrlich und bekommt dafür<br />
am Ende auch etwas geschenkt: einen<br />
Bildband über die Geschichte der<br />
Wuppertaler Schwebebahn.<br />
Die Exkursion an die Basis füllt einen<br />
weißen Fleck auf Jains innerer Deutschlandkarte.<br />
Das Land ist seit zwei Jahren<br />
die berufliche Heimat des gebürtigen<br />
Inders, doch es ist ihm fremd geblieben.<br />
Öffentlich ist er kaum präsent, mitunter<br />
wirkt es, als verstecke er sich. Und wenn<br />
er auftritt, tut er das so harmlos, glatt<br />
und gefällig, dass es umgehend vergessen<br />
wird. Seine Zeit an der Spitze der Investmentbank<br />
hängt an ihm wie Blei.<br />
Die Skandale machen ihn zum Chef auf<br />
Abruf und seinen Job zum Wettlauf gegen<br />
die eigene Vergangenheit.<br />
Intern dagegen hat er seine Rolle als<br />
Co-Chef der Deutschen Bank sofort gefunden.<br />
Seit er und Jürgen Fitschen Mitte<br />
20<strong>12</strong> an die Spitze gerückt sind, bauen<br />
sie das Institut so schnell und tief<br />
greifend um, dass gestresste Top-Manager<br />
von einem Motorwechsel bei Vollgas<br />
auf der Autobahn sprechen. Jain tut<br />
sich dabei als Antreiber hervor. Das<br />
Programm ist gewaltig: Die Bank baut<br />
Altlasten ab, passt sich an völlig veränderte<br />
Regulierung an, spart und integriert<br />
fast wie nebenbei auch noch die<br />
Postbank.<br />
WIE EIN WILDES TIER<br />
Jain macht da eigentlich alles richtig und<br />
hat so intern auch Skeptiker auf seine<br />
Seite gezogen. Dabei hatten seine Gegner<br />
vor dem Start Angst verbreitet, als<br />
käme demnächst ein wildes Tier aus dem<br />
Dschungel gesprungen. Jain hat sie eines<br />
Besseren belehrt. „Vom ersten Tag an ist<br />
er als Chef der gesamten Bank aufgetreten“,<br />
sagt ein Manager. Also nicht als reiner<br />
Investmentbanker, der den biederen<br />
Filialanhang mehr duldet als schätzt. Mit<br />
seinem Co-Chef Jürgen Fitschen bildet er<br />
ein sehr ungleiches, aber harmonisches<br />
Paar. Und trotz ehrgeiziger Sparziele hält<br />
er sich beim Abbau von Personal zurück.<br />
Das kommt bei den Vertretern der Arbeitnehmer<br />
an. „Die Führung hat unser<br />
Vertrauen, weil sie Altlasten entschlossen<br />
beseitigt und Wert auf Integrität und<br />
Kundenorientierung legt“, lobt der Gesamtbetriebsratsvorsitzende<br />
Alfred Herling.<br />
„Fitschen und Jain sind glaubwürdige<br />
Vertreter eines Wandels zum Besseren“,<br />
sagt Stephan Szukalski, der für die<br />
Gewerkschaft DBV im Aufsichtsrat sitzt.<br />
„Wir würden uns nur wünschen, dass sie<br />
in schwierigen Situationen mehr erklären<br />
und kommunizieren.“<br />
»<br />
38 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Stärken, Schwächen<br />
Was für und was gegen<br />
einen Deutsche-Bank-Chef<br />
Anshu Jain spricht.<br />
Jain gilt fachlich weltweit<br />
unbestritten als einer der besten<br />
Banker seiner Generation<br />
Nach fast 20 Jahren kennt<br />
er sich in der Bank mehr als<br />
bestens aus und hat einen<br />
klaren Plan für deren Umbau<br />
Jain ist ein sehr fordernder,<br />
aber auch motivierender Chef,<br />
dem seine Mitarbeiter vertrauen<br />
Als oberster Investmentbanker<br />
trägt er zumindest die<br />
politische Verantwortung für<br />
Verfehlungen der Vergangenheit<br />
Bei Politikern und Aufsehern<br />
ist er ein wenig glaubwürdiger<br />
Vertreter eines Neustarts<br />
Obwohl er sich bemüht,<br />
spricht Jain nach wie vor nur<br />
wenig Deutsch<br />
Von Anfang an in der<br />
Defensive Deutsche-<br />
Bank-Co-Chef Jain<br />
FOTO: LAIF/DOMINIK BUTZMANN<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 39<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
Auch im direkten Umgang mit Mitarbeitern<br />
hat Jain positiv überrascht. Er ist ein<br />
fordernder Chef, der keine Schwäche duldet.<br />
Wer nicht in sein Tableau passt, wird<br />
umgehend und ohne viel Aufsehen entfernt.<br />
Aber er ist fair, schätzt im direkten<br />
Gespräch auch Widerspruch und bemüht<br />
sich in größerer Runde um Offenheit. Das<br />
war früher anders. Da schickte er die erlaubten<br />
Fragen per Mail vorab an Untergebene<br />
herum. Abweichungen unerwünscht.<br />
Jain hat sich so stark gewandelt, dass er<br />
auch Weggefährten verblüfft. Frühere Top-<br />
Manager erinnern sich noch gut daran, wie<br />
er über die Postbank lästerte oder das Geschäft<br />
mit dem Mittelstand als zu margenschwach<br />
kritisierte und eindampfen wollte.<br />
Heute umschmeichelt er das emsige<br />
Rückgrat der deutschen Wirtschaft bei jeder<br />
Gelegenheit. Und tut auch was dafür:<br />
<strong>12</strong> 000 große Mittelständler hat die Bank<br />
organisatorisch von der Investmentbank in<br />
die Filialen des Privatkundengeschäfts verlagert,<br />
damit sie besser betreut werden.<br />
EIN CHEF FÜR ALLE<br />
Ob Berechnung oder Überzeugung: Jain<br />
weiß, was seine Rolle verlangt. So fliegt er<br />
nur noch alle zwei Wochen nach London,<br />
sein Glasbüro am Rande des Handelssaals<br />
hat er geräumt. Ein Drittel der Zeit ist er<br />
jetzt in Frankfurt, wo er mit seiner Frau<br />
Geetika eine Wohnung hat. Und wo sein<br />
Büro im 32. Stock zeigt, dass er ein Chef für<br />
alle sein will. Vor der Tür hängt das von ihm<br />
selbst geschossene Foto eines jungen Tigers,<br />
drinnen stehen Trophäen aus seiner<br />
Investmentbank-Zeit. Ein Glasrahmen<br />
zeigt aber auch ein mit Autogrammen<br />
übersätes Trikot des Postbank-Werbepartners<br />
Borussia Mönchengladbach. Jain lernt<br />
unverdrossen Deutsch, viel Zeit hat er<br />
Aktien-Info Deutsche Bank<br />
ISIN DE00<strong>05</strong>140008<br />
350<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
Indexiert: 1.6.20<strong>12</strong>=100<br />
20<strong>12</strong> 2013<br />
<strong>2014</strong><br />
Bilanzsumme(in Mrd. €)<br />
Vorsteuergewinn (in Mrd. €)<br />
Kapitalquote (in %)<br />
Effizienz* (in %)<br />
Kurs (in €)<br />
KGV2013<br />
Börsenwert(in Mrd. €)<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Deutsche Bank<br />
*Cost-Income-Ratio;<br />
Quelle: Thomson Reuters, Bloomberg<br />
Deutsche<br />
Société<br />
Générale<br />
Bank<br />
1637<br />
1,7<br />
9,5<br />
77<br />
30,80<br />
10,1<br />
31,4<br />
UBS<br />
UBS<br />
807<br />
1,2<br />
13,2<br />
81<br />
15,00<br />
16,1<br />
58,0<br />
Société<br />
Générale<br />
<strong>12</strong>66<br />
0,7<br />
10,1<br />
66<br />
44,00<br />
11,4<br />
35,0<br />
Hoch<br />
Die meisten europäischen Banken haben die Deutsche<br />
Bank weit abgehängt. Kurzfristig belastet vor allem die Unsicherheit<br />
über eine weitere Kapitalerhöhung die Aktie.<br />
Wenn hier Klarheit herrscht und die Bank zudem den<br />
Stresstest im Herbst gut besteht, könnte es aufwärtsgehen.<br />
nicht, aber für eine längere Ansprache zur<br />
Hauptversammlung am 22. Mai reicht es.<br />
Bei vielen Zielen, die Jain und Fitschen<br />
zu Beginn ihrer Amtszeit für 2015 anvisiert<br />
hatten, sind sie im Plan oder diesem voraus.<br />
Das Sparziel von jährlich 4,5 Milliarden<br />
Euro ist zur Hälfte erreicht. Die in eine<br />
Abbaubank ausgegliederten Vermögenswerte<br />
haben sich von <strong>12</strong>0 auf 50 Milliarden<br />
Euro reduziert. Die Vermögensverwaltung,<br />
die im gesamten Jahr 20<strong>12</strong> nur 150 Millionen<br />
Euro vor Steuern verdiente, wirft mittlerweile<br />
in jedem Quartal mehr ab.<br />
Trotz dieser Erfolge ist von Aufbruchstimmung<br />
in der Bank nichts zu spüren, im<br />
Gegenteil. Das Befinden ist schlecht, „sauschlecht“<br />
sogar, wie ein Insider sagt. Allenfalls<br />
stabilisiert sich die Lage allmählich.<br />
Die ständigen Skandale und Verfehlungen<br />
sorgen für eine gereizte Atmosphäre. Das<br />
Selbstverständnis ist angeknackst. Zu tief<br />
war der Absturz, zu schwer die Kränkung.<br />
Lange wähnte sich die Bank stark und<br />
unverwundbar. Dafür hatte vor allem Jains<br />
Vorgänger Josef Ackermann gesorgt. Der<br />
hatte stets erklärt, dass in erster Linie er<br />
persönlich, in zweiter aber auch die Bank<br />
Gewinner der Krise seien. Als die Konkurrenz<br />
2009 noch mit Aufräumarbeiten beschäftigt<br />
war, setzte er ein absurdes Zehn-<br />
Milliarden-Euro-Gewinnziel für 2011 in<br />
die Welt, als wäre nichts gewesen.<br />
Vermisst wird Ackermann heute kaum<br />
noch, viele sind wütend, fühlen sich betrogen.<br />
Denn geblieben ist ein Berg von Altlasten,<br />
deren Beseitigung Milliarden kostet<br />
und immer mal wieder den Staatsanwalt<br />
auf den Plan ruft. Die Deutsche Bank, das<br />
dämmert jedem, war längst nicht so gut in<br />
Form wie behauptet. Das Verhältnis von<br />
Kosten zu Ertrag lag bei 90 Prozent, das von<br />
Eigenkapital zu Risikoaktiva hätte nach<br />
den heute geltenden Standards läppische<br />
sechs Prozent betragen.<br />
Ackermanns letzte Amtsjahre gelten, abgesehen<br />
<strong>vom</strong> Kauf der Postbank, als verlorene<br />
Zeit, seine Ansprüche aber wirken<br />
fort. Demut passt nicht zur Bank, auch Jain<br />
will an der Weltspitze mitmischen. Statt einer<br />
Eigenkapitalrendite von 25 Prozent vor<br />
Steuern wollen er und Fitschen zwölf Prozent<br />
nach Steuern erreichen. Momentan<br />
sind sie davon meilenweit entfernt.<br />
Von Jaipur nach Frankfurt Die wichtigsten Stationen der Karriere von Anshu Jain.<br />
1963–1983<br />
Jain wächst in Jaipur in Indien<br />
und zeitweise in Kabul auf,<br />
zieht nach dem Studium in<br />
die USA<br />
1988–1995<br />
Nach einer ersten Station bei<br />
Kidder Peabody macht Jain<br />
als Investmentbanker bei<br />
Merrill Lynch in New York<br />
rasch Karriere und steigt bis<br />
zum Managing Director auf<br />
1995–20<strong>12</strong><br />
Mit seinem im Jahr 2000 bei<br />
einem Flugzeugabsturz verstorbenen<br />
Mentor Edson<br />
Mitchell geht<br />
er zur Deutschen<br />
Bank<br />
nach London.<br />
Gefördert von<br />
Josef Ackermann,<br />
steigt<br />
er bis in den<br />
Vorstand auf<br />
seit 20<strong>12</strong><br />
Nach langem Machtkampf<br />
tritt Jain mit Jürgen<br />
Fitschen die Nachfolge<br />
von Ackermann<br />
an. Die Bank<br />
gerät wegen<br />
vergangener<br />
Verfehlungen<br />
immer<br />
mehr ins<br />
Zwielicht<br />
40 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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2013 verdiente die Bank 1,5 Milliarden<br />
Euro vor Steuern, 20<strong>12</strong> war es nur halb so<br />
viel. Belastungen durch Abschreibungen,<br />
Vergleiche in Rechtsstreitigkeiten und Strafen<br />
verhageln das Ergebnis. So geht es erst<br />
mal weiter. <strong>2014</strong> werde sicher nicht besser<br />
laufen, heißt es in Vorstandskreisen, wieder<br />
werde es Milliarden an Strafzahlungen<br />
und Abschreibungen geben. Wieder geht<br />
es also mehr ums Aushalten als ums Wachsen.<br />
Disziplin bleibt höchstes Gebot.<br />
FOTOS: AKG/ROLAND AND SABRINA MICHAUD, PICTURE-ALLIANCE/DPA (2), ULLSTEIN BILD, FRANK BAUER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
Kein Nachfolger in Sicht Aufsichtsratschef<br />
Achleitner will an Jain festhalten, solange es<br />
geht – plant aber für den Notfall<br />
HOFFEN AUF DIE WENDE<br />
Ab 2015 soll die Bank auf Wachstum umschalten.<br />
Die Pläne liegen bereit: Die Führung<br />
will die Vermögensverwaltung ausbauen,<br />
sich in den Metropolen der Schwellenländer<br />
engagieren, bei der Konsolidierung<br />
der Branche mitmischen und auch<br />
technisch ganz vorne dabei sein.<br />
Der Auftakt dazu ist gemacht. Neulich<br />
hat Jain im Rechenzentrum in Eschborn<br />
bei Frankfurt vor mehr als 1000 Bankern<br />
erklärt, wie radikal neue Technologien wie<br />
der Mobilfunkstandard 4G das Leben der<br />
Kunden und damit das Bankgeschäft verändern.<br />
An seiner Seite Privatkundenvorstand<br />
Rainer Neske, den er bei der Gelegenheit<br />
als obersten Digital-Beauftragten<br />
der ganzen Bank vorstellte. Ein cleverer<br />
Schachzug: In Jains Anfangstagen galt Neske<br />
als Vertreter der Traditionalisten – und<br />
damit als möglicher Gegenspieler.<br />
Jain weiß, was er will, er kann seine Pläne<br />
mit ein paar Strichen auf dem Notizblock<br />
deutlich machen. Und hat doch nicht alles<br />
unter Kontrolle. Wie faulige Blasen poppten<br />
nach seinem Amtsantritt Skandale an<br />
die Oberfläche. Mögliche Manipulationen<br />
von Libor-Zinsen, Devisenmärkten und<br />
Goldpreis sowie Ermittlungen von Staatsanwälten<br />
wegen Falschaussagen im Kirch-<br />
Prozess und Steuerbetrug mit Klimazertifikaten<br />
dominieren das Bild der Bank.<br />
So auch bei der jährlichen Pressekonferenz<br />
Ende Februar. Jain und Fitschen wollen<br />
ihre maue Bilanz für 2013 als Erfolg verkaufen.<br />
Fast neun Milliarden Euro Gewinn<br />
habe die Bank ohne Sonderbelastungen<br />
gemacht, das zweitbeste Ergebnis aller Zeiten.<br />
Doch beide wirken alles andere als euphorisch.<br />
Und das Ergebnis ist eh zweitrangig.<br />
„Warum sind Sie der Richtige?“,<br />
„Was wussten Sie von der Manipulation<br />
von Zinssätzen?“ – Fragen wie im Polizeiverhör<br />
verfolgen Jain auf Schritt und Tritt.<br />
Mindestens so schwer wie das moralische<br />
Misstrauen wiegt das der Investoren.<br />
Aktuell beklagen sie zu wenig Transparenz<br />
bei der Vergütung. Die größten Sorgen machen<br />
sie sich aber wegen der nach wie vor<br />
schwachen Kapitalbasis, eine weitere Kapitalerhöhung<br />
ist wahrscheinlich. „Die Bank<br />
hat ihre Kapitalposition zwar schon dramatisch<br />
verbessert, ist aber immer noch<br />
auf der niedrigen Seite“, rügt David Moss,<br />
Chef des europäischen Aktiengeschäfts<br />
beim britischen Vermögensverwalter F&C.<br />
In Führungskreisen der Bank kommt die<br />
Botschaft offenbar an: „Wir haben nie gesagt,<br />
dass das Thema Kapital für uns erledigt<br />
ist“, sagt ein Top-Manager.<br />
DIE KONKURRENZ ZIEHT DAVON<br />
Darunter leidet einmal mehr der Aktienkurs,<br />
der seit Jahren um die 30 Euro stagniert.<br />
Das Geschäftsmodell gilt als zu<br />
kompliziert, die Kapitalbasis als zu<br />
schwach für die weltweiten Ambitionen.<br />
Nach dem Stresstest der EZB Ende des Jahres,<br />
so die Hoffnung der Führungsspitze,<br />
könne sich der Kurs an 50 Euro annähern.<br />
Das wäre bitter nötig. Denn die Flaute ist<br />
intern ein Stimmungskiller. Die Investmentbanker<br />
in New York und London bekommen<br />
einen großen Teil ihres Salärs in<br />
Aktien. Allmählich werden sie unruhig,<br />
wollen auch mal verkaufen, Kasse machen.<br />
Die Chance ist bisher ausgeblieben.<br />
Gleichzeitig zieht die Konkurrenz davon.<br />
In ihrem Selbstverständnis ist die Bank die<br />
Nummer eins in Europa, nach dem Börsenwert<br />
steht sie nicht mal mehr unter den<br />
ersten 15. Die US-Wettbewerber spielen<br />
längst in einer ganz anderen Liga. JP Morgan<br />
hat 2013 trotz ebenfalls heftiger Strafzahlungen<br />
13 Milliarden Euro verdient.<br />
Symbolhaft für die Kluft sind zwei Auftritte,<br />
bei denen Jain im vergangenen Jahr<br />
mit JP-Morgan-Chef Jamie Dimon diskutierte.<br />
Der steht auch unter Druck, tönt<br />
aber trotzdem laut und selbstbewusst, dass<br />
Amerika gefälligst stolz auf die Bank sein<br />
solle. Dagegen wirkt Jain kleinlaut. Höflich,<br />
fast schüchtern gelobt er Besserung und<br />
bittet um Geduld. Natürlich werde es dauern,<br />
bis die Finanzindustrie das zu Recht<br />
verlorene Vertrauen zurückerobert habe.<br />
„Wir sind alle verunsichert“, gibt ein Vorstandskollege<br />
zu. „Aber Anshu ist besonders<br />
vorsichtig. Jeder wartet auf einen Fehltritt.“<br />
Dabei ist das Ducken eigentlich nicht<br />
seine Sache. „Jain ist immer ein absoluter<br />
Meinungsführer gewesen“, sagt ein Manager,<br />
der jahrelang mit ihm im obersten<br />
Führungsgremium der Bank saß. „Es muss<br />
ihn schmerzen, dass er von Beginn an in<br />
die Defensive geraten ist und den Eindruck<br />
kaum noch korrigieren kann.“<br />
Die Skepsis ist weiter allgegenwärtig.<br />
„Jain hat sehr lange Verantwortung für kritische<br />
Geschäfte getragen“, sagt ein Bankenaufseher.<br />
„Unabhängig von konkreten<br />
Verfehlungen muss sich die Bank fragen,<br />
ob so viel personelle Kontinuität ein glaubhaftes<br />
Zeichen für Wandel ist.“<br />
Das Jain-Lager versucht tapfer, genau<br />
das zu vermitteln. Er kenne die Bank genau<br />
und habe genug Erfahrung und Autorität,<br />
um andere Banker <strong>vom</strong> Wandel zu überzeugen.<br />
Und schließlich sei jeder Investmentbanker,<br />
der in den Vorkrisenjahren<br />
Verantwortung trug, auf dem gleichen Irrweg<br />
gewesen. Jetzt sei die Branche klüger.<br />
So sieht das auch Paul Achleitner. Der<br />
Aufsichtsratsvorsitzende hat Jain früh von<br />
jeder direkten Verantwortung für die Manipulation<br />
der Libor-Zinssätze freigespro-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 41<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
chen und hält weiter treu zu ihm. Achleitner<br />
hat die Sitzordnung im Aufsichtsrat<br />
so umgestellt, dass dessen Mitglieder nun<br />
alphabetisch und nicht mehr nach Arbeitnehmern<br />
und Kapital getrennt angeordnet<br />
sind. Er legt auch sonst viel Wert auf Balance.<br />
Mit dem früheren UBS-Finanzchef John<br />
Cryan hat er Jain in dem Gremium einen<br />
ebenbürtigen Experten zur Seite gestellt.<br />
Beide lieferten sich schon Rededuelle, denen<br />
die Kollegen nur mit Mühe folgen<br />
konnten, etwa zu einer weiteren Kapitalerhöhung.<br />
Cryan war dafür, Jain wollte sie<br />
lieber vermeiden, um bessere Argumente<br />
für seinen Sparkurs zu haben.<br />
Gerüchteweise könnte Cryan Jain ersetzen,<br />
sollte der wegen einer Verfehlung stürzen.<br />
In Kreisen des Aufsichtsrats heißt es,<br />
Jain sitze fest im Sattel. Eine Ablösung war<br />
bei den letzten Sitzungen kein Thema. Die<br />
kritischsten Fragen müsse sich derzeit Finanzvorstand<br />
Stefan Krause anhören. Aber<br />
jedem ist klar, dass ein neuer Skandal Jains<br />
Ende wäre. Für diesen Fall will die Bank gerüstet<br />
sein. Angeblich soll bereits ein Personalberater<br />
nach einem externen Kandidaten<br />
suchen, der Jain, Fitschen oder<br />
gleich beide ersetzen kann.<br />
Fitschens wunder Punkt sind die Ermittlungen<br />
wegen angeblicher Falschaussagen<br />
im Kirch-Prozess. Er hat bisher nicht definitiv<br />
erklärt, dass er bleibt, wenn gegen ihn<br />
ein Strafverfahren beginnt. Ob es so weit<br />
kommt, dürfte sich bald entscheiden. Intern<br />
gilt die Situation als „kompliziert“.<br />
Jains wunder Punkt sind neun Millionen<br />
E-Mails. 300 Experten, darunter 150 externe<br />
Anwälte, durchsuchen den elektronischen<br />
Schriftverkehr nach Hinweisen auf<br />
Manipulationen von Referenzgrößen.<br />
Über die Geschehnisse beim Libor gibt es<br />
inzwischen Klarheit: „Die Untersuchung<br />
ist abgeschlossen, wir wissen genau, was<br />
passiert ist“, heißt es in hochrangigen Kreisen<br />
der Bank. Es handele sich um Verfehlungen<br />
Einzelner. Mit dem Abschluss aller<br />
Verfahren rechnen die Verantwortlichen<br />
nicht vor Ende des Jahres, wenn die Aufseher<br />
in den USA und Großbritannien ihr<br />
Strafmaß verkündet haben.<br />
TREIBER STATT GETRIEBENER<br />
Schluss ist dann noch lange nicht. Anzeichen<br />
für eine Schrauberei am Goldpreis<br />
gibt es bisher nicht. Im Vorstand und bei<br />
den Aufsehern gilt vor allem die mögliche<br />
Manipulation von Devisenkursen wegen<br />
der Größe des Marktes als heikel. Die Untersuchungen<br />
sind noch am Anfang. Im<br />
Fall eines Händlers für argentinische Peso<br />
gibt es klare Indizien für eine Absprache.<br />
Ob er aber wirklich einen Manipulationsversuch<br />
gestartet hat, ist nicht klar.<br />
Sollte sich ein Beleg für ein direktes Mitwissen<br />
oder gar eine Anstiftung durch Jain<br />
finden, wäre er sofort erledigt. Enge Mitarbeiter<br />
glauben das nicht. „Sein moralischer<br />
Kodex ist so streng, dass es schon fast irritierend<br />
ist“, betont einer. Aber kommt es<br />
wirklich darauf an, ob sich irgendwo die eine<br />
Mail findet, die ihn überführt? Jain hat<br />
als Ober-Investmentbanker über Jahre alles<br />
getan, um sein Geschäft auszubauen. Er<br />
war kein Getriebener, sondern Treiber.<br />
Und damit bei allen Irrwegen vorne dabei.<br />
In seiner Amtszeit zogen Vertriebstruppen<br />
los, um komplexe Derivate an Kommunen<br />
zu verticken, die deren Finanzplanung<br />
ruinierten statt sanierten. Der Aufstieg<br />
zu einem der größten Spieler auf dem<br />
Markt für verbriefte US-Immobilienkredite<br />
schwacher Bonität war vor allem Jains<br />
zweifelhaftes Verdienst. Hier drohen weiter<br />
die höchsten Strafzahlungen. Intern gilt es<br />
schon als Erfolg, dass sich die Bank in einem<br />
Verfahren kürzlich auf eine Strafe von<br />
1,4 Milliarden Euro geeinigt hat, während<br />
die Bank of America wenig später fast zehn<br />
Milliarden Dollar zahlen musste.<br />
Jain will alle Altlasten schnell weghaben.<br />
So hat er auch besonders darauf gedrängt,<br />
925 Millionen Euro nach München zu<br />
überweisen, um endlich den Streit um die<br />
Kirch-Pleite im Jahr 2001 zu beenden.<br />
Nach außen erkauft sich die Bank so etwas<br />
Frieden. Intern sorgen die Summen<br />
für Unruhe. Denn das Sparprogramm<br />
„Operational Excellence“ verordnet jeder<br />
Abteilung ein knallhartes Sparziel. Stellen<br />
werden nicht wieder besetzt, sogar die<br />
Drucker bedrucken das Papier seit Kurzem<br />
nur noch beidseitig. Abteilungsleiter rechnen<br />
aus, wie viele Jahre es dauert, bis ihre<br />
Einsparungen den Kirch-Vergleich finanziert<br />
haben. Und kommen auf Jahrzehnte.<br />
Es grummelt gewaltig. Bei Überweisungen<br />
im Privatkundengeschäft sind schon<br />
immer Kontrollen wie das Vier-Augen-<br />
Prinzip vorgesehen, während Milliardenspiele<br />
im Investmentbanking unbehelligt<br />
abliefen. Ackermann und Jain fuhren die<br />
Überwachung teilweise zurück. Kein Wunder,<br />
dass Banker beider Lager einander mit<br />
Skepsis begegnen. Bei den Kulturwandel-<br />
Seminaren erforschen Führungskräfte aus<br />
allen Bereichen, wie es zu den Sünden<br />
kommen konnte. Die Investmentbanker<br />
haben da erst mal einen schweren Stand.<br />
Mancher in der Bank stellt den Kurs der<br />
vergangenen 20 Jahre komplett infrage.<br />
Erst investierte sie Milliarden in den Aufbau<br />
des Kapitalmarktgeschäfts, verdiente<br />
so eine Weile Milliarden und zahlt dafür<br />
»<br />
Auf Schrumpfkurs<br />
Entwicklung der Deutschen Bank seit Amtsantritt von Jürgen Fitschen und Anshu Jain<br />
Aktienkurs<br />
in Euro<br />
35<br />
Vorsteuergewinn<br />
in Milliarden Euro<br />
4<br />
Bilanzsumme<br />
in Billionen Euro<br />
2,3<br />
Kapitalbasis 1<br />
in Prozent<br />
18<br />
Effizienz 3<br />
in Prozent<br />
60<br />
Beschäftigte<br />
in Tausend<br />
102<br />
34<br />
2<br />
2,1<br />
16<br />
80<br />
101<br />
33<br />
32<br />
0<br />
1,9<br />
14<br />
<strong>12</strong><br />
100<br />
100<br />
99<br />
31<br />
–2<br />
1,7<br />
10<br />
<strong>12</strong>0<br />
98<br />
20<strong>12</strong> 13 14<br />
30<br />
20<strong>12</strong> 13 14<br />
–4<br />
1,5<br />
20<strong>12</strong> 13 14<br />
8<br />
140<br />
20<strong>12</strong> 13 14 2 20<strong>12</strong> 13 14<br />
20<strong>12</strong> 13 14<br />
97<br />
1<br />
Verhältnis Kapital zu Risikoaktiva; 2 neue Eigenkapitalstandards; 3 Verhältnis Kosten zu Erträgen; Quelle: Unternehmensangaben<br />
42 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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KULTURWANDEL<br />
Kontrolle ist besser<br />
Die Bank will bei Verfehlungen knallhart durchgreifen.<br />
Auf der Vorderseite der Postkarte ist ein<br />
Spiegel, auf der Rückseite stehen Werte<br />
wie Integrität, Kundenorientierung und<br />
Disziplin. Etliche dieser Pappen hat die<br />
Deutsche Bank kürzlich an ihre Mitarbeiter<br />
verteilt. Die sollen sie sich immer mal<br />
wieder vors Gesicht halten und selbstkritisch<br />
prüfen, ob sie die dort formulierten<br />
Ansprüche im Alltag einlösen.<br />
Die Kärtchen sind nur ein kleiner Baustein<br />
des Großprojekts Kulturwandel. Das<br />
haben Anshu Jain und Jürgen Fitschen<br />
mit ihrem Amtsantritt ausgerufen. Die<br />
Bank soll aus den Sünden der Vergangenheit<br />
lernen. Zentrale Figur für die technische<br />
Umsetzung ist der frühere Investmentbanker<br />
Stephan Leithner. Als<br />
Vorstand für Personal und Recht ist er<br />
auch der oberste Verwalter der juristischen<br />
Altlasten. „Unser Fokus sind einwandfreie<br />
Transaktionen“, sagt Leithner.<br />
„Wir machen nicht bei jedem Geschäft<br />
mit, nur weil es profitabel ist.“<br />
Die Deutsche-Bank-Dreifaltigkeit für ein<br />
anständigeres Kreditinstitut Vorstände<br />
Fitschen, Leithner und Jain<br />
Das gilt auch für vier Händler, denen die<br />
Bank wegen der möglichen Manipulation<br />
der Libor-Referenzzinsen gekündigt hat.<br />
Die bisherigen Prozesse hat sie verloren, zu<br />
einem Vergleich war sie nicht bereit. Auch<br />
bei der möglichen Trickserei mit Devisenkursen<br />
hat sie belastete Händler gefeuert.<br />
Wichtiger als Strafe ist die Vorsorge.<br />
Mehr als eine Milliarde Euro gibt die Bank<br />
für Kontrollsysteme aus. „Das Pendel<br />
schlägt teilweise schon zu weit in die andere<br />
Richtung aus“, klagt ein Banker. Umstritten<br />
ist intern etwa die „Red Flag“-Datenseine<br />
Kunden ansprechen, die sich besonders<br />
positiv oder negativ geäußert haben.<br />
„Die Kunden sind beeindruckt, dass<br />
wir uns melden und das Gespräch suchen“,<br />
sagt Bubmann. „Die Telefonate<br />
helfen uns, den Bedürfnissen besser gerecht<br />
zu werden.“ Kunden zuhören und<br />
auf sie eingehen sind Grundtugenden, die<br />
die Bank vernachlässigt hat.<br />
Zusätzlich ziehen jährlich Tausende<br />
Testkäufer los, um die Beratung zu prüfen.<br />
Neue Produkte werden umfassender<br />
getestet: auf Verständlichkeit, ein ausgewogenes<br />
Verhältnis von Chance und Risiko,<br />
rechtliche Unbedenklichkeit und negative<br />
Folgen für den Ruf. „Wir betreiben<br />
einen sehr hohen Aufwand, um falsche<br />
Beratung auszuschließen und Fehler früh<br />
zu finden“, sagt Bubmann. Doch kann<br />
sich die Bank mehr Moral leisten? „Wenn<br />
FOTO: DDP IMAGES/THOMAS LOHNES<br />
RISIKO FÜR DEN RUF<br />
So habe die Bank kürzlich den Kauf eines<br />
großen Pakets notleidender Immobilienkredite<br />
aus Spanien gestoppt, obwohl ein<br />
Team wochenlang an der Transaktion gearbeitet<br />
hatte. Das Risiko für den Ruf war<br />
zu hoch. In der Branche gilt auch das Ende<br />
der Geschäftsbeziehung zum umstrittenen<br />
Hedgefondsmanager Steven Cohen<br />
als Beispiel für die moralische Reißleine.<br />
Die Bank will das nicht kommentieren.<br />
Lieber verweist Leithner auf erste Erfolge.<br />
Die Vergütung ist deutlich langfristiger<br />
und richtet sich bei Vorständen jetzt auch<br />
danach, dass sie sich dem Wertekanon<br />
gemäß verhalten. Und Tausende Schulungen<br />
sollen Banker zu verantwortungsvollem<br />
Handeln anleiten.<br />
Nicht zuletzt geht es um null Toleranz<br />
gegenüber Fehlverhalten. Die fängt mit<br />
Details an. So hat die Bank die einst nach<br />
Indien ausgelagerte Spesenabrechnung<br />
wieder in die Hände der örtlichen Vorgesetzten<br />
gelegt. Die beiden Chefs des Japan-Geschäfts<br />
hat sie wegen überhöhter<br />
Abrechnungen gefeuert. Die Botschaft:<br />
Wer trickst und täuscht, muss gehen.<br />
bank: Sie erfasst alle Verstöße gegen die<br />
neuen Regeln, etwa verspätete Schulungen.<br />
Seinen Effekt verfehlt das digitale<br />
Klassenbuch nicht: Die Zahl der Verstöße<br />
ist zuletzt um 20 Prozent gefallen.<br />
Auch Zockerei auf eigene Rechnung und<br />
Übertölpelung von Kunden sollen passé<br />
sein. Als eine Art Pionier des guten Geistes<br />
schiebt die Bank da gerne Christoph Bubmann<br />
vor, seit 2009 „Chief Client Officer“<br />
im Geschäft mit Privatkunden. Bubmann<br />
will nichts beschönigen, er weiß, wie das<br />
Image gelitten hat. Aber er hält die Lage<br />
nicht für hoffnungslos.<br />
Dabei setzt er vor allem auf die Kunden.<br />
Mehrere Millionen befragt die Bank jährlich<br />
nach ihrer Zufriedenheit. Jeder der insgesamt<br />
fast 11 000 Berater soll dann zeitnah<br />
wir die Leitlinien erklären, reagieren Kunden<br />
sehr positiv“, sagt Leithner. Nachteile<br />
fürchtet er nicht. Interne Skeptiker sind<br />
nicht überzeugt. Die ambitionierten Ziele<br />
in einem schrumpfenden Markt ließen es<br />
kaum zu, Chancen wegen moralischer<br />
Skrupel auszulassen.<br />
Auch die Finanzaufsicht BaFin hat beklagt,<br />
dass sich bei der Bank ohne Druck<br />
wenig tut. „Veränderungen brauchen<br />
Zeit“, sagt Leithner. Bei einem Treffen<br />
von 300 deutschen Führungskräften im<br />
März in Berlin hätten mehr als 80 Prozent<br />
erklärt, dass der Wandel spürbar sei und<br />
ihre Arbeit beeinflusse. Sie sollen Botschaften<br />
und Verhaltensweisen nun an ihre<br />
Leute weitergeben und selbst vorleben.<br />
cornelius.welp@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 43<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
nun Milliardenstrafen. In der Führung<br />
heißt es, die Bilanz des Investmentbankings<br />
insgesamt sei positiv und die Bank<br />
nur wegen ihm als einzige in Deutschland<br />
international wettbewerbsfähig. Doch die<br />
Filialmitarbeiter zahlen einen hohen Preis,<br />
wenn ihre Kunden sie auf die neueste Ungeheuerlichkeit<br />
der Kollegen ansprechen.<br />
Da ist es ein schwacher Trost, dass Jain<br />
keinen Bereich der Bank so radikal umkrempelte<br />
wie seinen eigenen. In der Investmentbank<br />
hat er seit 20<strong>12</strong> das härteste<br />
Sparprogramm durchgezogen. 2000 Stellen<br />
fielen weg, und das schwache Geschäft<br />
dürfte dafür sorgen, dass der Schrumpfprozess<br />
noch weitergeht. Wie ihre Wettbewerber<br />
leidet die Deutsche Bank unter<br />
dem schwachen Handel mit Anleihen und<br />
einem lahmen Devisengeschäft.<br />
WEICHES THEMA IN HARTER ZEIT<br />
Dabei geht es nicht nur um eine der üblichen<br />
Flauten, sondern um tief greifende<br />
Veränderungen durch Regulierung. Die betrifft<br />
vor allem den Handel mit Anleihen,<br />
Devisen und Rohstoffen, aus dem Jain selbst<br />
kommt. „Die Welt hat sich verändert, und<br />
wir müssen uns anpassen“, sagt Colin Fan,<br />
der das Geschäft gemeinsam mit Robert<br />
Rankin leitet, seit Jain an die Spitze der gesamten<br />
Bank gerückt ist. Die Bank hat den<br />
Eigenhandel dichtgemacht und den physischen<br />
Handel mit Rohstoffen eingestellt.<br />
Anders als mancher Wettbewerber will sie<br />
aber grundsätzlich weiter alle wesentlichen<br />
Dienstleistungen anbieten. Nur so könne sie<br />
ihre globalen Ambitionen aufrechterhalten.<br />
Die verkörpert Fan ähnlich wie Jain, zu<br />
dessen engsten Vertrauten er zählt. Er wurde<br />
in China geboren und wuchs in Kanada auf.<br />
Seine wichtigste Aufgabe ist es nun, den von<br />
Jain und Fitschen ausgerufenen Kulturwandel<br />
(siehe Seite 43) auch den hartgesottenen<br />
Händlertruppen zu vermitteln. Leicht ist das<br />
nicht. „Alle waren überrascht über das vermeintlich<br />
weiche Thema in einer Zeit, in der<br />
die Bank mit Herausforderungen in ihrem<br />
Kerngeschäft konfrontiert ist“, sagt Fan.<br />
Damit es nicht nur Gerede bleibt, wird<br />
das richtige Verhalten in Rollenspielen eingeübt.<br />
Wer nicht hören will, muss büßen.<br />
„Strafen für Fehlverhalten müssen drastisch<br />
ausfallen. Wir sollten diese Personen<br />
enttarnen, ihnen kündigen, ihre Boni und<br />
Belegschaftsaktien kassieren und die Aufsichtsbehörden<br />
informieren“, droht Fan.<br />
Auf die Skandale reagiert die Bank mit<br />
deutlich mehr Kontrollen und mit Rückzug,<br />
etwa bei der Ermittlung des Goldpreises<br />
oder von einigen Devisenkursen. „Wir<br />
44 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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können unsere Teilnahme nicht komplett<br />
einstellen, weil wir in manchen Märkten<br />
ein wichtiger Teilnehmer sind. Bis dato haben<br />
wir die Zahl der Fixings, an denen wir<br />
teilnehmen, um zwei Drittel gesenkt“, sagt<br />
Fan. Um Fehlverhalten auszuschließen,<br />
wird stärker automatisiert:Rund die Hälfte<br />
des Devisenhandels wird elektronisch abgewickelt,<br />
der Anteil dürfte bald auf 80 bis<br />
90 Prozent steigen. Und Fan setzt auf einfache<br />
Produkte, er wolle „dem Brot-und-Butter-Geschäft<br />
Priorität einräumen“.<br />
Vertraute wie Fan sollen verhindern,<br />
dass Jains größte Angst wahr wird und aus<br />
Geschäften von heute Altlasten von morgen<br />
werden. Ein neuer Libor-/Devisen-/<br />
Kirch-Fall wäre das Ende seiner Karriere<br />
und ein weiterer Tiefschlag für das Image<br />
der Bank. Nur wenn sie längere Zeit sauber<br />
bleibt, kann Jain zu einem ganz normalen<br />
Manager werden, dem die Leute vertrauen.<br />
DURCH DIE HINTERTÜR<br />
Nirgends fehlt es daran so wie in Berlin. 15<br />
Mal im Jahr ist Jain in der Hauptstadt, sie ist<br />
sein deutscher Lieblingsort. Die Ministerien<br />
aber betritt er durch den Hintereingang.<br />
Sich mit ihm zu zeigen gilt unter Politikern<br />
als unschick, viele würden ihn gerne<br />
abgelöst sehen.<br />
Da muss Jain jede Chance nutzen. Im Innenhof<br />
der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft<br />
in Berlin steht das Deutsche-Bank-<br />
Logo in der Ecke. Mitte Februar stellt Ex-<br />
Kanzler Gerhard Schröder hier ein neues<br />
Buch vor, und weil Schröders Agenda heute<br />
als deutsches Erfolgsrezept gilt, ist der Saal<br />
voll. Jain ist ein artiger Gastgeber, er kommt<br />
genau pünktlich, dunkelblauer Anzug, die<br />
rechte Hand lässig in der Hosentasche, lächelt<br />
er freundlich, fast schelmisch. Er<br />
macht das souverän, zitiert auf Englisch sogar<br />
Thomas Mann: „Wir wollen kein deutsches<br />
Europa, sondern ein europäisches<br />
Deutschland.“ Es ist ein kurzer Auftritt ohne<br />
Widerhaken. Nach fünf Minuten ist die<br />
Pflicht vorbei. Als Belohnung für Jain gibt es<br />
gemeinsame Fotos in den Zeitungen.<br />
In seiner Ansprache hat Jain Schröder<br />
gelobt, weil der auch gegen Widerstände<br />
durchsetzte, was er für richtig hielt. Heute<br />
bekommt Schröder anders als für seine<br />
Freundschaft zu Wladimir Putin dafür Applaus.<br />
Jain strebt nicht wie sein Vorgänger<br />
Ackermann einen Platz in einem Geschichtsbuch<br />
an. Wenn es irgendwann hieße,<br />
dass er der richtige Mann am richtigen<br />
Ort war, würde ihm das schon reichen. n<br />
cornelius.welp@wiwo.de | Frankfurt,<br />
yvonne esterhazy | London<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 45<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»Wichtig ist, cool zu bleiben«<br />
INTERVIEW | Rupert Stadler Der Audi-Chef kündigt ein Modellfeuerwerk und eine Globalisierungsoffensive<br />
an, sieht aber keinen Grund für einen Kurswechsel. Carsharing ist für ihn kein Thema.<br />
FOTO: WOLF HEIDER-SAWALL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
46 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Herr Stadler, etwa ein Jahr ist es her, dass<br />
Ursula Piëch in den Aufsichtsrat von<br />
Audi eingezogen ist. Wie hat sich das auf<br />
die Arbeit in dem Gremium ausgewirkt?<br />
Frau Piëch kennt unser Unternehmen seit<br />
vielen Jahren hautnah, sowohl aus der Zeit,<br />
als ihr Mann hier bei Audi Vorstandschef<br />
war, als auch aus der Konzernperspektive.<br />
Sie ist sehr nah dran am Geschehen. Insofern<br />
ist sie für uns ein absoluter Zugewinn.<br />
Kritik haben Sie von ihr im Aufsichtsrat<br />
also noch nicht zu hören bekommen?<br />
Diese Frage ist falsch adressiert. Ich sitze<br />
dem Vorstand vor, nicht dem Aufsichtsrat.<br />
Dann frage ich Sie direkt. Audi hat im<br />
ersten Quartal den Umsatz um sieben<br />
Prozent gesteigert, den Absatz um elf<br />
Prozent, das operative Ergebnis aber nur<br />
um 0,5 Prozent. Ist das nicht sehr mager?<br />
Audi hat in den letzten Jahren einen sehr<br />
guten Job gemacht. Bei der operativen Rendite<br />
sind wir mit 10,1 Prozent vor BMW und<br />
Mercedes klar der Champion. 2013 haben<br />
wir toll abgeschnitten mit einem Absatz<br />
von über 1,5 Millionen Autos. Diese Marke<br />
hatten wir uns erst für 2015<br />
gesetzt.<br />
Dafür scheint nun aber<br />
die Puste auszugehen.<br />
Wie kommen Sie darauf?<br />
Wir hatten in den ersten<br />
vier Monaten ein Absatzplus<br />
von rund zwölf Prozent,<br />
wachsen auf allen<br />
Weltmärkten, sind Premiummarke<br />
Nummer eins in<br />
Europa und China. Ebenso<br />
wichtig ist unsere hohe Ertragskraft.<br />
Wir tätigen unsere<br />
Investitionen aus einer sehr soliden<br />
Cash-Flow-Position heraus.<br />
Dennoch ist das Konzernergebnis vor<br />
Steuern im ersten Quartal gesunken. Und<br />
für das Gesamtjahr erwarten Sie einen<br />
Umsatz, der nur leicht über Vorjahr liegen<br />
wird. Wie erklären Sie das?<br />
Das operative Ergebnis ist stabil geblieben,<br />
trotz der enorm hohen Vorleistungen, die<br />
wir im Moment erbringen. Und bei der<br />
operativen Umsatzrendite markieren wir<br />
die Spitze im Wettbewerbsumfeld.<br />
Sie lehnen sich also zufrieden zurück?<br />
Das werden Sie weder bei mir noch bei<br />
einem der mehr als 70 000 Audianer<br />
erleben. Unser Umfeld ändert sich fast täglich,<br />
aber wir gehen unseren Weg in aller<br />
Ruhe und Klarheit. Bis 2020 durchlaufen<br />
wir eine weitere Produktoffensive und das<br />
größte Investitionsprogramm unserer Geschichte.<br />
MANN MIT WEITSICHT<br />
Stadler, 51, folgte im Januar<br />
2007 Martin Winterkorn auf<br />
den Posten des Vorstandschef<br />
der VW-Tochter Audi. Der Finanzexperte<br />
begann seine<br />
Karriere unter dem heutigen<br />
VW-Aufsichtsratschef Ferdinand<br />
Piëch im Controlling.<br />
Später war er der Büroleiter<br />
von Piëch in Wolfsburg und<br />
Konzern-Produktplaner.<br />
VW-Chef Martin Winterkorn hat kürzlich<br />
Extrarunden angekündigt, um schneller<br />
auf gesellschaftliche und technische<br />
Veränderungen zu reagieren. Gibt es auch<br />
für Audi Extrarunden?<br />
Unsere Branche befindet sich in einer Phase<br />
des Umbruchs, gleichzeitig ist der Wettbewerb<br />
so intensiv wie nie. Wir erleben,<br />
wie sich politische, gesellschaftliche und<br />
wirtschaftliche Rahmenbedingungen ständig<br />
verändern. Neben der notwendigen<br />
Aufmerksamkeit für die Tagesarbeit haben<br />
wir daher unseren Blick auch sehr weit in<br />
die Zukunft gerichtet und dafür unter anderem<br />
vor fünf Jahren die Urban-Future-<br />
Initiative gestartet. Mit diesem Programm<br />
erforschen wir, wie individuelle Mobilität<br />
in Megastädten effizienter und zukunftsorientiert<br />
gestaltet werden kann.<br />
Winterkorn will Lebenszyklen verkürzen,<br />
auch Modelle aussortieren. Haben Sie<br />
schon die Audi-Modellpalette überprüft?<br />
Das machen wir permanent. Solche Fragen<br />
wird aber jede Marke selbst zu entscheiden<br />
haben. Es gibt Modelle von Audi, die sich<br />
nach neun Jahren Lebensdauer<br />
immer noch gut verkaufen.<br />
Warum soll man da<br />
vorzeitig einen Modellwechsel<br />
vornehmen? Für<br />
unsere Marke sehen wir<br />
noch viele Potenziale. Heute<br />
haben wir in unserem<br />
Portfolio etwa 50 verschiedene<br />
Modelle und Derivate.<br />
Wir werden dieses Modellangebot<br />
in den kommenden<br />
Jahren in Richtung<br />
60 erweitern. Vor diesem<br />
Hintergrund fragen wir uns natürlich<br />
immer wieder: Wie viel Potenzial hat der Cabriomarkt,<br />
wo gibt es Chancen für ein Coupé,<br />
was gibt das Sportwagensegment noch<br />
her und der Markt für SUVs? Bei steigendem<br />
Wachstum und zunehmender Globalisierung<br />
einer Marke muss man sich solchen<br />
Fragen natürlich noch intensiver stellen.<br />
Audi produziert Autos in Spanien, in<br />
China, bald auch in Mexiko...<br />
Wir waren noch nie so international wie<br />
heute. Dieses Jahr werden wir zum ersten<br />
Mal mehr Autos im Ausland produzieren<br />
als in Deutschland. Wir werden in zwei<br />
Jahren allein unter der Marke Audi 13 Produktionsstandorte<br />
weltweit betreiben. Dafür<br />
investieren wir bis 2018 insgesamt 22<br />
Milliarden Euro.<br />
Aber doch wohl nicht nur in neue Werke.<br />
Auch in neue Technologiefelder, von denen<br />
man heute noch nicht genau weiß,<br />
welche Wirkungen sie erzeugen werden.<br />
Derzeit müssen so viele Dinge gleichzeitig<br />
angepackt werden wie noch nie in der Automobilgeschichte.<br />
Das ist trotz aller Herausforderungen<br />
die reizvollste Phase, die<br />
es in einer Unternehmensentwicklung<br />
gibt. Unser Ziel ist es, bis 2020 über zwei<br />
Millionen Autos weltweit zu verkaufen.<br />
Das Ziel des Programms „Audi 2020“ hatten<br />
Sie schon vor vier Jahren verkündet.<br />
Werden Sie noch mal nachlegen?<br />
Unsere Strategie hat alle Zutaten, uns auch<br />
über die Zwei-Millionen-Grenze zu tragen.<br />
Wir brauchen kein grundsätzlich neues<br />
Programm. Es geht jetzt darum, die nächsten<br />
Etappen zu realisieren, wie etwa die Internationalisierung<br />
unserer Produktion<br />
und die zweite Stufe der Modelloffensive.<br />
Das ist ein rollierender Prozess, der ständig<br />
auf neue Rahmenbedingungen reagiert.<br />
Beispielsweise auf neue Wettbewerbssituationen:<br />
Mercedes kommt näher.<br />
Wettbewerb belebt das Geschäft. Aber es ist<br />
auch wichtig, das Lenkrad ruhig zu halten<br />
und mit unserer Marke auf dem klar<br />
gesteckten Kurs zu bleiben. Das zeigt sich<br />
gerade auf dem Gebiet der Elektromobilität.<br />
Hat da Audi einen klaren Kurs? Erst hieß<br />
es, mit Elektroautos sei kein Geschäft<br />
zu machen. Nun forciert Audi die Arbeit<br />
wieder daran. Was denn nun?<br />
Wenn viele Wege nach Rom führen, dann<br />
bringen uns viele Pfade zur Elektromobilität.<br />
Wir haben vor gut zwei Jahren den<br />
R8 e-tron nicht in Serie gehen lassen, weil<br />
wir mit einer Reichweite von 250 Kilometern<br />
nicht zufrieden waren. Den viel zitierten<br />
Stecker haben wir technologisch niemals<br />
gezogen. Heute sind wir beim R8<br />
e-tron bei einer Reichweite von 450 Kilometern.<br />
Damit wird es ein Geschäftsmodell.<br />
Vom nächsten R8 wird es deshalb eine<br />
Variante mit Elektroantrieb geben.<br />
Das klingt nach einem kleinen Wunder.<br />
Wunder gibt es in unserer Branche nicht.<br />
Technologischer Fortschritt muss hart erarbeitet<br />
werden, zum Beispiel bei den Batterien,<br />
dem bisher schwächsten Glied in<br />
der Kette. Wir haben deshalb entschieden,<br />
in der ersten Phase der Elektromobilität<br />
zunächst auf den Plug-in-Hybrid zu setzen.<br />
Der A3 e-tron bietet 50 Kilometer elektrische<br />
Reichweite, aber einen noch größeren<br />
Aktionsradius mit einem Verbrennungsmotor<br />
als zweitem Antrieb. In der Summe<br />
kommen sie auf über 900 Kilometer. Wir<br />
werden den neuen Q7 ebenfalls als Plugin-Hybrid<br />
anbieten, auch den nächsten A6<br />
und den nächsten A8. Und wenn sich die<br />
Zelltechnologie weiter so vielverspre-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 47<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
chend entwickelt, wird es auch bei Audi<br />
weitere reine Elektroautos geben.<br />
Aber nicht mehr in diesem Jahr?<br />
In diesem Jahr kommt der A3 e-tron auf<br />
den Markt. Er wird weltweit ausgerollt.<br />
Dann sieht es aber in diesem Jahr mit<br />
Modellneuheiten von Audi mau aus. Außer<br />
dem neuen TT ist nichts zu erwarten, der<br />
Anlauf des neuen A4 wurde verschoben.<br />
Wir sehen das anders. Wir haben neben<br />
dem neuen TT in diesem Jahr 16 verschiedene<br />
Derivate bestehender Modelle, die<br />
wir in Produktion und Vertrieb bringen. Wir<br />
arbeiten intensiv am Modularen Längsbaukasten.<br />
Ab 2015 zünden wir damit..<br />
Nächstes Jahr, aber nicht dieses.<br />
Das ist kein Thema , wenn wir trotzdem mit<br />
zwölf Prozent wachsen. Das zeigt, dass Audi<br />
eine überaus starke Marke mit sehr wettbewerbsfähigen<br />
Modellen ist. Wir haben<br />
sehr genau geplant, wann für welches neue<br />
Modell der richtige Zeitpunkt ist. Entscheidungen<br />
trifft man nicht mit Blick auf den<br />
Wettbewerb. Wichtig ist, das Ziel 2020 im<br />
Auge zu behalten und cool zu bleiben.<br />
Der neue A4 sollte nach meinen Informationen<br />
im Herbst kommen. Nun kommt er<br />
erst 2015. Warum die Verzögerung?<br />
Für jeden Modellwechsel gibt es ein zeitliches<br />
Fenster, und der A4 liegt innerhalb<br />
dieses Zeitrahmens.<br />
Sie werben derzeit für besonders effiziente<br />
Modellvarianten namens Ultra. Will<br />
sich Audi etwa an die Spitze der Ökobewegung<br />
setzen?<br />
Wir wollen mit Ultra dokumentieren, dass<br />
Audi die Speerspitze in Sachen Effizienz ist.<br />
Das wollen wir deutlich machen, bewusster<br />
und auch etwas lauter als bisher.<br />
Getrommelt, so scheint es, wird aber vor<br />
allem im Ausland. Ganz bewusst?<br />
Weil wir dort große Potenziale haben. In<br />
China nehmen wir jetzt das Werk Foshan<br />
in Betrieb, wo der A3 produziert wird. Wir<br />
Kampf um die Krone<br />
Die Kennziffern der drei deutschen Premiumhersteller im Vergleich<br />
BMW 1 Audi 2 Mercedes Pkw 3<br />
500000<br />
450000<br />
400000<br />
350000<br />
300000<br />
20<strong>12</strong><br />
Absatz<br />
2013 <strong>2014</strong><br />
20,0<br />
17,5<br />
15,0<br />
<strong>12</strong>,5<br />
10,0<br />
20<strong>12</strong><br />
»Ich will keine Audi-<br />
Modelle als rollende<br />
Litfaßsäulen in den<br />
Städten sehen«<br />
haben die Entscheidung zum Bau eines<br />
Werks für 150000 Autos pro Jahr in Mexiko<br />
getroffen, mit dem wir <strong>vom</strong> Dollar unabhängiger<br />
werden und noch stärker in den<br />
USA Fuß fassen. Wir haben die Entscheidung<br />
getroffen, in Brasilien den Q3 und die<br />
A3-Limousine zu fertigen. Aber natürlich<br />
werden wir auch in Europa und in Deutschland<br />
weiter ein starkes Standbein haben.<br />
Mit Foshan können Sie in China mehr als<br />
700000 Autos produzieren. Begeben Sie<br />
sich damit nicht in zu starke Abhängigkeit<br />
von diesem Markt?<br />
Das Risiko, in China nicht dabei zu sein, ist<br />
viel größer, als dort ein aktiver Spieler zu<br />
sein. Wir haben uns entschieden, zusammen<br />
mit den Joint-Venture-Partnern bis zu<br />
700 000 Autos pro Jahr lokal zu produzieren.<br />
Und in drei Jahren werden wir sicher<br />
über weiteres Potenzial reden. Der Anteil<br />
des Premiummarkts an den Gesamtzulassungen<br />
beträgt dort nur rund zehn Prozent,<br />
ist also ausbaufähig.<br />
Wo sehen Sie noch Wachstum für Audi,<br />
wenn wir über die Modellpalette schauen?<br />
Umsatz (in Mrd. €)<br />
jeweils 1. Quartal; 1 nur BMW; 2 nur Audi; 3 Mercedes/Smart; Quelle: Unternehmen<br />
2013 <strong>2014</strong><br />
2,0<br />
1,5<br />
1,0<br />
0,5<br />
Gewinn vor Steuern (in Mrd. €)<br />
0<br />
20<strong>12</strong><br />
2013 <strong>2014</strong><br />
Wir sind heute mit unseren Modellen der<br />
A-Reihe gut aufgestellt. Oben gibt es sicher<br />
um den A6 herum noch Wachstumschancen,<br />
etwa mit einem sportlichen Modell.<br />
Potenziale sehen wir vor allem im SUV-Bereich,<br />
der weltweit wächst. Wir werden<br />
deshalb unsere Q-Reihe deutlich verbreitern.<br />
Ab 2016 vermarkten wir den Q1, der<br />
in Ingolstadt gefertigt wird. Auch oberhalb<br />
des Q7 sehen wir gute Chancen für ein zusätzliches<br />
Produkt.<br />
Der Q7 ist doch schon ein riesiges Auto.<br />
Darüber soll es noch was geben?<br />
Daran arbeiten wir gerade. Zudem ist zwischen<br />
Q5 und Q7 und zwischen Q3 und Q5<br />
noch Platz. Wir haben gerade in China eine<br />
TT-Studie mit vielen SUV-Attributen gezeigt.<br />
Die ersten Reaktionen sind sehr gut,<br />
das werden wir bei unserer Modellplanung<br />
berücksichtigen. Es gibt also noch einige<br />
Möglichkeiten für ertragsreiches Wachstum.<br />
Denn die SUV-Kunden geben gerne<br />
etwas mehr Geld aus für Ausstattung.<br />
Den Audi-Mitarbeitern wird derzeit der<br />
A1 mit Sonderkonditionen geradezu aufgedrückt.<br />
Läuft der Verkauf so schlecht?<br />
Keineswegs. Der A1 ist sehr stark und stabil<br />
im Markt unterwegs. In Kürze wird er eine<br />
Produktaufwertung bekommen. Dass wir<br />
ein solch attraktives Modell auch unseren<br />
Mitarbeitern anbieten, ist ganz normal.<br />
Das Verkaufsvolumen des A1 ist mit rund<br />
<strong>12</strong>0 000 Einheiten seit vier Jahren stabil, geplant<br />
war ehemals eine Jahresproduktion<br />
von 80000 Autos. Das Ding sitzt.<br />
Wann rollt Audi eigentlich sein Carsharing-Konzept<br />
aus? BMW und Daimler sind<br />
mit Drive Now und Car-to-Go weit voraus.<br />
Seit drei, vier Jahren beschäftigen wir uns<br />
intensiv mit dem Thema.<br />
Auf der Straße sieht man aber nicht viel.<br />
Mit gutem Grund. Denn wir wollen unsere<br />
Autos nicht zu Flatrate-Konditionen in den<br />
Markt drücken. Ich will keine Audi-Modelle<br />
als rollende Litfaßsäulen in den Städten.<br />
Wir gehen dieses Thema anders an.<br />
Nämlich?<br />
Wir suchen unsere Bühne dort, wo unsere<br />
Kunden sind. So bieten wir zum Beispiel<br />
mit Audi Select in einem Pilotprojekt die<br />
Möglichkeit, innerhalb eines Jahres drei<br />
unterschiedliche Automobile zu fahren. Sie<br />
können also für vier Monate ein A5-Cabriolet<br />
fahren, dann einen Q5 und anschließend<br />
einen R8. Für einen gewissen Mehrpreis<br />
bekommt der Audi-Kunde im Rahmen<br />
seines Leasingvertrags diese Flexibilität.<br />
Das tut unserer Marke gut und kommt<br />
bei Premiumkunden besser an.<br />
n<br />
franz.rother@wiwo.de<br />
FOTO: WOLF HEIDER-SAWALL FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
48 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Stress auf<br />
der Agenda<br />
MEDIA-SATURN | Dem nächsten<br />
Chef des Elektronikhändlers<br />
droht ein Drei-Fronten-Krieg.<br />
FOTO: ACTION PRESS/JOCHEN ZICK<br />
Der Milliardär war außer sich. Er sei<br />
„in tiefer Sorge darüber, wie Media-<br />
Saturn derzeit von der Metro verwaltet<br />
wird“, schimpfte Erich Kellerhals,<br />
Minderheitsgesellschafter des Elektronikhändlers,<br />
Ende April in einer öffentlichen<br />
Stellungnahme. Über mangelnde Experimentierfreude,<br />
halb leere Regale und die<br />
„unbefriedigende Performance der Geschäftsführung“<br />
maulte der 74-Jährige, der<br />
das Unternehmen einst mitgegründet hat.<br />
Von „unternehmerischer Führung“, so Kellerhals,<br />
könne keine Rede sein.<br />
Wenige Tage genügten, um die Thesen<br />
des Elektro-Veterans Realität werden zu<br />
lassen. Nach der Attacke des Gesellschafters<br />
quittierte vergangenen Dienstag der<br />
Chef der Media-Saturn-Holding, Horst<br />
Norberg, entnervt den Dienst. Die Ingolstädter<br />
Elektroniktruppe steht jetzt tatsächlich<br />
ohne Führungsspitze da.<br />
Die Suche nach einem Nachfolger dürfte<br />
sich schwierig gestalten. Ein interner Kandidat<br />
aus dem Kreis der verbliebenen Geschäftsführer<br />
soll bereits abgewinkt haben.<br />
Kein Wunder: Der Job gilt als eine Art Blauhelm-Mission<br />
der deutschen Wirtschaft,<br />
ein Mandat irgendwo zwischen Kampfeinsatz<br />
und diplomatischem Dienst.<br />
Der Norberg-Erbe wird sich mit drei<br />
Kernproblemen herumschlagen müssen.<br />
Erstens steht das Unternehmen durch die<br />
Abwanderung der Kundschaft ins Internet<br />
operativ unter Zugzwang. Zweitens hat der<br />
künftige Anführer intern nur begrenzte<br />
Handlungskraft und muss alte Seilschaften<br />
zerschlagen sowie personellen Filz auflösen.<br />
Und drittens muss er vermeiden, in<br />
der Dauerfehde der Gesellschafter zum<br />
Spielball zu werden.<br />
Bildstörung Die Eigentümerfehde bei<br />
Media-Saturn hat das Zeug zur Seifenoper<br />
IM VERBALKRIEG<br />
Der Streit zwischen den Anteilseignern<br />
währt nun schon seit Jahren. Auf der einen<br />
Seite steht Mitbegründer Kellerhals, auf<br />
der anderen Olaf Koch, Chef des Düsseldorfer<br />
Handelskonzerns Metro, der über 78<br />
Prozent der Anteile an Media-Saturn gebietet.<br />
Kellerhals ist zwar nur Minderheitsgesellschafter,<br />
hat sich vor Jahrzehnten<br />
aber Vetorechte ausbedungen. Über eine<br />
Beiratskonstruktion hebelte die Metro-<br />
Führung diese Konstruktion 2011 aus. Seither<br />
beharken sich die Parteien.<br />
Juristisch ist der Streit mittlerweile weitgehend<br />
zugunsten von Metro entschieden.<br />
Dafür teilt Kellerhals nun verbal umso heftiger<br />
aus. Koch sitze nur „missmutig mit<br />
seinen Anwälten“ im Beirat und „lässt Vorlagen<br />
abnicken“, schreibt Kellerhals in seiner<br />
jüngsten Generalabrechnung. Metro<br />
verweist derweil auf die „diversen Eskapaden“<br />
des Geschäftspartners. In Düsseldorf<br />
glauben viele, dass Kellerhals mit seinem<br />
Schreiben eigentlich darauf zielt, die anstehende<br />
Vertragsverlängerung von Koch als<br />
Metro-Chef zu torpedieren.<br />
Längst ist der Streit zum Kulturkampf<br />
mutiert. Kellerhals schwört auf die alten<br />
Media-Markt-Tugenden, auf hemdsärmeliges<br />
Unternehmertum vor Ort. Was zunächst<br />
überzeugend klingt, erweist sich in<br />
der Praxis immer dann als heikel, wenn<br />
11,5Mrd. Euro<br />
setzten Media Markt und<br />
Saturn in der ersten Hälfte<br />
dieses Geschäftsjahrs um<br />
Manager ihre Freiheiten zur Selbstbedienung<br />
missbrauchen. So gilt das Media-<br />
Markt-System in der Branche als notorisch<br />
korruptionsanfällig.<br />
Jüngstes Beispiel: Ende Februar verurteilte<br />
die dritte Strafkammer des Landgerichts<br />
Nürnberg einen Immobilien-Manager<br />
der Media-Saturn-Holding wegen Bestechlichkeit<br />
zu drei Jahren Haft, bestätigte<br />
die Staatsanwaltschaft der Wirtschafts-<br />
Woche. Er soll einem Bauträger Aufträge<br />
zugeschanzt und über einen Beratervertrag<br />
Schmiergeld kassiert haben. Das Urteil<br />
ist noch nicht rechtskräftig. Schon 20<strong>12</strong><br />
hatte ein Bestechungsskandal um den früheren<br />
Deutschland-Chef von Media Markt,<br />
Michael Rook, für Schlagzeilen (WirtschaftsWoche<br />
8/20<strong>12</strong>) gesorgt.<br />
UMSATZFRESSER INTERNET<br />
Die größte operative Herausforderung des<br />
Neuen ist die Abwanderung der Kunden<br />
ins Internet. Das Wachstum der hauseigenen<br />
Web-Shops kann den Schwund im stationären<br />
Geschäft bis dato nicht kompensieren.<br />
So steigerten die Ingolstädter ihre<br />
Online-Umsätze im ersten Halbjahr<br />
2013/14 um 35 Prozent auf rund 800 Millionen<br />
Euro. Trotzdem sackte der Gesamtumsatz<br />
der Sparte um 2,1 Prozent auf 11,5 Milliarden<br />
Euro.<br />
Dadurch rücken harte Einschnitte bis<br />
hin zu Ladenschließungen auf die Agenda.<br />
Stress mit den Immobilienbesitzern, die<br />
ihre Häuser an Media Markt vermieten, ist<br />
dabei programmiert. Und ausgerechnet einer<br />
der größten Vermieter ist besonders<br />
kampferprobt – Mitgründer Kellerhals. n<br />
henryk.hielscher@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 49<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Vaters Vertraute<br />
MERCKLE | Nach dem Freitod des Patriarchen Adolf Merckle hat<br />
Sohn Ludwig den Pharmahändler Phoenix vor dem drohenden<br />
Zerfall gerettet. Doch nun gefährdet der Erbe seinen Erfolg wieder.<br />
Lieber im Hintergrund<br />
Phoenix-Eigentümer<br />
Ludwig Merckle<br />
zettelte die Rabattschlacht<br />
an<br />
Sein größtes Unternehmen stand vor<br />
dem Zerfall; Finanzinvestoren witterten<br />
bereits ihre Chance. Nach dem<br />
Freitod des Eigentümers Adolf Merckle war<br />
der milliardenschwere Mannheimer Pharmagroßhändler<br />
Phoenix finanziell schwer<br />
angeschlagen. Schulden in Höhe von gut<br />
400 Millionen Euro drückten. Dutzende<br />
Gläubigerbanken drängten auf rasche Lösungen,<br />
von ihnen eingesetzte Treuhänder<br />
durchforsteten das undurchschaubare<br />
Merckle-Imperium.<br />
Doch Merckles Sohn Ludwig gelang das<br />
fast Unmögliche. Er bewegte in zähen Verhandlungen<br />
die Gläubigerbanken erst zu<br />
einem Stillhalteabkommen, dann zu neuen<br />
Krediten. Am Ende blieb Phoenix – der<br />
Name leitet sich von dem mythischen<br />
Wundervogel der Antike ab – in Familienhand.<br />
Drei Jahre nach seinem Sieg versucht<br />
Ludwig Merckle jetzt erneut, die Familienehre<br />
und verlorenes Geld zu retten: Am<br />
Mittwoch beginnt vor dem Landgericht<br />
Braunschweig ein Prozess um 213 Millionen<br />
Euro Schadensersatz. Die Merckles<br />
machen Porsche für die massiven Verluste<br />
verantwortlich, die der Senior bei Spekulationen<br />
mit VW-Aktien erlitt. Die Erfolgschancen<br />
sind allerdings gering, da VW und<br />
Porsche kürzlich ähnliche Prozesse in erster<br />
Instanz gewannen.<br />
ÄRGER IM HEIMATMARKT<br />
Zugleich droht Ludwig Merckle auch an<br />
anderer Stelle zu verlieren: Der 48-jährige<br />
Erbe gefährdet durch einen riskanten Zickzackkurs<br />
seinen bisherigen Erfolg bei<br />
Phoenix. „Die Branche schüttelt den Kopf<br />
über die“, sagt ein Kenner des Unternehmens.<br />
Hohe Rabatte an die Apotheker-<br />
Kundschaft belasten die Erträge. Insider erwarten<br />
für 2013 sogar einen Verlust auf<br />
dem Heimatmarkt zwischen 60 und 80 Millionen<br />
Euro.<br />
Phoenix hat 28700 Mitarbeiter und beliefert<br />
70000 Kunden, vor allem Apotheken,<br />
in Deutschland und Europa mit Medikamenten.<br />
Mit 21,2 Milliarden Euro bringt<br />
der Pharmagroßhändler mehr Umsatz auf<br />
die Waage als Dax-Schwergewichte wie<br />
Henkel oder der Chemiekonzern Lanxess.<br />
Mitte der Neunzigerjahre hatte Merckle<br />
senior still und heimlich eine Handvoll regionaler<br />
Pharmagroßhändler zusammengekauft<br />
und so einen schlagkräftigen Verbund<br />
geschaffen. Das neue Unternehmen<br />
Phoenix erreichte in Deutschland schnell<br />
einen Marktanteil von 30 Prozent – zum<br />
Verdruss der Konkurrenten Gehe und Anzag.<br />
Bei Phoenix wirkte Sohn Ludwig, ein<br />
Wirtschaftsinformatiker, einige Jahre als<br />
Vorstandsassistent. Später ging er zur Beratung<br />
Roland Berger und kümmerte sich<br />
dann um andere Merckle-Beteiligungen.<br />
Der heimliche Riese Phoenix schottet<br />
sich nach außen hin ab und gilt als öffentlichkeitsscheu.<br />
Auch intern, in der Mannheimer<br />
Zentrale, geht es eher formal und<br />
distanziert zu. Selbst langjährige Kollegen<br />
schreiben sich immer noch Mails, die mit<br />
„Sehr geehrter Herr...“ oder, seltener, „Sehr<br />
geehrte Frau...“ beginnen. Viele Mitarbeiter<br />
arbeiten seit Jahrzehnten für Merckle.<br />
Auch die Vertrauten des Vaters, die zusammen<br />
mit Ludwig Merckle auch für die<br />
aktuellen Probleme verantwortlich zeichnen,<br />
sind nahezu alle noch da, allen voran<br />
Unternehmenschef Oliver Windholz und<br />
der mächtige Beiratsvorsitzende Bernd<br />
Scheifele, der zugleich die Merckle-Beteiligung<br />
HeidelbergCement führt. Formal das<br />
letzte Wort hat zwar Sohn Ludwig. Der<br />
stimmt sich jedoch eng mit Scheifele ab<br />
und bleibt lieber im Hintergrund.<br />
Im Herbst 2011 trafen Merckle, Scheifele,<br />
der damalige Vorstandschef Reimund<br />
Pohl, ebenfalls ein alter Merckle-Vertrauter,<br />
und der seinerzeitige Vertriebschef<br />
Windholz eine folgenschwere Fehlentscheidung.<br />
Als sich die Margen für Pharmagroßhändler<br />
nach regulatorischen Eingriffen<br />
der Bundesregierung immer weiter<br />
verschlechterten, kürzte Phoenix – auch<br />
auf Anraten der Beratung Boston Consulting<br />
– seinen Kunden, den Apothekern, die<br />
Rabatte. Statt drei bis vier Prozent <strong>vom</strong><br />
Umsatz für Großabnehmer waren jetzt nur<br />
noch ein bis zwei Prozent drin.<br />
Etliche Apotheker kündigten darauf ihre<br />
Phoenix-Verträge und wechselten etwa<br />
zum Essener Wettbewerber Noweda, der<br />
bessere Konditionen bot. Ende 20<strong>12</strong> sank<br />
der Phoenix-Marktanteil in Deutschland<br />
auf 25 Prozent. Die Schmerzgrenze war erreicht.<br />
Merckle und Scheifele entschlossen<br />
sich zum radikalen Kurswechsel. Phoenix<br />
setzte die Rabatte wieder hoch – im wahrsten<br />
Sinne des Wortes ohne Rücksicht auf<br />
Verluste. Marktanteil ging jetzt vor Ertrag.<br />
Um Kosten zu sparen, strich Phoenix bis zu<br />
380 Arbeitsplätze, etwa ein Zehntel der Belegschaft<br />
im Heimatmarkt.<br />
Für das Geschäftsjahr 2013/14, das am<br />
31. Januar endete, sind nach Angaben eines<br />
Insiders im wichtigen Heimatmarkt<br />
mit einem Umsatzanteil von einem Drittel<br />
Verluste zwischen 60 und 80 Millionen an-<br />
FOTOS: PICTURE-ALLIANCE/DPA (2)<br />
50 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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gefallen. Zu den Zahlen will Phoenix vor<br />
der Bilanzvorlage am Freitag keine Stellung<br />
nehmen. Auch früher hatte sich das<br />
Unternehmen mit Angaben zur Ertragslage<br />
in Deutschland zurückgehalten. Noch bis<br />
vor etwa zwei Jahren sollen im Heimatmarkt<br />
aber Gewinne im hohen zweistelligen<br />
Millionenbereich angefallen sein.<br />
Weitgehend gerettet<br />
Was aus den Unternehmen des<br />
Patriarchen Adolf Merckle wurde.<br />
ADOLF MERCKLE<br />
Nach dem Freitod 2009<br />
stand sein Firmenimperium<br />
auf der Kippe<br />
PHOENIX (Pharma)<br />
Nach zähen Verhandlungen mit den<br />
Banken blieb der Pharmagroßhändler<br />
in Familienbesitz<br />
Umsatz 21,2 Milliarden Euro<br />
HEIDELBERGCEMENT (Zement)<br />
Die Familie reduzierte ihren Anteil von<br />
75 auf 25 Prozent<br />
Umsatz 14 Milliarden Euro<br />
RATIOPHARM (Pharma)*<br />
Der israelische Teva-Konzern kaufte<br />
den Medikamentenhersteller 2010 für<br />
3,6 Milliarden Euro<br />
Umsatz 1,6 Milliarden Euro<br />
ZOLLERN (Metallprodukte)*<br />
Weiter zu 50 Prozent Familie Merckle<br />
Umsatz 600 Millionen Euro<br />
KÄSSBOHRER (Pistenbullys)*<br />
Der Geländefahrzeug-Spezialist ist<br />
weitgehend im Familienbesitz<br />
Umsatz 200 Millionen Euro<br />
* jeweils letzter verfügbarer Umsatz<br />
GELD ZURÜCKHOLEN<br />
Für Deutschland erwarte man „Umsatzzugewinne“,<br />
heißt es im knappen Zwischenbericht<br />
zum dritten Quartal 2013/14. Phoenix<br />
räumt allerdings ein, dass die „hohe<br />
Wettbewerbsintensität, insbesondere in<br />
Deutschland“ sowie negative Wechselkurseffekte<br />
den Ertrag belastet hätten.<br />
Zugleich leidet Phoenix auch in Frankreich<br />
unter den Folgen der Rabattschlacht.<br />
In Osteuropa behindern staatliche Eingriffe<br />
das Geschäft, sagen Branchenkenner.<br />
Der Geschäftsverlauf dort sei aber positiv,<br />
schreibt Phoenix im Zwischenbericht.<br />
Inzwischen hat Phoenix wie auch andere<br />
Wettbewerber begonnen, sich durch die<br />
Hintertür Geld von den Apothekern wieder<br />
zurückzuholen. In einem Schreiben an<br />
umsatzschwächere ostdeutsche Apotheker,<br />
das der WirtschaftsWoche vorliegt, ist<br />
etwa von einem „Leistungsbeitrag“ die Rede,<br />
den die Apotheker zahlen soll – was auf<br />
eine Kürzung des Rabattes hinausläuft.<br />
„Der deutsche Markt ist zurzeit der irrationalste“,<br />
sagt Stefano Pessina, Chef des<br />
britischen Pharmagroßhändlers Alliance,<br />
der kürzlich die deutsche Anzag geschluckt<br />
hat. „Aber die Marktteilnehmer sind selbst<br />
für diese Situation verantwortlich.“ Seit einigen<br />
Jahren liefern sich insbesondere<br />
Phoenix, Noweda und Gehe, die Deutschland-Tochter<br />
des Stuttgarter Pharmagroßhändlers<br />
Celesio, Rabattschlachten.<br />
Mit Alliance sowie dem US-Konzern<br />
McKesson, der vor einigen Monaten den<br />
Phoenix-Erzrivalen Celesio übernommen<br />
hat, sind den Mannheimern zwei gefährliche<br />
Rivalen entstanden. Alliance und<br />
McKesson, beide deutlich größer als Phoenix,<br />
dürften mit ihrer Marktmacht bald<br />
deutlich bessere Einkaufskonditionen bei<br />
den Pharmaherstellern herausschlagen.<br />
„Phoenix hat zwei strategische Probleme“,<br />
sagt ein Manager aus der Branche.<br />
„Das Unternehmen ist zu stark <strong>vom</strong><br />
schwierigen deutschen Markt abhängig<br />
und besitzt zu wenige eigene Apotheken.“<br />
Denn mit denen – anders als in Deutschland<br />
dürfen etwa in England oder Norwegen<br />
Konzerne Apotheken betreiben – lassen<br />
sich bessere Margen erzielen als mit<br />
dem klassischen Großhandelsgeschäft. Alliance<br />
verfügt über 3100 eigene Apotheken,<br />
McKesson/Celesio betreibt 2200 Pharmazien,<br />
Phoenix nur etwa 1500. Neben den<br />
Ertragsproblemen im Inland droht das Unternehmen<br />
damit auch im internationalen<br />
Konkurrenzkampf zurückzufallen. Sinnvoll<br />
wären daher Zukäufe im Ausland – die<br />
sind in Mannheim immerhin angedacht.<br />
Phönix, der Wundervogel aus der Antike,<br />
galt übrigens deswegen als mythisch, weil<br />
er sich immer wieder selbst regenerieren<br />
konnte. Inwieweit das dann auch auf Phoenix,<br />
den Pharmagroßhändler, zutrifft, wird<br />
Ludwig Merckle nun zeigen müssen. n<br />
juergen.salz@wiwo.de<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Gegenwind gewohnt<br />
Unternehmerin<br />
Brand-Friedberg in der<br />
Produktionshalle<br />
Die Schraubenkönigin<br />
FRIEDBERG | Ein Lehrstück für erfolgreichen Strukturwandel: wie die<br />
Ruhrpott-Unternehmerin Ingrid Brand-Friedberg aus dem Bergbau-<br />
Zulieferer einen Weltmarktführer für Windrad-Schrauben schmiedete.<br />
Wenn die das macht, geht die Firma<br />
pleite“, hatte ein Verwandter prophezeit,<br />
als Ingrid Brand-Friedberg<br />
die Führung des Gelsenkirchener Schraubenherstellers<br />
August Friedberg übernahm.<br />
23 Jahre war die studierte Ökonomin damals<br />
alt. Ihr Vater war wenige Tage zuvor gestorben,<br />
und der Familienrat hatte ihr die<br />
Unternehmensleitung angetragen.<br />
Heute, 43 Jahre später, ist Ingrid Brand-<br />
Friedberg noch immer Chefin des Familienbetriebes.<br />
Dem ist das entgegen allen<br />
Unkenrufen gut bekommen: Der Umsatz<br />
ist seitdem um das Achtfache auf mehr als<br />
100 Millionen Euro gestiegen; die Mitarbeiterzahl<br />
wuchs von 300 auf 450. Basis war<br />
die Weitsicht von Brand-Friedberg: Sie<br />
baute den Bergbau-Zulieferer früh in ein<br />
internationales, diversifiziertes Unternehmen<br />
um. So ist Friedberg heute etwa ein<br />
Weltmarktführer für Windrad-Schrauben.<br />
Es ein kleines Wunder, dass es das Unternehmen<br />
überhaupt noch gibt. Denn Friedberg<br />
gehörte zu den vielen Betrieben im<br />
Ruhrgebiet, die fast ausschließlich von Lieferungen<br />
an die Kohlezechen lebten. „Wir<br />
fertigten fast nur Standardschrauben“, erinnert<br />
sich Brand-Friedberg, „und die<br />
standen unter einem enormen Preisdruck.“<br />
Alle damaligen Wettbewerber im Pott sind<br />
inzwischen <strong>vom</strong> Markt verschwunden.<br />
SCHRAUBEN ALS MEISTERWERK<br />
Friedberg überlebte nur, weil der jungen<br />
Chefin schon bald nach ihrem Start klar<br />
wurde, dass der Bergbau in Deutschland<br />
keine Zukunft bieten würde. Bereits 1974<br />
gründete sie daher ein Zweigwerk in Monte<br />
Mor im brasilianischen Bundesstaat São<br />
Paulo, das für den südamerikanischen<br />
Markt produziert. Gleichzeitig erschloss sie<br />
neue Abnehmerbranchen.<br />
Schon zehn Jahre nachdem sie das Steuer<br />
übernommen hatte, spielte der Bergbau<br />
in dem 1884 <strong>vom</strong> Essener Schmiedemeister<br />
August Friedberg gegründeten Unternehmen<br />
keine große Rolle mehr, heute ist<br />
er ganz Historie. Die Umsätze stammen zu<br />
je einem Drittel aus der Autoindustrie, Maschinen-<br />
und Stahlbau sowie dem Geschäft<br />
mit Schrauben für Windräder.<br />
In diesem Segment gehört Friedberg zu<br />
den Weltmarktführern. „Diese Technik hat<br />
uns gereizt, weil hier die Anforderungen besonders<br />
hoch sind“, sagt Brand-Friedberg.<br />
Extreme Belastbarkeit, Haltbarkeit über Jahrzehnte<br />
trotz Wind und Wetter – es gibt nur<br />
wenige Anwendungen, die anspruchsvoller<br />
sind. Brand-Friedberg: „Da konnten wir unseren<br />
technischen Vorsprung ausspielen.“<br />
Schrauben für Windräder sind technische<br />
Meisterwerke. Die schwersten Exemplare<br />
wiegen mehr als 20 Kilo, sind 60 Zentimeter<br />
lang und 7 Zentimeter dick. Aus<br />
verzinkten Edelstählen gefertigt, enthalten<br />
sie hohe Anteile von Mangan, Chrom oder<br />
Nickel, sind säurefest und reagieren kaum<br />
auf Wärme oder Kälte.<br />
Zwar ist auch das Geschäft mit der Windenergie<br />
kein Selbstläufer mehr, die goldenen<br />
Jahre sind vorbei. Dennoch bereut<br />
Brand-Friedberg ihre Entscheidung nicht:<br />
„Wir hatten im Windkraftgeschäft Jahre mit<br />
bis zu 30 Prozent Wachstum – längere<br />
Schwächeperioden gab es nicht.“ Seit fünf<br />
Jahren gehe es mal auf-, mal abwärts. Zurzeit<br />
laufe das Geschäft „recht ordentlich“.<br />
FOTO: FRANK BEER FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
52 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Die Branche ist volatil geworden. Die Internationale<br />
Energie Agentur in Paris geht<br />
zwar von einer Verdoppelung der weltweiten<br />
Windenergiekapazitäten auf 587 Gigawatt<br />
bis 2020 aus. Für <strong>2014</strong> erwartet der<br />
Energieexperte des deutschen Maschinenbauverbandes<br />
VDMA, Thorsten Herdan,<br />
bei neu installierten Windkraftkapazitäten<br />
ein Rekordniveau von 45 000 Megawatt<br />
weltweit. 2013 war diese Zahl um 15 Prozent<br />
auf 39 000 Megawatt eingebrochen.<br />
Doch Gegenwind ist die Chefin gewohnt.<br />
Als sie Anfang der Neunzigerjahre<br />
entschied, in die Windenergie einzusteigen,<br />
winkten die Banken erst mal ab. „Wie<br />
kann man nur in eine solche Branche investieren“,<br />
hatten die Banker gefragt. Windenergie<br />
galt damals als Marotte für Ökofreaks<br />
und nicht als seriöses Geschäft.<br />
Auch im Unternehmen gab es kritische<br />
Stimmen. „Das war für uns eine neue<br />
Welt“, erinnert sich Brand-Friedberg, „aber<br />
ich hatte das Bauchgefühl, dass sich hier<br />
ein riesiger Markt entwickelte.“ Die Chefin<br />
zog die Entscheidung zügig durch und<br />
startete ohne Banken. 1998 verfügte Friedberg<br />
bereits über eine gesonderte Forschungs-<br />
und Entwicklungsabteilung für<br />
die Windenergie.<br />
Der Erfolg sei eine Teamleistung, betont<br />
Brand-Friedberg. Im Gespräch entfaltet sie<br />
einen kühlen Charme. Sie gilt als gute Zuhörerin,<br />
lässt aber keinen Zweifel daran,<br />
wer entscheidet.<br />
Die Durchsetzungsfreude von Brand-<br />
Friedberg, die auch Vorsitzende der Arbeitgeberverbände<br />
Emscher-Lippe ist, bekommen<br />
auch die Gewerkschaften zu spüren.<br />
„Sie ist fair, aber hart in Verhandlungen“,<br />
sagt Robert Sadowsky, erster Bevollmächtigter<br />
der IG Metall in Gelsenkirchen.<br />
EXOTIN IN DER MACHO-KULTUR<br />
Doch ohne ihre Standhaftigkeit hätte es<br />
Brand-Friedberg nie geschafft. Von einer<br />
fließenden Übergabe des Chefpostens<br />
konnte keine Rede sein: Der Tod des Vaters<br />
kam plötzlich. Sie hatte gerade erst ihr<br />
Ökonomie-Studium in Gießen beendet<br />
und wollte noch ein paar Jahre in anderen<br />
Unternehmen Erfahrungen sammeln.<br />
Nach nur 14 Tagen in der Buchhaltung des<br />
Wetzlarer Metallurgiekonzerns Buderus<br />
war damit Schluss. Für ihre Mutter, die als<br />
Hausfrau die Familie umsorgt hatte, kam<br />
100Millionen<br />
Euro setzt das Unternehmen<br />
um – gut das<br />
Achtfache, seit Brand-<br />
Friedberg Chefin wurde<br />
die Leitung nicht infrage. Und die jüngere<br />
Schwester war noch nicht alt genug.<br />
„Am Anfang habe ich viel gefragt und zugehört“,<br />
sagt Brand-Friedberg, „und meinem<br />
gesunden Menschenverstand vertraut.“<br />
Das Studienwissen habe ihr kaum<br />
geholfen. Ein eingespieltes Team von Kaufleuten<br />
unterstützte die junge Frau. Aber es<br />
gab auch Manager, die ihr das Leben<br />
schwer machten, weil sie gehofft hatten,<br />
nach dem Tode des Patriarchen mehr Einfluss<br />
zu bekommen. Brand-Friedberg ließ<br />
die Quertreiber gegen die Wand rennen.<br />
Führungsfrauen waren damals in der<br />
Macho-Kultur der Ruhrpottbetriebe rar.<br />
„Als junge Frau war ich da eine Exotin“, erzählt<br />
Brand-Friedberg, „aber das war kein<br />
Nachteil.“ Männer unter sich verhielten<br />
sich viel emotionaler und unversöhnlicher<br />
als in Anwesenheit einer Frau, ist die Beobachtung<br />
der Mutter von zwei Töchtern:<br />
„Daran hat sich bis heute nichts geändert.“<br />
Inzwischen ist fast die gesamte Familie<br />
im Unternehmen tätig. Der Ehemann ist<br />
geschäftsführender Gesellschafter am<br />
Standort im brandenburgischen Finsterwalde,<br />
der Schrauben für die Autoindustrie<br />
fertigt. Tochter Beatrix, 35, ist seit zehn Jahren<br />
im Unternehmen und übernimmt immer<br />
mehr Führungsaufgaben.<br />
Bis zur vollständigen Ablösung werden<br />
aber noch einige Jahre vergehen. Die<br />
66-jährige Brand-Friedberg verweist auf<br />
ihren Mann, der mit Mitte 70 noch täglich<br />
im Geschäft aktiv ist. „Ich habe noch so viele<br />
Ideen“, sagt sie. Vor allem mit der Fabrik<br />
in Brasilien („mein Baby!“) hat sie viel vor.<br />
Die Nutzung der Windenergie steckt im<br />
größten Land Südamerikas noch in den<br />
Kinderschuhen. Seit 2010 hat sich die installierte<br />
Kapazität aber schon verdreifacht,<br />
die Regierung hat den Ausbau angekündigt.<br />
Die damit verbundenen Chancen<br />
will sich die Schraubenkönigin aus dem<br />
Ruhrgebiet nicht entgehen lassen. n<br />
lothar schnitzler | unternehmen@wiwo.de<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Dankend abgewinkt<br />
BAYER | Nach der Übernahme der rezeptfreien Medikamente von Merck & Co. wird es schwer für<br />
den Leverkusener Pharma- und Chemiekonzern, wie angekündigt Weltmarktführer zu werden.<br />
Jagd auf kleine Kandidaten<br />
Bayer-Chef Dekkers<br />
Die Verhandlungen waren auf der<br />
Zielgeraden. Trotzdem fand Marijn<br />
Dekkers, Chef des Pharma- und<br />
Chemieriesen Bayer (40 Milliarden Euro<br />
Umsatz) Muße für einen kurzen Fußballkick.<br />
Der 56-Jährige köpfte, dribbelte – und<br />
passte dann hinüber zu einem Mitspieler,<br />
einem 17-jährigen Brasilianer.<br />
Der Auftritt des Niederländers im Foyer<br />
der gläsernen Konzernzentrale in Leverkusen<br />
diente der Vorstellung des Fußballs<br />
„Brazuca“. Der kommt von Mitte Juni an bei<br />
der Weltmeisterschaft in Brasilien zum<br />
Einsatz und enthält auch einige Kunststoffe<br />
von Bayer. Den entscheidenden Treffer<br />
landete Dekkers allerdings wenige Tage<br />
später, am Dienstag vergangener Woche,<br />
als er die Übernahme der rezeptfreien Arzneimittel<br />
<strong>vom</strong> US-Konzern Merck & Co. für<br />
rund zehn Milliarden Euro bekannt gab.<br />
Gesundes Angebot<br />
Bayers wichtigste rezeptfreie Medikamente nach dem Merck-Deal<br />
Produkt<br />
Claritin<br />
Aspirin<br />
Aleve<br />
Bepanthen<br />
Canesten<br />
Dr Scholl's<br />
Alka-Seltzer<br />
Coppertone<br />
OneADay<br />
Supradyn<br />
Quelle: Unternehmen<br />
Anwendung Hersteller Umsatz 2013 (in Millionen Euro)<br />
Allergien<br />
Schmerzen<br />
Schmerzen<br />
Hautpflege<br />
Pilzerkrankungen<br />
Fußpflege<br />
Schmerzen<br />
Hautpflege<br />
Nahrungsergänzung<br />
Nahrungsergänzung<br />
Merck &Co.<br />
Bayer<br />
Bayer<br />
Bayer<br />
Bayer<br />
Merck &Co.<br />
Bayer<br />
Merck &Co.<br />
Bayer<br />
Bayer<br />
257<br />
232<br />
214<br />
207<br />
176<br />
158<br />
321<br />
310<br />
464<br />
576<br />
RENDITE OHNE RISIKO<br />
Doch der Jubel an der Börse über die zweitgrößte<br />
Übernahme in der 150-jährigen Firmengeschichte<br />
nach dem Kauf von Schering<br />
2006 hielt sich in Grenzen. Der Kurs<br />
der Bayer-Aktie zeigte kaum Bewegung –<br />
vielen Aktionären erschien der Preis für die<br />
Merck -& -Co.-Sparte zu hoch; zudem war<br />
der Deal seit Wochen erwartet worden.<br />
Für Skepsis sorgt Dekkers Ankündigung,<br />
Bayer zur weltweiten Nummer eins bei rezeptfreien<br />
Arzneien zu machen. Seinen<br />
Übernahme-Coup bezeichnete der Konzernchef<br />
als „Meilenstein auf dem Weg<br />
zum globalen Marktführer“. Doch dabei hat<br />
er noch eine steinige Strecke vor sich.<br />
Denn der Abstand zum Marktführer<br />
GlaxoSmithKline ist groß. Die Briten haben<br />
gerade die Sparte rezeptfreier Medikamente<br />
des Schweizer Wettbewerbers Novartis<br />
geschluckt und so den Jahresumsatz auf etwa<br />
zehn Milliarden Dollar gesteigert. Mit<br />
künftig 7,4 Milliarden Dollar (5,5 Milliarden<br />
Euro) liegt Bayer trotz des Deals vorige Woche<br />
deutlich hinter dem Branchenprimus<br />
zurück. Zudem ist die Zahl der Kandidaten,<br />
mit deren Hilfe die Leverkusener Glaxo-<br />
SmithKline ein- und überholen könnten,<br />
klein und der Wettbewerb um sie groß.<br />
In Fachkreisen heißen rezeptfreie Arzneien<br />
OTC-Präparate, weil sie einfach über<br />
FOTO: INGO RAPPERS FÜR WIRTSCHAFTSWOCHE<br />
54 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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die Ladentheke – auf Englisch: Over the<br />
counter (OTC) – verkauft werden dürfen.<br />
Das Geschäft mit Alltagsarzneien von Aspirin<br />
bis Alka-Seltzer ist für die Hersteller<br />
hochattraktiv. Zwar sind die Gewinnmargen<br />
niedriger als bei verschreibungspflichtigen<br />
Arzneien, doch mit 15 bis 20 Prozent immer<br />
noch stattlich. OTC-Präparate sind zudem<br />
oft schon seit Jahrzehnten auf dem Markt,<br />
Ärger, drohende Klagen wegen plötzlich<br />
auftretender Nebenwirkungen oder ungünstige<br />
Ergebnisse klinischer Studien sind<br />
daher selten. Weltweit werden jährlich rund<br />
200 Milliarden Dollar mit rezeptfreien Arzneien<br />
umgesetzt, schätzt Norbert Hültenschmidt,<br />
Partner und Pharmaexperte der<br />
Unternehmensberatung Bain.<br />
Für den Merck-Deal hatte sich Dekkers<br />
in jüngster Zeit warmgeschossen. Vor gut<br />
einem Jahr übernahm Bayer den deutlich<br />
kleineren Wettbewerber Steigerwald aus<br />
Darmstadt, einen Hersteller pflanzlicher<br />
Arzneimittel, darunter das Magenmittel<br />
Iberogast. Seit einigen Monaten ist Dekkers<br />
dabei, sich den chinesischen Hersteller Dihon<br />
einzuverleiben, die Übernahme soll<br />
im zweiten Halbjahr abgeschlossen sein.<br />
Für die Aufholjagd gegen GlaxoSmith-<br />
Kline sind das Peanuts. Größere Kaufkandidaten<br />
sind rar. Zwar haben die Briten<br />
und Bayer durch ihre Übernahmen den<br />
Druck auf die verbliebenen kleineren Anbieter<br />
wie die deutsche Merck und Boehringer<br />
Ingelheim erhöht. „Nun müssen<br />
sich solche Unternehmen mehr denn je<br />
überlegen, welche Perspektiven ihr OTC-<br />
Geschäft in einem sich immer stärker konsolidierenden<br />
Markt hat“, sagt ein Insider,<br />
der nicht genannt werden möchte.<br />
Aktuell stehen die Geschäfte nicht zur<br />
Disposition. Der Darmstädter Pharmaund<br />
Chemiekonzern Merck – mit dem<br />
gleichnamigen US-Konzern nicht geschäftlich<br />
verbandelt – hat abgewinkt. Das Dax-<br />
Unternehmen will an seinen rezeptfreien<br />
Arzneien (Jahresumsatz: etwa 480 Millionen<br />
Euro) wie dem Nasenspray Nasivin<br />
festhalten. Gerade erst haben die Hessen<br />
die lange kriselnde Sparte saniert.<br />
Auch Boehringer Ingelheim hegt keine<br />
Verkaufsabsichten. Die Rheinland-Pfälzer<br />
haben sich mit ihren Spitzenprodukten<br />
Buscopan und Thomapyrin gegen Schmerzen<br />
erfolgreich einen Markt geschaffen<br />
und setzten mit rezeptfreien Medikamenten<br />
zuletzt 1,5 Milliarden Euro um.<br />
Dekkers weiß um die Schwierigkeiten<br />
und hat deshalb die Parole ausgegeben,<br />
aus eigener Kraft im OTC-Geschäft zu<br />
wachsen. Hoffnungen macht ihm die stark<br />
Aktien-Info Bayer<br />
ISINDE000BAY0017<br />
150<br />
140<br />
130<br />
<strong>12</strong>0<br />
110<br />
100<br />
90<br />
2013 <strong>2014</strong><br />
Umsatz (in Mrd. €)<br />
Mitarbeiter<br />
Gewinn (Ebit, in Mrd. €)<br />
Eigenkapitalrendite (in %)<br />
Umsatzanteil rezeptfreier Med. (in %)<br />
Kurs (in €)<br />
KGV<strong>2014</strong><br />
Börsenwert(in Mrd. €)<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
Bayer<br />
40,2<br />
113200<br />
6,5<br />
16,3<br />
9,7<br />
98,49<br />
16,1<br />
81,4<br />
Kurven in Euro, Glaxo umbasiert;<br />
Quelle: Thomson Reuters, Bloomberg, Unternehmen<br />
GlaxoSmithKline<br />
Bayer GlaxoS.K.<br />
31,2<br />
99451<br />
8,9<br />
85,0<br />
19,4<br />
19,85<br />
15,3<br />
96,5<br />
Hoch<br />
Die Anleger haben bei Bayer wie beim Erzrivalen Glaxo<br />
mit Kursgewinnen die jüngsten Übernahmen und neue<br />
Medikamente bereits vorweggenommen. Erst wenn die<br />
versprochenen Ergebnisse folgen, dürftedie Aktie wieder<br />
kräftiger anziehen.<br />
gewachsene Produktpalette, die ihm die<br />
Übernahme der entsprechenden Sparte<br />
von Merck & Co. beschert. Zu Bayer-Klassikern<br />
wie Aspirin, Alka-Seltzer, Canesten<br />
(Fußpilz) und Bepanthen (Hautsalbe)<br />
kommen nun Präparate wie das Allergiemittel<br />
Claritin oder Dr. Scholl’s Fußpflege.<br />
WARTEN AUF DIE VERLÄNGERUNG<br />
Bisher hat der US-Konzern seine Mittelchen<br />
vorwiegend im Heimatmarkt verkauft.<br />
Darin sieht Dekkers seine Chance.<br />
Mit der Vertriebspower des Konzerns will<br />
Bayer die Merck-Mittel künftig verstärkt in<br />
anderen Ländern anbieten. „Interessante<br />
Märkte für die Einführung internationaler<br />
OTC-Marken sind Südamerika, China,<br />
Südosteuropa, Skandinavien und Polen“,<br />
sagt Thimo Sommerfeld, Geschäftsführer<br />
der auf die Gesundheitsbranche spezialisierten<br />
Beratung Abolon aus München.<br />
Einen zusätzlichen Jahresumsatz von<br />
400 Millionen Euro erwartet Dekkers durch<br />
die globale Vermarktung der Merck-Präparate.<br />
Dabei will der Bayer-Boss, so ließ er<br />
durchblicken, aggressiv vorgehen.<br />
So gewaltig der Schub für Bayer dadurch<br />
ausfallen mag, so wenig dürfte er reichen,<br />
GlaxoSmithKline einzuholen. „Nur mit organischem<br />
Wachstum kann Herr Dekkers<br />
sein Ziel, die Nummer eins im OTC-Markt<br />
zu werden, in den kommenden fünf Jahren<br />
nicht erreichen“, sagt Berater Sommerfeld.<br />
Dekkers bleibt deshalb wohl nur, sich<br />
mit „kleineren Zukäufen“ zufriedenzugeben,<br />
von denen er nach dem Merck-Deal<br />
gesprochen hat. Ins Visier seiner hauseigenen<br />
Übernahmespezialisten, die jedes Jahr<br />
25 bis 30 Akquisitionskandidaten prüfen,<br />
dürften nun mittelständische Hersteller<br />
wie das bayrische Unternehmen Bionorica<br />
mit dem Erkältungsmittel Sinupret, die<br />
belgische Omega Pharma (Nahrungsergänzungsmittel<br />
Abtei) oder die Frankfurter<br />
Merz-Gruppe (Spezialdragees) geraten.<br />
Zumindest sehen Experten in ihnen mögliche<br />
Kandidaten – falls deren Eigentümer<br />
irgendwann einmal verkaufen wollen, wofür<br />
es jedoch keine Anzeichen gibt.<br />
Grundsätzlich hält Oliver Scheel, Partner<br />
und Pharmaexperte der Beratung A.T.<br />
Kearney, Investitionen etwa in wirksame<br />
Kosmetika, neue medizinische Messgeräte<br />
oder digitale Gesundheitslösungen für<br />
sinnvoll: „Unternehmen mit starken<br />
Wachstumsambitionen bieten sich auch<br />
außerhalb des klassischen OTC-Segments<br />
genügend Möglichkeiten, um ihr Geschäft<br />
mit verbrauchernahen Gesundheitsprodukten<br />
zu stärken“, so Scheel.<br />
Auch dies könnte eine Möglichkeit für<br />
Dekkers sein. Doch ob der Niederländer<br />
den Sprung an die Spitze bei rezeptfreien<br />
Präparaten als Bayer-Chef noch erleben<br />
wird, steht dahin. Sein Vertrag läuft Ende<br />
dieses Jahres aus, eine Verlängerung steht<br />
noch aus. „Es gibt dazu weder einen Beschluss<br />
noch eine Beschlussvorlage“, beschied<br />
der Aufsichtsratsvorsitzende Werner<br />
Wenning auf der Hauptversammlung<br />
Ende April die Aktionäre. Etwas befremdlich<br />
ist das schon: In vielen Konzernen ist<br />
es üblich, den Kontrakt des Vorsitzenden<br />
etwa ein Jahr im Voraus zu verlängern.<br />
Nicht, dass die Kontrolleure an Dekkers’<br />
bisheriger Arbeit viel auszusetzen hätten.<br />
Seit seinem Amtsantritt hat sich der Aktienkurs<br />
mehr als verdoppelt. Doch angeblich<br />
soll der polyglotte Manager damit liebäugeln,<br />
seinen Vertrag statt der üblichen<br />
fünf nur noch um drei Jahre zu verlängern,<br />
um dann Ende 2017, in seinem 60. Lebensjahr,<br />
mit seiner Frau in die USA zurückzukehren.<br />
Den Fußball für die nächsten Weltmeisterschaft<br />
2018 in Russland mit Kunststoffen<br />
von Bayer müsste dann ein anderer Konzernchef<br />
vorstellen.<br />
n<br />
juergen.salz@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 55<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
Skalpierte Fans<br />
CTS EVENTIM | Der Bremer Ticketriese baut krakenhaft seine Marktmacht<br />
aus und will nun offenbar auch nach Übersee. In Deutschland<br />
regt sich erster Widerstand.<br />
Die Leute, die sich an diesem Morgen<br />
im Berliner Bahnhof Friedrichstraße<br />
die Füße platt treten, stehen nicht<br />
Schlange für ein Schnäppchen. Ihre Geduld<br />
gilt einem der 18000 Tickets für das Konzert<br />
der Rolling Stones am 10. Juni in der Berliner<br />
Waldbühne – Preis: bis zu 250 Euro.<br />
Doch die Mühe erweist sich als vergeblich.<br />
Der Vorverkauf „war beendet, bevor er<br />
anfing“, erinnert sich Barbara Möckel, Geschäftsführerin<br />
der Vorverkaufsstelle. „Wir<br />
haben nicht eine Karte aus dem Buchungssystem<br />
erhalten.“ Ähnliches passierte später<br />
in Düsseldorf beim Vorverkauf für den Auftritt<br />
der Altrocker am 19. Juni in der dortigen<br />
Esprit-Arena mit 43 000 Plätzen. Am Rhein<br />
hieß es nach 25 Minuten „ausverkauft“.<br />
GEWINNMASCHINE INTERNET<br />
Diese Knappheit hat eine bisher wenig beachtete<br />
Ursache: den Internet-Tickethändler<br />
CTS Eventim. Der baut seine Macht im<br />
Geschäft mit Eintrittskarten immer weiter<br />
aus – und das nicht nur, indem er die rund<br />
3000 unabhängigen Vorverkaufsstellen<br />
hierzulande bei der Zuteilung von Tickets<br />
zunehmend austrocknet.<br />
Experten gehen davon aus, dass der Branchenriese<br />
mit Sitz in Bremen und Beteiligungen<br />
in 21 Ländern bald den Schritt auf<br />
einen anderen Kontinent wagt, etwa in die<br />
USA oder nach Lateinamerika. Indiz dafür<br />
ist die Änderung der Rechtsform von einer<br />
Aktiengesellschaft in eine Kommanditgesellschaft<br />
auf Aktien durch die Hauptversammlung<br />
am vergangenen Donnerstag.<br />
Das ermöglicht CTS-Chef Klaus-Peter<br />
Schulenberg, neue Gesellschafter aufzunehmen<br />
und damit das Kapital zu erhöhen,<br />
ohne dass er seine 50,2-prozentige Mehrheit<br />
am Unternehmen reduzieren muss.<br />
Kenner von CTS glauben, dass der 62-jährige<br />
Gründer demnächst wohl einen dreistelligen<br />
Millionenbetrag ins Unternehmen<br />
schaufelt, um über Europa hinaus zu expandieren.<br />
Schulenberg selbst schweigt dazu.<br />
CTS Eventim verkauft hierzulande etwa<br />
80 Prozent aller Eintrittskarten für Pop- und<br />
Rock-Konzerte, schätzen Branchenkenner.<br />
Hinzu kommen europaweit gut 180000 weitere<br />
Events, bei denen die Bremer ihre Finger<br />
im Spiel haben, darunter exklusiv die<br />
vergangene Winterolympiade im russischen<br />
Sotschi, die Eishockey-Spiele der Kölner<br />
Haie, das Konzert der Heavy-Metal-<br />
Band Metallica in Hamburg und die angesichts<br />
hoher Preise lukrative Hochkultur wie<br />
die Darbietungen des legendären Mailänder<br />
Opernhauses Scala.<br />
Den ersten Platz unter Europas Ticketverkäufern<br />
verdankt CTS Eventim der Strategie,<br />
die der einer Krake ähnelt. Schulenberg<br />
greift inzwischen nach allen vor- und nachgelagerten<br />
Bereichen des Kartengeschäfts.<br />
Im Zentrum steht die Veranstaltung von<br />
Konzerten und Aufführungen auf eigene<br />
Rechnung, wo CTS Eventim es weltweit<br />
zum drittgrößten Anbieter gebracht hat.<br />
Diese Doppelrolle macht das Unternehmen<br />
zum Schrecken klassischer Vorverkaufsstellen.<br />
Denn sie erlaubt CTS, die Kartenvolumina<br />
dorthin zu schieben, wo der Absatz<br />
am meisten Gewinn bringt – also auch an<br />
die eigene Ticket-Verkaufsabteilung.<br />
Die hat Schulenberg zu einer Gewinnmaschine<br />
ausgebaut, die mittlerweile gut die<br />
Hälfte des Geschäfts rund um ein Musikund<br />
sonstiges Ereignis abgreift. Motor des<br />
Profits ist dabei das Internet, das CTS Eventim<br />
virtuos einsetzt. „Die Wertschöpfung ist<br />
im Internet-Vertrieb sechsmal höher als<br />
beim klassischen stationären Verkauf“, sagt<br />
Schulenberg. „Dafür haben wir in den vergangenen<br />
Jahren mehr als 100 Millionen<br />
FOTOS: LAIF/ANDREAS HERZAU, IMAGO/XINHUA, AKG IMAGES/MARION KALTER, LAIF/UPI<br />
1<br />
1|Der Meister des Mehrwerts<br />
CTS-Eventim-Chef Schulenberg<br />
56 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Euro in unsere IT-Systeme gesteckt.“ 240 der<br />
insgesamt 1800 Mitarbeiter tun nichts anderes,<br />
als ein Buchungssystem zu optimieren,<br />
auf das drei Millionen Kunden gleichzeitig<br />
zugreifen können. Noch läuft der Vorverkauf<br />
meist über den Schalter. Doch das<br />
ändert sich: 2013 verkaufte CTS jede fünfte<br />
Karte online – 16 Prozent mehr als 20<strong>12</strong>.<br />
Da CTS online nicht mit anderen teilen<br />
muss, kann das Unternehmen bis zu 40 Prozent<br />
des eigentlichen Kartenpreises als Zusatzumsatz<br />
von den Kunden kassieren. Das<br />
sei „leicht verdientes Geld, ohne irgendein<br />
wirtschaftliches Risiko zu tragen“, sagt der<br />
Berliner Veranstalter und Buchautor Berthold<br />
Seliger („Das Geschäft mit der Musik“).<br />
„To scalp the fans“, würden das die Amerikaner<br />
nennen, so Seliger: „Den Kunden wird<br />
das Fell über die Ohren gezogen.“<br />
In der Praxis funktioniert das so: In der<br />
Regel kassiert CTS Eventim wie die meisten<br />
Vorverkaufsstellen 10 bis 15 Prozent des Ticketpreises<br />
als Vorverkaufsgebühr. Als<br />
Nächstes verlangt Schulenberg von den stationären<br />
Vorverkaufsstellen, die Tickets<br />
über CTS Eventim beziehen, eine sogenannte<br />
Systemgebühr bis zu zwei Euro pro<br />
Karte. Für die Buchung selbst kassiert CTS<br />
Eventim bis zu zwei weitere Euro.<br />
Wer das Ticket am heimischen PC ausdrucken<br />
will, zahlt für diesen einzigen<br />
Knopfdruck weitere 2,50 Euro. Wer es per<br />
Post möchte, zahlt CTS für das Eintüten des<br />
Tickets und Freistempeln des Couverts 4,90<br />
Euro. Eine Ticketversicherung, die beim Bestellvorgang<br />
praktischerweise mit Häkchen<br />
aktiviert ist, bringt CTS weitere 3,50 Euro.<br />
„Eventim hat ein Gebührenmodell gesellschaftsfähig<br />
gemacht, das alle Mitbewerber<br />
mehr oder weniger kopieren“, sagt Branchenkenner<br />
Hans-Wolfgang Trippe aus Bad<br />
Münstereifel bei Bonn. Dabei bringt das<br />
Veranstalten von Konzerten und sonstigen<br />
Ereignissen vor allem Umsatz, der Verkauf<br />
der Tickets dagegen den großen Gewinn.<br />
JUNGE MIT DER MUNDHARMONIKA<br />
So entfielen 2013 fast 60 Prozent des Umsatzes<br />
von 628,3 Millionen Euro auf das Veranstaltungsgeschäft.<br />
Hier geht CTS Eventim<br />
das Wagnis ein, für viel Geld etwa Rockgruppen<br />
zu engagieren, Hallen zu mieten<br />
und Werbung zu schalten, in der Hoffnung,<br />
die <strong>Ausgabe</strong>n durch den Ticketverkauf einzuspielen.<br />
Risikolos ist dagegen der Verkauf<br />
von Tickets, bei dem der Händler weder in<br />
Vorkasse treten noch Ware auf eigene Rechnung<br />
erwerben und losschlagen muss.<br />
Folge: Während das Veranstaltungsgeschäft<br />
60 Prozent des Umsatzes bringt,<br />
stammten drei Viertel des Gewinns aus dem<br />
Ticketverkauf. Der Profit vor Zinsen, Steuern,<br />
Abschreibungen im Gesamtkonzern<br />
machte 2013 einen Sprung um fast 14 Prozent<br />
auf 136,3 Millionen Euro. Kein Wunder,<br />
dass „mittelfristig die Hälfte des gesamten<br />
Ticketvolumens über das Internet verkauft<br />
werden soll“, wie Schulenberg ankündigt.<br />
Der Bremer ist die Sorte Selfmademan,<br />
der es in vier Jahrzehnten mit viel Aggressivität<br />
zum Milliardär gebracht hat. Noch<br />
nicht volljährig, nahm er 1971 den Schnulzensänger<br />
Bernd Clüver („Der Junge mit<br />
der Mundharmonika“) als Manager unter<br />
seine Fittiche. Zwei Jahre später, während<br />
des Studiums, das er später sausen ließ,<br />
gründete er die Konzertagentur KPS.<br />
Seinen größten Coup landete er 1996 mit<br />
dem Kauf des defizitären Ticketvermarkters<br />
Computer Ticket Service (CTS). Schulenberg<br />
witterte als einer der Ersten das große<br />
Geschäft rund um Musik- und sonstige<br />
Events. Er brachte den Laden in Schwung<br />
und 2000 als CTS Eventim an die Börse.<br />
Der Drang nach immer mehr Macht gehört<br />
zu Schulenberg wie die Eintrittskarte<br />
zum Konzert. Als er 2011 den größten heimischen<br />
Konkurrenten Ticket Online übernahm,<br />
ahnten Wettbewerber das Unheil.<br />
Das Bundeskartellamt urteilte zwar, „dass<br />
CTS Eventim durch den Zusammenschluss<br />
insbesondere auf dem Markt für elektronische<br />
Ticketsysteme hohe Marktanteile erreichen<br />
wird, die eine marktbeherrschende<br />
Stellung möglich erscheinen lassen“. Dagegen<br />
vorzugehen lehnte es jedoch ab, auch<br />
weil Schulenberg den Anteil am Hamburger<br />
Konkurrenten FKP Scorpio Konzertproduktionen<br />
auf 45 Prozent reduzierte.<br />
Doch Schulenberg wäre nicht er selbst,<br />
überließe er sein Stammgeschäft Konzertund<br />
Tour-Management der Konkurrenz.<br />
»<br />
2 3 4<br />
2|Begehrte Legende Die aktuellen<br />
Konzerte der Altrocker Rolling Stones<br />
waren nach Minuten ausverkauft<br />
3|Lukrative Hochkultur<br />
Karten von CTS Eventim für die<br />
Mailänder Scala<br />
4|Olympia exklusiv Dank ihrer Töchter<br />
in Russland war CTS Eventim alleiniger<br />
Tickethändler der Winterspiele in Sotschi<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 57<br />
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Unternehmen&Märkte<br />
»<br />
Also übernahm CTS Eventim im Laufe<br />
der Jahre die Creme der deutschen Veranstalter<br />
wie die renommierte Marek Lieberberg<br />
Konzertagentur (MLK) in Frankfurt.<br />
Der Übernahmezug machte Schulenberg<br />
auch zum Herrscher über die immer zahlreicheren<br />
Musikfestivals in Deutschland wie<br />
Rock am Ring. „Nicht nur wesentliche Teile<br />
des deutschen Tour- und Konzertgeschäfts,<br />
sondern auch mindestens 16 der 20 größten<br />
deutschen Musikfestivals sind damit praktisch<br />
in der Hand eines einzigen Unternehmens“,<br />
sagt Branchenkenner Seliger.<br />
Ticketexperte Trippe ergänzt: „CTS Eventim<br />
geht es darum, möglichst viele Stufen<br />
der Wertschöpfungskette zu verknüpfen<br />
und zu kontrollieren: <strong>vom</strong> Veranstalten eigener<br />
Events, als Betreiber von Spielstätten<br />
bis zum Verkauf der Eintrittskarten.“<br />
FREIBRIEF VOM KARTELLAMT<br />
Ein Ende dieser Wertschöpfungskette<br />
scheint nicht in Sicht. Zurzeit buhlt CTS<br />
Eventim mit dem Berliner Konzertveranstalter<br />
Deutsche Entertainment um die<br />
Pacht der Berliner Waldbühne. Schulenberg<br />
sicherte sich 2009 den Betrieb der traditionsreichen<br />
Freilichtbühne, die die Nazis zu<br />
den Olympischen Spielen 1936 anlegen ließen.<br />
Sie ist nicht die einstige Location, die<br />
CTS Eventim betreibt. Seit 2011 betreibt CTS<br />
auch den Berliner Eventtempel Tempodrom<br />
(gut 3000 Plätze). 20<strong>12</strong> kamen das weltbekannte<br />
Hammersmith Apollo (knapp 8700<br />
Plätze) in London und die Lanxess Arena in<br />
Köln (bis zu 20000 Plätze) dazu.<br />
Auch hier kann CTS Eventim auf die Gnade<br />
des Bundeskartellamtes bauen, das in<br />
der Marktmacht quer durch das Veranstaltungsbusiness<br />
noch immer keine Gefahr für<br />
den Wettbewerb sieht. Die Bonner Beamten<br />
prüften die Frage, ob CTS Eventim seine<br />
Marktposition missbraucht, indem das Unternehmen<br />
konkurrierende Veranstalter<br />
Aktien-Info Eventim<br />
ISINDE00<strong>05</strong>470306<br />
70<br />
60<br />
50<br />
40<br />
30<br />
Eventim<br />
20<br />
2013 <strong>2014</strong><br />
Umsatz (in Mio.€)<br />
Gewinn (Ebit, in Mio.€<br />
Mitarbeiter<br />
Eigenkapitalrendite (in %)<br />
Kurs (in €)<br />
KGV<br />
Börsenwert(in Mio.€)<br />
Chance<br />
Risiko<br />
Niedrig<br />
LiveNation<br />
Kurven in Euro, Live Nation umbasiert;<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
Eventim<br />
628,3<br />
1<strong>12</strong>,1<br />
15<strong>05</strong><br />
27,93<br />
44,86<br />
27,29<br />
2153,0<br />
Live Nation<br />
4879,2<br />
81,2<br />
7400<br />
–3,14<br />
15,35<br />
negativ<br />
3075,3<br />
Hoch<br />
Die traumhafte Stellung von Eventim und das Wachstum<br />
des Konzertmarkts haben die Kurssteigerungen der<br />
vergangenen Jahre bereits zu einem großen Teil abgebildet.<br />
Bis zu einer weiteren Expansion dürfteder Kurs<br />
bestenfalls moderatzulegen.<br />
von der Lanxess Arena fernhält oder durch<br />
schlechtere Buchungsbedingungen behindert.<br />
Und das Amt prüft, ob CTS Eventim<br />
Druck auf Fremdveranstalter ausübt, um<br />
den Ticketvertrieb aller dort stattfindenden<br />
Veranstaltungen an sich zu reißen.<br />
Die Antwort des Bundeskartellamtes fiel<br />
im Sinne von CTS aus:„Die mit hoher Wahrscheinlichkeit<br />
bestehenden marktbeherrschenden<br />
Stellungen von Eventim im Veranstalter-Markt<br />
und im Ticketvertriebsmarkt<br />
werden durch den Erwerb der Lanxess<br />
Arena nicht verstärkt.“ Es gebe ja für<br />
Veranstalter genug Ausweichmöglichkeiten<br />
zur Lanxess Arena, etwa die König-Pilsener-<br />
Arena in Oberhausen. Außerdem erwartet<br />
das Amt nicht, dass CTS fremden Veranstaltern<br />
vorgeben kann, Tickets nur über das<br />
Eventim-System zu vertreiben.<br />
Für Schulenberg ist das wie ein Freibrief,<br />
ungehemmt weiter zu wachsen. „Bei uns<br />
wird jeder Veranstalter gleich behandelt“,<br />
behauptet er, „unabhängig davon, ob er zur<br />
Gruppe gehört oder nicht.“<br />
Branchenexperte Trippe schmunzelt darüber<br />
nur. „Eventim kann sehr wohl deutlich<br />
machen, wer Herr im Hause ist“, sagt<br />
er. „Die können mit exklusiven Vorverkaufsaktionen,<br />
die den Direktvertrieb und<br />
die damit verbundenen Gebührenerlöse<br />
forcieren, dafür sorgen, dass lediglich deren<br />
Web-Shop oder Callcenter freigeschaltet<br />
werden soll.“ Scumeck Sabottka, Chef<br />
der Berliner MCT Agentur GmbH, behauptet<br />
sogar, „dass Veranstalter, die das Kartengeschäft<br />
nicht aus der Hand geben wollen,<br />
eine höhere Miete zahlen müssen“.<br />
Sabottka, der die Touren der Bands<br />
Rammstein und Kraftwerk organisiert und<br />
<strong>2014</strong> den britischen Superstar Robbie Williams<br />
sowie die kanadische Indie-Rockgruppe<br />
Arcade Fire durch Deutschland<br />
schickt, geht darum eigene Wege. So bucht<br />
er nicht die von CTS gepachtete Waldbühne,<br />
sondern das Amphitheater Wuhlheide<br />
im Osten Berlins. Dazu verkauft er die Karten<br />
über die Online-Plattform tickets.de,<br />
die er 20<strong>05</strong> gründete. Vorverkaufsgebühr<br />
zehn Prozent, Zusatzkosten: keine.<br />
„Eventim mit ihrem unverschämten Gebührengebaren<br />
meide ich wie die Pest“,<br />
sagt Sabottka. „Durch jede zu viel gezahlte<br />
Gebühr wächst die Kriegskasse der an CTS<br />
Eventim gebundenen Tournee- und Konzertveranstalter.<br />
Damit erhalten die ihre<br />
Monopolstellung.“<br />
n<br />
bernd mertens | unternehmen@wiwo.de<br />
Überall die Finger drin<br />
Geschäftsfelder der CTSEventim<br />
Verkauf und Ausstellung von Eintrittskarten<br />
Ticketing-System<br />
Eigenvertrieb<br />
Ausstellungvon Tickets über Ticketverkauf über eigene Callcenter,<br />
Buchungssystem für 20 000 Vorverkaufsstellen<br />
sowie gut 100 Sportver-<br />
Provision sechsmal höher als beim<br />
Web-Seiten wie eventim.de sowie Apps.<br />
eine und Verbände in 21 Ländern reinen Ticketing<br />
Gemeinschaftsunternehmen<br />
Kooperation mit Regionalzeitungen<br />
(Rheinische Post) für kleine Veranstaltungen.<br />
Zeitungen sorgen für<br />
Werbung vor Ort<br />
Weiterverkauf<br />
Fansale.de erlaubt Schwarzhändlern<br />
bei ausverkauften Veranstaltungen<br />
Verkauf zu höheren Preisen und bringt<br />
hohe Provision<br />
Live-Entertainment<br />
Management von Veranstaltungsorten<br />
Betrieb von Veranstaltungsstätten wie<br />
Waldbühne (Berlin) oder Lanxess Arena<br />
(Köln). Dadurch Einnahmen durch Gastronomie<br />
sowie Show- und Operproduktionen<br />
Konzertveranstalter<br />
Eigene Veranstaltungstöchter wie Peter<br />
Rieger, Beteiligungen an Großagenturen<br />
(Marek Lieberberg) und Spezialisten<br />
(Semmel Concerts –Show und Schlager)<br />
Neue Felder<br />
Zugangskontrollsysteme<br />
Entwicklung von Technik für Veranstaltungen<br />
und Kontrolle von Weiterverkauf<br />
Marketing<br />
Entwicklung von Mailings, möglichst<br />
exklusiver Verkauf von Eventreisen<br />
Sonstiges<br />
Papierloses Ticket für alle Veranstalter<br />
Musik-Downloads<br />
Quelle:CTS Eventim<br />
58 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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»Sind Nummer eins im Fußball«<br />
INTERVIEW | Trevor Edwards Der Chef der Marke Nike attackiert den Konkurrenten Adidas vor der Fußball-WM<br />
in Brasilien und plant weitere eigene Läden in Europa.<br />
FOTO: GETTY IMAGES/AFP<br />
Mr. Edwards, Nike verlangt für sein<br />
neuestes Fußballschuhmodell Mercurial<br />
Superfly, das etwa der portugiesische<br />
Starkicker Cristiano Ronaldo trägt, 275<br />
Euro. Warum ist der so teuer?<br />
275 Euro kostet das Spitzenmodell, wir bieten<br />
den Schuh in weiteren Varianten an,<br />
die günstigste für 70 Euro. Im Mercurial<br />
Superfly haben wir wie bei unserem Modell<br />
Magista unsere neuesten Entwicklungen<br />
eingesetzt. Bei beiden setzen wir etwa<br />
auf unsere Flyknit-Technik, bei der das<br />
Oberteil der Schuhe aus einzelnen Fasern<br />
regelrecht gestrickt wird. Der Schuh reicht<br />
bis zum Knöchel und sitzt praktisch wie ein<br />
Strumpf. Außerdem verwenden wir für den<br />
Mercurial Superfly eine Sohle aus Karbonfaser,<br />
was den Schuh sehr leicht macht.<br />
Sollen solche Preise ausgleichen,<br />
dass der Fußballmarkt in Deutschland<br />
laut Sportartikelhändlern stagniert?<br />
Unser Fußballgeschäft stagniert nicht. Wir<br />
sind die Nummer eins, das schließt<br />
Deutschland mit ein. Wir wachsen in allen<br />
großen Märkten. Und dazu tragen neue<br />
Modelle wie der Mercurial Superfly bei.<br />
Adidas will vor allem dank der WM in Brasilien<br />
<strong>2014</strong> mehr als zwei Milliarden Euro<br />
im Fußballgeschäft umsetzen und sieht<br />
sich als Nummer eins. Nike setzt mit Fußball<br />
erst 1,4 Milliarden Euro um. Wieso<br />
beanspruchen Sie die Marktführerschaft?<br />
Unterschiedliche Marken zählen in ihren<br />
Sportarten unterschiedliche Produkte zum<br />
Umsatz, das macht Vergleiche schwierig.<br />
Wir beziehen uns auf die Zahl der verkauften<br />
Fußballschuhe, das ist eine klare Größe.<br />
Und da sehen wir uns als Marktführer.<br />
Was erwarten Sie von der WM?<br />
Bei der WM rüsten wir zehn Nationalteams<br />
mit Trikots aus, mehr als jede andere Marke.<br />
Das verschafft uns einen großen Vorteil,<br />
denn als Hersteller gewinnt man bei der<br />
WM bereits, bevor das erste Spiel angepfiffen<br />
wird. Je mehr Hoffnung die Fans auf<br />
den Titel haben, um so mehr Trikots kaufen<br />
sie. Für uns ist das eine großartige Gelegenheit,<br />
denn wir statten ja unter anderem<br />
das Team des Gastgebers Brasilien aus.<br />
Nike hat 20<strong>12</strong> und 2013 in Europa bei<br />
Umsatz und Marktanteilen stark zugelegt.<br />
.Haben Sie hier vorher geschlafen?<br />
KOPF DER MARKE<br />
Edwards, 51, ist globaler Markenchef von<br />
Nike. Der gebürtige Londoner ist ein Kandidat<br />
für die Nachfolge von Vorstandschef<br />
Mark Parker, der den weltgrößten Sportkonzern<br />
seit 2006 führt. Der Nike-Konzern<br />
setzte zuletzt 25,3 Milliarden Dollar um.<br />
Dass unser Europageschäft gut läuft, liegt<br />
an zwei Dingen. Erstens konzentrieren wir<br />
uns vor allem uns auf Fußball, Basketball,<br />
Running und Frauen-Fitness. Zweitens<br />
arbeiten wir jetzt in Europa mit einer<br />
gemeinsamen Strategie für alle Märkte.<br />
Der Ausrüstervertrag zwischen<br />
Manchester United und Ihnen läuft bald<br />
aus. Ist ManU überhaupt noch attraktiv<br />
genug für Nike, nachdem sie derzeit in<br />
der englischen Liga nur Siebter sind?<br />
Wir befinden uns in Gesprächen mit<br />
Manchester United und kommentieren<br />
deshalb das Thema zurzeit nicht.<br />
Sie haben gerade in Berlin zwei neue<br />
Läden aufgemacht. Wird Nike weitere<br />
Shops eröffnen? Bislang halten Sie sich da<br />
ja im Vergleich zu Adidas spürbar zurück.<br />
Ja, wir werden künftig weitere Geschäfte<br />
in Europa eröffnen, Ende Mai etwa ein<br />
weiteres in Berlin. Einige dieser Läden<br />
haben einen Schwerpunkt auf bestimmte<br />
Sportarten. So arbeiten wir bei dem<br />
„House of Hoops“-Konzept mit Schwerpunkt<br />
Basketball mit der Kette Footlocker<br />
zusammen. Und unser Laden in Berlin-<br />
Mitte bietet vor allem Laufprodukte an. Dazu<br />
organisieren wir dort Kundenveranstaltungen<br />
wie einen Nachtlauf durch die Stadt<br />
nur für Frauen.<br />
Es kursiert das Gerücht, Nike wolle die<br />
Produktion seines Fitness-Messgerätes<br />
Fuelband beenden. Ist da was dran?<br />
Wir werden weiterhin Fuelbands verkaufen<br />
und unterstützen.<br />
Aber Nike stellt sie nicht mehr selbst her?<br />
Wir haben noch genügend Produkte und<br />
verkaufen sie weiter. Heute nutzen 28 Millionen<br />
Kunden weltweit Nike+, um ihre Aktivitäten<br />
zu messen und im Netz zu teilen.<br />
Wir wollen die Zahl auf mehr als 100 Millionen<br />
steigern. Als wir Fuel erfanden, ging<br />
es primär darum, Menschen zu motivieren,<br />
sich zu bewegen, nicht um die Herstellung<br />
eines Armbands. Deshalb wollen wir<br />
stärker mit Partnern arbeiten, um die Verbreitung<br />
von Fuel schneller zu steigern.<br />
Mit welchen Partnern?<br />
Wir pflegen seit Langem eine Partnerschaft<br />
mit Apple. Und gerade haben wir unser<br />
Nike+Fuel-Lab in San Francisco eröffnet.<br />
Dort arbeiten wir mit Partnern aus der<br />
Digitalszene an Angeboten rund um Fuel.<br />
Einzelheiten dazu sind noch vertraulich. n<br />
peter.steinkirchner@wiwo.de<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 59<br />
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Technik&Wissen<br />
Neuverteilung der Welt<br />
SERIE ZUKUNFT DER INDUSTRIE (I) | Autos fahren autonom, Roboter werden alltäglich, Fabriken<br />
steuern sich selbst: Neue Technologien schaffen Märkte und Jobs schnell wie nie –<br />
und vernichten bestehende erbarmungslos. Die WirtschaftsWoche analysiert auf Basis einer<br />
exklusiven McKinsey-Studie, wie gut Deutschland für den Umbruch gerüstet ist.<br />
Bauteile wuseln über Bänder<br />
von Bearbeitungsstation zu<br />
Bearbeitungsstation – anscheinend<br />
gelenkt von einer höheren<br />
Macht. Doch in Wirklichkeit<br />
organisieren die Werkstücke ihre Herstellung<br />
zum fertigen Produkt selbst. Dazu<br />
führen sie Funkmodule, Minichips und ihren<br />
Fertigungsauftrag mit. Bei der Reise<br />
über die Bänder sprechen sie untereinander<br />
ab, welche Maschine gerade frei ist und<br />
ob diese alles Material für den nächsten<br />
Produktionsschritt parat hat. Am Ende<br />
plumpsen etwa komplette Rücklichter für<br />
Autos in die Versandkisten.<br />
Es ist der Testlauf in eine neue Ära der Industrieproduktion<br />
– mit Mitteln und Methoden<br />
des Internets. Und deutsche Unternehmer<br />
und Forscher sind ganz vorn beim<br />
Eintritt in diese digitale Fabrikwelt, bei der<br />
alles mit jedem vernetzt ist – der größten<br />
Umwälzung seit Erfindung des Fließbands<br />
vor gut 140 Jahren.<br />
Siemens beispielsweise erprobt<br />
die sich selbst optimierende<br />
Produktion in seinem<br />
Vorzeigewerk im bayrischen<br />
Amberg, in dem rund 1000<br />
Beschäftigte elektronische<br />
Steuerungen für Getränkeabfüllanlagen,<br />
Skilifte oder<br />
Müllwagen herstellen. Der<br />
baden-württembergische<br />
Mittelständler Wittenstein<br />
tastet sich bei der Produktion<br />
von Zahnrädern an die Prinzipien<br />
der Selbstorganisation<br />
heran. In Bremen sammeln<br />
Ingenieure des Instituts für<br />
Produktion und Logistik der<br />
Die Zukunft<br />
der Industrie<br />
Teil 2<br />
Blick in die Zukunftslabors<br />
der Konzerne<br />
Teil 3<br />
Wie sich Unternehmen<br />
mit Start-ups agil halten<br />
Teil 4<br />
Deutschlands Position in<br />
der Spitzenforschung<br />
dortigen Universität in Deutschlands derzeit<br />
wohl modernster Modellfabrik neue<br />
Erkenntnisse zu dem Thema.<br />
Vordenker wie der frühere SAP-Chef<br />
Henning Kagermann, heute Präsident der<br />
Technikakademien in Deutschland (Acatech),<br />
erwarten von der digitalen Fabrik<br />
wahre Wunderdinge. Seine Prognose: In<br />
ihr sollen selbst Einzelstücke eines Tages<br />
nicht mehr kosten als heutige Massenware<br />
– dank Produktivitätssprüngen von 50 Prozent<br />
und ebenso großen Material- und<br />
Energieeinsparungen.<br />
Damit ist klar: Das Land, das als erstes<br />
erfolgreich Internet-Technologien in die<br />
Produktion integriert, hat allerbeste<br />
Wachstumsperspektiven. Deutschland befindet<br />
sich – so die frohe Botschaft – bei der<br />
Perfektionierung des Internets der Dinge,<br />
wie Fachleute die Vernetzung aller Gegenstände<br />
und Geräte miteinander nennen, in<br />
einer aussichtsreichen Startposition.<br />
Zu diesem Ergebnis kommen<br />
jedenfalls die Experten<br />
der global tätigen Unternehmensberatung<br />
McKinsey.<br />
Exklusiv für die Wirtschafts-<br />
Woche haben sie analysiert,<br />
bei welchen Technologien<br />
wir stark sein müssen, um<br />
auch im nächsten Jahrzehnt<br />
vielen Millionen Menschen<br />
Arbeit bieten und unseren<br />
Wohlstand mehren zu können.<br />
Und da hat das Internet<br />
der Dinge, das etwa auch die<br />
intelligente Steuerung von<br />
Logistikketten und Verkehrsströmen<br />
umfasst, das größte<br />
Potenzial.<br />
Gelänge es der deutschen Wirtschaft, auf<br />
diesem Gebiet Standards zu setzen und<br />
umsatzstarke Geschäftsmodelle zu entwickeln,<br />
dann könnte das unser Bruttoinlandsprodukt<br />
(BIP) im Jahr 2025 um gleich<br />
207 Milliarden Euro oder umgerechnet fast<br />
fünf Prozent nach oben treiben. Das sind<br />
noch einmal gut 20 Milliarden Euro mehr,<br />
als die chemisch-pharmazeutische Industrie<br />
heute jährlich hierzulande umsetzt.<br />
Parallel entstünden viele neue Jobs. Davon<br />
ist Andreas Tschiesner überzeugt, Direktor<br />
und führender Kopf bei McKinsey<br />
Deutschland für die Bewertung fortschrittlicher<br />
Technologien. Im Umkehrschluss<br />
bedeutet dies aber auch: Misslingt der Umstieg,<br />
geht im Extremfall ebenso viel Wirtschaftsleistung<br />
verloren – mit allen negativen<br />
Folgen für die Beschäftigung.<br />
Das Spiel um die Neuverteilung der Welt<br />
hat begonnen. Jetzt entscheidet sich, ob<br />
wir auch in den nächsten Jahrzehnten eine<br />
führende Wirtschaftsnation bleiben.<br />
FORTSCHRITT MIT SPRENGKRAFT<br />
„Würde Deutschland bei der Vernetzung<br />
aller Dinge versagen, wäre unsere gute<br />
Wettbewerbsposition massiv erschüttert“,<br />
warnt Tschiesner. Die Gefahr hält er aber<br />
für gering. „Alle maßgeblichen Akteure haben<br />
die Wichtigkeit des Wandels erkannt<br />
und kämpfen um eine Führungsrolle.“<br />
Technologien waren zu allen Zeiten Treiber<br />
gesellschaftlichen und ökonomischen<br />
Fortschritts. Doch nur wenige haben die<br />
Sprengkraft, Spielregeln komplett über den<br />
Haufen zu werfen und die Machtverhältnisse<br />
auf den Märkten zu erschüttern. Ökonomen<br />
bezeichnen sie als disruptiv. Auf sie<br />
haben sich die Berater konzentriert.<br />
»<br />
ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />
60 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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1193 Milliarden Euro Geschäft verheißen Roboter und Co.<br />
Um 25 Prozent können die Innovationen das BIP erhöhen<br />
207 Milliarden soll das Internet der Dinge bringen<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 61<br />
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Technik&Wissen<br />
Wir stehen vor der totalen digitalen<br />
Transformation der Wirtschaft<br />
»<br />
In der Vergangenheit haben Erfindungen<br />
wie die Dampfmaschine, das Auto<br />
oder der Computer die gewohnten Verhältnisse<br />
auf den Kopf gestellt. Zuletzt haben<br />
Internet und Mobilfunk Büros und unser<br />
Privatleben radikal verändert. Seither sind<br />
wir jederzeit erreichbar und können praktisch<br />
an jedem Ort der Welt arbeiten.<br />
Doch nun tritt neben die allgegenwärtige<br />
Kommunikation von Mensch zu Mensch<br />
die noch viel umfassendere der Maschinen.<br />
Und das ist nur eine Facette. Die McKinsey-<br />
Fachleute erwarten diesmal einen ganzen<br />
Kanon globaler Umwälzungen, deren<br />
Wucht alles Bekannte in den Schatten stellt:<br />
Die Software verdrängt die Hardware;<br />
Roboter ersetzen Pfleger und Reinigungskräfte;<br />
autonom fahrende Autos bringen<br />
uns an Ziel, wir können währenddessen<br />
arbeiten oder uns im Internet spielend vergnügen;<br />
Expertensysteme diagnostizieren<br />
Krankheiten zuverlässiger als Ärzte und<br />
klären knifflige juristische Fragen schneller<br />
als jeder Anwalt.<br />
All das schafft und vernichtet Märkte<br />
und Jobs in einem nie da gewesenen Tempo.<br />
„Das wird ein Beben“, ist sich McKinsey-Mann<br />
Tschiesner sicher. „Unternehmen<br />
müssen sich unentwegt neu erfinden,<br />
um nicht den Anschluss zu verlieren.“<br />
Ist Deutschland auf diesen Epochenwechsel<br />
vorbereitet? Oder verharren wir<br />
„in einer gesellschaftlichen Sättigungshaltung“,<br />
die Tschiesner aktuell diagnostiziert?<br />
Reporter und Redakteure der WirtschaftsWoche<br />
sind ausgeschwärmt, um<br />
der Nation den Puls zu fühlen. Sie haben<br />
sich gründlich bei Forschern, Gründern<br />
und Unternehmen umgesehen, bei all denen,<br />
die Zukunft gestalten. Und sie haben<br />
geschaut, was die Politik tut, um den Wandel<br />
zu befördern. In vier Folgen analysieren<br />
sie, wie gut Deutschland für diesen radikalen<br />
Umbruch gerüstet ist.<br />
AUFSCHWUNG – ODER ABSTURZ?<br />
Den Auftakt bildet die McKinsey-Studie.<br />
Und der Blick auf die Liste der 15 wichtigsten<br />
disruptiven Technologien macht deutlich:<br />
Nicht neue chemische Mixturen oder<br />
noch leistungsstärkere Automotoren entscheiden<br />
über unser künftiges Wohlergehen.<br />
Die Frage ist vielmehr, ob wir bei der<br />
anstehenden totalen digitalen Transformation<br />
der Wirtschaft mithalten können.<br />
Von den acht Entwicklungen mit dem<br />
stärksten Einfluss auf unsere Wertschöpfung<br />
haben sechs unmittelbar mit diesem<br />
Megatrend zu tun: neben dem Internet der<br />
Dinge die Automatisierung von Wissensarbeit,<br />
das mobile Internet, die Analyse riesiger<br />
Datenmengen (Big Data), die Nutzung<br />
von Software, Rechen- und Speicherkapazität<br />
in der Datenwolke (Cloud Computing)<br />
und die Sicherheit der Datennetze.<br />
Zusammen haben sie das Potenzial, 2025<br />
ein Sechstel der gesamten hiesigen Wirtschaftsleistung<br />
auszumachen – oder sie<br />
um diesen Wert abstürzen zu lassen (siehe<br />
Tabelle rechts).<br />
Momentan ist die Gefahr groß, dass das<br />
Pendel ins Negative schlägt. Auch das zeigt<br />
die Studie. Mit Ausnahme des Internets der<br />
Dinge stufen die McKinsey-Analysten die<br />
Wettbewerbsstärke Deutschlands in den<br />
anderen Feldern mäßig bis niedrig ein.<br />
Den Grund für die Schwäche verrät der<br />
Blick auf die sechs entscheidenden Kriterien,<br />
von denen abhängt, ob wir das Potenzial<br />
der digitalen Umwälzung nutzen können.<br />
Fast durchweg fehlt es dort an global<br />
führenden Mittelständlern wie an einer dynamischen<br />
Gründerszene. Auch bei der<br />
Forschung hängt Deutschland zurück. Zudem<br />
engagiert sich der Staat zu wenig; und<br />
es mangelt an aktiven Technologie-Clustern<br />
aus starken Forschungseinrichtungen<br />
und Unternehmen, die zur Aufholjagd blasen<br />
würden (siehe Tabelle Seite 65).<br />
Die Fahne hoch halten wenige Konzerne.<br />
Allen voran die Walldorfer Softwareschmiede<br />
SAP, groß geworden mit ihrer<br />
Standardsoftware für die Unternehmenssteuerung.<br />
Doch Nullachtfünfzehn-Lösungen<br />
für alle verlieren rapide an Bedeutung.<br />
Deshalb investieren die Walldorfer verstärkt<br />
in maßgeschneiderte Spezialprogramme<br />
– etwa für intelligente Bohrroboter<br />
– oder in solche, die branchenspezifisch<br />
Markt- und Kundenrisiken analysieren<br />
und Gegenstrategien vorschlagen.<br />
Auch der Autozulieferer Bosch oder der<br />
Logistikkonzern DHL sind inzwischen gut<br />
darin, aus ihrem riesigen Fundus an Daten<br />
profitable digitale Dienstleistungen mit<br />
Kundennutzen zu generieren. Etwa ihren<br />
Kunden eine kostensparende Lieferkette<br />
vorzuschlagen. Aber in der Breite fehle es<br />
bei vielen Managern immer noch am Bewusstsein<br />
dafür, dass Daten der wichtigste<br />
Rohstoff der digitalen Ökonomie seien und<br />
derjenige gewinne, der sie am intelligentesten<br />
nutzt, sagt Tschiesner.<br />
Selbst in der Robotik, wo deutsche Hersteller<br />
noch den Takt vorgeben und anscheinend<br />
alles auf überlegene Mechanik<br />
und Elektronik ankommt, geraten die Gesetze<br />
des bisherigen Wirtschaftsmodells<br />
ins Wanken, erwächst den etablierten Anbietern<br />
unerwartete Konkurrenz.<br />
Für Thomas Bauernhansl, Leiter des<br />
Stuttgarter Fraunhofer-Instituts für Produktionstechnik<br />
und Automatisierung (IPA), ist<br />
es jedenfalls kein Zufall, dass der Web-<br />
Gigant Google gleich acht Roboterhersteller<br />
gekauft hat. Die Amerikaner würden, da<br />
ist er sich sicher, alles daran setzen, die aufwendige<br />
Programmierung und Steue-<br />
»<br />
ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />
62 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Denkende Maschinen, totale Vernetzung, smarte Dienste<br />
15 Technologien, die über Deutschlands Wohlstand entscheiden: ihr Markt- und Jobpotenzial – und wie gut wir dafür gerüstet sind<br />
Internet der Dinge<br />
Die Verknüpfung aller Gegenstände ermöglicht<br />
es, sie über Datennetze zu orten,<br />
zu kontrollieren und zu koordinieren<br />
Automatisierung Wissensarbeit<br />
Lernende Softwaresysteme erkennen<br />
Zusammenhänge, analysieren Probleme<br />
und ziehen daraus Schlussfolgerungen<br />
Fortgeschrittene Robotik<br />
Roboter bauen sich selbst, finden sich in<br />
der Umwelt zurecht und stellen sich auf<br />
den Menschen ein<br />
Alternative Antriebe<br />
Elektro-, Brennstoffzellen- und Wasserstoffantrieb<br />
oder Hybridlösungen<br />
Mobiles Internet<br />
Smartphone, Tablet-PC oder Datenbrille<br />
verbinden Nutzer jederzeit und überall mit<br />
dem Internet<br />
Big Data<br />
Analyse riesiger Datenmengen, die Sensoren,<br />
Rechner, Handys, intelligente Zähler<br />
und Autos ständig sammeln und übermitteln<br />
Cloud Computing<br />
Aus der Datenwolke können Unternehmen<br />
und Private via Internet Software, Rechen-,<br />
Speicher- und Netzwerkkapazität be-<br />
Cybersecurity<br />
Sicherheit und Schutz digitaler Daten gegen<br />
Zugriff durch unbefugte Dritte, etwa Konkurrenten,<br />
Kriminelle und Geheimdienste<br />
(Teil-)autonomes Fahren<br />
Pkws, Lkws und Busse, die dem Fahrer ganz<br />
oder teilweise das Lenken abnehmen und<br />
selbstständig durch den Verkehr navigieren<br />
Genomik<br />
Kombination aus Gensequenzierungstechniken,<br />
Big-Data-Analysen und gezielten<br />
Eingriffen ins Erbgut<br />
Saubere Energien<br />
Erzeugung von Strom und Wärme aus<br />
regenerativen Energiequellen wie Sonne,<br />
Wind und Biomasse<br />
Hochleistungswerkstoffe<br />
Materialien, die Forscher im Labor mit<br />
überragenden Eigenschaften und Funktionen<br />
ausstatten, etwa Hitzebeständigkeit<br />
3-D-Druck<br />
Fertigungsverfahren, bei dem aus einem<br />
digitalen Modell Schicht für Schicht ein<br />
reales Objekt entsteht<br />
Energiespeicher<br />
Ökostrom wird in Batterien, Salzkavernen,<br />
Pumpspeichern oder, umgewandelt zu<br />
künstlichem Erdgas, zwischengelagert<br />
Wasseraufbereitung<br />
Technologien, die Abwässer reinigen, Giftstoffe<br />
entfernen und selbst in extremen<br />
Trockengebieten Trinkwasser bereitstellen<br />
1 nominales Bruttoinlandsprodukt, McKinsey schätzt es im Jahr 2025 für Deutschland auf 4350 Milliarden Euro gegenüber 2738 Milliarden Euro heute; Zahlen gerundet;<br />
Umrechnung Dollar/Euro zum Kurs 30.4.<strong>2014</strong>; Quelle: McKinsey<br />
Wichtige Anwendungen<br />
Intelligente Steuerung globaler Logistikketten<br />
und des Verkehrs; medizinische<br />
Ferndiagnosen; Gebäudeautomation;<br />
sich selbst optimierende Fabriken<br />
Erledigung von Aufgaben in Büro und<br />
Verwaltung; Abwicklung von Dienstleistungen;<br />
Erstellung von Entscheidungsvorlagen;<br />
medizinische Diagnosen<br />
Industrielle Produktion; Chirurgie;<br />
Pflege; vielseitige Helfer im Alltag, etwa<br />
beim Putzen oder Rasenmähen<br />
Privat und gewerblich genutzte Fahrzeuge;<br />
Fuhrparks; Busse; Schiffe und<br />
Flugzeuge<br />
E-Commerce; Online-Lernen; Telemedizin,<br />
z. B. Überwachung des Gesundheitszustands<br />
chronisch Kranker; Mobile<br />
Payment; Gastronomietipps<br />
Angebot individueller Produkte und<br />
Dienstleistungen; Börsenhandel;<br />
Marktprognosen; Entdeckung neuer<br />
Geschäftsmodelle<br />
Programme, IT-Infrastruktur und<br />
Internet-Plattformen werden gemietet<br />
statt gekauft – bedarfsgerecht und<br />
technisch auf dem neuesten Stand<br />
Schutz von Industrieanlagen und<br />
Kraftwerken vor Spionage und Sabotage;<br />
Verhinderung des Missbrauchs<br />
persönlicher und Unternehmensdaten<br />
Computergesteuerter Verkehrsfluss:<br />
Fahrzeuge warnen sich vor Staus und<br />
Unfallgefahren; Nutzung mobiler Internet-Dienste<br />
während der Fahrt<br />
Neue Medikamente etwa gegen Krebs;<br />
personalisierte Medizin; Entwicklung<br />
ergiebiger Nutzpflanzen, z. B. für Biokraftstoffe<br />
Blockheizkraftwerke für Industrie<br />
und Privathaushalte; Solaranlagen;<br />
Windparks; Erdwärmesonden;<br />
Biogasherstellung; Gezeitenkraftwerke<br />
Leichte und dennoch stabile Bauteile<br />
aus Carbon für Autos und Flugzeuge;<br />
sterile Kunststoffe; besonders leitfähige<br />
Metalle und Halbleiter<br />
Individualisierte Produkte wie Schmuck<br />
und Brillen; Ersatzteile; passgenaue Prothesen;<br />
künstliche Organe; High-Tech-<br />
Bauteile wie Turbinenschaufeln<br />
Stabilisierung der Stromnetze; Reservekapazitäten;<br />
unabhängige Energieversorgung<br />
von Kommunen, Privathaushalten<br />
und Unternehmen; Elektromobilität<br />
Meerwasserentsalzung; Kläranlagen;<br />
Gewässersanierung; geschlossene Wasserkreisläufe<br />
in Fabriken; Trinkwassergewinnung<br />
etwa mittels Membranen<br />
Einfluss auf das BIP 1<br />
2025 (in Mrd. Euro),<br />
Anteil am BIP<br />
207 Milliarden<br />
= 4,8 Prozent<br />
192 Milliarden<br />
= 4,4 Prozent<br />
175 Milliarden<br />
= 4,0 Prozent<br />
111 Milliarden<br />
= 2,6 Prozent<br />
91 Milliarden<br />
= 2,1 Prozent<br />
82 Milliarden<br />
= 1,9 Prozent<br />
73 Milliarden<br />
= 1,7 Prozent<br />
71 Milliarden<br />
= 1,6 Prozent<br />
59 Milliarden<br />
= 1,4 Prozent<br />
37 Milliarden<br />
= 0,9 Prozent<br />
28 Milliarden<br />
= 0,6 Prozent<br />
25 Milliarden<br />
= 0,6 Prozent<br />
17 Milliarden<br />
= 0,4 Prozent<br />
16 Milliarden<br />
= 0,4 Prozent<br />
9 Milliarden<br />
= 0,2 Prozent<br />
Effekt auf Arbeitsplätze<br />
Wettbewerbsstärke<br />
Deutschlands<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 63<br />
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Technik&Wissen<br />
»<br />
rung der Maschinen durch ein einfaches,<br />
intuitives Bediensystem radikal zu vereinfachen.<br />
So wie sie es bei Smartphones<br />
schon gemacht haben. Dann könne fast jeder<br />
mit so einem Gefährten umgehen – ob<br />
Fabrikarbeiter oder Privatperson. Das erweitere<br />
den Markt enorm. „Unsere etablierten<br />
Roboterhersteller werden sich wundern,<br />
wenn Google in zwei Jahren die Rollladen<br />
hochzieht“, sagt Bauernhansl voraus.<br />
„Da wächst ein ernsthafter Konkurrent heran“<br />
(siehe Seite 66).<br />
ZWEIKAMPF MIT DEN USA<br />
Bei allen Schwächen – Grund zur Panik besteht<br />
keiner. Denn bei der Basis allen Wirtschaftens,<br />
der Produktion und den Produkten<br />
selbst, ist Deutschland im Vorteil. Kein<br />
zweites Land verdient – relativ gesehen –<br />
annähernd so viel Geld mit hochwertigen<br />
Technologien wie wir: Autos, Maschinen,<br />
chemische Grund- und Spezialstoffe. 8,1<br />
Prozent der gesamten Wertschöpfung sind<br />
es hier – die USA schaffen gerade 1,7 Prozent<br />
(siehe Grafik Seite 69). Die Statistik<br />
zeigt aber auch: Bei wissensintensiven<br />
Dienstleistungen sind Amerika und selbst<br />
Großbritannien uns weit voraus.<br />
Wollen wir unseren Vorsprung bei der<br />
Hardware verteidigen, müssen wir den<br />
Rückstand bei den digitalen Diensten dringend<br />
verkürzen. Die USA treiben ihre Reindustrialisierung<br />
massiv voran, beflügelt<br />
von konkurrenzlos niedrigen Energiepreisen<br />
und einem Milliarden-Dollar-Programm<br />
von Präsident Barack Obama.<br />
Gewinnen wird den Zweikampf, davon<br />
ist McKinsey-Mann Tschiesner überzeugt,<br />
wer die Schnittstelle zum Kunden besetzt.<br />
Fahren zum Beispiel Autos erst einmal autonom,<br />
entscheidet nicht mehr in erster<br />
Linie die PS-Stärke über den Kauf eines<br />
Wagens. Sondern wer das bessere Navigationssystem<br />
anbietet, um schnell das Ziel<br />
zu erreichen. Dabei könnte dann Google<br />
statt Volkswagen im Vorteil sein.<br />
Dreh- und Angelpunkt wird mithin die<br />
Hoheit über die Daten. Die liegt momentan<br />
meist bei Amazon, Facebook und<br />
Google. Um sie ihnen zu entreißen, drängt<br />
Fraunhofer-Präsident Reimund Neugebauer<br />
zum Aufbau eines europäischen<br />
Google-Pendants. „Das ist die einzige<br />
Chance, die Kontrolle zurückzugewinnen“<br />
(siehe Interview Seite 68).<br />
Lesen Sie nun, was Deutschland in den<br />
fünf ökonomisch wichtigsten Zukunftstechnologien<br />
zu bieten hat und wie es auf<br />
die Siegerstraße kommen kann.<br />
dieter.duerand@wiwo.de<br />
INNOVATIONEN<br />
Die disruptiven fünf<br />
Von Industrie 4.0 bis zum mobilen Internet: welche Technologien<br />
die deutsche Wirtschaft am stärksten verändern.<br />
Internet der Dinge<br />
Auf dem Weg<br />
an die Spitze<br />
Im globalen Geschäft mit komplexen Maschinen<br />
macht deutschen Unternehmen<br />
so leicht niemand etwas vor. Doch beim<br />
wichtigsten Innovations- und Wachstumstreiber<br />
der vergangenen Dekaden, der Informationstechnik,<br />
rangiert Deutschlands<br />
Industrie weit abgeschlagen hinter den<br />
Konzernen und Start-ups der USA.<br />
Noch. Glaubt man den Prognosen der<br />
Berater von McKinsey, bietet ausgerechnet<br />
die jüngste Evolutionsstufe der Digitalisierung<br />
– das Internet der Dinge – die Chance,<br />
den Rückstand nicht nur aufzuholen: Die<br />
Verknüpfung von Maschinen und Geräten<br />
könnte Deutschland bis 2025 sogar weltweit<br />
an die Spitze katapultieren.<br />
Denn jetzt werden sie abgesteckt, die<br />
Claims für innovative Hard- und Softwareangebote<br />
sowie Internet-Dienste. Es geht<br />
um Werkstücke, die auf autonom arbeitenden<br />
Produktionsstraßen den Maschinen<br />
vorgeben, wie sie die Bauteile montieren<br />
sollen. Um Bagger und Lastwagen, die auf<br />
Baustellen selbst koordinieren, wer wann<br />
welche Baumaterialien abholt oder abliefert.<br />
Oder um Autos, die einander vor Gefahrenstellen<br />
warnen und bremsen, bevor<br />
der Fahrer sehen kann, was los ist.<br />
Wo Internet und Produktion verschmelzen,<br />
komplizierte Maschinen oder schlichte<br />
Haushaltsgegenstände ohne menschliches<br />
Zutun effizienter produzieren oder<br />
mehr Lebensqualität im Alltag ermöglichen,<br />
können deutsche Schlüsselbranchen<br />
wie Auto- und Maschinenbau, Elektrooder<br />
Medizintechnik reüssieren.<br />
Die neue Weltsprache der Produktion<br />
soll aus Deutschland kommen<br />
ILLUSTRATIONEN: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />
64 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Diese Chance wollen Politik und Wirtschaft<br />
unbedingt nutzen: Unter dem<br />
Schlagwort Industrie 4.0 treiben sie die Verschmelzung<br />
von IT- und Produktionswelt<br />
voran, koordinieren Forschung und Förderung<br />
und definieren einheitliche Standards.<br />
Das ist dringend nötig, denn laut McKinsey<br />
sind Datenschutzbedenken, rechtliche Beschränkungen<br />
und unzureichende staatliche<br />
Regulierung noch Hemmschuhe bei<br />
der Nutzung des Internets der Dinge.<br />
DROHT EIN FÖRDERDESASTER?<br />
„Die neue Weltsprache der Produktion<br />
muss aus Deutschland stammen“, trommelt<br />
deshalb auch Hartmut Rauen, Geschäftsführer<br />
beim Verband Deutscher<br />
Maschinen- und Anlagenbau (VDMA).<br />
Seine Organisation, der Zentralverband<br />
Elektrotechnik- und Elektronikindustrie,<br />
sowie der Spitzenverband der IT-Branche,<br />
Bitkom, betreiben ein gemeinsames Industrie-4.0-Projektbüro,<br />
um ihre Mitgliedsunternehmen<br />
zu sensibilisieren. Führende<br />
Industriekonsortien wie die M2M-Alliance<br />
propagieren branchenübergreifend das<br />
Geschäft mit der Maschine-zu-Maschine-<br />
Kommunikation – erst in Deutschland,<br />
nun auch international.<br />
Zugleich investiert der Bund im Rahmen<br />
seiner High-Tech-Strategie in den nächsten<br />
Jahren 200 Millionen Euro allein in die Förderung<br />
internetbasierter Produktionssysteme<br />
und Dienste. Zwar zeigen Förderdesaster<br />
wie bei der Fotovoltaik, dass staatliche<br />
Programme nicht per se zu erfolgreichen<br />
Produkten und Marktführerschaft<br />
führen. Fachleute fordern daher, bei der<br />
Vernetzung der Maschinen nicht Produktentwicklung<br />
zu alimentieren, sondern Forschung<br />
an Technologiegrundlagen.<br />
Doch koordinierte Industriepolitik kann<br />
auch funktionieren. Das belegen erfolgreiche<br />
Forschungsprogramme wie etwa der<br />
2013 abgeschlossene Großversuch zum<br />
vernetzten Fahren, SimTD. Er hat Autoindustrie<br />
und Wissenschaft ermöglicht, unter<br />
Realbedingungen Verfahren zu entwickeln,<br />
mit denen sich Verkehrsfluss und<br />
-sicherheit deutlich verbessern lassen.<br />
Nun geht es darum, den Kompetenzvorsprung<br />
zu nutzen. Denn noch ist offen, ob<br />
<strong>vom</strong> Internet der Dinge eher Unternehmen<br />
profitieren, die dank Technik-Know-how<br />
die Produktwelt dominieren. Oder eben<br />
doch – wie im klassischen Internet – jene,<br />
die die Mehrwertdienste dafür liefern?<br />
Droht etwa Autokonzernen das Los der<br />
PC-Hersteller, die – mit minimalen Margen<br />
– nur noch die Hardware liefern, während<br />
Bedingt fortschrittsbereit<br />
Bei vielen der marktrelevanten Zukunftstechnologien schwächelt Deutschland<br />
Internet der Dinge<br />
Hochleistungswerkstoffe<br />
Fortgeschrittene Robotik<br />
Alternative Antriebe<br />
Saubere Energie<br />
(Teil-)autonomes Fahren<br />
Genomik<br />
3-D-Druck<br />
Energiespeicher<br />
Wasseraufbereitung<br />
Wissensarbeit<br />
Mobiles Internet<br />
Big Data<br />
Cloud Computing<br />
Cybersecurity<br />
Staatliche<br />
Unterstützung<br />
: = stark;- = schwach; Quelle: McKinsey<br />
die Googles oder IBMs das margenstarke<br />
Software- und Dienstegeschäft dominieren?<br />
Projekte wie die selbstfahrenden Autos<br />
von Google zeigen, wo die heutigen Internet-Giganten<br />
(auch) ihre Zukunft sehen.<br />
Der Kampf um das Internet der Dinge<br />
beginnt jetzt. Wer als Erster Regeln und<br />
Standards in der Wirtschaftswelt vernetzter<br />
Maschinen definiert, wird ihn gewinnen.<br />
thomas.kuhn@wiwo.de<br />
Wissensarbeit<br />
Zu lange<br />
gepennt<br />
Jeder Schreibtischarbeiter kennt Microsoft<br />
Office, aber nur wenige kennen Microsoft<br />
Oslo. Dabei könnte das neue Programm,<br />
das der Softwarekonzern ab Herbst anbieten<br />
will, die Büroarbeit tief greifend verändern.<br />
Denn mit ihm erhält jeder Nutzer einen<br />
eigenen Assistenten – virtuell zwar,<br />
aber dafür rund um die Uhr hilfsbereit. Vor<br />
einer Besprechung etwa sucht Oslo passende<br />
Hintergrundartikel im Internet, zeigt<br />
relevante Blogeinträge von Kollegen an<br />
und listet die wichtigsten E-Mails auf.<br />
Die neue Bürosoftware ist ein Vorgeschmack<br />
darauf, wie radikal sich Wissens-<br />
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Weltklasse-<br />
Forschungsinstitute<br />
Klassenprimus:<br />
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Mitläufer<br />
Nachsitzer<br />
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Aktive<br />
Technologie-<br />
Cluster<br />
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Dynamische<br />
Gründerszene<br />
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Mittelständische<br />
Weltmarktführer<br />
arbeit in den kommenden Jahren verändern<br />
wird. „Computer agieren künftig wie<br />
Butler“, sagt Andreas Dengerl, Leiter des<br />
Bereichs Wissensmanagement am Deutschen<br />
Forschungszentrum für Künstliche<br />
Intelligenz (DFKI) in Kaiserslautern. „Sie<br />
lernen stetig dazu und bieten ihren Nutzern<br />
situationsbezogen die passenden Informationen<br />
an.“ Damit werden viele Aufgaben,<br />
die bisher eine Sekretärin erledigt<br />
hat – Recherchen anstellen, Berichte verfassen<br />
– automatisiert.<br />
Nicht nur Recherchen, sondern Wissensarbeit<br />
jeder Art steht vor einer Welle<br />
der Digitalisierung. Lernende Maschinen<br />
ersetzen menschliche Gehirne: Sie bewerten<br />
Finanzkennzahlen, beantworten Kundenanfragen<br />
oder erstellen nach Prüfung<br />
Abertausender Studien medizinische Diagnosen.<br />
Das wird möglich, weil Computer<br />
inzwischen riesige Datenmengen, auch Big<br />
Data genannt, speichern und blitzschnell<br />
analysieren – und mithilfe intelligenter<br />
Software den Sinn komplizierter Texte und<br />
Zusammenhänge erschließen.<br />
Die gute Nachricht: Für die deutsche<br />
Wirtschaft ist der Trend zum Roboter-Büro<br />
ein potenzielles Milliardengeschäft. Auf<br />
265 Milliarden Dollar taxiert McKinsey den<br />
möglichen Beitrag intelligenter Software<br />
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Technologisch<br />
führende<br />
Konzerne<br />
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WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 65<br />
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Technik&Wissen<br />
Der Robotik-Weltmarkt wächst laut<br />
Prognosen jährlich um sechs Prozent<br />
»<br />
zum deutschen BIP im Jahr 2025. Die<br />
schlechte Nachricht: Bisher sieht es nicht<br />
so aus, als würde die deutsche Informationstechnikbranche<br />
dieses Potenzial auch<br />
voll erschließen. Im Rennen der IT-Riesen<br />
liegt Deutschland derzeit weit hinter den<br />
Vereinigten Staaten zurück. Virtuelle Assistenten<br />
werden vor allem im englischsprachigen<br />
Raum eingesetzt – und auch dort<br />
entwickelt.<br />
Lichtblicke sind Forschungseinrichtungen<br />
wie das DFKI, an denen Wissenschaftler<br />
künstliche Intelligenz ergründen und<br />
erschaffen. Im Projekt Argumentum etwa<br />
entwickeln die Kaiserslauterer eine Software<br />
für Juristen, die binnen Sekunden in<br />
Handbüchern, Fachzeitschriften und im<br />
Internet Argumente für einen bestimmten<br />
Streitfall findet – eine Arbeit, für die Menschen<br />
bisher viele Tage recherchierten.<br />
ZU WENIG GRÜNDER<br />
Allerdings: Nur wenige Forschungsergebnisse,<br />
bemängelt McKinsey, führen auch<br />
zu Unternehmensgründungen, die Produkte<br />
daraus entwickeln. Und so bleibt als<br />
IT-Konzern von Weltrang einzig das Walldorfer<br />
Softwareunternehmen SAP, das digitale<br />
Werkzeuge für Wissensarbeiter entwickelt<br />
und rund um den Globus vertreibt.<br />
Mit seiner Plattform Hana können Unternehmen<br />
aus Abertausenden Dokumenten,<br />
Web-Seiten oder Tabellen binnen Sekunden<br />
Trends herausfiltern und Prognosen<br />
anstellen, etwa darüber, wie oft sich ein<br />
bestimmtes Produkt verkaufen wird, welche<br />
Mengen an Rohstoffen in der Produktion<br />
benötigt werden oder welches Medikament<br />
für welchen Patienten geeignet ist.<br />
Dem Beispiel SAP müssen in Deutschland<br />
weitere folgen. Sonst schafft der Computer<br />
bis 2025 weniger neue Jobs, als er alte<br />
überflüssig macht.<br />
andreas.menn@wiwo.de<br />
Roboter<br />
Deutsche Mittelständler<br />
vorn<br />
Timo Boll schwitzt. Der erfolgreichste<br />
deutsche Tischtennisspieler liegt 0:6 zurück,<br />
es ist ein mieses Match. Dabei ist sein<br />
Gegner kein Sportler, nicht mal ein<br />
Mensch. Boll spielt gegen einen Roboter,<br />
einen Arm aus Stahl, der vor der Tischtennisplatte<br />
postiert ist. Er schlägt wie ein Karate-Kämpfer<br />
zu: schnell, kraftvoll, präzise.<br />
Und trifft jeden Ball.<br />
Bolls Kampf gegen die Maschine ist inszeniert<br />
– für einen Werbespot. Produziert<br />
hat ihn der Roboterhersteller Kuka aus<br />
Augsburg. Im März hat Kuka eine Fabrik in<br />
China eröffnet, dem wichtigsten Wachstumsmarkt<br />
für Robotik. Der neue Werbeclip<br />
soll potenziellen Kunden dort zeigen,<br />
wie gut die Maschinen der Augsburger<br />
sind.<br />
Roboter sind gefragt, nicht nur in China.<br />
Denn die smarten Maschinen helfen, Kosten<br />
zu sparen, die Qualität der Fertigung zu<br />
steigern und weniger Strom zu verbrauchen.<br />
Automatisierung macht Laptops billiger,<br />
Handys robuster, Flugzeuge leichter.<br />
Und weil sich in Wachstumsländern wie<br />
China immer mehr Menschen diese Produkte<br />
leisten können, werden dort Roboter<br />
in den Fabriken immer wichtiger.<br />
VERSTÄNDNIS FÜR KUNDEN<br />
Pro Jahr wird der Weltmarkt Prognosen zufolge<br />
um sechs Prozent wachsen. Und<br />
schon heute stammt mehr als jeder zehnte<br />
Roboter weltweit aus deutscher Herstellung.<br />
20 000 Stück verkauften Mittelständler<br />
wie Kuka und Co., die hiesige Produktion<br />
wächst jährlich um 14 Prozent. Nur die<br />
Japaner sind ähnlich erfolgreich.<br />
Die Vorzüge der Deutschen: hohe Qualität,<br />
zahlreiche Innovationen und ein tiefes<br />
Verständnis für die Bedürfnisse der Kunden,<br />
24-Stunden-Service inklusive. Auch<br />
die sehr gute Ausbildung der Ingenieure<br />
hilft der Branche, sich weltweit an der Spitze<br />
zu behaupten. Zudem profitieren die<br />
Hersteller von der Stärke der hiesigen Industrie<br />
– sie setzt seit Jahren auf Automatisierung,<br />
um Personalkosten zu sparen. Einer<br />
der größten Abnehmer für deutsche<br />
Roboter ist die hiesige Autobranche.<br />
ANGRIFF VON GOOGLE<br />
Sich auf den Erfolgen auszuruhen könnte<br />
indes gefährlich werden. Denn mit Google<br />
drängt ein mächtiger Internet-Konzern in<br />
den Markt – acht Robotik-Unternehmen<br />
haben die Kalifornier kürzlich gekauft. Zudem<br />
werden die Maschinen für völlig neue<br />
Zwecke eingesetzt: Chirurgen nutzen sie<br />
für Operationen, Logistiker für den Warentransport,<br />
Verbraucher zum Staubsaugen.<br />
Und so liegt die Zukunft nicht allein in<br />
schweren Industrierobotern – sondern in<br />
leichten, kleineren Maschinen, die mit<br />
Menschen in Fabriken, Werkstätten oder<br />
Laboren zusammenarbeiten. Dieser neue<br />
Typ Helfer lässt sich per Tablet oder<br />
Sprachsteuerung programmieren. Er erfasst<br />
mit Sensoren die Umwelt, findet von<br />
selbst Werkzeuge, erkennt Hindernisse<br />
und wird Menschen nicht gefährlich.<br />
Auch Kuka setzt auf den Volksroboter:<br />
Kürzlich haben die Augsburger einen Robo-Arm<br />
namens LBR iiwa vorgestellt, den<br />
Arbeiter für verschiedenste Aufgaben nutzen<br />
können. Ob er auch für das Tischtennistraining<br />
eingesetzt wird – wer weiß?<br />
andreas.menn@wiwo.de<br />
ILLUSTRATION: THOMAS FUCHS; KRISTINA DÜLLMANN<br />
66 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Alternative Antriebe<br />
Forscher<br />
am Steuer<br />
Stoppen. Anfahren. Stoppen. Anfahren. Bis<br />
zu 200 Mal am Tag und bis zu 300 Tage im<br />
Jahr. Waren und Pakete in der Innenstadt<br />
auszuliefern ist für Lieferwagen ein Härtetest<br />
– und ihre lauten und stinkenden Dieselmotoren<br />
sind für die Anwohner ein Ärgernis.<br />
In Bonn ist das anders. Dort fahren<br />
rund 20 gelbe Transporter der Deutschen<br />
Post DHL dank Elektroantrieb Pakete und<br />
Briefe lautlos und abgasfrei aus. Bis Anfang<br />
2016 sollen es innerhalb des Pilotprojektes<br />
sogar 141 Fahrzeuge werden, die dann pro<br />
Jahr voraussichtlich rund 500 Tonnen des<br />
klimaschädlichen Gases Kohlendioxid<br />
(CO 2 ) einsparen.<br />
Entwickelt und gebaut hat die gelben<br />
Leisetreter aber nicht ein etablierter Autohersteller<br />
– von denen holte sich die Post<br />
2009 etliche Absagen –, sondern die<br />
Streetscooter GmbH und Institute der<br />
Rheinisch-Westfälischen Technischen<br />
Hochschule (RWTH) in Aachen.<br />
Die sauberen Lieferfahrzeuge sind ein<br />
anschauliches Beispiel für die Leistungsstärke<br />
der deutschen Forscher und Entwickler<br />
bei alternativen Antrieben – und einer<br />
der großen Pluspunkte, wenn es um<br />
die Nutzung dieser Zukunftstechnologie<br />
geht. Auch an staatlicher Unterstützung<br />
mangelt es nicht, und die deutschen Autohersteller<br />
und -zulieferer gelten schon<br />
heute als führend. Gute Aussichten die 111<br />
Milliarden Euro Umsatz, den die McKinsey-Berater<br />
2025 für realistisch halten,<br />
auch tatsächlich zu erzielen.<br />
KONKURRENZ FÜR KONZERNE<br />
Der Streetscooter ist ein erster Schritt in<br />
diese Richtung. Er ist mittlerweile solch ein<br />
Erfolg, dass auch die Städteregion Aachen<br />
noch in diesem Jahr ein Dutzend der Elektrowagen<br />
bestellen und im Lieferverkehr<br />
einsetzen will. Überzeugt haben sie die<br />
niedrigen Kosten des 4,60 Meter langen<br />
Fahrzeugs mit einer Reichweite von bis zu<br />
<strong>12</strong>0 Kilometern. So ist der Streetscooter besonders<br />
reparaturfreundlich. Im Lieferverkehr<br />
kommt es schnell zu kleinen Beulen<br />
und Kratzern. Deshalb ist die Karosserie im<br />
Bereich der Türen, Front und des Hecks<br />
modular aufgebaut. Bei Bagatellschäden<br />
lassen sich die Teile so kostengünstig und<br />
schnell reparieren.<br />
Wichtigster Partner für das junge Unternehmen<br />
Streetscooter ist aber weiter die<br />
Post. Der Bonner Konzern verfügt über eine<br />
Flotte von rund 80 000 Fahrzeugen, die<br />
er modernisieren will. Das ehrgeizige Ziel:<br />
Bis 2020 möchte die Post ihre CO 2 -Bilanz<br />
gegenüber 2007 um 30 Prozent verbessern.<br />
Wenn die Streetscooter-Fahrzeuge dazu<br />
entscheidend beitragen können, bedeutet<br />
das auch für das Aachener Unternehmen<br />
so etwas wie einen Ritterschlag.<br />
Einer der Treiber des Projekts ist Achim<br />
Kampker, 40-jähriger Professor für Produktionsmanagement<br />
an der RWTH. Er will<br />
unter anderen beweisen, dass sich kleine<br />
Serien für spezielle Einsatzzwecke, wie etwa<br />
der Lieferwagen für die Post, kostengünstig<br />
in Deutschland entwickeln und fertigen<br />
lassen. Mehr als 60 Mitarbeiter umfasst<br />
die Streetscooter GmbH mittlerweile –<br />
und wächst weiter.<br />
Die kleine Firma rüttelt damit auch an<br />
den großindustriellen Strukturen der Autoindustrie,<br />
die mit mehr als zwei Billionen<br />
Dollar Gesamtumsatz jährlich zu den<br />
größten Branchen weltweit zählt.<br />
juergen.rees@wiwo.de<br />
Mobiles Internet<br />
Gefangen in der<br />
Warteschleife<br />
Wer hätte gedacht, dass penetrante Fantasiefiguren<br />
wie Crazy Frog oder der Hase<br />
Schnuffel einmal so wichtig für den Standort<br />
Deutschland würden? Mit diesen und<br />
anderen Figuren warben vor rund zehn<br />
Jahren die Brüder Oliver, Marc und Alexander<br />
Samwer im Fernsehen für die Handyklingeltöne<br />
ihrer Firma Jamba. Das Trio<br />
gab damals mehr Geld für TV-Spots aus als<br />
der Fast-Food-Riese McDonald’s – eine Investition,<br />
die sich auszahlte: Die Gründer<br />
verkauften den Klingeltonanbieter für 273<br />
Millionen Dollar an den US-Kommunikationskonzern<br />
Verisign.<br />
Das Geschäft verschaffte ihnen die nötigen<br />
Mittel, um ihr Internet-Imperium aus<br />
dem Boden zu stampfen. Ihre Firmenschmiede<br />
Rocket Internet ist heute ein<br />
Zentrum der Berliner Gründerszene. Die<br />
Gebrüder schicken immer wieder neue<br />
Online-Firmen wie den Modehändler Zalando<br />
an den Start, dessen Kollektionen<br />
Kunden zunehmend auch mobil ansteuern.<br />
Andere Unternehmen setzen gleich<br />
ganz auf das mobile Internet. Payleven<br />
etwa macht Handys zu Kreditkartenlesern.<br />
Vor allem aber ist Rocket die inoffizielle<br />
deutsche Gründeruni. Dutzende ehemalige<br />
Mitarbeiter der Talentschmiede haben<br />
eigene Start-ups gegründet. Einer der er-»<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 67<br />
© Handelsblatt GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Zum Erwerb weitergehender Rechte wenden Sie sich bitte an nutzungsrechte@vhb.de.
Technik&Wissen<br />
»<br />
folgreichsten hat sein Handwerk sogar<br />
noch bei Jamba gelernt. Sieben Jahre war<br />
Jens Begemann bei der Klingeltonfirma,<br />
2009 gründete er dann Wooga. Heute ist<br />
das Unternehmen mit 250 Mitarbeiter einer<br />
der führenden Entwickler von Computerspielen<br />
für Smartphones und Tablets.<br />
ZAUDERER UND ZÖGERER<br />
Die dynamische Gründerszene ist laut<br />
McKinsey ein deutscher Trumpf im Bereich<br />
mobiles Internet. Allerdings ist die<br />
Vielfalt an Start-ups auch die einzige deutsche<br />
Stärke, an global führenden Großunternehmen<br />
oder Mittelständlern mangelt<br />
es dagegen. Auch bei den Aktivitäten von<br />
Forschungseinrichtungen und staatlicher<br />
Förderung gibt es Nachholbedarf.<br />
Die Berater bescheinigen dem Standort<br />
Deutschland daher eine geringe Wettbewerbsfähigkeit.<br />
Ein wesentlicher Grund:<br />
Datenschutzbedenken und rechtliche Beschränkungen;<br />
das mobile Internet werde<br />
daher nur langsam eingeführt. Zudem gebe<br />
es keine eigene Technologiehoheit.<br />
Dazu passend haftet selbst den erfolgreichsten<br />
deutschen Gründern das Image<br />
eines Klon-Kriegers an. Die Samwers sind<br />
dafür berüchtigt, erfolgreiche Geschäftsmodelle<br />
aus den USA zu kopieren.<br />
Letztlich ist die Zahl global erfolgreicher<br />
Start-ups aus Deutschland begrenzt. Zu<br />
den international relevanten Entwicklern<br />
von Smartphone-Apps gehören etwa Eye-<br />
Em, Konkurrent der Bilderplattform Instagram,<br />
oder 6Wunderkinder mit ihren<br />
To-do-Listen Wunderlist. Erst kürzlich<br />
benannten die Macher von iLiga ihre beliebte<br />
Fußball-App in Onefootball um. Damit<br />
wollen sie jenseits von Deutschland<br />
noch erfolgreicher werden – schon jetzt<br />
stammen 80 Prozent des Wachstums aus<br />
dem Ausland.<br />
Zwar wächst allmählich das Interesse<br />
ausländischer Investoren und Konkurrenten<br />
an den hiesigen Unternehmen. So gab<br />
es in diesem Jahr schon einige Finanzierungsrunden<br />
in zweistelliger Millionenhöhe.<br />
Doch der große Exit eines deutschen<br />
Start-ups mit einer milliardenschweren<br />
Bewertung lässt noch auf sich warten.<br />
Vorläufige Höhepunkte sind Übernahmen<br />
wie der Kauf von Skobbler, einem Berliner<br />
Entwickler von Karten- und Navigations-Apps<br />
für fast 24 Millionen Dollar durch<br />
einen US-Konkurrenten. Umgekehrt<br />
scheint kein deutscher Anbieter das Zeug<br />
dazu zu haben, durch Zukäufe zu einem<br />
globalen Marktführer aufzusteigen.<br />
oliver.voss@wiwo.de<br />
WETTBEWERB | INTERVIEW Reimund Neugebauer<br />
»Endlich loslaufen«<br />
Der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft über die Lehren aus der<br />
NSA-Affäre – und warum er ein europäisches Google fordert.<br />
Herr Neugebauer, Kanzlerin Angela<br />
Merkel hat jüngst gewarnt, Deutschland<br />
könne in Sachen Innovation den Anschluss<br />
verlieren. Ist die Lage so dramatisch?<br />
Wenn es so schlimm wäre, würden uns<br />
nicht immer wieder Politiker aus dem Ausland<br />
besuchen. Sie wollen jedes Mal wissen,<br />
warum Wissenschaft und Wirtschaft<br />
in unserem Innovationssystem so erfolgreich<br />
zusammenarbeiten. Erst kürzlich waren<br />
die US-Wirtschaftsministerin Penny<br />
Pritzker und die südkoreanische Präsidentin<br />
Park Geun-hye bei uns. Die französische<br />
Regierung hat Vertreter des Bundesforschungsministeriums<br />
und von Fraunhofer<br />
eingeladen, weil sie etwas Ähnliches<br />
wie die High-Tech-Strategie des Bundes<br />
einführen will. Das zeigt: Unser methodisches<br />
Vorgehen ist sehr gut.<br />
Wir brauchen uns also nicht zu sorgen?<br />
Wir sind im internationalen Vergleich sehr<br />
leistungsfähig. Das belegt auch die Statistik:<br />
Unser Anteil forschungsintensiver Waren<br />
am Weltmarkt ist, bezogen<br />
auf die Bevölkerungsgröße, der<br />
höchste der Welt. Wir liegen hier<br />
vor Japan, den USA und China.<br />
Bei wissensintensiven Diensten<br />
und bezogen auf absolute Umsätze<br />
sieht das Bild anders aus<br />
(siehe Grafik). Haben wir bereits<br />
an Innovationskraft verloren?<br />
Audio<br />
In unserer App-<br />
<strong>Ausgabe</strong> können<br />
Sie hier Reimund<br />
Neugebauer im<br />
Original hören<br />
DER UMFORMER<br />
Neugebauer, 60, leitet seit 20<strong>12</strong> die<br />
Fraunhofer-Gesellschaft, die mit einem Etat<br />
von rund zwei Milliarden Euro und 23 000<br />
Mitarbeitern Europas größte Organisation<br />
für anwendungsnahe Forschung ist. Neugebauer<br />
hat davor das Fraunhofer-Institut<br />
für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik<br />
in Chemnitz geleitet.<br />
Moment, ich habe über das methodische<br />
Vorgehen gesprochen, wie wir Innovationen<br />
erzeugen. Der andere Aspekt ist, in<br />
welchen Branchen sie entstehen. In klassischen<br />
Branchen wie Maschinenbau, Autound<br />
Chemieindustrie sind wir nach wie vor<br />
weit vorne. Anders sieht es in der Informationstechnik<br />
(IT) und der Biotechnik aus,<br />
dort haben wir Nachholbedarf.<br />
Wir können aber nicht nur <strong>vom</strong> Alten<br />
leben. Bei Zukunftsthemen, etwa Big Data,<br />
der Analyse riesiger Datenmengen, hat uns<br />
Google abgehängt. Nun investiert<br />
der Konzern in alltagstaugliche<br />
Roboter, in Heizungssteuerungen<br />
oder automatisches Fahren und<br />
wird bald viele Dienste um diese<br />
Produkte herum anbieten. Verschlafen<br />
wir diese Entwicklung?<br />
Sie haben recht, die Internet-<br />
Konzerne drängen mit Macht in<br />
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/DPA/SCHMIDT<br />
68 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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»IT-Sicherheit<br />
wird<br />
zum Die Zukunf Wettbewerbsvorteil«<br />
der Industrie<br />
Richtung Produkte, dort wo unsere Stärke<br />
liegt. Aber wir stehen nicht mit leeren Händen<br />
da. Auch wir rüsten Autos und Maschinen<br />
mit Intelligenz aus. Jetzt kommt es darauf<br />
an, schnell zu lernen, unseren Vorsprung<br />
bei den Produkten für die Entwicklung<br />
neuer Geschäfte zu nutzen. Es gilt,<br />
endlich loszulaufen – und zwar mit Wucht.<br />
Wer die Daten von Handys und künftig von<br />
Servicerobotern besitzt, kennt das Verhalten<br />
der Kunden sehr genau und kann ihnen<br />
maßgeschneiderte Angebote machen. Sind<br />
wir nicht zu ingenieurgetrieben, statt an<br />
den Kunden zu denken?<br />
Wenn das zuträfe, wären wir weder Exportweltmeister,<br />
noch besäßen wir unter unseren<br />
Mittelständlern so viele Weltmarktführer.<br />
Die wissen insbesondere bei Investitionsgütern<br />
sehr genau, was der Markt verlangt.<br />
Und sie haben ein feines Gespür dafür,<br />
wann es sich lohnt, ins Risiko zu gehen.<br />
Warum halten sie sich dann in der<br />
digitalen Welt so zurück?<br />
Vielen fehlt das Vertrauen in die Netze.<br />
Schauen Sie sich einmal an, wie viele Attacken<br />
es im Cyberraum gegen Firmen gibt.<br />
Bots, also Schadprogramme, die sich still<br />
und heimlich auf den PC schleichen und<br />
diesen fernsteuern, können im Internet gebucht<br />
werden. Jeder vernünftige Manager<br />
überlegt da zwei Mal, wie viel Risiko er verantworten<br />
kann – Geschäft hin oder her.<br />
Können die Unternehmen das nötige Maß<br />
an Datensicherheit selbst hinbekommen,<br />
oder muss die Regierung eingreifen?<br />
Es geht nicht ohne die Politik – und es bewegt<br />
sich etwas. Das Forschungsministerium<br />
hat zwei Sicherheitszentren gegründet<br />
und zusätzlich vor Kurzem mit uns und<br />
dem Innenministerium eine Arbeitsgruppe<br />
zur Internet-Sicherheit gebildet. Seit<br />
dem NSA-Skandal hat die Regierung erkannt,<br />
dass ihr das Thema Wirtschaftsspionage<br />
nicht gleichgültig sein kann.<br />
Wir bilden Arbeitsgruppen, derweil<br />
schaffen Amazon, Google und Facebook<br />
Fakten. Sie greifen Daten ab, wo es nur<br />
geht – in Zukunft die wichtigste Währung.<br />
Deshalb brauchen wir für Europa eine Alternative<br />
zu Google. Das ist die einzige<br />
Chance, die Kontrolle zurückzugewinnen.<br />
Wir würden uns freuen, im Auftrag des<br />
Bundes gemeinsam mit Industriepartnern<br />
ein solches Datennetz aufzubauen.<br />
Wie stehen die Chancen dafür?<br />
Die Diskussion darüber läuft. Ich sage<br />
aber: Jeder Monat, den wir weiter warten,<br />
ist einer zu viel. Denn wer über die Daten<br />
herrscht, besitzt einen unschätzbaren Vorsprung.<br />
Europa braucht dringend mehr eigene<br />
Kompetenz in allen relevanten Internet-Technologien<br />
– ob bei Big Data oder<br />
der Nutzung von Software und Speicherplatz<br />
in der Datenwolke, der Cloud.<br />
Und Sie trauen Europa die Aufholjagd zu?<br />
Fachleute und Wissen haben wir. Daher<br />
bin ich zuversichtlich, dass wir das Problem<br />
der Datensicherheit lösen werden. Es<br />
ist schlicht zu wichtig, um daran zu scheitern.<br />
Umgekehrt gilt: Gelingt es etwa Maschinenbauern,<br />
ihre Anlagen gegen Angriffe<br />
abzuschirmen, verschafft ihnen das einen<br />
unschätzbaren Wettbewerbsvorteil.<br />
Schließlich wird künftig fast jede Maschine<br />
und jedes Gerät vernetzt sein.<br />
Welche Bereiche haben noch das Zeug,<br />
die Wirtschaft grundlegend zu verändern?<br />
Dazu zählt sicher die Biotechnik. Da haben<br />
wir Stärken, etwa wenn es um das Zusammenspiel<br />
mit der klassischen Produktionstechnik<br />
geht. Ein einfaches Beispiel: Viele<br />
Metall verarbeitende Betriebe kühlen ihre<br />
Maschinen mit speziellen Flüssigkeiten. In<br />
denen reichern sich giftige Schwermetalle<br />
an, die sich nur schwer herausholen lassen.<br />
Ein neues Verfahren nutzt Sulfat reduzierende<br />
Mikroorganismen. Sie binden die<br />
Schwermetalle und lassen sich anschließend<br />
auswaschen und entsorgen. Dass<br />
Biotechniker mit Metallverarbeitern reden,<br />
war vor zehn Jahren noch undenkbar. Und<br />
auch bei Biowerkstoffen aus nachwachsenden<br />
Rohstoffen spielen wir vorne mit.<br />
Weniger rosig sieht es bei der Anwendung<br />
der Gentechnik aus.<br />
Damit gehen wir Deutsche sicher sensibler<br />
um als andere Länder. Ich verstehe die<br />
Skepsis. Wir sollten aber nicht die Möglichkeiten<br />
aus den Augen verlieren, die etwa<br />
die personalisierte Medizin bietet. Zum<br />
Beispiel können Ärzte anhand einer Erbgutanalyse<br />
klären, welche Medikamente<br />
einen Patienten am besten heilen können.<br />
Wo erwarten Sie ähnliche Fortschritte?<br />
Sicherlich in der Materialforschung. Da haben<br />
wir es etwa geschafft, piezoelektrische<br />
Fasern großserientauglich zu machen. Mit<br />
ihrer Hilfe wird es möglich, weit dünnere<br />
Bleche als heute in Autokarossen einzubauen.<br />
Beginnt das Blech zu schwingen,<br />
merken die Fasern das und dämpfen die<br />
Schwingung ab. So bleibt das Blech stabil,<br />
und der Spritverbrauch sinkt, weil die Karosserieteile<br />
leichter sein können.<br />
Und die erneuerbaren Energien, haben<br />
Sie die abgeschrieben?<br />
Keineswegs. Wir brauchen die Erneuerbaren<br />
allein schon aus dem Grund, weil die<br />
fossilen Rohstoffe irgendwann zu Ende gehen.<br />
Doch derzeit sind vor allem die USA<br />
mit ihrer Fracking-Förderung von Öl und<br />
Gas dabei – ohne Rücksicht auf die Umwelt<br />
zu nehmen –, unsere Industrie mit niedrigen<br />
Energiepreisen im Wettbewerb zu benachteiligen.<br />
Deshalb müssen wir uns Alternativen<br />
überlegen. Langfristig können<br />
wir auf die Erneuerbaren nicht verzichten.<br />
Woran denken Sie konkret?<br />
Wir haben zum Beispiel hervorragende<br />
Verfahren, um die heimische Braunkohle<br />
zu verwerten, mit einem Wirkungsgrad,<br />
der sich sehen lassen kann. Das sollten<br />
wir mit in die Waagschale werfen, um<br />
Durststrecken mit international deutlich<br />
niedrigeren Energiepreisen als bei uns<br />
zu überbrücken.<br />
n<br />
lothar.kuhn@wiwo.de, dieter dürand<br />
Im Modernisierungsstau<br />
Deutschlandist stark beider Weiterentwicklungvon Produkten - beiSpitzentechnologien und<br />
wissensintensiven Dienstleistungen hingegen liegen teilsunsere härtesten Konkurrenten vorn*<br />
1,7 2,9<br />
USA<br />
33,4<br />
1,7 2,2<br />
33,3<br />
Großbritannien<br />
8,1<br />
hochwertige<br />
Technologie<br />
2,5<br />
23,9<br />
Deutschland<br />
Spitzentechnologie<br />
6,2 7,3<br />
Südkorea<br />
* Anteile an der Wertschöpfung in Prozent; Quelle: Expertenkommission Forschung und Innovation (EFI)<br />
20<br />
wissensintensive<br />
Dienstleistungen<br />
4,9 3,3<br />
19,5<br />
Japan<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 69<br />
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Management&Erfolg<br />
Einen Schlag mehr<br />
MITARBEITERBETEILIGUNG | Mehr Engagement, höhere Rendite: warum es sich für<br />
Arbeitgeber lohnt, ihre Angestellten am Kapital des Unternehmens zu beteiligen.<br />
Hochwertige Badmöbel, ebenerdig<br />
begehbare Dusche, große<br />
Fliesen: Das Bad von Gunther<br />
Lang kann sich sehen lassen.<br />
Ein paar Tausend Euro hat<br />
es wohl gekostet – finanziert hat es die Allianz.<br />
Aber nicht, weil ein Rohbruch die Versicherung<br />
zum Einspringen zwang, sondern<br />
weil der Bauherr clever investiert hat: Lang<br />
leitet bei der Allianz nicht nur einen IT-Bereich,<br />
er ist über Aktien auch an seinem Arbeitgeber<br />
beteiligt.<br />
20 Prozent Rabatt bekommen Allianz-Angestellte<br />
in Deutschland, wenn sie Geld in<br />
Belegschaftsaktien stecken. „Ein sehr attraktives<br />
Investment“, sagt Wirtschaftsinformatiker<br />
Lang, der seit 2002 regelmäßig Anteile<br />
kaufte. Um möglichst viel Eigenkapital in<br />
seinen Hausbau stecken zu können, trennte<br />
er sich 2010 von einem Viertel seiner Aktien<br />
– etwa im Wert seiner Bad-Ausstattung. Den<br />
Rest will der 46-Jährige fürs Alter aufheben.<br />
Wie Lang profitieren in Deutschland<br />
32 000 Allianz-Mitarbeiter <strong>vom</strong> Aktienprogramm<br />
des Dax-Konzerns. Aber auch der<br />
Arbeitgeber bietet solche Vergünstigungen,<br />
die jährlich mehrere Millionen Euro kosten,<br />
nicht aus reinem Gutmenschentum an.<br />
„Die Belegschaftsaktionäre sehen das Unternehmen<br />
nicht nur mit den Augen des<br />
Mitarbeiters, sondern auch mit denen des<br />
Eigentümers“, sagt Werner Zedelius, Personalvorstand<br />
in der Holding des Versicherers.<br />
„Das erhöht die Identifikation.“<br />
Ein Gefühl, das Lang bestätigt. „Bei<br />
schlechten Zahlen leide ich mit, bei guten<br />
Ergebnissen freue ich mich umso mehr.“<br />
So profitieren beide Seiten: Lang von den<br />
finanziellen Vorteilen, Zedelius von einer<br />
engagierten Truppe.<br />
Vom Arbeiter zum Aktionär<br />
Was Unternehmen durch aktienbasierte<br />
Mitarbeiterbeteiligung erreichen (in Prozent)<br />
Aktionärsstruktur stabilisieren<br />
69<br />
Identifikation mit dem Arbeitgeber erhöhen<br />
66<br />
Mehr Engagement bei der Arbeit<br />
60<br />
Anforderungen guter Unternehmensführung einhalten<br />
44<br />
Mitarbeiter für die eigene Strategie gewinnen<br />
41<br />
Mitarbeiter binden<br />
41<br />
Marktübliches Vergütungspaket anbieten<br />
39<br />
Quelle: Geo Global Equity Insights <strong>2014</strong><br />
Diese Aussicht auf doppelte Rendite<br />
durch Mitarbeiterbeteiligung war in<br />
Deutschland einige Jahre ignoriert worden.<br />
Denn im Zuge der geplatzten Börsenblase<br />
und der Pleiten zahlreicher New-Economy-<br />
Unternehmen rauschten die Kurse in den<br />
Keller. Und auch die Belegschaftsaktien –<br />
1998 noch bei etwa 1,7 Millionen Arbeitnehmern<br />
Teil der Geldanlage – waren so erst in<br />
Verruf und dann in Vergessenheit geraten.<br />
Von Verlusten enttäuscht, wandten sich viele<br />
Deutsche von der volatilen Anlage ab. Einige,<br />
wie Mitarbeiter des US-Telekommunikationsriesen<br />
Worldcom, traf es besonders<br />
hart: Das in einen Betrugsskandal verwickelte<br />
Unternehmen meldete Insolvenz an,<br />
die Mitarbeiter verloren ihre Einlagen.<br />
Seit einigen Jahren erlebt die Mitarbeiterbeteiligung<br />
eine Renaissance: Wie die Allianz<br />
setzen laut Bundesverband Mitarbeiterbeteiligung<br />
deutschlandweit inzwischen<br />
rund 4500 Unternehmen auf die positiven<br />
Effekte des Finanzinstruments – <strong>vom</strong> traditionsreichen<br />
Familienbetrieb über international<br />
agierende Mittelständler bis hin zum<br />
Dax-Konzern. Der simple Grund: „Teilhabende<br />
Mitarbeiter sind bereit, für ihr Unternehmen<br />
mehr zu leisten“, sagt Michael Kramarsch,<br />
Geschäftsführer der Beratung hkp.<br />
ÖKONOMISCH SINNVOLL<br />
Das belegt auch die Studie Geo Global<br />
Equity Insights <strong>2014</strong>, die der Wirtschafts-<br />
Woche exklusiv vorliegt. Und an der neben<br />
hkp auch die internationale Global Equity<br />
Organization, die über aktienbasierte Vergütung<br />
aufklärt, die Konzerne Siemens und<br />
SAP, die Universität Göttingen und Computershare,<br />
ein australischer Dienstleister für<br />
Mitarbeiterbeteiligungsprogramme, mitgearbeitet<br />
haben. Das Konglomerat befragte<br />
169 Konzerne aus aller Welt zur Ausgestaltung<br />
von und Gründen für ihre Programme.<br />
Das Ergebnis: eine stabilere Aktionärsstruktur,<br />
höhere Identifikation und mehr Engagement<br />
der Mitarbeiter (siehe Grafik links).<br />
Die Folge: Je mehr Mitarbeiter am Aktienprogramm<br />
ihres Arbeitgebers teilnehmen,<br />
desto erfolgreicher ist das Unternehmen.<br />
„Aus ökonomischer Sicht“, sagt BWL-Professor<br />
Michael Wolff von der Uni Göttingen,<br />
„gibt es kaum etwas Sinnvolleres für Unternehmer<br />
und Arbeitnehmer, als Mitarbeiterbeteiligungsprogramme<br />
aufzulegen.“<br />
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt der<br />
britische New UK Employee Ownership Index.<br />
Während die börsennotierten Unternehmen<br />
auf der Insel 2013 ihren Wert im<br />
Schnitt um 21 Prozent steigern konnten, legten<br />
Konzerne, die mindestens drei Prozent<br />
ILLUSTRATION: DANIEL STOLLE<br />
70 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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ihres Kapitals in die Hände ihrer Mitarbeiter<br />
gelegt hatten, um mehr als 50 Prozent zu.<br />
Kein Wunder also, dass die Unternehmen<br />
Interesse daran haben, die Zahl ihrer Mitarbeiteraktionäre<br />
zu erhöhen – mit Erfolg:<br />
Laut Deutschem Aktieninstitut ist die Zahl<br />
der Belegschaftsaktionäre, in den vergangenen<br />
fünf Jahren um rund ein Drittel auf 1,2<br />
Millionen angestiegen. Hinzu kommen laut<br />
Bundesverband Mitarbeiterbeteiligung etwa<br />
eine Million, die vor allem als stille Gesellschafter<br />
oder über Genussrechte teilnehmen.<br />
Laut Geo-Studie bieten immerhin<br />
31 Prozent der in Deutschland befragten<br />
Unternehmen eine aktienbasierte Mitarbeiterbeteiligung<br />
an, europaweit sind es 39<br />
Prozent. Am verbreitetsten ist sie traditionell<br />
in Nordamerika – dort sind Aktien wichtiger<br />
Bestandteil der Altersvorsorge.<br />
So auch beim Medienkonzern Discovery<br />
Communications, zu dem TV-Kanäle wie<br />
DMAX oder Animal Planet gehören. Obwohl<br />
das Unternehmen nur 6000 Mitarbeiter hat,<br />
bietet es sein Aktienprogramm in 20 Ländern<br />
von Mexiko bis nach Polen an. „Das ist<br />
für ein so kleines Unternehmen bemerkenswert“,<br />
sagt Wolff. Schließlich ist der Aufwand<br />
enorm – gilt es doch in den verschiedenen<br />
Ländern unterschiedliche Vorschriften für<br />
Aktienhandel und steuerliche Vergünstigungen<br />
einzuhalten (siehe Kasten Seite 72).<br />
Doch das schreckt Ralph Beidelman, bei<br />
Discovery Communications für die Mitarbeiterbeteiligung<br />
zuständig, nicht ab.<br />
Ständig versucht er, weitere Länder ins Programm<br />
aufzunehmen. Auch die 90 deutschen<br />
Mitarbeiter können mitmachen.<br />
Somit spielt die Beteiligung von Arbeitnehmern<br />
auch in den international aus-<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 71<br />
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Management&Erfolg<br />
STAATLICHE FÖRDERUNG<br />
So klappt’s!<br />
Was Unternehmen und<br />
Arbeitnehmer bei der Mitarbeiterbeteiligung<br />
beachten müssen.<br />
Um den Mitarbeitern die Beteiligung<br />
am eigenen Unternehmen schmackhaft<br />
zu machen, geben Arbeitgeber Anteile<br />
meist vergünstigt oder gratis aus.<br />
Dadurch entsteht Arbeitnehmern ein<br />
finanzieller Vorteil, der versteuert und<br />
mit Sozialabgaben belegt werden muss<br />
– zumindest jenseits des Freibetrags<br />
von 360 Euro – im internationalen<br />
Vergleich eine bescheidene Summe:<br />
In Österreich liegt die Grenze bei 1460<br />
Euro, in den Niederlanden bei mehr als<br />
<strong>12</strong>00 Euro.<br />
Gibt es <strong>vom</strong> Arbeitgeber keine Vergünstigung,<br />
der Mitarbeiter wandelt ein<br />
Teil seines Gehalts aber trotzdem in<br />
Anteile oder Aktien um, fallen für diese<br />
Investition bis 360 Euro zwar die<br />
Steuern weg, Sozialabgaben müssen<br />
aber dennoch gezahlt werden.<br />
DREI BEDINGUNGEN<br />
Außerdem wird der Freibetrag nur unter<br />
folgenden Bedingungen gewährt:<br />
n Ob Vollzeit-Festangestellte, geringfügig<br />
Beschäftigte, Teilzeitkräfte<br />
oder Auszubildende: Das Angebot muss<br />
allen Mitarbeitern offenstehen, die<br />
mindestens ein Jahr für den Betrieb<br />
arbeiten.<br />
n Es muss sich um reale Anteile am<br />
Unternehmen handeln. Aktienoptionen<br />
werden nicht begünstigt.<br />
n Unterschiedliche Konditionen für verschiedene<br />
Mitarbeiter sind nur zulässig,<br />
wenn der Arbeitgeber diese sachlich<br />
begründen kann. So kann das Unternehmen<br />
zum Beispiel Vorstände, in<br />
deren Vergütungspaket ohnehin Aktien<br />
enthalten sind, von dem Beteiligungsprogramm<br />
ausschließen.<br />
Ledige Mitarbeiter mit einem Einkommen<br />
von unter 20 000 Euro und Verheiratete<br />
mit weniger als 40 000 Euro<br />
Jahresgehalt können eine Mitarbeitersparzulage<br />
beantragen. Diese zusätzliche<br />
staatliche Förderung beträgt<br />
20 Prozent der Investition, maximal<br />
aber 80 Euro beziehungsweise 160 Euro<br />
pro Jahr.<br />
»Belegschaftsaktionäre sind ein<br />
Erfolgsmotor«<br />
Michael Wolff, Universität Göttingen<br />
»<br />
getragenen War for Talents hinein. Seit<br />
Personalarbeit mehr ist als das Abarbeiten<br />
sich auftürmender Bewerbungsmappen<br />
und Unternehmen sich als attraktive Arbeitgeber<br />
präsentieren müssen, um auf dem<br />
schrumpfenden Bewerbermarkt die Besten<br />
von sich zu überzeugen, setzen sie auf Beteiligungsprogramme<br />
als Köder.<br />
So auch der südbadische Verpackungsproduzent<br />
August Faller. „Bei einer Arbeitslosenquote<br />
von drei Prozent in unserer<br />
Region“, sagt Geschäftsführer Michael Faller,<br />
„wird es immer schwieriger, an qualifizierte<br />
Fachkräfte zu kommen.“ Ein Grund, um<br />
2013 eine Mitarbeiterbeteiligung einzuführen.<br />
Auch in Stellenanzeigen<br />
und Vorstellungsgesprächen will<br />
Faller das Programm zukünftig<br />
als Trumpf einsetzen. Eine Verzinsung<br />
von mindestens vier<br />
Prozent erhalten die stillen Gesellschafter,<br />
sobald das Unternehmen<br />
ein Plus erwirtschaftet.<br />
Thomas Domeyer hat indes erkannt,<br />
dass sich solche Programme<br />
nicht nur auf die Geldbeutel der Arbeitnehmer<br />
auswirken. „Kollegen, die Anteile<br />
halten, arbeiten sorgfältiger und machen einen<br />
Schlag mehr“, sagt der 53-Jährige, der<br />
die Finanzbuchhaltung beim Bauunternehmen<br />
Goldbeck aus Bielefeld leitet und Mitglied<br />
im Partnerschaftsausschuss ist, der die<br />
teilhabenden Mitarbeiter vertritt.<br />
Mittelständler Goldbeck gibt seinen Mitarbeitern<br />
die Möglichkeit, jedes Jahr bis zu<br />
fünf Anteile am Unternehmen zu kaufen –<br />
bezuschusst. Der Zinssatz variiert mit dem<br />
Gewinn – 18 Prozent jährlich erhalten die<br />
stillen Gesellschafter seit 2007. Für Mitarbeiter,<br />
wie Domeyer, die von Anfang an da-<br />
Mehr<br />
Sechs Beteiligungsmodelle<br />
im<br />
Vergleich finden<br />
Sie in unserer<br />
App-<strong>Ausgabe</strong><br />
bei sind, macht das schnell ein Plus von<br />
3500 Euro pro Jahr.<br />
Vor 30 Jahren etablierte das Familienunternehmen<br />
das Modell vor allem, um Liquidität<br />
aufzubauen. Heute sieht der Sohn des<br />
Firmengründers und Geschäftsführer Jörg-<br />
Uwe Goldbeck andere Vorteile: „Die Mitarbeiterbeteiligung<br />
ist Ausdruck unserer Unternehmenskultur,<br />
die von Eigenverantwortung<br />
geprägt ist“, sagt der 46-Jährige. „Jeder<br />
trägt mit seinem Handeln zum Erfolg bei.“<br />
Diese Motivation unterstreicht auch Joe<br />
Kaeser. Das Credo des Siemens-Chefs: „Mitarbeiter<br />
treten den Kunden mit Selbstbewusstsein<br />
und Stolz gegenüber, sie bringen<br />
mehr Ideen ein.“ Weltweit halten<br />
140000 Siemensianer Belegschaftsaktien<br />
– 50 Prozent mehr als<br />
noch vor fünf Jahren. Damit sie ihre<br />
vergünstigten Aktien langfristig<br />
halten, setzt der Konzern auf einen<br />
sogenannten Share-Matching-<br />
Plan. Dabei bekommen Aktionäre<br />
für je drei Papiere, die sie drei Jahre<br />
halten, eine Gratisaktie dazu. „Mitarbeiter“,<br />
sagt der Siemens-Chef, „haben<br />
durch ihren Arbeitsplatz ein natürliches<br />
Interesse an nachhaltigem Erfolg.“<br />
An eine Mehrheit bei Hauptversammlungen<br />
sei zwar nicht zu denken, so Vergütungsexperte<br />
Kramarsch. „Aber in kritischen<br />
Situationen, etwa einer feindlichen<br />
Übernahme, könnten die Belegschaftsaktionäre<br />
das Zünglein an der Waage sein.“<br />
Oder Interessenten direkt abschrecken.<br />
„Ein hoher Anteil an Belegschaftsaktionären“,<br />
sagt BWL-Professor Wolff, „ist nicht<br />
nur Erfolgsmotor, sondern auch der beste<br />
Schutz vor feindlichen Übernahmen.“ n<br />
kristin.schmidt@wiwo.de<br />
ILLUSTRATION: DANIEL STOLLE<br />
72 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Management&Erfolg<br />
SPRENGERS SPITZEN<br />
Blutleer und selbstgerecht<br />
Warum wir den strapazierten Begriff der Wertschätzung neu interpretieren müssen.<br />
Wie heißt die heilige Kuh der<br />
Mitarbeiterführung? Genau:<br />
Wertschätzung. In welche<br />
Führungsleitlinie man auch<br />
schaut, mit welchem Personalmanager,<br />
welchem Betriebsrat man auch spricht:<br />
Dieser Begriff fehlt nie. Mal wird der<br />
„wertschätzende Umgang“ gefordert,<br />
mal gar eine „Kultur der Wertschätzung“<br />
oder die sprachspielerische „Wertschöpfung<br />
durch Wertschätzung“.<br />
Wer etwas prosaischer veranlagt ist,<br />
mag sich mitunter fragen: Verdankt sich<br />
die Konjunktur des Begriffs seiner mangelnden<br />
Kontur? Ist er ein gedankenloses<br />
Passepartout für allgemein Wünschbares?<br />
Oder fehlt es insgesamt an Wertschätzung,<br />
wie die aktuellen Verkaufszahlen<br />
der Chefbeschimpfungsbücher<br />
nahelegen? Es muss ja eine Gesellschaft<br />
der Nicht-Wertgeschätzten sein, die mit<br />
diesem Begriff kollektive Sehnsüchte<br />
sammelt.<br />
Aber, im Ernst, wollen wir wirklich alles<br />
ernst nehmen, nur um der Forderung<br />
nach Wertschätzung zu genügen? Und<br />
um welchen Wert handelt es sich eigentlich,<br />
der da im Unternehmen, unter Vorgesetzen<br />
und Mitarbeitern geschätzt<br />
werden soll?<br />
Verstehen wir soziale Beziehungen in<br />
diesem Kontext als Leistungs-Partnerschaften,<br />
dann schätzen wir eine konkrete<br />
Person, wenn sie ihre Rolle oder Aufgabe<br />
gut ausführt. Wir schätzen den Verkäufer, wenn er gut Umsätze<br />
bringt; den Produktentwickler, wenn ihm ein marktfähiges Produkt<br />
gelingt. Geschätzt wird also Leistung, konkretes Handeln,<br />
Vernunftfähigkeit, Erfolg, das Verhältnis von Geben und Nehmen.<br />
NICHT EINKLAGBAR<br />
Und das ist auch die traditionelle Bedeutung der Wertschätzung:<br />
Sie kommt ursprünglich aus der Ökonomie und wandert erst im<br />
18. Jahrhundert in die Moralphilosophie ein. Sie basiert auf einem<br />
Tausch: Wertschätzung gegen Leistung. Fällt die Leistung weg, fällt<br />
auch die Wertschätzung weg. Dann wird der Wert dessen, was da<br />
angeboten wird, gering geschätzt. Und genau das passiert ja auch<br />
im Unternehmen: Unser Wert wird permanent geschätzt, abgewogen,<br />
beurteilt.<br />
Reinhard Sprenger, 60, Ex-Manager bei 3M<br />
und Adecco, zählt zu den renommiertesten<br />
deutschsprachigen Managementautoren.<br />
»Was ist gewonnen,<br />
wenn wir jemanden<br />
ausnahmslos<br />
so sehen, wie er sich<br />
selbst sieht?«<br />
Ist Wertschätzung aber der Preis in einem<br />
Tauschgeschäft, muss man um diesen<br />
Preis kämpfen. Wertschätzung ist eine<br />
Preis-Verleihung. Man kann sich praktisch<br />
eben nicht wertschätzend verhalten,<br />
ohne dass da ein Wert ist, der von Beobachtern<br />
auf Märkten unterschiedlich geschätzt<br />
wird. Ja, ohne Leistung gibt es keinen<br />
Wert; aber ohne Schätzung eben<br />
auch nicht. Das ist der Kern: Wertschätzung<br />
ist nicht einklagbar.<br />
PASSEN WIR ZUSAMMEN?<br />
Vor diesem Hintergrund läuft die Forderung<br />
nach wertschätzendem Umgang darauf<br />
hinaus, auf die Bewertung des Leistungsbeitrags<br />
eines Mitarbeiters zu verzichten<br />
– sie gleichsam vorbehaltlos anzuerkennen.<br />
Aber kann Zusammenarbeit<br />
enttäuschungsfrei sein? Was ist gewonnen,<br />
wenn wir jemanden ausnahmslos so<br />
sehen, wie er selbst sich sieht?<br />
Das bedeutet auch: Wenn ich mich<br />
nicht wertgeschätzt fühle, habe ich mindestens<br />
eine wertvolle Information – dass<br />
nämlich der Wert meiner Arbeit an dieser<br />
Stelle nicht geschätzt wird und meine Sozialchancen<br />
auf diesem Spielfeld eher gering<br />
sind. Mein selbst definierter Eigen-<br />
Wert ist dann höher als der Wert, den ein<br />
anderer mir zubilligt. Offenbar fürchtet<br />
der andere nicht, dass ich meine Leistungsbemühungen<br />
mangels Wertschätzung<br />
einstelle oder anderweitig anbiete –<br />
weil er ohnehin darauf verzichten kann.<br />
Das heißt: In einer modernen, pluralistischen Gesellschaft, die<br />
von Subjektivität und Individualität, mithin <strong>vom</strong> Wertkonflikt geprägt<br />
ist, sollten wir die Wertschätzung nicht verstehen als mechanische<br />
Anerkennung dessen, was ist. Nicht als blutleere Selbstgerechtigkeit.<br />
Wir sollten Wertschätzung vielmehr verstehen als Beginn<br />
eines Gesprächs, als Auseinandersetzung um den richtigen<br />
Weg, das Verhandeln unterschiedlicher Erwartungen und unterschiedlicher<br />
Maßstäbe.<br />
Denn das ist doch die entscheidende Frage: Passen wir zusammen?<br />
Oder passen wir nicht zusammen? Und diese ernsthafte<br />
Auseinandersetzung um die Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft<br />
darf nicht durch die imperative Forderung nach Wertschätzung<br />
zugekleistert werden.<br />
n<br />
FOTO: LITERATURTEST/SABINE FELBER<br />
74 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
Die Lunte<br />
glimmt weiter<br />
SPEZIAL | AKTIEN Die Risiken an den Börsen nehmen zu,<br />
der Dax droht nach unten abzudrehen. Wie Anleger jetzt<br />
ihr Depot sinnvoll vor Rückschlägen absichern.<br />
Die Überraschung ist Wladimir<br />
Putin gelungen: Am Mittwoch<br />
verkündete der russische Präsident,<br />
die ihm wohlgesinnten<br />
Aufständischen in der Ukraine<br />
sollten die Abspaltung des Ostens nicht<br />
weiter vorantreiben; das dafür am 11. Mai<br />
geplante Referendum solle „verschoben“<br />
werden, meint Putin. Politiker in Washington,<br />
Brüssel und vor allem in Kiew reagierten<br />
zurückhaltend; sie trauen dem Braten<br />
noch nicht: echtes Entspannungssignal<br />
oder neuerliche Finte? An der Börse aber<br />
zündete Putins Rede sofort:Seit Tagen hatten<br />
Nachrichten über bürgerkriegsartige<br />
Zustände in der Ukraine den Dax gedrückt;<br />
nun hievte Putin ihn ins Plus.<br />
Vorerst. Die Lage kann jederzeit wieder<br />
eskalieren. Und die politische Nervosität<br />
überträgt sich auf die Anleger. Deutliches<br />
Zeichen dafür ist die Heftigkeit der Kursschwankungen.<br />
Auch charttechnisch gerät<br />
der Dax in unruhigere Gefilde: Der seit<br />
2009 bestehende Aufwärtstrend verliert an<br />
Schwung; die Rückschläge einzelner Aktien<br />
werden gravierender, Zahl und Dynamik<br />
der steigenden Papiere sinkt. Der Dax,<br />
den viele Kommentatoren zur Jahreswende<br />
schon bald jenseits der 10 000 Punkte-<br />
Marke gesehen hatten, hat sich festgelaufen<br />
(siehe Analyse Seite 78), die Anleger<br />
richten den Blick wieder nach unten.<br />
„Viele unserer Kunden meinen, dass die<br />
Hausse jetzt mal eine Pause bräuchte; entsprechend<br />
zögerlich sind sie mit Neukäufen“,<br />
beobachtet Dieter Helmle, Vorstand<br />
von Capitell Vermögens-Management in<br />
Frankfurt. Die Hausse läuft seit März 2009,<br />
geht also in ihr sechstes Jahr. Viele Aktien<br />
sind inzwischen nicht mehr günstig. Die<br />
Vorstände börsennotierter Konzerne sehen<br />
das ähnlich und haben in den letzten<br />
Wochen so viele Aktien ihrer eigenen Firmen<br />
verkauft, wie seit Langem nicht. Diese<br />
sogenannten Insiderverkäufe gelten als guter<br />
Indikator, denn Insider sehen Risiken<br />
oft früher als weniger gut informierte<br />
Marktteilnehmer.<br />
Einiges spricht also dafür, jetzt zumindest<br />
einen Teil seiner Aktien zu verkaufen.<br />
Das Problem: Langfristig gibt es noch mehr<br />
gute Gründe, Aktien zu haben. „Halbwegs<br />
ausfallsichere Anleihen und Tagesgeldkonten<br />
dürften noch auf Jahre hinaus nach<br />
Abzug der Inflation Verlust bringen“, meint<br />
Ralf Zimmermann, Anlagestratege der<br />
Lampe-Bank. Viele Anleger haben auch<br />
noch Aktien aus der Zeit vor 2009, bei denen<br />
abgeltungsteuerfreie Gewinne aufgelaufen<br />
sind. Im Falle eines Verkaufs und<br />
späteren Rückkaufs wäre die Steuerfreiheit<br />
weiterer Gewinne unwiederbringlich verloren.<br />
Nicht zuletzt ist das Timing-Talent,<br />
Aktien rechtzeitig vor einem Einbruch zu<br />
verkaufen und danach günstig zurückzuholen,<br />
nur den wenigsten Anlegern beschert.<br />
Aber es gibt einen dritten Weg:<br />
Aktiendepots lassen sich mit überschaubarem<br />
Aufwand wirksam gegen drohende<br />
Verluste absichern.<br />
»<br />
FOTO: ACTION PRESS/ZUMA PRESS<br />
15.04.<strong>2014</strong> +++ Ukraine: Lage eskaliert; Kiew sendet Truppen in den<br />
76 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Blockade<br />
Der Einsatz der Armee in der<br />
Ostukraine bremst weltweit<br />
die Aktienkurse<br />
Osten +++ Dax –1,5 % +++ Dax-Put +14,8 % +++ Depot –0,02% +++<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 77<br />
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Geld&Börse<br />
+++ 07.<strong>05</strong>.<strong>2014</strong> +++ US-Notenbank-Chefin Yellen sieht US-Konjunktur optimistisch, Putin brem<br />
land ist der drittwichtigste Handelspartner<br />
der EU, mit einem Anteil von 7,2 Prozent<br />
am Außenhandel. Kursrückgänge von Unternehmen<br />
mit starkem Russlandgeschäft<br />
„sind ein Klacks gegen das, was droht,<br />
wenn es zu drastischen Sanktionen oder zu<br />
einer Spirale aus Sanktionen und Gegensanktionen<br />
mit Russland kommt“, sagt Michael<br />
A. Gayed, Chefanleger des Fondshauses<br />
Pension Partners in New York.<br />
Moskau dürfte auf schärfere Sanktionen<br />
mit Gaslieferstopps reagieren. Die Gaspreise<br />
in Westeuropa würden steigen, die DZ<br />
Bank schätzt: um bis zu 20 Prozent. Ein<br />
russischer Gaslieferstopp und scharfe<br />
Sanktionen der EU könnten die deutsche<br />
Wirtschaft nächstes Jahr mehr als einen<br />
Prozentpunkt Wachstum kosten, schätzt<br />
Stefan Bielmeier, Analyse-Chef der DZ<br />
Bank. „Statt um rund 2,7 Prozent würde<br />
das deutsche Bruttoinlandsprodukt, BIP,<br />
dann 2015 nur noch um 1,5 Prozent wachsen“,<br />
meint Bielmeier. Die japanische Nomura<br />
schätzt den Schaden für Europas<br />
Konjunktur auf 0,7 Prozentpunkte Wachstumseinbuße.<br />
SORGE UM CHINA<br />
Auch ohne Eskalation in der Ukraine drohen<br />
Rückschläge. Sorgen bereitet vor allem<br />
China. Gayed fürchtet, dass dort der Immobilienboom<br />
seinen Zenit überschritten<br />
hat. „Das chinesische Wirtschaftswunder<br />
beruhte zuletzt stark auf einer Ausweitung<br />
der Kreditvergabe, die meisten Kredite<br />
flossen in Immobilienprojekte“, sagt er,<br />
„der Anteil des Wohnungsbaus an der Gesamtwirtschaftsleistung<br />
lag Ende 20<strong>12</strong> mit<br />
Verluste drohen vor allem bei einer Zuspitzung<br />
der Ukraine-Krise. Die ließ die<br />
Börsen bisher, von kurzen, heftigen Rücksetzern<br />
abgesehen, weitgehend kalt. Nur<br />
wenige deutsche Unternehmen hängen so<br />
stark am Exportgeschäfts mit Russland wie<br />
der Pharmakonzern Stada (20 Prozent des<br />
Konzern-Umsatzes), die Handelskette Metro<br />
oder Chemiekonzern BASF, bei dem<br />
rund 14 Prozent der Exporte nach Russland<br />
gehen. Doch nur auf direkte Einbußen<br />
zu schauen greift womöglich zu kurz.<br />
Eine Eskalation – Bürgerkrieg oder gar Einmarsch<br />
russischer Truppen in den Osten<br />
der Ukraine – hätte böse Folgen für die europäische<br />
Konjunktur.<br />
Die beginnt zaghaft, sich von der Euro-<br />
Krise zu erholen. Irland, Griechenland und<br />
Portugal konnten wieder Staatsanleihen<br />
verkaufen. Der Internationale Währungsfonds<br />
(IWF) geht davon aus, dass die Euro-<br />
Zone nach zwei Jahren in der Rezession<br />
<strong>2014</strong> wieder um etwas mehr als ein Prozent<br />
wachsen wird; in Portugal und Spanien gebe<br />
es erste Hoffnungsschimmer.<br />
Schickte Russland aber Truppen in die<br />
Ukraine, würde der Westen darauf mit<br />
scharfen Wirtschaftssanktionen reagieren.<br />
Neben einem Boykott russischer Rohstoffe<br />
sind auch Exportverbote für westliche Unternehmen<br />
denkbar. Und Europas Banken<br />
haben hohe Forderungen gegen Russland<br />
in den Büchern. 190 Milliarden Dollar Darlehen<br />
und Investitionen wären gefährdet.<br />
Die Volkswirte der DZ Bank gehen davon<br />
aus, dass im Fall harter Sanktionen die<br />
deutschen Exporte nach Russland bis 2015<br />
um die Hälfte einbrechen würden; Russzehn<br />
Prozent auf einem Level, das auch in<br />
anderen Ländern herrschte, bevor deren<br />
Immobilienblasen platzen, etwa Spanien.“<br />
Schulden waren der Motor des chinesischen<br />
Wachstums in den letzten zwei Jahren<br />
– nicht mehr steigende Exporte in den<br />
Westen, der wegen der Finanzkrise weniger<br />
kaufte. Die Kreditvergabe in China geht<br />
nun erstmals seit Jahren stark zurück. Das<br />
nährt die Sorge, dass die Nachfrage nach<br />
Immobilien leiden und die heiß gelaufenen<br />
Preise ins Rutschen geraten könnten.<br />
Abschreibungen auf ausgefallene Hypothekenkredite<br />
bei chinesischen Banken<br />
und Schattenbanken könnten dann eine<br />
ähnliche Hypothekenkrise wie 2008 in den<br />
USA auslösen, fürchtet Gayed.<br />
DIE HAUSSE WIRD ALT<br />
„Die mögliche Belastung für die Weltwirtschaft<br />
durch China wird unterschätzt“,<br />
meint auch Albert Edwards, Anlagestratege<br />
der Société Générale. Edwards fürchtet gar<br />
fallende Preise, also Deflation – nicht nur<br />
für Immobilien, sondern auf breiter Front<br />
in China. Die Gewinne westlicher Konzerne<br />
im Chinageschäft drohten dann zu kollabieren,<br />
folgert er. Denn viele Konzerne<br />
können in China höhere Gewinnmargen<br />
durchsetzen als in ihren Heimatmärkten;<br />
Apple zum Beispiel, das dort für ein neues<br />
iPhone im Schnitt 900 Dollar erlöst, in den<br />
USA nur 700. Ähnlich sind die Relationen<br />
bei VW, BMW und Daimler. Fällt in China<br />
die Nachfrage, kämen die Unternehmensgewinne<br />
doppelt unter Druck.<br />
Die normale Dauer eines Aufwärtszyklus<br />
an den Börsen liegt bei etwa fünf Jahren –<br />
Oben festgefahren<br />
Viermal hat der Dax bisher einen Anlauf in<br />
Richtung 10 000 Punkte gestartet, jedes Mal<br />
kippte er vorher nach unten weg. Dieses Abdrehen<br />
ist ein Schwächesignal. Ein Wunder<br />
ist das nicht, denn allein in den vergangenen<br />
drei Jahren hat sich der Dax verdoppelt und<br />
damit einen Berg an Buchgewinnen aufgehäuft.<br />
Sowohl von der Ausdehnung als auch<br />
von der Dynamik her erinnert der Anstieg dabei<br />
an die großen Aufwärtsbewegungen der<br />
Jahre 2009 bis 2011 und 20<strong>05</strong> bis 2007.<br />
Auch da hatte sich der Dax mehrere Monate<br />
lang festgefahren, bevor er nach unten wegbrach.<br />
Noch ist es nicht zum großen Verkaufssignal<br />
gekommen. Dazu müsste der<br />
Dax den 2011 bis <strong>2014</strong> bestehenden Aufwärtstrend<br />
und die Durchschnittslinie der<br />
vergangenen 200 Börsentage schneiden.<br />
Das wäre bei einem Rutsch unter 9000<br />
Punkte der Fall. Dann aber könnte es, wie die<br />
Kursrückgänge 2008 und 2011 zeigen,<br />
schnell gehen. Erstes Ziel wäre die Unterstützung<br />
der alten Hochspitzen bei 8100. Sollte<br />
diese Linie nicht halten, läge die nächste<br />
Unterstützung bei 7500. Im Extremfall, wenn<br />
es zu einer Abwärtsdynamik wie 2008 und<br />
2011 kommt, wäre sogar ein Crash in Richtung<br />
6000 Punkte nicht ausgeschlossen.<br />
Kursverlauf des Dax seit 20<strong>05</strong><br />
10<br />
9<br />
Unterstützungen<br />
8<br />
Dax<br />
7<br />
6<br />
5<br />
Aufwärtstrends<br />
200-Tage-Linie<br />
4<br />
3<br />
<strong>05</strong> 06 07 08 09 10 11 <strong>12</strong> 13 14<br />
Quelle: Thomson Reuters<br />
78 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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st Separatisten in der Ostukraine +++ Dax +0,6 % +++ Dax-Put –8 % +++ Depot –0,15 % +++<br />
FOTO: CORBIS/ROOKS KRAFT<br />
ihre durchschnittliche Lebenserwartung<br />
hat die aktuelle Hausse<br />
also bereits überschritten. Immer<br />
mehr Anleger bangten, dass die<br />
Party enden werde, sagt David<br />
Kostin, Anlagestratege bei Goldman<br />
Sachs: „Im Prinzip hat in den<br />
letzten Tagen jeder Kunde schon<br />
mal nach Gewinnmitnahmen gefragt.“<br />
Die Kurse haben, global gesehen,<br />
vor Kurzem wieder das Niveau<br />
von vor Beginn der weltweiten<br />
Finanzkrise im Sommer 2008<br />
erreicht. Der Dax notiert sogar gut<br />
1000 Punkte höher als damals,<br />
liegt seit dem Finanzkrisentief im<br />
März 2009 fast 160 Prozent im<br />
Plus.<br />
Klar: Ein Teil davon geht auf das<br />
Konto von Dividenden, die den<br />
Anlegern niemand mehr nehmen<br />
kann. Doch nun verliert die<br />
Hausse an Schwung; dem Dax<br />
droht die Puste auszugehen.<br />
„Zwar halten sich die großen Indizes<br />
wie S&P 500, Dax und Dow<br />
Jones noch gut. Aber darunter finden<br />
starke Bewegungen bei den<br />
einzelnen Aktien statt, vor allem bei den<br />
kleinen“, beobachtet Uwe Wiesner, Portfoliomanager<br />
beim Vermögensverwalter<br />
Hansen & Heinrich in Berlin. Die Warnsignale<br />
mehren sich:<br />
n Viele Wachstumsaktien – also Papiere<br />
mit überdurchschnittlichem Umsatz- und<br />
Gewinnwachstum und hoher Börsenbewertung<br />
– sind von ihren Nachkrisenhochs<br />
in kurzer Zeit stark gefallen. Netflix, Tesla,<br />
oder Twitter sind schon mehr als 30 Prozent<br />
von ihren zwischenzeitlichen Hochs<br />
entfernt, auch Schwergewichte wie Google<br />
und Amazon haben gelitten.<br />
n Bei Nebenwerten gab es besonders starke<br />
Kursrückgänge in den vergangenen Wochen;<br />
der deutsche Index für mittelgroße<br />
Werte, MDax, hat von seinem Hoch Ende<br />
Februar bereits 1000 Punkte verloren, er<br />
lief in den letzten drei Wochen damit deutlich<br />
schlechter als der Dax.<br />
n Die Schwäche vieler kleiner Aktien führt<br />
dazu, dass sich der Anteil der Aktien insgesamt,<br />
die noch steigende Kurse aufweisen,<br />
gegenüber jenen mit fallenden Kursen seit<br />
Beginn des Jahres drastisch verschlechtert<br />
hat. Wenn immer weniger Titel eine<br />
Hausse tragen, droht Gefahr. „In den USA<br />
Harte Hand Anleger fürchten Janet Yellens Geldpolitik<br />
gab es seit März ein regelrechtes Blutbad<br />
bei den kleinen Nebenwerten“, bemerkt<br />
Gayed, „das blieb aber von der breiten Öffentlichkeit<br />
unbemerkt, weil viele nur auf<br />
die bekannten Indizes S&P 500 und Dow<br />
Jones schauen.“<br />
Auch sind Aktien im Durchschnitt nicht<br />
mehr billig. Der Börsenwert der Dax-Aktien<br />
entspricht dem 13-Fachen der von<br />
Analysten für die kommenden zwölf Monate<br />
erwarteten Nettogewinne der 30 Konzerne.<br />
„Das Kurs-Gewinn-Verhältnis liegt<br />
zwar nicht weit über dem Durchschnitt der<br />
letzten zwölf Jahre von 11,6“, sagt Zimmermann;<br />
aber die Gewinnschätzungen, besonders<br />
für das erste Halbjahr 2015, seien<br />
zu optimistisch: „Sie dürften im Laufe des<br />
Jahres noch sichtbar nach unten korrigiert<br />
werden. Die Weltwirtschaft wird <strong>2014</strong> und<br />
2015 nicht stark genug wachsen, um die<br />
derzeit angenommenen zweistelligen Zuwachsraten<br />
der Unternehmensgewinne zu<br />
ermöglichen“, sagt Zimmermann.<br />
So rechnen Analysten für das erste Quartal<br />
2015 im Schnitt mit einem Gewinnplus<br />
von 20 Prozent, was die Gewinne nahe an<br />
ihren historischen Bestwert von 2007<br />
brächte. Berechnet man das KGV nicht auf<br />
Basis (unrealistisch hoher) Gewinnschätzungen,<br />
sondern anhand<br />
der bereits verbuchten Gewinne,<br />
trübt sich das Bild ein: Aktien<br />
sind demnach bereits sehr<br />
teuer. So liegt das KGV des Dax<br />
auf Basis der Gewinne von 2013<br />
schon bei 18,3. Noch plastischer<br />
zeigt die hohe Bewertung das<br />
Shiller-KGV, eine Kennziffer, die<br />
der Nobelpreisträger und Yale-<br />
Professor Robert Shiller ersann:<br />
Beim Shiller-KGV dividiert<br />
man den Börsenwert der Unternehmen<br />
durch deren gemittelte,<br />
inflationsbereinigte Gewinne der<br />
letzten zehn Jahre. So werden saisonale<br />
Schwankungen und Fehlprognosen<br />
der Analysten eliminiert.<br />
Das Shiller-KGV des S&P<br />
500 liegt bei knapp 26, der langjährige<br />
Durchschnitt (seit 1920)<br />
ist 16,9. Das Shiller-KGV war allerdings<br />
auch schon einmal bei<br />
45. Doch das war 1999, kurz vor<br />
dem Jahrtausend-Crash. Dennoch:<br />
„So ein Bewertungsniveau<br />
ist crashanfällig“, meint Zimmermann,<br />
„eine hohe Bewertung alleine ist<br />
zwar selten ein Crash-Grund, sie legt aber<br />
die Basis dafür.“<br />
GEWINNMARGEN AUSGEREIZT<br />
Nun braucht es nur noch einen Auslöser;<br />
der könnte die Ukraine-Krise sein oder<br />
auch eine Reihe von Gewinnwarnungen.<br />
Die dürften früher oder später kommen,<br />
denn viele Konzerne arbeiten mit rekordhohen<br />
Margen (Anteil des Gewinns am<br />
Umsatz). Die Margen sind ausgereizt,<br />
durch niedrige Kapital- und Rohstoffkosten,<br />
Sparprogramme und die Lohnzurückhaltung<br />
der Mitarbeiter in den Krisenjahren.<br />
„In den USA, China, Großbritannien<br />
und Deutschland werden die Löhne steigen,<br />
und der Druck durch Rohstofflieferanten<br />
und Zulieferer auf die Gewinnmargen<br />
wird zunehmen“, meint Gayed.<br />
Aktien könnten natürlich auch in die<br />
derzeit hohe Bewertung hineinwachsen.<br />
Da aber die Gewinnmargen ausgereizt<br />
sind, bräuchte es dazu mehr Umsatzwachstum;<br />
das ist – trotz Linderung der<br />
Euro-Krise und relativ starker US-Konjunktur<br />
– in vielen Branchen nicht in Sicht.<br />
Denn die zarte Erholung der Konjunktur<br />
»<br />
WirtschaftsWoche <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> Nr. 20 79<br />
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Geld&Börse<br />
+++ 22.04.<strong>2014</strong> +++ EZB deutet Anleihekäufe an +++ Dax +1,7 % +++ Dax-Put –13 % +++<br />
»<br />
in den Industrieländern wird konterkariert<br />
durch die Schwäche Chinas und der<br />
anderen Schwellenländer. 20<strong>12</strong> und 2013<br />
wurden die Kurse fast nur noch von höheren<br />
Bewertungen getrieben; das heißt, dass<br />
die Anleger an der Börse für denselben<br />
Euro Gewinn eines Unternehmens mehr<br />
bezahlten. Sie gestanden den Aktien also<br />
immer höhere KGVs zu. Dabei geholfen hat<br />
das ultrabillige Geld der Notenbanken:<br />
Weil niedrige Zinsen Anleihen im Vergleich<br />
zu Aktien unattraktiv machen und<br />
die Unternehmen zudem von niedrigen<br />
Kapitalkosten profitieren, wirkte die Geldpolitik<br />
wie Doping auf die Börse. Doch die<br />
US-Notenbank Fed reduziert die Dosis.<br />
Portfoliomanager Wiesner: „Seit Januar hat<br />
die Fed ihre Anleihekäufe aber schon von<br />
85 auf 45 Milliarden Dollar monatlich reduziert;<br />
und die Bilanzsumme der Europäischen<br />
Zentralbank, EZB, hat sich seit<br />
dem Höhepunkt der Euro-Krise halbiert;<br />
lässt EZB-Präsident Mario Draghi seinen<br />
Worten nicht bald Anleihekäufe folgen und<br />
behält die US-Notenbank unter der neuen<br />
Präsidentin Janet Yellen ihr Drosseltempo<br />
bei, dann ist der zusätzliche Kurstreiber<br />
billiges Geld bald nicht mehr existent.“<br />
INSIDER VERKAUFEN<br />
Beunruhigende Signale senden auch die<br />
Unternehmensinsider, also Vorstände und<br />
Aufsichtsräte der Konzerne. Insider wissen<br />
in der Regel schneller und besser über Dinge<br />
wie Auftragseingang, Kostenentwicklung<br />
oder Zinskonditionen Bescheid als<br />
außenstehende Analysten, Volkswirte und<br />
Anleger. Zwar ist die Zahl der Vorstände<br />
und Aufsichtsräte, die privat Aktien der von<br />
ihnen geleiteten Unternehmen verkaufen,<br />
fast immer höher als die der Käufer. Denn<br />
viele Chefs bekommen Aktienoptionen als<br />
Vergütungsbestandteil, die sie in Aktien<br />
»<br />
Wetten, Hoffen, Bangen<br />
Chancen und Risiken der 30 Dax-Aktien, wenn sich die Krisenfaktoren (Russland, China, Weltkonjunktur) zuspitzen<br />
Aktie<br />
Adidas<br />
Allianz<br />
BASF<br />
Bayer<br />
Beiersdorf<br />
BMW<br />
Commerzbank<br />
Continental<br />
Daimler<br />
Deutsche Bank<br />
Deutsche Börse<br />
Deutsche Post<br />
Deutsche Telekom<br />
E.On<br />
Fresenius Med. Care<br />
Fresenius SE<br />
HeidelbergCement<br />
Henkel<br />
Infineon<br />
K+S<br />
Lanxess<br />
Linde<br />
Lufthansa<br />
Merck<br />
Münchener Rückv.<br />
RWE<br />
SAP<br />
Siemens<br />
ThyssenKrupp<br />
Volkswagen<br />
Kurs<br />
(in Euro)<br />
78,<strong>05</strong><br />
<strong>12</strong>1,45<br />
82,39<br />
100,80<br />
72,65<br />
88,30<br />
<strong>12</strong>,03<br />
166,80<br />
65,00<br />
31,09<br />
55,02<br />
27,29<br />
<strong>12</strong>,49<br />
13,45<br />
48,39<br />
108,70<br />
62,07<br />
84,15<br />
8,64<br />
25,19<br />
54,16<br />
146,20<br />
18,14<br />
<strong>12</strong>2,00<br />
157,60<br />
27,66<br />
55,47<br />
96,83<br />
20,69<br />
191,45<br />
KGV<br />
<strong>2014</strong><br />
18<br />
9<br />
14<br />
17<br />
28<br />
10<br />
17<br />
13<br />
11<br />
9<br />
14<br />
16<br />
20<br />
14<br />
13<br />
17<br />
16<br />
20<br />
21<br />
20<br />
21<br />
18<br />
10<br />
13<br />
9<br />
<strong>12</strong><br />
16<br />
14<br />
38<br />
9<br />
Dividendenrendite<br />
(in Prozent)<br />
1,7<br />
3,7<br />
3,2<br />
2,1<br />
1,0<br />
2,8<br />
–<br />
1,5<br />
3,5<br />
2,4<br />
4,2<br />
2,6<br />
5,6<br />
4,5<br />
1,6<br />
0,9<br />
0,8<br />
1,5<br />
1,4<br />
1,0<br />
1,9<br />
1,9<br />
–<br />
1,4<br />
4,4<br />
3,6<br />
2,0<br />
3,1<br />
–<br />
1,9<br />
Anlagekommentar<br />
bevorstehende WM bringt kaum Impulse, hoher Russlandanteil führt zu Unsicherheit, Aktie teuer<br />
niedriges Zinsniveau bremst operatives Wachstum, Russlandgeschäft (4500 Beschäftigte) ausgeprägt, Halteposition<br />
großer Asien-Anteil birgt China-Risiko, konjunkturabhängig, Öl- und Gasgeschäft als Ausgleich, vorerst kein Kauf<br />
lukrativer Zukauf bei rezeptfreien Medikamenten, stabile Aussichten bei Pharma, Bewertungsaufschlag möglich, halten<br />
stabiles, wenig konjunkturabhängiges Wachstum, späte Expansion in Schwellenländern, aber Aktie schon gut bezahlt<br />
erfolgreiche Modellpolitik, Währungsabsicherung durch starken US-Markt, konjunkturempfindlich, bei Schwäche kaufen<br />
operative Erholung mühsam, Kapital verbesserungswürdig, riskante, aber nicht aussichtslose Wette auf Banken-Erholung<br />
Zuliefergeschäft mit Assistenzsystemen aussichtsreich, günstige Kautschukpreise treiben Reifen-Marge, Aktie überzogen<br />
Nutzfahrzeuge von Schwellenländern abhängig, milliardenstarkes Russlandgeschäft als Risiko, kein Kauf mehr, halten<br />
Wertpapier-Geschäft schwierig, Behörden fordern mehr Eigenmittel, Kapitalerhöhung dürfte Kurs dämpfen, abwarten<br />
Umsätze steigen bei hoher Volatilität an den Börsen; aber regulatorische und juristische Risiken, vorerst kein Kauf<br />
Gewinner des Online-Booms, wenig krisenanfällig trotz Russlandanteil (3000 Mitarbeiter), Rücksetzer abwarten<br />
Heimatmarkt stabil, US-Mobilfunkgeschäft krisenresistent, Expansion in Osteuropa birgt Risiken, Halteposition<br />
Unsicherheit durch große Abhängigkeit <strong>vom</strong> Russlandgeschäft (Gaslieferungen, Pipelines, Förderung), kein Kauf<br />
langfristig wenig konjunkturabhängiges Wachstum, jedoch Risiken durch US-Gesundheitspolitik, meiden<br />
starke Position auf dem Gesundheitsmarkt schützt vor Krisen-Rückschlägen, Schulden hoch, Kauf nur bei Schwäche<br />
Branchenfusion kann Zementpreise stabilisieren, hoher Russland-Anteil riskant, Verschuldung drückt, Kurs anfällig<br />
trotz hohen Umsatzanteils in Russland und der Ukraine stabiler Geschäftsverlauf, Bewertung fortgeschritten, abwarten<br />
Chip-Aufschwung läuft, doch Nachfrage großer Kunden aus der Autoindustrie könnte im Krisenfall sinken, halten<br />
weiterhin Risiken am Kali-Markt, Ukraine-Krise macht alte Kartellpreise unwahrscheinlich, Erholung wacklig<br />
noch zu sehr abhäng <strong>vom</strong> Reifengeschäft, Druck von niedrigen Kautschukpreisen, hoher Asien-Anteil, Aktie teuer<br />
Industriegase-Geschäft wächst langsamer, hoher Umsatz-Anteil in asiatischen Schwellenländern, Aktie halten<br />
Geschäft krisenanfällig, steigender Ölpreis würde belasten, erwarteter hoher Gewinnanstieg unrealistisch, meiden<br />
durch Ausbau des Geschäfts mit der Elektronikindustrie erhöhen sich Asien-Anteil und Konjunkturanfälligkeit, abwarten<br />
Top-Position auf Rückversicherungsmarkt gleicht Preisdruck zum Teil aus, wenig krisenanfällig, Daueranlage<br />
Umbau nach Energiewende mühsam, Verkauf der Fördertochter Dea an russische Investoren umstritten, noch meiden<br />
wenig krisenanfälliges Basisgeschäft, mittelfristig geringere Renditen durch Cloud-Expansion, Kauf bei Schwäche<br />
Kampf um Alstom könnte Renditekurs bremsen, unsicherer Konzernumbau, Russland dürfte halten, dennoch vorerst meiden<br />
Strompreisrabatte helfen bei Stahlproduktion, großes Werk im Krisenland Brasilien belastet, nur Spekulation für Mutige<br />
Unsicherheit durch starkes Geschäft in Russland und China, deutliche Konjunkturabhängigkeit, kein Kauf mehr<br />
Gewinne/KGV und Ausschüttung/Dividendenrendite im Krisenfall nicht (grün), etwas (gelb) oder stark (rot) gefährdet; Quelle: Thomson Reuters, eigene Recherche<br />
80 Nr. 20 <strong>12</strong>.5.<strong>2014</strong> WirtschaftsWoche<br />
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Geld&Börse<br />
+++ 24.04.<strong>2014</strong> +++ Deutsche Bank braucht angeblich 10 Milliarden Euro frisches Kapital; Aktie<br />
»<br />
wandeln und verkaufen. Solchen<br />
Verkäufen müssen keine<br />
schlechten Nachrichten aus den<br />
Unternehmen zugrunde liegen.<br />
Dennoch war das Verhältnis<br />
von Verkäufern zu Käufern bei<br />
US-Unternehmen in den letzten<br />
20 Jahren nur zwei Mal höher als<br />
im April <strong>2014</strong>: Anfang 2007 und<br />
Anfang 2011 – also jeweils ein paar<br />
Monate vor einem Kurseinbruch.<br />
Das Warnsignal wird noch deutlicher,<br />
wenn man die Insiderverkäufe<br />
um die Verkäufe aus ausgeübten<br />
Aktienoptionen bereinigt,<br />
wie es Nejat Seyhun, Finanzprofessor<br />
von der University of Michigan,<br />
kürzlich getan hat. Seyhun<br />
studiert das Handelsgebaren der<br />
US-Unternehmensinsider seit<br />
Jahrzehnten, er sagt: „Um Optionen<br />
bereinigt, waren die Insiderverkäufe<br />
seit 25 Jahren nicht mehr<br />
so hoch. Zuletzt hatten wir sechs<br />
Mal mehr Verkäufer als Käufer,<br />
normalerweise liegt das Verhältnis<br />
bei drei.“<br />
In Europa bietet sich das gleiche Turmhohe Schulden Banken brauchen wieder neues Geld<br />
Bild: „Wenn der Markt eine Weile<br />
lang stark gestiegen ist, ist es zwar normal,<br />
dass die Insider vermehrt Aktien verkaufen;<br />
sie verhalten sich traditionell antizyklisch“,<br />
sagt Patrick Hable, Gründer von<br />
2IQ-Research, der aus London die Insider-<br />
Deals europäischer Unternehmenslenker<br />
untersucht. „Im Moment ist das Verhältnis<br />
von Käufern zu Verkäufern aber extrem<br />
niedrig. Auf 100 Verkäufer kommen nur 13<br />
Käufer. Anfang <strong>2014</strong> waren es noch 40 Käufer.<br />
Alles unter 20 ist ein Alarmzeichen“,<br />
warnt Hable.<br />
BESSER ABSICHERN<br />
Anleger, die dennoch nicht verkaufen wollen,<br />
müssen möglichen Rückschlägen aber<br />
nicht schutzlos ausgeliefert sein. Im Folgenden<br />
zeigen wir, wie sich zum Beispiel<br />
ein Depot aus Dax-Aktien im Wert von<br />
50 000 Euro mithilfe von Put-Optionen und<br />
Shortzertifikaten absichern lässt. Die Optionen<br />
gleichen