Download - Schauspiel Frankfurt
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Anlass und<br />
der<br />
grund<br />
Vergesellschaf<br />
die angst<br />
wolfgang sofsky<br />
»GEMEINSCHAFT DER UNGEMEINSChafTLICHEN«<br />
Seit die Euro-Krise Europa vor eine Zerreißprobe stellt, werden wieder verstärkt<br />
ideelle Gemeinsamkeiten gesucht, gemeinsame kulturelle Wurzeln<br />
betont, Fragen nach der europäischen Identität gestellt. Nicht zuletzt deswegen<br />
hat die EU das Jahr 2013 zum »europäischen Jahr der Bürgerinnen<br />
und Bürger« ausgerufen. Hinter diesem eher banal klingenden Aufruf verbergen<br />
sich Vorschläge in Reaktion auf die Probleme der vergangenen Jahre.<br />
Die EU soll nicht mehr allein als Wirtschafts- und Währungsunion, sondern<br />
als Sinngemeinschaft gefühlt und gedacht werden. Das ganze Jahr über<br />
werden EU-weit Veranstaltungen organisiert, um danach zu forschen, was<br />
Europa zusammenhält, in der Hoffnung, die Menschen mögen sich auf ihre<br />
europäische Identität besinnen. Welche Interessen leiten diese Beschwörungen<br />
eines gemeinsamen Geistes? Welche Konzepte von Gemeinschaft<br />
liegen ihnen zu Grunde?<br />
In Opposition zu dem Gemeinschaftsdenken steht das eigene Ich im Zentrum<br />
vieler Lebensentwürfe. Bindungs- und Orientierungslosigkeit sind die<br />
Kehrseite einer individualisierten, auf Maximen wie Konkurrenz und Leistung<br />
basierten Gesellschaft. Der Umstand, dass die Welt komplett nach ökonomischen<br />
Regeln funktioniert und sich alle Lebensbereiche dem Markt anzupassen<br />
haben, wird mittlerweile von so gut wie allen Denkrichtungen als Problem<br />
begriffen. Zwangsläufig erfahren idealistische Grundbegriffe wie Moral, Religion<br />
und Gemeinschaft als sinnstiftende Instanzen eine Renaissance. Ob als<br />
alte Ideologien in neuem Gewand oder echte Alternativen – die Diskussionen<br />
um den sozialen Kitt von Gesellschaften sind ernst zu nehmen als Ausdruck<br />
von Verunsicherung und Neuorientierung der Menschen. So stellen sich bekannte<br />
Fragen wieder neu: Wie lässt sich Gemeinschaft denken und welche<br />
Chancen und Gefahren tun sich dabei auf? Wieviel Differenz brauchen wir,<br />
wieviel Differenz ertragen wir? In welchem Verhältnis stehen der Einzelne und<br />
die Gemeinschaft?<br />
Die kommende Spielzeit liefert sicher keine Lösungen, sondern sucht die<br />
Auseinandersetzung, nähert sich den Diskussionen um Gemeinschaft und<br />
Individualitätsstreben aus ganz unterschiedlichen und subjektiven Perspektiven,<br />
gleichsam als Querschnitt durch die europäische Kultur. Sei es in der<br />
der menschen<br />
vor<br />
einander.<br />
009<br />
008<br />
tung<br />
ist<br />
Beschäftigung mit der griechischen Antike und Tragödien wie »Die Bakchen«<br />
und »Ajax«, in denen sich Menschen im Kampf mit den Göttern, bzw. in der<br />
Konfrontation mit der Schicksalsfrage als Gemeinschaft finden müssen. Oder<br />
mit den »Nibelungen«, dem »sinnstiftenden« Drama der Deutschen, deren<br />
wechselvolle Rezeptionsgeschichte von Chancen und Gefahren der Kollektivierung<br />
erzählt.<br />
Der Autor Lothar Kittstein fragt, ausgehend von den Ereignissen um die<br />
Mordserie des NSU und deren Aufklärung, in seinem neuen Stück »Der weiße<br />
Wolf« nach den gewaltsamen, rassistischen Ausformungen eines fehlgeleiteten<br />
Bedürfnisses nach Abgrenzung und Zurückdrängung des Fremden. Was<br />
sagen der Terror einer selbsternannten nationalsozialistischen Untergrundbewegung<br />
und der Umstand, dass sich die Ermittler bis 2011 offenbar eine<br />
solche kaum vorstellen konnten, über die Verfasstheit der gegenwärtigen<br />
Gesellschaft aus?<br />
Mit der Frage der Organisation von Gemeinschaft und der Rolle, die moralische<br />
Normen dabei spielen, beschäftigen sich Molières »Menschenfeind«,<br />
Dürrenmatts »Das Versprechen« und Kieślowskis »Dekalog« – zehn Geschichten<br />
zu den zehn Geboten. Es gilt heutzutage mit dem Widerspruch zu leben,<br />
dass moralische Werte je nach Interessenlage verallgemeinert oder relativiert<br />
werden. Wozu also (be)nutzt eine Gesellschaft Moral? Und wer hat darüber<br />
die Deutungsmacht? Moral als Ausgangspunkt für Kriege, Moral als Basis für<br />
Frieden. Wie soll der Einzelne hier seinen Platz wiederfinden? Der Kriegsheimkehrer<br />
Beckmann scheitert in »Draußen vor der Tür« an diesem Problem,<br />
genau wie »Ajax« vor mehr als 2000 Jahren.<br />
Vom ewigen Kampf zwischen Ich und Gesellschaft, Individualität und Anpassung<br />
handeln auch Dostojewskis »Der Idiot«, »Dogville« von Lars von Trier<br />
und die autobiographischen Bände von Thomas Bernhard.<br />
Am Ende der Spielzeit zieht Schorsch Kamerun, Sänger der Hamburger Band<br />
»Die Goldenen Zitronen« und Theaterregisseur begehbarer Konzertinstallationen,<br />
auf den Willy-Brandt-Platz: Das Stadtprojekt »<strong>Frankfurt</strong>er Rendezvous«<br />
unternimmt den Versuch, die unterschiedlichen kulturellen Szenen und Milieus<br />
<strong>Frankfurt</strong>s komprimiert in einer Art Modell- und Stimmenpark sicht- und hörbar<br />
zu machen. Was geschieht, wenn Unterschiedliches, Sich-Widersprechendes<br />
künstlich verdichtet und gemischt werden ohne zu vereinheitlichen?<br />
Zwingt Gemeinschaft immer zur eindeutigen Definition, wer dazugehört und<br />
wer nicht, wer drinnen und wer draußen ist? Lässt sie sich statt als einheitliches<br />
Gebilde auch als ungleichartige, bewegliche Struktur erleben – mit den<br />
Worten des Philosophen Jean-Luc Nancys – als »Gemeinschaft der Ungemeinschaftlichen«?<br />
Und welche Rolle spielt dabei das Theater?<br />
Eine Reihe von Gesprächen und Vorträgen, kuratiert in Zusammenarbeit mit<br />
der Literaturwissenschaftlerin Anja Lemke (Köln) und dem Philosophen<br />
Christoph Menke (<strong>Frankfurt</strong>), begleiten das Programm der Spielzeit gedanklich<br />
und diskursiv. Es werden wissenschaftliche Positionen gesucht und vorgestellt,<br />
die sich dem Geschehen im Bühnen- und Zuschauerraum inhaltlich<br />
oder ästhetisch anschließen, darüber hinausgehen, ihm widersprechen. Wir<br />
hoffen, dass dieses Heft erste Anreize bietet, mit uns Theater zu erleben, zu<br />
befragen, zu diskutieren.<br />
Sibylle Baschung, Michael Billenkamp, Claudia Lowin, Hannah Schwegler<br />
Dramaturgie