23.10.2014 Aufrufe

April 2013 - Unterschleissheim-evangelisch.de

April 2013 - Unterschleissheim-evangelisch.de

April 2013 - Unterschleissheim-evangelisch.de

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

„Zeit haben wir immer – es sei <strong>de</strong>nn, wir sind tot“<br />

Ulrike Tangermann-Hübner im Interview mit Zeitforscher Prof. Karlheinz A. Geißler<br />

über <strong>de</strong>n sorgfältigen Umgang mit <strong>de</strong>r Zeit im Alltag<br />

Im vorindustriellen Zeitalter bestimmten die Jahreszeiten,<br />

das Kirchenjahr und die Traditionen <strong>de</strong>n<br />

Rhythmus und die zeitliche Abfolge im Alltag. Bauern<br />

und Handwerker richteten ihr Tagwerk danach aus.<br />

Sonn- und Feiertage wur<strong>de</strong>n weitgehend ohne alltägliche<br />

Verrichtungen begangen.<br />

In unserer Gegenwart wur<strong>de</strong>n und wer<strong>de</strong>n Arbeitsabläufe<br />

gezielt beschleunigt und parallelisiert.<br />

Technische Errungenschaften wie Internet und<br />

Smartphones haben das Miteinan<strong>de</strong>r im Alltag und<br />

unseren Umgang mit unserer Lebenszeit <strong>de</strong>utlich<br />

verän<strong>de</strong>rt. Wir haben einerseits neue Freiräume gewonnen,<br />

z.B. durch flexiblere Arbeitszeiten. An<strong>de</strong>rerseits<br />

müssen wir uns u.a. erhöhtem Leistungsdruck<br />

stellen: Viele Menschen klagen über fehlen<strong>de</strong> Zeit<br />

und hetzen von Termin zu Termin.<br />

Herr Professor Geißler, haben wir<br />

<strong>de</strong>nn zu wenig Zeit?<br />

Es fehlt nicht an Zeit, son<strong>de</strong>rn wir<br />

haben zu viel zu tun. Zeit gibt es<br />

genug. Sie kommt je<strong>de</strong>n Tag, frisch<br />

nach, wie Brötchen beim Bäcker.<br />

„Mir fehlt die Zeit, Dich zu treffen“<br />

– ist das immer eine Ausre<strong>de</strong>?<br />

Nicht nur das, diese Ausre<strong>de</strong> ist<br />

auch eine Lüge. Übersetzt heißt das:<br />

„Ich habe für dich keine Zeit o<strong>de</strong>r<br />

keine Lust.“ Zeit haben wir immer,<br />

es sei <strong>de</strong>nn, wir sind tot. Nur verstecken<br />

wir uns gern hinter <strong>de</strong>r Zeit.<br />

Unsere Wochen im Alltag sind<br />

doch so vollgepackt!<br />

Ja, sie sind voll, damit wir uns nicht<br />

mit uns selbst beschäftigen müssen.<br />

Und nicht mit <strong>de</strong>n großen Fragen<br />

konfrontiert wer<strong>de</strong>n: Macht mein<br />

Leben Sinn? Bin ich glücklich? Also<br />

müssen wir ausweichen. Am besten<br />

geht das, in<strong>de</strong>m wir uns pausenlos<br />

durch Aktivität und Pseudoaktivität<br />

ablenken und von einem Termin<br />

zum an<strong>de</strong>ren hetzen.<br />

Ihr neues Buch hat <strong>de</strong>n Titel<br />

«Enthetzt Euch!» Ist Hetzen ein<br />

Art Volkssport gewor<strong>de</strong>n?<br />

Zeitforscher ohne Uhr: Prof. Karlheinz A.<br />

Geißler lebt und schreibt in München. Der<br />

68-jährige Zeitforscher und emeritierte Professor<br />

für Wirtschaftspädagogik lebt seit 30<br />

Jahren ohne Uhr und hat die Zeit zu seinem<br />

Lebensthema gemacht.<br />

In seinen zahlreichen Publikationen, u. a.<br />

„Enthetzt Euch!” und „Lob <strong>de</strong>r Pause”, erklärt<br />

er, warum Pausen, die Muße, das Warten<br />

können und die Langsamkeit so wichtig<br />

für uns sind. Und warum wir uns so schwertun,<br />

unsere Endlichkeit zu akzeptieren.<br />

Ein höchst ungesun<strong>de</strong>r Sport. Genauso<br />

ungesund wie das Zeitsparen,<br />

das zu nichts außer vermehrter Zeitnot<br />

führt.<br />

Warum gehen wir so unachtsam<br />

damit um?<br />

Die Religion, an die wir ehemals<br />

mehr als heute glaubten, hat uns mit<br />

unserer Sterblichkeit versöhnt, in<strong>de</strong>m<br />

sie uns ein Weiterleben nach<br />

„Wenn ich Zeit spare, dann spare<br />

ich an <strong>de</strong>n Erlebnissen. Und ich<br />

kann diese Erfahrungen nicht nach<br />

40 Jahren von <strong>de</strong>r Bank abholen<br />

und mir einen schönen Tag machen.<br />

Also was habe ich von <strong>de</strong>r<br />

gesparten Zeit?“,<br />

(Karlheinz A. Geißler in seinem<br />

Buch „Enthetzt Euch!“)<br />

<strong>de</strong>m Tod versprochen hat. Wenn auf<br />

<strong>de</strong>n Tod noch etwas folgt, dann<br />

muss man nicht alles auf dieser Welt<br />

erledigen und so hetzen. Ohne diesen<br />

Glauben auf ein Leben nach <strong>de</strong>m<br />

Tod sitzt uns die Zeit im Nacken,<br />

weil wir wissen: Jetzt ist die letzte<br />

Gelegenheit, dieses o<strong>de</strong>r jenes zu<br />

erleben. Wenn nicht jetzt, wann<br />

sonst?<br />

Wann fühlt sich Ihr Tagesablauf<br />

für Sie ausgewogen an?<br />

Ich schlafe morgens länger. Ich trinke<br />

auch gerne einen guten Wein,<br />

gönne mir ein schmackhaftes Essen<br />

– das braucht alles seine Zeit. Genauso<br />

schätze ich es, mit netten und<br />

klugen Menschen zusammen zu<br />

sein. Einige wür<strong>de</strong>n das als Laster<br />

bezeichnen, da man während dieser<br />

Zeit auch arbeiten, das heißt Geld<br />

verdienen könnte. Doch für mich<br />

sind das Momente, die ich genieße<br />

und bewusst auskoste. Ich spare die<br />

Zeit nicht, ich lebe sie.<br />

Also empfehlen Sie, <strong>de</strong>n Tag bewusst<br />

zu leben?<br />

Genau! Genieße <strong>de</strong>n Tag und gehe<br />

mit <strong>de</strong>iner Zeit so sorgfältig um, wie<br />

es <strong>de</strong>iner Zeitnatur entspricht. Und<br />

nicht: Arbeite, so viel du kannst.<br />

In Ihrem Bestseller «Lob <strong>de</strong>r<br />

Pause» plädieren Sie dafür, Pausen<br />

höher zu schätzen. Warum?<br />

Der Mensch ist auf Aktivität und<br />

Passivität hin festgelegt. Unsere<br />

Zeitnatur schreibt uns Schlafpausen,<br />

als Phasen <strong>de</strong>r Untätigkeit, vor. Den<br />

Schlaf brauchen wir, damit wir neue<br />

Kräfte schöpfen und unsere Erfahrungen<br />

sortieren können. Wer sich<br />

zu wenig Pausen gönnt, wird früher<br />

4 Titelthema Vielseitig <strong>April</strong> - Juli <strong>2013</strong>

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!