April 2013 - Unterschleissheim-evangelisch.de
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„Zeit haben wir immer – es sei <strong>de</strong>nn, wir sind tot“<br />
Ulrike Tangermann-Hübner im Interview mit Zeitforscher Prof. Karlheinz A. Geißler<br />
über <strong>de</strong>n sorgfältigen Umgang mit <strong>de</strong>r Zeit im Alltag<br />
Im vorindustriellen Zeitalter bestimmten die Jahreszeiten,<br />
das Kirchenjahr und die Traditionen <strong>de</strong>n<br />
Rhythmus und die zeitliche Abfolge im Alltag. Bauern<br />
und Handwerker richteten ihr Tagwerk danach aus.<br />
Sonn- und Feiertage wur<strong>de</strong>n weitgehend ohne alltägliche<br />
Verrichtungen begangen.<br />
In unserer Gegenwart wur<strong>de</strong>n und wer<strong>de</strong>n Arbeitsabläufe<br />
gezielt beschleunigt und parallelisiert.<br />
Technische Errungenschaften wie Internet und<br />
Smartphones haben das Miteinan<strong>de</strong>r im Alltag und<br />
unseren Umgang mit unserer Lebenszeit <strong>de</strong>utlich<br />
verän<strong>de</strong>rt. Wir haben einerseits neue Freiräume gewonnen,<br />
z.B. durch flexiblere Arbeitszeiten. An<strong>de</strong>rerseits<br />
müssen wir uns u.a. erhöhtem Leistungsdruck<br />
stellen: Viele Menschen klagen über fehlen<strong>de</strong> Zeit<br />
und hetzen von Termin zu Termin.<br />
Herr Professor Geißler, haben wir<br />
<strong>de</strong>nn zu wenig Zeit?<br />
Es fehlt nicht an Zeit, son<strong>de</strong>rn wir<br />
haben zu viel zu tun. Zeit gibt es<br />
genug. Sie kommt je<strong>de</strong>n Tag, frisch<br />
nach, wie Brötchen beim Bäcker.<br />
„Mir fehlt die Zeit, Dich zu treffen“<br />
– ist das immer eine Ausre<strong>de</strong>?<br />
Nicht nur das, diese Ausre<strong>de</strong> ist<br />
auch eine Lüge. Übersetzt heißt das:<br />
„Ich habe für dich keine Zeit o<strong>de</strong>r<br />
keine Lust.“ Zeit haben wir immer,<br />
es sei <strong>de</strong>nn, wir sind tot. Nur verstecken<br />
wir uns gern hinter <strong>de</strong>r Zeit.<br />
Unsere Wochen im Alltag sind<br />
doch so vollgepackt!<br />
Ja, sie sind voll, damit wir uns nicht<br />
mit uns selbst beschäftigen müssen.<br />
Und nicht mit <strong>de</strong>n großen Fragen<br />
konfrontiert wer<strong>de</strong>n: Macht mein<br />
Leben Sinn? Bin ich glücklich? Also<br />
müssen wir ausweichen. Am besten<br />
geht das, in<strong>de</strong>m wir uns pausenlos<br />
durch Aktivität und Pseudoaktivität<br />
ablenken und von einem Termin<br />
zum an<strong>de</strong>ren hetzen.<br />
Ihr neues Buch hat <strong>de</strong>n Titel<br />
«Enthetzt Euch!» Ist Hetzen ein<br />
Art Volkssport gewor<strong>de</strong>n?<br />
Zeitforscher ohne Uhr: Prof. Karlheinz A.<br />
Geißler lebt und schreibt in München. Der<br />
68-jährige Zeitforscher und emeritierte Professor<br />
für Wirtschaftspädagogik lebt seit 30<br />
Jahren ohne Uhr und hat die Zeit zu seinem<br />
Lebensthema gemacht.<br />
In seinen zahlreichen Publikationen, u. a.<br />
„Enthetzt Euch!” und „Lob <strong>de</strong>r Pause”, erklärt<br />
er, warum Pausen, die Muße, das Warten<br />
können und die Langsamkeit so wichtig<br />
für uns sind. Und warum wir uns so schwertun,<br />
unsere Endlichkeit zu akzeptieren.<br />
Ein höchst ungesun<strong>de</strong>r Sport. Genauso<br />
ungesund wie das Zeitsparen,<br />
das zu nichts außer vermehrter Zeitnot<br />
führt.<br />
Warum gehen wir so unachtsam<br />
damit um?<br />
Die Religion, an die wir ehemals<br />
mehr als heute glaubten, hat uns mit<br />
unserer Sterblichkeit versöhnt, in<strong>de</strong>m<br />
sie uns ein Weiterleben nach<br />
„Wenn ich Zeit spare, dann spare<br />
ich an <strong>de</strong>n Erlebnissen. Und ich<br />
kann diese Erfahrungen nicht nach<br />
40 Jahren von <strong>de</strong>r Bank abholen<br />
und mir einen schönen Tag machen.<br />
Also was habe ich von <strong>de</strong>r<br />
gesparten Zeit?“,<br />
(Karlheinz A. Geißler in seinem<br />
Buch „Enthetzt Euch!“)<br />
<strong>de</strong>m Tod versprochen hat. Wenn auf<br />
<strong>de</strong>n Tod noch etwas folgt, dann<br />
muss man nicht alles auf dieser Welt<br />
erledigen und so hetzen. Ohne diesen<br />
Glauben auf ein Leben nach <strong>de</strong>m<br />
Tod sitzt uns die Zeit im Nacken,<br />
weil wir wissen: Jetzt ist die letzte<br />
Gelegenheit, dieses o<strong>de</strong>r jenes zu<br />
erleben. Wenn nicht jetzt, wann<br />
sonst?<br />
Wann fühlt sich Ihr Tagesablauf<br />
für Sie ausgewogen an?<br />
Ich schlafe morgens länger. Ich trinke<br />
auch gerne einen guten Wein,<br />
gönne mir ein schmackhaftes Essen<br />
– das braucht alles seine Zeit. Genauso<br />
schätze ich es, mit netten und<br />
klugen Menschen zusammen zu<br />
sein. Einige wür<strong>de</strong>n das als Laster<br />
bezeichnen, da man während dieser<br />
Zeit auch arbeiten, das heißt Geld<br />
verdienen könnte. Doch für mich<br />
sind das Momente, die ich genieße<br />
und bewusst auskoste. Ich spare die<br />
Zeit nicht, ich lebe sie.<br />
Also empfehlen Sie, <strong>de</strong>n Tag bewusst<br />
zu leben?<br />
Genau! Genieße <strong>de</strong>n Tag und gehe<br />
mit <strong>de</strong>iner Zeit so sorgfältig um, wie<br />
es <strong>de</strong>iner Zeitnatur entspricht. Und<br />
nicht: Arbeite, so viel du kannst.<br />
In Ihrem Bestseller «Lob <strong>de</strong>r<br />
Pause» plädieren Sie dafür, Pausen<br />
höher zu schätzen. Warum?<br />
Der Mensch ist auf Aktivität und<br />
Passivität hin festgelegt. Unsere<br />
Zeitnatur schreibt uns Schlafpausen,<br />
als Phasen <strong>de</strong>r Untätigkeit, vor. Den<br />
Schlaf brauchen wir, damit wir neue<br />
Kräfte schöpfen und unsere Erfahrungen<br />
sortieren können. Wer sich<br />
zu wenig Pausen gönnt, wird früher<br />
4 Titelthema Vielseitig <strong>April</strong> - Juli <strong>2013</strong>