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JAHRESBERICHT 2012 - Diakonie de La Tour

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MENSCHEN MIT<br />

BEHINDERUNG<br />

Eine Vorliebe für Buchstaben und zu Johanna Spyris „Heidi“ wird<br />

<strong>de</strong>utlich, wenn man im Zimmer von Sabine Flaschberger, Bewohnerin<br />

<strong>de</strong>s Hauses Elim in Treffen, einer Einrichtung für Menschen mit<br />

Behin<strong>de</strong>rung im Alter, steht. Es zu betreten ist ein Privileg, <strong>de</strong>nn die<br />

Bewohnerin gestattet nur wenigen einen Blick in ihr Reich.<br />

Kindheitserinnerungen kommen auf bei Besuchern, die<br />

Sabine Flaschbergers Zimmer im Haus Elim in Treffen betreten.<br />

Schweizer Berge mit weißen Schneegipfeln und ein<br />

lachen<strong>de</strong>s Mädchen, das in Begleitung einer kleinen Ziege,<br />

eine Blume in <strong>de</strong>r Hand, über die Almwiese läuft.<br />

Johanna Spyris „Heidi“ begeistert seit Generationen Menschen<br />

auf <strong>de</strong>r ganzen Welt, gehört ihr Roman (geschrieben<br />

1880/81) doch zu <strong>de</strong>n bekanntesten Kin<strong>de</strong>rbüchern, die<br />

jemals verfasst wor<strong>de</strong>n sind.<br />

Ihr bekanntestes Gesicht bekam sie durch die japanische<br />

Anime-Zeichentrickserie „Heidi“ (Originaltitel: „Alps No<br />

Shoujo Haiji“) aus <strong>de</strong>m Jahr 1974. Die blitzen<strong>de</strong>n Augen<br />

<strong>de</strong>s berühmten Zeichentrick-Mädchens lachen Sabine<br />

Flaschberger Tag für Tag von einer ihrer Zimmerwän<strong>de</strong><br />

entgegen.<br />

Die Bewohnerin <strong>de</strong>s Hauses Elim scheint an <strong>de</strong>m Wandbild<br />

Gefallen zu fin<strong>de</strong>n, wie ihre Bezugsbetreuerin Nikola Sommer<br />

erzählt: „Sabine lebt mit einer Form von Schizophrenie.<br />

Sie aktzeptiert keine gerahmten Bil<strong>de</strong>r an <strong>de</strong>r Wand.<br />

Die lan<strong>de</strong>ten alle im Müll. Sie ist aber ein Fan von ,Heidi‘<br />

und ,Biene Maja‘ – <strong>de</strong>swegen sind wir auf die I<strong>de</strong>e gekommen,<br />

ihr Zimmer danach auszurichten, und haben uns für<br />

,Heidi‘ entschie<strong>de</strong>n. Das hat ihr dann gut gefallen“, erzählt<br />

Sommer, die ihre Klientin seit viereinhalb Jahren betreut.<br />

Auch die gegenüberliegen<strong>de</strong> Seite <strong>de</strong>s Zimmers ist für<br />

Besucher – die übrigens nicht sehr zahlreich sind, <strong>de</strong>nn<br />

Sabine Flaschberger sieht es nicht gerne, wenn jemand in<br />

ihr Reich eindringt, und lässt daher meist nur bestimmte<br />

Menschen in ihren Wohnraum – interessant.<br />

Ein Poster zeigt eine hübsche blon<strong>de</strong> Frau, die ein weißes<br />

Shirt trägt und ihre Hän<strong>de</strong> zu einem Herz geformt hat.<br />

„Das ist Sabines Schwester“, erzählt Sommer. „Sie ist<br />

Sängerin.“<br />

Deswegen also das Poster.<br />

Auch einige Porträtfotos von Flaschberger selbst sind an<br />

<strong>de</strong>r Wand zu fin<strong>de</strong>n – alle ungerahmt, mit Klebestreifen<br />

befestigt.<br />

Die übrige Einrichtung <strong>de</strong>s Zimmers sei absichtlich<br />

spartanisch: „Sabine ist da sozusagen minimalistisch. Sie<br />

mag nicht viel im Zimmer haben. Wir wollten ursprünglich<br />

Vorhänge aufhängen, die lehnte sie aber ab. Genauso<br />

das Pflegebett – das wollte sie auf keinen Fall haben, also<br />

steht hier ein gewöhnliches Bett ohne Gitter. Eine Zeit lang<br />

hat sie nur auf <strong>de</strong>m Sofa geschlafen. Mittlerweile hat sie<br />

ihr Bett aber recht gern.“<br />

Wichtig sei, dass alles, was <strong>de</strong>n persönlichen Lebensraum<br />

anlangt, zusammen gemacht wer<strong>de</strong>, so die Betreuerin.<br />

„Dann kann sie mitentschei<strong>de</strong>n und akzeptiert die neuen<br />

Umstän<strong>de</strong>.“<br />

Flaschberger selbst re<strong>de</strong>t mit an<strong>de</strong>ren Menschen nicht<br />

beson<strong>de</strong>rs viel. Mit sich selbst kommuniziert sie jedoch<br />

in ganz beson<strong>de</strong>rer Form: Auf einem Sessel am Gang sitzt<br />

sie, bewegt ihren Oberkörper leicht nach vorne und hinten<br />

und beschäftigt sich intensiv mit <strong>de</strong>r Beobachtung ihres<br />

linken Zeigefingers. Sie hebt ihn hoch an, hält ihn vor das<br />

Gesicht, und legt die Hand dann wie<strong>de</strong>r auf ihren Schoß.<br />

Immer wie<strong>de</strong>r die gleiche Bewegung – je<strong>de</strong>s kleinste Detail<br />

ihres Fingers, das Gelenk, die Haut, <strong>de</strong>r Nagel, scheint sie<br />

zu faszinieren. Ab und zu ein flüchtiger Blick zur Seite,<br />

dann wie<strong>de</strong>r vollkommene Konzentration auf <strong>de</strong>n Finger.<br />

„Man könnte glauben, sie ist nur mit sich selbst beschäftigt,<br />

aber das stimmt nicht“, erzählt Sommer. „Sabine<br />

beobachtet stets und bekommt so ziemlich alles, was um<br />

sie herum passiert, genau mit.“<br />

Gerne beschäftige sie sich auch mit Lernspielen, so die<br />

Betreuerin. Auf die Frage, ob sie <strong>de</strong>nn Lust auf Buchstabenkarten<br />

habe, reagiert Flaschberger mit großer Begeisterung:<br />

Sie springt von ihrem Sessel auf und eilt an einen<br />

<strong>de</strong>r Tische im Aufenthaltsraum, setzt sich hin und beginnt<br />

wie<strong>de</strong>r zu wippen, diesmal – offenbar in freudiger Erwartung<br />

– ist <strong>de</strong>r Takt <strong>de</strong>r Bewegungen schneller.<br />

Mehrere Karten wer<strong>de</strong>n aufgelegt. Auf <strong>de</strong>r einen Hälfte<br />

sind Symbole, auf <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Buchstaben.<br />

Sommer legt ihrer Klientin eine Karte, auf <strong>de</strong>r ein Apfel<br />

abgebil<strong>de</strong>t ist, hin.<br />

„Welcher Buchstabe gehört zu dieser Karte?“, fragt die<br />

Betreuerin.<br />

„A!“, antwortet Flaschberger, sucht die Karte mit <strong>de</strong>m A<br />

und legt sie neben jener mit <strong>de</strong>m Apfel.<br />

„Topf mit T, Feuer mit F …“<br />

Flaschberger hat sichtlich Freu<strong>de</strong> an <strong>de</strong>m Lernspiel. Ein<br />

<strong>La</strong>chen, ein kleiner Applaus für je<strong>de</strong> richtig gelegte Karte.<br />

Das Bild eines Vogels auf einer <strong>de</strong>r Karten scheint sie zu<br />

irritieren. „P …“, sagt sie, wobei sie <strong>de</strong>n Konsonaten nicht<br />

„Pe“, son<strong>de</strong>rn nur „P“, mit einem Hauch, ausspricht.<br />

Eifrig sucht sie nach <strong>de</strong>r passen<strong>de</strong>n Karte, <strong>de</strong>r Buchstabe<br />

ist jedoch bereits vergeben.<br />

„Warum suchst du <strong>de</strong>nn nach <strong>de</strong>m P? Was ist <strong>de</strong>nn das für<br />

ein Tier auf <strong>de</strong>r Karte?“, fragt Sommer.<br />

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