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Sprachrohr-November-2014

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Titelgeschichte<br />

Titelgeschichte<br />

Abschaffung der Gemeindezuschüsse<br />

Sparen auf dem Buckel der Rentner<br />

Der Stadtrat von Winterthur beantragt dem Grossen Gemeinderat die Abschaffung der Gemeindezuschüsse<br />

für bedürftige AHV/IV-Bezügerinnen und -Bezüger. Diese Sparmassnahme,<br />

die das Budget um rund 3,5 Millionen Franken entlasten soll, wurde bereits im Juni <strong>2014</strong><br />

kommuniziert. Der formelle Antrag zuhanden des Parlaments liegt jetzt vor. Damit wird<br />

Winterthur eine der ersten Grossstädte sein, die diese freiwilligen Leistungen streichen.<br />

Kurzfris tige Steuererhöhungen oder städtische Lohnanpassungen sind als Alternative in der<br />

Lokalpolitik kaum mehrheitsfähig, zu stark sind die Argumente der Lobbyisten, zu alt und<br />

wohl zu schwach die betroffenen Bedürftigen.<br />

In Winterthur erhalten bedürftige AHV/<br />

IV-Rentenberechtigte zurzeit zusätzlich<br />

zu den Ergänzungsleistungen des Bundes<br />

und zu den Beihilfen des Kantons<br />

auch städtische Gemeindezuschüsse.<br />

Rund 2300 Personen beziehen diese Unterstützung;<br />

die Netto-Ausgaben zulasten<br />

der Stadt betrugen 2013 insgesamt<br />

3,5 Millionen Franken. Gemeindezuschüsse<br />

werden ausgerichtet für den<br />

täglichen Lebensbedarf, als Mietzinszuschuss<br />

und zur Verbilligung von<br />

Bus-Abonnementen.<br />

Angesichts der angespannten Finanzlage<br />

hat der Stadtrat von Winterthur<br />

entschieden, dem Grossen Gemeinderat<br />

die Abschaffung der Gemeindezuschüsse<br />

per 31. Dezember <strong>2014</strong> zu beantragen.<br />

Die Gemeindezuschüsse sind die<br />

einzigen Bedarfsleistungen, bei denen<br />

die Stadt Winterthur einsparen kann,<br />

denn alle anderen individuellen Sozialausgaben<br />

sind von Bund und Kanton<br />

vorgeschrieben, liess die Stadtverwaltung<br />

kürzlich verlauten.<br />

Die Streichung der Gemeindezuschüsse<br />

trifft vor allem Rentnerinnen und<br />

Rentner in Mietverhältnissen. Personen,<br />

die heute Anspruch auf Gemeindezuschüsse<br />

haben, werden nach deren Abschaffung<br />

im Durchschnitt monatlich<br />

134 Franken weniger zur Verfügung<br />

haben! Aufgrund der finanziellen Lage<br />

der Stadt Winterthur sieht der Stadtrat<br />

jedoch keinen Spielraum, diese freiwilligen<br />

Leistungen auch in Zukunft finanzieren<br />

zu können.<br />

Die Zahl der älteren Menschen, die<br />

Ergänzungsleistungen zu ihrer<br />

AHV/IV-Rente benötigen, nimmt<br />

in Winterthur stetig zu – jene<br />

der Millionäre im Kanton Zürich<br />

ebenfalls.<br />

Die Anzahl Fälle von Zusatzleistungen<br />

zur AHV/IV stieg 2013 insgesamt um<br />

2.7 %. Bei den Menschen mit einer Behinderung<br />

stiegen die Fallzahlen um<br />

2.9 % (Vorjahr 3.7 %) und bei den Betagten<br />

um 2.6 % gegenüber 4.1 % im letzten<br />

Jahr. Es fällt auf, dass sich die finanzielle<br />

Situation betagter Menschen trotz<br />

stark ausgebauter beruflicher Vorsorge<br />

verschlechtert hat. Altersarmut hat verschiedene<br />

Ursachen: die Kündigung der<br />

Wohnung, ein Stellenverlust kurz vor<br />

der Pensionierung oder ein längerer Spitalaufenthalt<br />

bringen das schmale Budget<br />

älterer Menschen rasch aus dem<br />

Gleichgewicht. Weil sich Betroffene oft<br />

zurückziehen, bleibt Armut im Alter<br />

leider unsichtbar.<br />

Unfassbar harte Massnahmen für<br />

Betroffene<br />

Eine Mattenbach- Anwohnerin, Frau<br />

Silvia Helbling, kam kürzlich mit ihrem<br />

Anliegen auf die SR-Redaktion zu. Sie<br />

ist pensionierte IV-Rentnerin und aufgrund<br />

ihrer Erlebnisse und Erfahrungen<br />

ein sogenannter Härtefall, steuerlich<br />

benachteiligt und Opfer behördlicher<br />

Einstufungen, dies insbesondere<br />

seit sie mit ca. 55 Jahren eine IV-Rente<br />

bezieht.<br />

Ein Leben lang hat Frau Helbling als alleinerziehende<br />

Mutter hart gearbeitet<br />

und trotzdem wurde sie letztendlich<br />

gegenüber den meisten Sozialhilfe-Empfängern<br />

und AHV Bezügern stets benachteiligt,<br />

so die Anwohnerin mit Tränen<br />

in den Augen. Ich telefonierte ihr,<br />

um sie über die drohende Kürzung zu<br />

befragen – konkret bedeute dies für Sie<br />

Fr. 68.– bis maximal Fr. 134.– weniger<br />

pro Monat. Was sind schon 68 Franken?<br />

Für viele: sich beim monatlichen Essensvorrat<br />

ein wenig einschränken; für<br />

einmal auf ein Abendessen im Restaurant<br />

verzichten; sich ein wenig einschränken<br />

bei kleineren Verlockungen.<br />

Doch für die Anwohnerin Frau Silvia<br />

Helbling unfassbar viel mehr! Die Haare<br />

schneidet sie sich schon lange selber,<br />

den Coiffeur will und kann sie sich<br />

nicht leisten, geschweige sich in freizeitliche<br />

Aktivitäten stürzen. Sie verzichtet<br />

darauf, um für Ihren Enkel ab<br />

und an etwas zu entbehren. Was tun<br />

wir, wenn die Einnahmen für solch bescheidene<br />

Annehmlichkeiten niemals<br />

ausreichen? «Wir können ja ohnehin<br />

kaum überleben, das Budget reicht für<br />

das allernötigste im Leben, und im Allernötigsten<br />

ist Mobilität etwa in Form<br />

von Bus- und Bahnfahrten nicht vorgesehen.<br />

Und ohne die Unterstützung von<br />

Freunden und Familie ist es nicht zu<br />

schaffen.» Aus Scham wollen viele Betroffene<br />

keine öffentliche Stellung<br />

nehmen, umso mehr möchten wir die<br />

Konsequenzen für Betroffene dieser<br />

Massnahme hervorheben. Betroffene<br />

Schweizer und Schweizerinnen leben in<br />

kaum zumutbaren Verhältnissen, und<br />

ohne die Unterstützung durch Caritas,<br />

Pro Senectute, Pro Infirmis, kirchliche<br />

Institutionen etc. und nicht zuletzt die<br />

freiwilligen Gemeindezuschüsse an<br />

Mietzinsen oder Busbillette würde das<br />

Geld auch für das bescheidenste Budget<br />

nicht ausreichen.<br />

Im Kanton Zürich ist jeder<br />

10. Mensch von Armut im Alter<br />

betroffen<br />

Das landläufige Cliché der reichen Rentnerinnen<br />

und Rentner entspricht in keiner<br />

Weise der Realität, wie wir aus der<br />

Sozialberatung erfahren. Auch wenn<br />

der Anteil begüterter älterer Menschen<br />

im Kanton Zürich weiter zugenommen<br />

hat, ist der Anteil derer, die Ergänzungsleistungen<br />

(EL) in Anspruch nehmen<br />

müssen, stärker gewachsen als im gesamtschweizerischen<br />

Durchschnitt. In<br />

den letzten fünf Jahren hat sich die<br />

Anzahl von EL-Bezügern um 16 % auf<br />

25 767 Personen erhöht. Ein ähnliches<br />

Bild zeigt sich bei den sieben Dienstleistungszentren<br />

von Pro Senectute Kanton<br />

Zürich: 2013 haben sich 9 % mehr Ratsuchende<br />

an die Sozialarbeiterinnen<br />

und Sozialarbeiter gewandt als im Vorjahr,<br />

60 % davon mit finanziellen Anliegen.<br />

Pro Senectute, die sich weitgehend<br />

durch Spendengelder finanziert, hilft<br />

an ihren sieben Standorten im Kanton<br />

Zürich mit kostenlosen Beratungen, in<br />

besonderen Härtefällen auch mit finanzieller<br />

Hilfe. Mit Ihrer Spende können<br />

auch Sie dazu beitragen, dass Pro Senectute<br />

Kanton Zürich ihre Arbeit im<br />

Dienste älterer Menschen weiterführen<br />

kann: Postkonto 87-680192-1. Helfen Sie<br />

mit, Menschen ein Alter in Würde zu<br />

ermöglichen. Wir danken Ihnen auch<br />

im Namen der <strong>Sprachrohr</strong>-Redaktion<br />

herzlich!<br />

Diskussion in der Stadt -<br />

bevölkerung<br />

Der Stadtrat sieht aktuell keine Möglichkeit,<br />

weiterhin freiwillige Gemeindezuschüsse<br />

auszubezahlen. Was denken<br />

Sie, liebe Leser und Leserinnen, ist<br />

es richtig, diese Beiträge zu streichen?<br />

Was sind denkbare Alternativen, wie<br />

eine zeitweilige Steuererhöhung?<br />

Teilen Sie Ihre Meinungen auch auf der<br />

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