Rahmenkonzept „Erinnerungskultur und Demokratiebildung“
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Exkurs 2: „Konkurrenz der Opfer“ (Michel Chaumont) 17<br />
Selbst die Leserbriefflut um ein geplantes „neues Mahnmal“ in der Verdener Aller-Zeitung im<br />
November/Dezember 2007, die von abwehrenden Stimmen geprägt war, verrät – vermutlich<br />
mehr als die Schreiber es eigentlich beabsichtigten – das Bedürfnis der Vergewisserung der<br />
Erlebnisse der Vergangenheit. Wiederholt werden eigene Erfahrungen berichtet, die auf<br />
Krieg, Kriegsgefangenschaft, Flucht <strong>und</strong> Vertreibung verweisen. Dass hier wiederum neue<br />
Mythen aufgebaut <strong>und</strong> mit Schuldzuweisungen gearbeitet wird, verweist auf die<br />
Notwendigkeit des „Nicht-Vergessens“ durch die Etablierung von Lernanstößen <strong>und</strong><br />
Denkorten in der Nachbarschaft, begleitet von Schulen <strong>und</strong> gesellschaftlichen Organisationen<br />
wie Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Bildungsträgern <strong>und</strong> andere Organisationen.<br />
Die auffallende Referenz in den Leserbriefen auf Flucht <strong>und</strong> Vertreibung beschweigt die<br />
Erfahrungen der Deprivation am Ende der Flucht. Flüchtlinge <strong>und</strong> Vertriebene waren nach<br />
1945 für Einheimische nicht nur Fremde, sondern auch unerwünschte Konkurrenten um<br />
knappe Ressourcen. Für sie folgte dem Schock ihrer brutalen Vertreibung der Schock ihrer<br />
Diskriminierung. Kritische Reflexionen über diese "menschlichen Erniedrigungen" <strong>und</strong> den<br />
"ganze[n] Komplex mangelnder gesellschaftlicher Aufnahme <strong>und</strong> Anerkennung", wie sie die<br />
Evangelische Kirche in ihrer Ostdenkschrift 1965 18 anstellte, blieben selten <strong>und</strong> folgenlos. In<br />
beiden deutschen Nachkriegsgesellschaften wurde diese Konflikterfahrung beschwiegen oder<br />
geschichtsklitternd überformt. 19 Eine angemessene Auseinandersetzung mit der<br />
Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, die in den 1950er <strong>und</strong> frühen 1960er Jahren nicht<br />
geleistet wurde (werden konnte), hätte auch Flucht <strong>und</strong> Vertreibung als eine Folge des NS-<br />
Terrors in den besetzten Ländern erkennen <strong>und</strong> die Abwehrreaktionen der Einheimischen<br />
vielleicht abmildern können. Statt dessen lebten die Familien der Vertriebenen/Flüchtlinge<br />
zunächst in Parallelwelten 20 <strong>und</strong> integrierten sich erst in der 2. Generation, die nun mit zu den<br />
Gewinnern des Wirtschaftsw<strong>und</strong>ers gehörte. Sichtbares Zeichen in der Verdener<br />
Öffentlichkeit ist noch heute das „Vertriebenendenkmal“ (in manchen Publikationen auch<br />
Vertriebenenmahnmal genannt) im Bürgerpark, an dem nach wie vor Veranstaltungen mit<br />
17 Jean-Michel Chaumont: Die Konkurrenz der Opfer. Genozid, Identität <strong>und</strong> Anerkennung, Lüneburg 2001. Der<br />
Autor bezog seine Abhandlung auf die Konkurrenz der Opfer des Stalinismus zu denen des Nationalsozialismus.<br />
Er arbeitete heraus, dass die Verletzung von Menschenrechten unabhängig vom politischen System <strong>und</strong> den<br />
sonstigen jeweiligen Umständen, unter denen sie geschehen sind, nicht gegeneinander konkurrieren.<br />
18 Rat der EKD (Hg.): Die Lage der Vertriebenen <strong>und</strong> das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen<br />
Nachbarn, 1. Oktober 1965, vgl. dazu: http://www.ekd.de/presse/pm168_2005_ekd_poer_ostdenkschrift.html.<br />
19 Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008.<br />
20 Wolfgang Meinicke: Zur Integration der Umsiedler in die Gesellschaft 1945-1952, in: Zeitschrift für<br />
Geschichtswissenschaft 36 (1988), S. 867-878.<br />
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