almanah
Jahrbuch für Integration in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Ausgabe 2014 / 2015
Jahrbuch für Integration in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Ausgabe 2014 / 2015
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
<strong>almanah</strong><br />
den geschätzten 200.000 Gastarbeitern,<br />
die in den 60ern bis 80ern nach Österreich<br />
gekommen sind, um hier zu arbeiten.<br />
Offiziell sollen von 1964 bis 1971 40.000<br />
türkische und jugoslawische Arbeiter<br />
über den Amtsweg gekommen sein. Noch<br />
mehr fanden aber über Bekannte oder<br />
als Touristen eine Arbeit in Österreich.<br />
„Es war nie das Problem, dass zu viele da<br />
waren, man musste sie eher suchen“, sagt<br />
August Gächter vom Zentrum für Soziale<br />
Innovation (ZSI). Heuer feiert Österreich<br />
das 50-jährige Jubiläum zum Anwerbeabkommen<br />
mit der Türkei (siehe Info auf der<br />
nächsten Seite).<br />
Österreichs Wirtschaft litt vor allem<br />
in den 60ern unter starkem Arbeitskräftemangel<br />
und brauchte dringend billige<br />
Arbeitskräfte aus dem Ausland. Die<br />
Baubranche hatte schon 1961 begonnen<br />
Arbeiter im Ausland anzuwerben. Heimische<br />
Betriebe waren in einem regelrechten<br />
Konkurrenzkampf um Arbeitskräfte.<br />
Hinzu kam, dass Österreich eigentlich<br />
kein attraktiver Ort für Gastarbeiter war.<br />
Die meisten wollten nach Deutschland<br />
oder Belgien weiter, wo die Löhne viel<br />
höher waren, und sahen Österreich nur<br />
als Zwischenstopp. Das war ein großes<br />
Problem für heimische Betriebe, die immer<br />
wieder neue Leute anlernen mussten. Um<br />
ausländische Angestellte im Unternehmen<br />
zu halten, haben manche Betriebsleiter<br />
versucht bei der Fremdenpolizei zu intervenieren<br />
oder ihre Pässe einbehalten.<br />
Mindestlohn und Überstunden<br />
„Sie haben dir den Vertrag auf Deutsch<br />
hingehalten und du hast sofort unterschreiben<br />
müssen. Viele haben nicht<br />
einmal gewusst, was da steht“, erzählt<br />
Akif G. (Anm.: Name von der Redaktion<br />
geändert). Er kam 1979 als 18-Jähriger aus<br />
Ankara nach Wien. Damals hat sein Onkel<br />
schon als Gastarbeiter hier gearbeitet. Er<br />
hat im Baugewerbe, in einer Fischfabrik<br />
und später in einem Industriebetrieb gearbeitet.<br />
„Wir wussten zum Beispiel nicht,<br />
dass wir am Wochenende mehr verdienen<br />
dürfen. Das hat uns keiner gesagt“, sagt er.<br />
Die meisten Gastarbeiter haben nur den<br />
gesetzlichen Mindestlohn erhalten und<br />
„Ganz ehrlich, ich habe<br />
das als Sklavenarbeit<br />
empfunden.“<br />
Sagt Akif G. heute.<br />
wurden kaum über ihre Rechte aufgeklärt.<br />
„Manche von uns haben 3.000 bis 4.000<br />
Schilling im Monat verdient. Sie haben uns<br />
oft nur ein Viertel von dem bezahlt, was die<br />
Österreicher bekommen haben“, erzählt er.<br />
Doch auch jene, die wussten, was ihnen<br />
zusteht, haben sich nicht getraut aufzubegehren.<br />
Das Visum war an die Beschäftigung<br />
gekoppelt, die Arbeitsverträge waren<br />
meist auf ein Jahr befristet. Wer keinen Job<br />
hatte, musste das Land verlassen. „Ganz<br />
ehrlich, ich habe das als Sklavenarbeit<br />
empfunden“, sagt Akif G. heute.<br />
Für Frauen seien die Arbeitsbedingungen<br />
besonders schlimm gewesen, erzählt<br />
Ali Özbaş. Er ist Veranstalter der Ausstellung<br />
„Lebensgeschichten der ersten<br />
GastarbeiterInnen aus der Türkei: Eine<br />
Ausstellung zu über 50 Jahren türkische<br />
Arbeitsmigration nach Österreich“, die im<br />
Herbst landesweit startet. Auch wenn ein<br />
Großteil der Gastarbeiter Männer waren,<br />
so kamen doch auch Frauen, die vorwiegend<br />
in der Textilindustrie und manchmal<br />
im Gastgewerbe gearbeitet haben.<br />
Im Vergleich zum Baugewerbe oder zur<br />
Schwerindustrie waren die Gehälter in<br />
diesen Branchen aber sehr niedrig. Vor<br />
allem am Land gab es kaum Kinderbetreuungsplätze<br />
und viele Frauen hatten kein<br />
Recht auf Karenz, wenn sie nicht lange<br />
genug im Land waren. „Ich bin irgendwie<br />
alleine aufgewachsen“, erzählt Nesim G.,<br />
die als Sechsjährige mit ihren Eltern aus<br />
der Türkei nach Österreich gekommen ist.<br />
Viele Kinder wurden nach der Geburt zu<br />
den Großeltern in die Heimat geschickt<br />
oder sogar in staatliche Obhut gegeben.<br />
Wohnen „wie im Schweinestall“<br />
Am Anfang hat Akif G. in einer Fabrik<br />
gearbeitet und sich mit sieben weiteren<br />
Kollegen ein Zimmer geteilt. Es war gerade<br />
einmal groß genug für die vier Stockbetten,<br />
auf denen die Männer geschlafen<br />
haben. „Wir haben wie im Schweinestall<br />
gelebt!“ Bis weit in die 1970er mussten die<br />
Firmen theoretisch für die Unterkunft und<br />
die Beschäftigungsbewilligung ihrer ausländischen<br />
Arbeiter aufkommen. In der<br />
Praxis wurde aber vielen ein Teil des Lohns<br />
für Logis und für die Gebühren rund um die<br />
Erteilung der Beschäftigung abgezogen.<br />
„Waschmaschine oder Bad im Zimmer ‣<br />
JAHRBUCH FÜR INTEGRATION 19