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1 SPIELZEIT 06/07 Materialien zu NUR NOCH ... - Theater Ulm

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<strong>SPIELZEIT</strong> <strong>06</strong>/<strong>07</strong><br />

<strong>Materialien</strong> <strong>zu</strong><br />

<strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE<br />

Stück von Sabine Harbeke<br />

Premiere 28.10.<strong>06</strong> im Podium<br />

Zusammengestellt von<br />

Schauspieldramaturg<br />

Michael Sommer<br />

Tel. <strong>07</strong>31/161 44 15<br />

m.sommer@ulm.de<br />

Das Stück<br />

Text von Michael Sommer über <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE;<br />

Übersicht über die <strong>Materialien</strong>............................................................................. S. 2<br />

Die Autorin<br />

Text von Michael Sommer über Sabine Harbeke und ihre Stücke...................... S. 4<br />

„Wie kutschiert man über Jahre“<br />

Interview mit Sabine Harbeke über <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE ..................................... S. 10<br />

Hügel wie weiße Elefanten<br />

Kurzgeschichte von Ernest Hemingway im Original und in Überset<strong>zu</strong>ng .......... S. 12<br />

Ruf an, wenn du mich brauchst<br />

Kurzgeschichte von Raymond Carver .................................................................. S. 19<br />

Über Raymond Carver<br />

Philipp Carson „Carver und der Alkohol“<br />

William L. Stull „Carver und Tschechow“............................................................ S. 27<br />

Der Untergang des Amerikanischen Imperiums<br />

Exzerpte aus dem Skript des Spielfilms von Denys Arcand ............................... S. 33<br />

Geschichte der Ehe<br />

Ein NZZ Portfolio <strong>zu</strong>r Geschichte der Ehe von François Höpflinger ................... S. 36<br />

Ehe und Singledasein<br />

Stefan Hradil: Die Single-Gesellschaft<br />

Frank Naumann: Die Familie – Ein Auslaufmodell<br />

André Habisch: Erfolgsmodell Ehe ..................................................................... S. 42<br />

Quellennachweise ........................................................................................... S. 45<br />

1


<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Michael Sommer<br />

DAS STÜCK<br />

<strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE basiert auf Kurzgeschichten des amerikanischen Autors<br />

Raymond Carver (1938-1988), der wegen seines lakonischen Stils oft <strong>zu</strong> den so<br />

genannten „Minimalisten“ gezählt wird. Seine Figuren kämpfen sich in „privater<br />

Verzweiflung durchs Leben und erkennen in seltenen Augenblicken von Klarheit,<br />

dass das gute Leben, von dem sie gehofft hatten, es durch harte Arbeit <strong>zu</strong> erreichen,<br />

nicht kommen wird“ (Philip Carson). Die Stücke von Sabine Harbeke sind von<br />

ähnlichen Menschen bevölkert. Naheliegend also, dass die Autorin auf Geschichten<br />

dieses Meisters des Alltagstons <strong>zu</strong>rückgegriffen hat, um sie <strong>zu</strong> dramatisieren. Die<br />

Figuren des Stücks ähneln sich alle. Sie sind prosaische Helden, die unter kaputten<br />

Beziehungen leiden und verzweifelt nach Auswegen suchen. Fast austauschbar sind<br />

sie in ihren Schicksalen, so dass Harbeke vorschreibt, die neun Rollen von fünf<br />

Schauspielern spielen <strong>zu</strong> lassen, die jeweils von Szene <strong>zu</strong> Szene ihre Identität<br />

ändern. Eine Frage treibt sie um: Was ist Liebe, wie lässt sie sich retten, festhalten,<br />

konservieren Antworten werden nicht gegeben, aber es glänzen Augenblicke auf,<br />

die Ausnahmen von der deprimierenden Regel des Zerfalls <strong>zu</strong> sein scheinen.<br />

INHALT<br />

In sieben verschachtelten Szenen verfolgt <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE die Schicksale von<br />

Paaren, ehemaligen Paaren, einzelnen Menschen. Teils berühren sich die Figuren<br />

inhaltlich, teils sind sie durch theatralische Mittel miteinander verbunden. So gehen<br />

Schauspieler, die in einer Szene gespielt haben, offen in die nächste Szene über, um<br />

dort eine andere Figur <strong>zu</strong> spielen.<br />

Es handelt sich um vier <strong>zu</strong>grunde liegende Geschichten: Mary und Robert kommen in<br />

einem Ferienhaus an, um den Sommer gemeinsam <strong>zu</strong> verbringen. Sie sind<br />

verheiratet, haben einen Sohn und jeder der beiden hat eine weitere Beziehung. Sie<br />

haben vor, sich den Sommer <strong>zu</strong> geben, um noch einmal <strong>zu</strong> versuchen, ihre Ehe <strong>zu</strong><br />

retten. Während Robert alles versucht, um Harmonie und Alltäglichkeit her<strong>zu</strong>stellen,<br />

kann Mary nicht über die Schwierigkeiten, die sie haben, hinweg sehen. Am Ende des<br />

Stücks beschließt sie, am nächsten Tag wieder ab<strong>zu</strong>fahren.<br />

Die zweite Geschichte ist mit der ersten inhaltlich verbunden: Die beiden Paare<br />

Jennifer und Mark und Sally und Frederick verbringen den Abend miteinander. Mark<br />

ist Arzt, er hat die Opfer eines Unfalls behandelt (), von dem Mary und Robert in der<br />

ersten Geschichte erzählen. Thema der Unterhaltung zwischen den beiden Paaren<br />

ist die Liebe: Mark erzählt <strong>zu</strong>m einen von den Unfallopfern, einem alten Ehepaar, das<br />

nur sehr knapp überlebt hat, nur um depressiv <strong>zu</strong> werden, weil sie für die Dauer<br />

ihres Krankenhausaufenthaltes einander nicht sehen können. Zum anderen erzählt<br />

er von Jennifers Exmann und seiner Exfrau, Beziehungen, mit denen die beiden noch<br />

nicht fertig sind.<br />

Die dritte Geschichte ist eine Begegnung zwischen dem einsilbigen Burt und seiner<br />

Exfrau Sarah. Er kommt unangemeldet und nach langer Zeit <strong>zu</strong> ihr, es platzt aus ihr<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

heraus, sie macht ihm Vorwürfe, verzeiht ihm, unterstellt ihm, dass er nur<br />

gekommen ist, um Stoff <strong>zu</strong> finden (er ist offensichtlich Schriftsteller).<br />

Die vierte Geschichte schließlich ist der Monolog von Jeff, einem geschiedenen<br />

Mann. Er ist verschuldet, weil er seinem Bruder viel Geld geliehen hat, und darüber<br />

hinaus auch Verpflichtungen gegenüber seiner Mutter und seinen Kindern<br />

nachkommen muss. Sein Leben scheint aufopferungsvoll, er wird <strong>zu</strong>m<br />

Sympathieträger, was dadurch wieder qualifiziert wird, dass wir im Laufe seines<br />

Monologs von seinem Alkoholismus und seiner Gewalttätigkeit hören.<br />

MATERIALIEN ZU <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE<br />

Der Titel einer bekannte Kurzgeschichte von Raymond Carver, die die Grundlage <strong>zu</strong><br />

zwei Szenen in <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE bildet, lautet: „Wovon wir reden, wenn wir von<br />

Liebe reden.“ Diese Phrase fasst das Thema des Stücks prägnant <strong>zu</strong>sammen: Es<br />

geht um Menschen Ende dreißig, Anfang vierzig, deren Beziehungen gefährdet,<br />

zerbrochen oder in Frage gestellt sind. Statt dieser bekannten Kurzgeschichte habe<br />

ich mich entschieden, die weniger bekannte, posthum veröffentlichte Geschichte<br />

„Ruf mich an, wenn du mich brauchst“ von Raymond Carver in die<br />

<strong>Materialien</strong>sammlung auf<strong>zu</strong>nehmen. Sie bildet die Grundlage für die Szenen von<br />

Mary und Robert in <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE.<br />

Wenn die Figuren im Stück über sich, über ihre Beziehungen sprechen, so tun sie<br />

das meist indirekt, sie sprechen lieber übers Angeln, die Aussicht, die<br />

Geldschwierigkeiten. Die Vermeidungsstrategien ihres Diskurses sind gerade in der<br />

amerikanischen Literatur nicht ohne Vorläufer. Ich habe eine Kurzgeschichte von<br />

Ernest Hemingway „Hügel wie weiße Elefanten“ (im Original und in Überset<strong>zu</strong>ng) in<br />

die <strong>Materialien</strong>sammlung <strong>zu</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE aufgenommen, um eine solche<br />

„historische“ Parallele vor<strong>zu</strong>schlagen. Hemingway, der natürlich auch <strong>zu</strong> den großen<br />

Mentoren von Raymond Carver zählt, lässt hier genauso wie Carver und Harbeke<br />

seine Figuren konsequent das eigentliche Thema aussparen. Alkohol hilft ihnen,<br />

unbequeme Fragen <strong>zu</strong> stellen – und Alkohol fließt hier wie dort reichlich. Nur<br />

Antworten findet man auch auf dem Grund der Ginflasche keine.<br />

An dieser Stelle muss auch die Verknüpfung mit der Biographie von Raymond Carver<br />

erwähnt werden, der in weiten Teilen seiner Stories wohl durchaus eigene<br />

Erfahrungen verarbeitet. Carver war jahrelang Alkoholiker und zweimal verheiratet –<br />

ständig wiederkehrenden Attribute in der Welt seiner Figuren. Ich habe ein<br />

Biographisches Essay über den Autor ins Deutsche übersetzt und ebenfalls den<br />

<strong>Materialien</strong> beigegeben.<br />

Die Situationen der Paare und der einzelnen Partner gleichen sich in ihrer<br />

Machtlosigkeit, ihrer Lähmung gegenüber der Unmöglichkeit, individuelles Glück in<br />

einer Beziehung <strong>zu</strong> finden. Hier liegt eine Verbindung <strong>zu</strong> dem Film „Der Untergang<br />

des Amerikanischen Imperiums“, aus dem ich einen Teil des Dialoges transkribiert<br />

habe. Zum allgemeinen gesellschaftlichen Kontext, nämlich <strong>zu</strong>r Geschichte der<br />

Institution Ehe und <strong>zu</strong>m Trend <strong>zu</strong>r Single-Dasein, informieren zwei weitere Texte.<br />

3


<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Michael Sommer<br />

DIE AUTORIN<br />

"Meine Arbeit ist der Versuch, Geschichten des gewöhnlichen<br />

Lebens <strong>zu</strong> erzählen, ohne dabei dessen Poesie und Aktualität <strong>zu</strong><br />

übersehen. Ich empfinde es als notwendig, die Banalität des<br />

Alltags <strong>zu</strong> erdulden und sie <strong>zu</strong> fokussieren. Für mich ist sie<br />

Verweis und Umset<strong>zu</strong>ng der eigentlichen Komplexität des Lebens.<br />

Die Arbeit mit den Schauspielern ist zentral. Sie sind diejenigen,<br />

die meine Texte beleben. Die bei diesem Prozess entstehende<br />

Reibung lässt eine Emotionalität entstehen, die den Zuschauer mit<br />

einbezieht." (Sabine Harbeke)<br />

Foto: Peter Walder<br />

Sabine Harbeke, 1965 in der Schweiz geboren, studierte <strong>zu</strong>nächst Visuelle<br />

Kommunikation in Luzern und später Filmregie an der School of Visual Arts in New<br />

York. Sie lebte von 1996 bis 2002 in New York, wo sie dokumentarische und fiktionale<br />

Kurzfilme drehte. Unter anderem filmte und begleitete sie Schauspieler bei ihrer<br />

Arbeit im Actors Studio, der berühmtesten Schauspielwerkstatt der USA. Seit 1998<br />

ist sie selbst Mitglied der „Process Unit for Directors and Writers“ des Actors Studio.<br />

Ihre ersten Texte erschienen 1996 unter dem Titel ‚Alltagsgeschichten'. 1999 schrieb<br />

und inszenierte sie (mit amerikanischen und deutschen Schauspielern) den<br />

szenischen Text GOD EXISTS für das Hope and Glory Festival in Zürich, mit dem sie<br />

<strong>zu</strong> verschiedene Festivals und auch nach New York eingeladen wurde. Im gleichen<br />

Jahr drehte sie den Pilotfilm ‚Seefeld' für den Schweizer Fernsehsender TV3. Ihre<br />

nächsten Stücke entstanden als Auftragsarbeiten für das <strong>Theater</strong> Neumarkt in<br />

Zürich: WÜNSCHEN HILFT (2000), SCHNEE IM APRIL (2001), DER HIMMEL IST WEISS<br />

(2003) und LUSTGARTEN (ebenfalls 2003). Sie wurden jeweils in der Regie der<br />

Autorin uraufgeführt. <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE wurde im März 2004 im <strong>Theater</strong>haus<br />

Gessnerallee in Zürich uraufgeführt und 2005 als Gastspiel in den Sophiensälen in<br />

Berlin gezeigt. Das Schauspielhaus Bochum spielt das Stück seit Anfang Juni 20<strong>06</strong><br />

als „deutsche Erstaufführung“. Sabine Harbeke unterrichtet an der Hochschule für<br />

Musik und <strong>Theater</strong>, Zürich, und an der Hochschule für Gestaltung und Kunst, Luzern.<br />

Ihre jüngsten Stücke sind UND JETZT / AND NOW (UA 2004, Thalia <strong>Theater</strong>), und<br />

NACHTS IST ES ANDERS, 2005 für die Frankfurter Positionen geschrieben, wo das<br />

Stück als szenische Lesung präsentiert wurde.<br />

ÜBER DIE STÜCKE VON SABINE HARBEKE<br />

Sabine Harbeke schreibt prinzipiell in Minuskeln. Diese Eigenheit wirkt wie eine<br />

Verlängerung der verbalen Sparsamkeit ihrer Figuren. Äußerst knapp sind sie im<br />

Ausdruck, benutzen häufig nur Ein-Wort-Repliken, scheinen dekoratives Sprechen,<br />

oder auch nur die Fähigkeit sich selbst einigermaßen erschöpfend aus<strong>zu</strong>drücken, nie<br />

erlernt <strong>zu</strong> haben. Wiederholungen, ein verbales Sich-Im-Kreis-Drehen, kommen<br />

immer wieder vor. Die Welt von Sabine Harbeke ist keine Idylle, es ist eine<br />

Alltagswelt, deren Einwohner sich oft nicht verständlich machen können. Dennoch<br />

ist ihre Schreibweise deutlich unterschieden etwa von den Volksstücken von Franz<br />

Xaver Kroetz, der die Figuren, die einfachen Leute, ebenfalls sehr wortkarg daher<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

kommen lässt. Man tut ihm sicher nicht unrecht, einen gewissen Naturalismus als<br />

Ausgangspunkt <strong>zu</strong> unterstellen – wie sich etwa in seiner konsequenten Benut<strong>zu</strong>ng<br />

von süddeutschen Dialekten zeigt – das jedoch scheint Harbekes Interesse gar nicht<br />

<strong>zu</strong> sein. Obwohl die sprachliche Knappheit ihrer Figuren der Alltagswelt sicher<br />

ähnlich ist, bleibt doch stets der Eindruck einer kunstvollen Verdichtung der<br />

Sprache, einer Reduzierung auf das Wesentliche, das paradoxerweise immer das<br />

Unwesentliche ist. Wenn man einen Vergleich aus der bildenden Kunst heranziehen<br />

will, erinnert sowohl ihre formale Reduziertheit als auch die Kleinschreibung an den<br />

Schweizer Architekten und Bildhauer Max Bill (1908-1994), einen Hauptvertreter der<br />

Konkreten Kunst. Bills Skulpturen, die stets auf dem ästhetischen Reiz der<br />

einfachsten (mathematisch beschreibbaren) Formen beruhen, wurden von ihm als<br />

sinnliche „Konkretionen“ abstrakter Ideen aufgefasst. Dieser Vorgang ist dem<br />

Schreiben von Sabine Harbeke vergleichbar: Ihre Dialoge sind nur die Oberflächen<br />

von Ideen, Gefühlen, Konflikten, die unausgesprochen im Inneren der Figuren<br />

ausgetragen werden. Vieles läuft unter der Oberfläche ab, und genau hier liegt der<br />

Reiz ihrer Texte. Sie sind auf die einfachste Form reduzierte verbale Interaktion, die<br />

jedoch einen Kosmos in sich birgt. Im Folgenden ein Überblick über die bisher von<br />

Sabine Harbeke veröffentlichten Stücke.<br />

WÜNSCHEN HILFT. 2000<br />

Drei Geschwister, die Augenärztin Kathrin, der Buchhändler Matthias und die<br />

Radiomoderatorin Anne, kommen nach dem Tod ihrer Mutter im Elternhaus<br />

<strong>zu</strong>sammen, um ein Sommerfest <strong>zu</strong> ihrem Gedenken <strong>zu</strong> feiern. Das Haus wird jetzt<br />

von Samuel, einem stummen Grafiker bewohnt, der als junger Mann bei der Familie<br />

eingezogen war und die Mutter bis <strong>zu</strong> ihrem Tod pflegte. Der fünfte in der Runde ist<br />

Dirk, Annes Mann. Unter der <strong>zu</strong>nächst heiteren Oberfläche des Sommernachmittags<br />

liegen schwierige Verhältnisse und Erinnerungen: Der Vater hatte sich selbst getötet,<br />

und wurde von den Kindern gefunden. Schon der Umgang mit diesem Jahre <strong>zu</strong>rück<br />

liegenden Verlust fällt den Geschwistern nicht leicht, und noch schwieriger wird die<br />

Situation als Samuel gesteht, er habe die Mutter der drei geliebt und habe mit ihr in<br />

einer Beziehung gelebt.<br />

Der Umstand, dass eine Familiengeschichte verhandelt wird, indem alle Kinder im<br />

Elternhaus <strong>zu</strong>sammen kommen und einen Tag miteinander verbringen, lässt<br />

unwillkürlich an Tschechow denken. Vielmehr als dieses Konstruktionsprinzip hat<br />

das Stück freilich nicht mit dem russischen Dramatiker <strong>zu</strong> tun. Die Figuren sind<br />

verschleppten Konflikten ausgesetzt, und man hat den Eindruck, dass sie sich nur<br />

deshalb treffen, um diese Konflikte aus<strong>zu</strong>tragen, was sie auch in relativer<br />

Freundlichkeit tun. Die Sprache ist fließend, relativ alltäglich, aufgepeppt durch die<br />

Gebärdensprache des stummen Samuel und die Radiomoderatoren-Einlagen von<br />

Anne.<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

SCHNEE IM APRIL. 2002<br />

Als Glenn mit seiner Frau Amy seinen Geburtstag feiert, steht unerwartet ein Mann<br />

vor der Tür, der behauptet, sein Halbbruder <strong>zu</strong> sein. Nach anfänglichem Zögern<br />

glaubt Glenn Scott seine Geschichte und lädt ihn ein, da <strong>zu</strong> bleiben, während Amy<br />

dem Eindringling mit unverhohlener Ablehnung begegnet. Scott drängt sich in das<br />

Leben des Paares und verursacht schwerwiegende Krisen zwischen den beiden, bis<br />

Amy seine Behauptungen gründlich hinterfragt. Während Scott am Schluss<br />

verschwindet, finden Amy und Glenn vorsichtig wieder <strong>zu</strong>einander. Neben die kleine<br />

Wohnung des Paares setzt Harbeke eine Nachbarwohnung, in der eine junge Frau<br />

ohne Worte ihren alltäglichen Beschäftigungen nachgeht – für die gesamte Dauer<br />

des Stücks, vorwiegend liest sie Zeitung, trinkt Pepsi und schaut sich Ausschnitte<br />

aus Videofilmen an.<br />

Wieder eine Familiengeschichte, die allerdings gar nichts Tschechowsches mehr an<br />

sich hat. Die bedrohliche Atmosphäre, die die Einnistung von Scott ins Leben seines<br />

vermeintlichen Halbbruders hervorruft, erinnert an Pinter. Auch durch das stumme<br />

Spiel der Nachbarin wird die Erwartung des Lesers in Richtung große Entladung<br />

gelenkt, aber die Auseinanderset<strong>zu</strong>ng bleibt gedeckelt, es kommt nicht <strong>zu</strong>r<br />

Explosion.<br />

DER HIMMEL IST WEISS. 2002<br />

Erzählt wird die Geschichte von Maria, ihrem Mann Paul, ihrem früheren Freund Jan<br />

und ihrem Geliebten Eb. In dreizehn Szenen, die achronologisch hin und her<br />

springen, aber in ihrer Struktur sehr ähnlich sind, verfolgt man Marias Leben,<br />

eigentlich ihre Daseinsform in unterschiedlichen Beziehungen: Mit 23 ist sie mit dem<br />

unangepassten, flippigen Jan <strong>zu</strong>sammen, mit dem sie eine wilde, romantische aber<br />

absolut unausgewogene Beziehung führt. Später lernt sie Paul kennen, mit 37 führen<br />

sie eine stabile Ehe, haben eine Tochter, ihre Beziehung ist zärtlich aber nicht<br />

unbedingt spannend. Sie treffen sich in jeder Mittagspause im Park. Maria ist<br />

verantwortliche Beraterin in einer Agentur. Mit 51 hat sie eine Affäre mit dem<br />

Kapitän Eb, die <strong>zu</strong>nächst sehr erfüllend und verheißungsvoll ist, aber von seiner<br />

Seite beendet wird, und zwar in einem langen Prozess. Am Ende bleibt sie mit Paul<br />

<strong>zu</strong>sammen.<br />

Alle Szenen des Stücks spielen in einem Park. Maria trifft mit ihren Männern stets in<br />

höchst ähnlicher Weise <strong>zu</strong>sammen. Der repetetive, monotone Charakter, den das<br />

Stück hierdurch bekommt, erhöht zwar die Aufmerksamkeit für die<br />

unterschiedlichen Haltungen der Protagonistin in ihren verschiedenen<br />

Lebensphasen, verlangt dem Leser aber auch einige Kraftreserven ab. Sprachlich ist<br />

DER HIMMEL IST WEISS sehr reduziert, oft folgen Repliken, die ausschließlich aus<br />

einem Wort bestehen, aufeinander („Nein“ – „Doch“ – „Nein“).<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

LUSTGARTEN. 2003<br />

LUSTGARTEN besteht aus zwei Szenen: im ersten Teil sehen wir zwei Männer, die<br />

sich irgendwie im luftleeren Raum bewegen. Aus ihrem Dialog setzen sich langsam<br />

die Puzzleteile der Geschichte <strong>zu</strong>sammen: sie haben als Mitfahrer eine Frau<br />

begleitet, sich lange mit ihr unterhalten, sogar Karaoke mit ihr gesungen, bis sie sie<br />

schließlich, vielleicht aus einem Scherz heraus, in den Kofferraum gesperrt haben.<br />

Ob eine Vergewaltigt statt gefunden hat, wird nicht ganz deutlich. Jetzt verhandeln<br />

sie die Verantwortung, reden sich ein, dass es nicht so schlimm ist, und denken<br />

darüber nach, wie lange sie im Kofferraum bleiben soll, wo sie schon seit Stunden<br />

ist. Der zweite Teil ist der Monolog einer Frau. Wie sich heraus stellt, handelt es sich<br />

um die Schwester der im ersten Teil als Opfer vorkommenden Frau. Sie liebt ihre<br />

provokante, unangepasste Schwester nicht und wollte sich mit ihr Treffen, um ihren<br />

Hund in Pflege <strong>zu</strong> nehmen.<br />

Dieses Stück ist deshalb so spannend, weil die brutale Misshandlung der Frau, ihr<br />

Schicksal, vollkommen der Phantasie des Zuschauers überlassen bleibt – er muss<br />

sich <strong>zu</strong>sammen reimen, was da passiert ist. Auch die Art, in der Harbeke durch den<br />

Monolog der Schwester die Sympathie für das Opfer modifiziert, ist meisterhaft.<br />

Sprachlich sehr lakonisch, vor allem, wenn die Männer reden.<br />

<strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE. 2004<br />

Dieses Stück nach Kurzgeschichten von Raymond Carver verfolgt in sieben<br />

verschachtelten Szenen die Schicksale von Paaren, ehemaligen Paaren, einzelnen<br />

Menschen. Teils berühren sich die Figuren inhaltlich, teils sind sie durch<br />

theatralische Mittel miteinander verbunden. So gehen Schauspieler, die in einer<br />

Szene gespielt haben, offen in die nächste Szene über, um dort eine andere Figur <strong>zu</strong><br />

spielen. Es handelt sich um vier <strong>zu</strong>grunde liegende Geschichten: Mary und Robert<br />

kommen in einem Ferienhaus an, um den Sommer gemeinsam <strong>zu</strong> verbringen. Sie<br />

sind verheiratet, haben einen Sohn und jeder der beiden hat eine weitere Beziehung.<br />

Sie haben vor, sich den Sommer <strong>zu</strong> geben, um noch einmal <strong>zu</strong> versuchen, ihre Ehe <strong>zu</strong><br />

retten. Während Robert versucht, Harmonie und Alltäglichkeit her<strong>zu</strong>stellen, kann<br />

Mary nicht über die Schwierigkeiten, die sie haben, hinweg sehen. Am Ende des<br />

Stücks beschließt sie, am nächsten Tag ab<strong>zu</strong>fahren. Die zweite Geschichte ist mit der<br />

ersten inhaltlich verbunden: Die beiden Paare Jennifer und Mark und Sally und<br />

Frederick verbringen den Abend miteinander. Mark ist Arzt, er hat die Opfer eines<br />

Unfalls behandelt, von dem Mary und Robert in der ersten Geschichte erzählen.<br />

Thema der Unterhaltung zwischen den beiden Paaren ist die Liebe: Mark erzählt <strong>zu</strong>m<br />

einen von den Unfallopfern, einem alten Ehepaar, das nur sehr knapp überlebt hat,<br />

nur um depressiv <strong>zu</strong> werden, weil sie für die Dauer ihres Krankenhausaufenthaltes<br />

einander nicht sehen können. Zum anderen erzählt er von Jennifers Exmann und<br />

seiner Exfrau, Beziehungen, mit denen die beiden noch nicht fertig sind. Die dritte<br />

Geschichte ist eine Begegnung zwischen dem einsilbigen Burt und seiner Exfrau<br />

Sarah. Er kommt unangemeldet und nach langer Zeit <strong>zu</strong> ihr, es platzt aus ihr heraus,<br />

sie macht ihm Vorwürfe, verzeiht ihm, unterstellt ihm, dass er nur gekommen ist,<br />

um Stoff <strong>zu</strong> finden (er ist offensichtlich Schriftsteller). Die vierte Geschichte<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

schließlich ist der Monolog von Jeff, einem geschiedenen Mann. Er ist verschuldet,<br />

weil er seinem Bruder viel Geld geliehen hat, und darüber hinaus auch<br />

Verpflichtungen gegenüber seiner Mutter und seinen Kindern nachkommen muss.<br />

Sein Leben scheint aufopferungsvoll, er wird <strong>zu</strong>m Sympathieträger, was dadurch<br />

wieder qualifiziert wird, dass wir im Laufe seines Monologs von seinem<br />

Alkoholismus und seiner Gewalttätigkeit hören.<br />

Kaputte Beziehungen, darum geht es in diesem Stück, und sie sind sich alle ähnlich,<br />

haben alle miteinander <strong>zu</strong> tun, wie sie Harbeke da beschreibt. Die sinnfällige<br />

Austauschbarkeit der Figuren und Schicksale wird nur in einigen auffälligen<br />

Momenten durchbrochen: <strong>zu</strong>m einen ist es die Geschichte von den Unfallopfern, <strong>zu</strong>m<br />

anderen ist es das Paar Sally und Frederick, das nicht von sich spricht. Hier scheint<br />

es Ausnahmen von der deprimierenden Regel des Zerfalls <strong>zu</strong> geben. Ein Stück, das<br />

bei aller Düsterkeit doch sehr menschlich bleibt.<br />

NACHTS IST ES ANDERS. 2005<br />

Der Aufenthaltsraum eines Krankenhauses in dem in einer Nacht Menschen<br />

<strong>zu</strong>sammentreffen. Marie ist Patientin; sie ist erst 28, aber durch Bulimie derart<br />

geschwächt, dass sie wohl bald sterben wird. Sie wird besucht von Martin, ihrem<br />

Zwillingsbruder, den sie seit Jahren nicht gesehen hat – ihre Beziehung ist<br />

schwierig, er hat sie mit dem Vater allein gelassen, bis auch sie irgendwann ging.<br />

Martin trifft <strong>zu</strong>fällig Pia, seine Jugendliebe, die Schwester im Krankenhaus ist. Sie<br />

freut sich über das Treffen, erzählt ihm aber nicht, dass sie ein Kind von ihm hat –<br />

und es ist unklar, ob sie sich wieder sehen werden. Pias Nachbar Schlick wartet auf<br />

sie, weil er mit seinem Kumpel Weber <strong>zu</strong>sammen Drogen von ihr kaufen will.<br />

Unfreiwillig gerät er mit Jürgen Stoob aneinander, der mit seiner schwerhörigen und<br />

etwas verwirrten Mutter <strong>zu</strong>sammen auf den Ausgang einer Notoperation an seiner<br />

Tochter wartet. Der gewalttätige, sadistische Stoob schlägt die beiden jungen<br />

Männer und sediert seine Mutter mit Tabletten. Am Ende trifft er auf Marie, die auf<br />

der Suche nach einem Mann für ein schnelles Sexabenteuer ist – er ist sehr<br />

aufgeschlossen ihrem Ansinnen gegenüber, aber sie kommen nicht <strong>zu</strong>sammen.<br />

Eine interessante Konstellation von Figuren trifft da im Wartesaal, diesem<br />

exemplarischen dramatischen Gesellschaftslaboratorium der Postmoderne,<br />

aufeinander. Es ist das vielleicht actionreichste von Harbekes Stücken, in dem<br />

Machtverhältnisse in Beziehungen ausgehandelt werden.<br />

UND JETZT. 2005<br />

Eine anonyme Gruppe von Menschen – sieben Schauspieler – spielen einige Szenen,<br />

die lose inhaltlich miteinander verbunden sind. Die Figuren sind jeweils mit „eine<br />

frau“ – „ein anderer“ – „sein bruder“ etc. bezeichnet, so dass es bei Szenen mit<br />

vielen Figuren ausgesprochen schwierig ist, den Überblick über die Identitäten <strong>zu</strong><br />

behalten. Folgende Konstellationen: (1) alle – sprechen über Hundehaltung. (2) eine<br />

frau – erzählt von ihrem Hobby: seit ihr Mann und ihr Geliebter im World Trade<br />

8


<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Center umgekommen sind, verletzt sie andere Menschen absichtlich. (3) er und sie –<br />

ein ehemaliges Paar; sie kommt aufgeregt <strong>zu</strong> ihm, weil ihr Vater in einem fremden<br />

Land verunglückt ist, er lässt sie auflaufen. Sie werden gestört von einem<br />

Obdachlosen, der gegen Geld ein Gedicht schreiben will. (4) eine frau – wie (2). (5)<br />

brüder – der eine verlässt seine Wohnung nicht mehr, seit er vor der Tür<br />

<strong>zu</strong>sammengeschlagen wurde. Sein Bruder versucht ihn, da<strong>zu</strong> <strong>zu</strong> bewegen, mit ihm<br />

ans Totenbett der Mutter <strong>zu</strong> kommen. (6) zwei männer – ein mann auf der Straße<br />

wird von dem Obdachlosen angesprochen, der ihm ein Gedicht gegen Geld schreiben<br />

will. (7) eine frau – noch einmal die Frau von oben. (8) zwei männer – wieder der<br />

Passant und der Obdachlose, ihre Begegnung endet gewalttätig, indem der Mann<br />

dem Obdachlosen gegen seinen Willen Bier einflößt. (9) der eine und der andere - ein<br />

schwules Paar, er ist Therapeut, der andere trockener Alkoholiker, der <strong>zu</strong>m ersten<br />

Mal seit Jahren wieder etwas getrunken hat. Die Szene endet absurd damit, dass sie<br />

versuchen den Geruch <strong>zu</strong> konservieren, der in der Luft liegt. (10) bruder, schwester<br />

und ehemann – Der amerikanische Ehemann feiert Geburtstag in seinem Office, mit<br />

Blick auf Ground Zero. In der Ehe kriselt es. Der Bruder versucht die Schwester<br />

davon <strong>zu</strong> überzeugen, wieder mit nach Deutschland <strong>zu</strong> kommen, aber das lehnt sie<br />

bei aller Krise ab. (11) alle – reden über Hundehaltung, Kindesmissbrauch, Dinge, für<br />

die sie sich schämen.<br />

Der Elfte September spielt eine gewisse Rolle im Stück, ansonsten lässt sich ein<br />

gemeinsames Thema nicht leicht formulieren. Es handelt sich wiederum um eine Art<br />

Gesellschaftspanorama, insofern exemplarische Figuren unserer Zeit Geschichten<br />

erzählen, freilich ohne festen formalen Rahmen.<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

„Wie kutschiert man über Jahre“<br />

Interview mit Sabine Harbeke, Autorin von <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE<br />

Welche Bedeutung hat Raymond Carver generell für Sie, und wie wichtig war er bei<br />

der Entstehung von <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE<br />

Er ist einer meiner Helden und davon gibt es nicht so viele. Ich habe ihn für mich<br />

entdeckt, als ich in New York lebte, erst später merkte ich, daß ganz Amerika ihn<br />

schon lange verehrt, lange vor Short Cuts. Ich habe gleich eine Art Verwandtschaft<br />

des Erzählens gespürt, und damals viel von ihm gelesen. Das war Anfang der<br />

Neunziger. Als ich selbst <strong>zu</strong> schreiben begann, habe ich ihn nicht mehr gelesen, weil<br />

ich wußte, daß ich etwas mit ihm <strong>zu</strong> tun habe. Erst viel später, als ich eine eigene<br />

Sprache entwickelt hatte, habe ich mich der Aufgabe gestellt, Carver <strong>zu</strong> adaptieren.<br />

Die Auswahl der Geschichten hat einiges mit Carvers Biographie <strong>zu</strong> tun, und selbst<br />

für Leute, die Carver in- und auswendig kennen, öffnet sich vielleicht noch mal eine<br />

ganz neue Perspektive.<br />

Die Geschichten, die Sie als Grundlage benutzt haben, stammen alle aus den<br />

Achtzigern. Haben diese Arten von Beziehungen heute noch genauso Gültigkeit Also<br />

spielt <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE in den Achtzigern oder spielt es heute<br />

Heute. Unbedingt heute. Leider. Wir wissen ja immer noch nicht, wie man eigentlich<br />

eine Liebe aufrecht erhalten soll über Jahrzehnte. (...) Manchmal habe ich das<br />

Gefühl, man sollte, trotzdem die Figuren auf Carver basieren, deutsche Namen<br />

verwenden. Als ich nur noch heute dieses Jahr in Bochum gesehen habe, dachte ich,<br />

Mary und Robert müßten eigentlich Maria und Robert heißen. Dadurch wäre ein<br />

anderer Be<strong>zu</strong>g <strong>zu</strong> den Figuren möglich; man könnte sie sich nicht einfach vom Leibe<br />

halten und sagen „Ja, so sind eben die Amis“.<br />

Die Figuren leben in kaputten Ehen oder haben sie hinter sich. Ist – von Carver oder<br />

auch von Ihnen - die Institution Ehe in Frage gestellt<br />

Das glaube ich nicht, weil auch ganz anders geheiratet wird in Amerika. Da hat man<br />

ja schon mit dreißig – obwohl die Figuren alle zwischen 33 und 49 sind – eine Ehe<br />

hinter sich. Vielleicht mit vierzig schon die zweite. Ich denke nicht, daß es die<br />

Institution Ehe ist, die Carver in Frage stellt, ich übrigens auch nicht, sondern ganz<br />

grundsätzlich die Liebe oder die Partnerschaft. Wie kutschiert man über Jahre –<br />

auch wenn nicht mehr alles jungfräulich ist, man einige Lieben hinter sich hat und<br />

schon angeschlagen ist. Man trägt ja immer einen Rucksack mit sich herum, ist<br />

geschädigt durch verschiedene Beziehungen – und die Frage ist, wie kann man<br />

trotzdem die nächste Liebe leben.<br />

Die Geschichten im Stück sind miteinander verknüpft, formal dadurch, daß die<br />

Schauspieler von einer Szene in die andere übergehen, und auch inhaltlich. Welche<br />

Qualität hat dieses Geflecht für Sie Ist es etwa wie in Schnitzlers REIGEN eine<br />

Unentrinnbarkeit<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Das war für mich der eigentliche Knackpunkt. Als ich diese Verknüpfungen gefunden<br />

hatte, wusste ich, jetzt kann ich Carver adaptieren. Ich hatte einen eigenen Umgang<br />

mit dem Material gefunden, denn ich wollte auf keinen Fall Short Cuts nachahmen.<br />

Das Weiterreichen der Figuren ist für mich sehr wichtig. Die Tatsache, daß nicht<br />

jeder nur ein Schicksal hat oder nur ein Schicksalsschlag erleidet und damit hat es<br />

sich. Also die Unentrinnbarkeit: Wann kommt es wieder Oder die Variante davon<br />

Und zieht sich so etwas durch das Leben durch, also auch bei einer dritten<br />

Begegnung, mit der dritten Frau. Ich glaube, daß man aus diesem Geflecht, aus den<br />

eigenen Mustern sehr schwer heraus findet. Deshalb habe ich die Figuren und ihre<br />

Geschichten auf diese Art verdichtet.<br />

Also Fallen, in die alle immer wieder tappen...<br />

Wir sind ja alle latente Wiederholungstäter.<br />

Es sind Momentaufnahmen von Lebenssituationen, die in <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE gezeigt<br />

werden. Besteht die Möglichkeit für die Figuren, etwas <strong>zu</strong> ändern Eine Frage also<br />

nach dem Optimismus im Stück.<br />

Ich finde beispielsweise jeff ist trotz allem noch optimistisch. Obwohl er sich mit<br />

Hemd und Seele verkauft, alles gibt, was er hat und unheimlich einsam ist, sagt er<br />

am Schluß „sie sind alle gesund... das ist das wichtigste.“ Und er macht weiter, es<br />

gibt immer noch einen Funken Hoffnung.<br />

Abschließend noch eine Frage: Was hat es mit dem fischförmigen Salzgebäck auf<br />

sich<br />

(lacht) Naja, Carver war leidenschaftlicher Fischer.<br />

Ich hatte eigentlich erwartet, daß Sie mir jetzt sagen „Ich esse gern Goldfischli.“ Aber<br />

so einfach konnte es natürlich nicht sein.<br />

Nein, konnte es nicht – das ist wohl ein Zeichen meiner Liebe <strong>zu</strong>m Detail. Oder wie<br />

die Amerikaner sagen: „God lives in the details“.<br />

Das Gespräch mit Sabine Harbeke führte Schauspieldramaturg Michael Sommer.<br />

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Ernest Hemingway<br />

HILLS LIKE WHITE ELEPHANTS<br />

The hills across the valley of the Ebro were long and white. On this<br />

side there was no shade and no trees and the Station was between<br />

two lines of rails in the sun. Close against the side of the station<br />

Acre was the warm shadow of the building and a curtain, made of<br />

strings of bamboo beads, hung across the open door into the bar, to<br />

keep out flies. The American and the girl with him sat at a table in<br />

the shade, outside the building. It was very hot and the express<br />

from Barcelona would come in forty minutes. It stopped at this<br />

Ernest Hemingway<br />

junction for two minutes and went on to Madrid.<br />

'What should we drink' the girl asked. She had taken off her hat and put it on the<br />

table.<br />

'It's pretty hot,' the man said.<br />

'Let's drink beer.'<br />

'Dos cervezas,' the man said into the curtain.<br />

'Big ones' a woman asked from the doorway.<br />

'Yes. Two big ones.'<br />

The woman brought two glasses of beer and two felt pads. She put the felt pads<br />

and the beer glasses on the table and looked at the man and the girl. The girl was<br />

looking off at the line of hills. They were white in the sun and the country was brown<br />

and dry.<br />

'They look like white elephants,' she said.<br />

'I’ve never seen one.’ The man drank his beer.<br />

'No, you wouldn't have.'<br />

'I might have,' the man said. 'Just because you say I wouldn't have doesn't prove<br />

anything.'<br />

The girl looked at the bead curtain. 'They’ve painted something on it,' she said.<br />

'What does it say'<br />

'Anis del Toro. It's a drink.'<br />

'Could we try it'<br />

The man called 'Listen' through the curtain.<br />

The woman came out from the bar.<br />

'Four reales.'<br />

'We want two Anis del Toros.'<br />

'With water'<br />

'Do you want it with water'<br />

'I don't know,' the girl said. 'Is it good with water '<br />

'It's all right.'<br />

'You want them with water' asked the woman.<br />

'Yes, with water.'<br />

'It tastes like licorice,' the girl said and put the glass down.<br />

'That's the way with everything.'<br />

'Yes,' said the girl. 'Everything tastes of licorice. Especially all the things you've<br />

waited so long for, like absinthe.'<br />

'Oh, cut it out.'<br />

'You started it,' the girl said. 'I was being amused. I - was having a fine time.'<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

'Well, let's try and have a fine time.'<br />

'All right. I was trying. I said the mountains looked like white elephants. Wasn't<br />

that bright '<br />

'That was bright.'<br />

'I wanted to try this new drink. That's all we do, isn't it - look at things and try new<br />

drinks '<br />

'I guess so,'<br />

The girl looked across at the hills.<br />

'They're lovely hills,' she said. 'They don't really look like white elephants. I just<br />

meant the colouring of their skin through the trees.'<br />

'Should we have another drink'<br />

'All right.'<br />

The warm wind blew the bead curtain against the fable.<br />

'The beer's nice and cool,' the man said.<br />

'It's lovely,' the girl said.<br />

'It's really an awfully simple Operation, Jig,' the man said.<br />

'It's not really an Operation at all.'<br />

The girl looked at the ground the table legs rested on.<br />

'I know you wouldn't mind it, Jig. It's really not anything. It's just to let the air in.'<br />

The girl did not say anything.<br />

'I'll go with you and I'll stay with you all the time. They just let the air in and then<br />

it's all perfectly natural.'<br />

'Then what will we do afterwards '<br />

'We'll be fine afterwards. Just like we were before. '<br />

'What makes you think so'<br />

'That's the only thing that bothers us. It's the only thing that's made us unhappy. '<br />

The girl looked at the bead curtain, put her hand out and took hold of two of the<br />

strings of beads.<br />

'And you think then we'll be all right and be happy.'<br />

'I know we will. You don't have to be afraid. I've known lots of people that have<br />

done it.'<br />

'So have I,' said the girl. 'And afterward they were all so happy.'<br />

'Well,' the man said, 'if you don't want to you don't have to. I wouldn't have you do<br />

it if you didn't want to. But I know it's perfectly simple.'<br />

'And you really want to'<br />

'I think it's the best thing to do. But I don't want you to do it if you don't really want<br />

to.'<br />

'And if I do it you'll be happy and things will be like they were and you'll love me'<br />

'I love you now. You know I love you.'<br />

'I know. But if I do it, then it will be nice again if I say things are like white<br />

elephants, and you'll like it'<br />

'I'll love it. I love it now but I just can't think about it. You know how I get when I<br />

worry.'<br />

'If I do it you won't ever worry'<br />

'I won't worry about that because it's perfectly simple.'<br />

'Then I'll do it. Because I don't care about me.'<br />

'What do you mean'<br />

'I don't care about me.'<br />

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'Well, I care about you.'<br />

'Oh, yes. But I don't care about me. And I'll do it and then everything will be fine.'<br />

'I don't want you to do it if you feel that way.'<br />

The girl stood up and walked to the end of the Station. Across, on the other side,<br />

were fields of grain and trees along the banks of the Ebro. Far away, beyond the<br />

river, were mountains. The shadow of a cloud moved across the field of grain and she<br />

saw the river through the trees.<br />

'And we could have all this,' she said. 'And we could have everything and every day<br />

we make it more impossible.'<br />

'What did you say'<br />

'I said we could have everything.'<br />

'We can have everything.'<br />

'No, we can't.'<br />

'We can have the whole world.'<br />

'No, we can't.'<br />

'We can go everywhere.'<br />

'No, we can't. It isn't ours any more.'<br />

'It's ours.'<br />

'No, it isn't. And once they take it away, you never get it back.'<br />

'But they haven't taken it away.'<br />

'We'll wait and see.'<br />

'Come on back in the shade,' he said. 'You mustn't feel that way.'<br />

'I don't feel any way,' the girl said. 'I just know things.'<br />

'I don't want you to do anything that you don't want to do-'<br />

'Nor that isn't good for me,' she said. 'I know. Could we have another beer'<br />

'All right. But you've got to realize -'<br />

'I realize,' the girl said. 'Can't we maybe stop talking '<br />

They sat down at the table and the girl looked across at the hills on the dry side of<br />

the valley and the man looked at her and at the table.<br />

'You've got to realize,' he said, 'that I don't want you to do it if you don't want to. I'm<br />

perfectly willing to go through with it if it means anything to you.'<br />

'Doesn't it mean anything to you We could get along.'<br />

'Of course it does. But I don't want anybody but you. I don't want anyone else. And I<br />

know it's perfectly simple.'<br />

'Yes, you know it's perfectly simple.'<br />

'It's all right for you to say that, but I do know it.'<br />

'Would you do something for me now'<br />

'I'd do anything for you.'<br />

'Would you please please please please please please please stop talking'<br />

He did not say anything but looked at the bags against the wall of the Station.<br />

There were labels on them from all the hotels where they had spent nights.<br />

'But I don't want you to,' he said, 'I don't care anything about it.'<br />

'I'll scream.' the girl said.<br />

The woman came out through the curtains with two glasses of beer and put them<br />

down on the damp felt pads. 'The train comes in five minutes,' she said.<br />

'What did she say' asked the girl.<br />

'That the train is coming in five minutes.'<br />

The girl smiled brightly at the woman, to thank her.<br />

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'I'd better take the bags over to the other side of the station,' the man said. She<br />

smiled at him.<br />

'All right. Then come back and we'll finish the beer.'<br />

He picked up the two heavy bags and carried them around the Station to the other<br />

tracks. He looked up the tracks but could not see the train. Coming back, he walked<br />

through the bar-room, where people waiting for the train were drinking. He drank an<br />

Anis at the bar and looked at the people. They were all waiting reasonably for the<br />

train. He went out through the bead curtain. She was sitting at the table and smiled<br />

at him.<br />

'Do you feel better' he asked.<br />

'I feel fine,' she said. 'There's nothing wrong with me. I feel fine.'<br />

Aus: Ernest Hemingway. Men Without Women. London: Grafton, 1977.<br />

Ernest Hemingway<br />

HÜGEL WIE WEISSE ELEFANTEN<br />

Die Hügel jenseits des Ebrotals waren lang und weiß. Auf dieser Seite gab es keinen<br />

Schatten und keine Bäume, und der Bahnhof lag zwischen zwei Schienensträngen in<br />

der Sonne. Bis dicht an den Bahnhof fiel der warme Schatten des Gebäudes, und ein<br />

Vorhang der aus Schnüren von Bambusperlen gemacht war, hing, um die Fliegen<br />

ab<strong>zu</strong>halten, vor der offenen Tür, die in die Bar führte. Der Amerikaner und das<br />

Mädchen, das mit ihm war, saßen draußen vor dem Gebäude an einem Tisch im<br />

Schatten. Es war sehr heiß, und der Express aus Barcelona sollte in vierzig Minuten<br />

kommen. Er hielt zwei Minuten an diesem Knotenpunkt und fuhr dann weiter nach<br />

Madrid.<br />

„Was sollen wir trinken“ frage das Mädchen. Sie hatte ihren Hut abgenommen<br />

und ihn auf den Tisch gelegt.<br />

„Es ist mächtig heiß“, sagte der Mann.<br />

„Wir wollen Bier trinken.“<br />

„Dos cervezas“, sagte der Mann gegen den Vorhang.<br />

„Große“ fragte die Frau auf der Türschwelle.<br />

„Ja, zwei Große.“<br />

Die Frau brachte zwei Gläser und zwei Fil<strong>zu</strong>ntersätze. Sie setzte die Fil<strong>zu</strong>ntersätze<br />

und die Biergläser auf den Tisch und blickte den Mann und das Mädchen an. Das<br />

Mädchen wandte den Blick ab, der Hügelkette <strong>zu</strong>. Sie lag weiß in der Sonne, und das<br />

Land war braun und trocken.<br />

„Sie sehen wie weiße Elefanten aus“, sagte sie.<br />

„Ich hab noch nie einen gesehen.“ Der Mann trank sein Bier.<br />

„Nein, natürlich nicht.“<br />

„Wäre doch möglich gewesen“, sagte der Mann. „Dass du ‚nein, natürlich nicht’<br />

sagst, beweist gar nichts.“<br />

Das Mädchen sah auf den Perlenvorhang. „Da ist was draufgemalt“, sagte sie.<br />

„Was heißt es“<br />

„Anis del Toro. Ein Getränk.“<br />

„Können wir’s versuchen“<br />

Der Mann rief „Bedienung“ durch den Vorhang. Die Frau kam aus der Bar heraus.<br />

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„Vier Reales.“<br />

„Wir möchten zwei Anis del Toro.“<br />

„Mit Wasser“<br />

„Willst du’s mit Wasser“<br />

„Ich weiß nicht“, sagte das Mädchen. „Ist es gut mit Wasser“<br />

„Ganz gut.“<br />

„Wollen Sie’s mit Wasser“ fragte die Frau.<br />

„Ja, mit Wasser.“<br />

„Es schmeckt wie Lakritze“, sagte das Mädchen und setzte ihr Glas hin.<br />

„So geht’s mit allem.“<br />

„Ja“, sagte das Mädchen, „alles schmeckt nach Lakritze. Hauptsächlich all die<br />

Sachen, auf die man so lange hat warten müssen wie auf Absinth.“<br />

„Ach, hör schon auf.“<br />

„Du hast angefangen“, sagte das Mädchen. „Ich amüsiere mich. Ich war gerade so<br />

vergnügt.“<br />

„Du hast angefangen“, sagte das Mädchen. „Ich amüsiere mich. Ich war gerade so<br />

vergnügt.“<br />

„Gut, versuchen wir’s; seien wir vergnügt.“<br />

„Schön. Ich versuchte es gerade. Ich sagte, dass die Berge wie weiße Elefanten<br />

aussehen. War das nicht originell“<br />

„Das war sehr originell.“<br />

„Ich wollte dieses neue Zeugs probieren. Das ist alles, was wir tun, nicht wahr<br />

Sachen angucken und neue Getränke probieren.“<br />

„Stimmt wohl.“<br />

Das Mädchen sah <strong>zu</strong> den Hügeln hinüber.<br />

„Es sind wundervolle Hügel“, sagte sie. „Sie sehen eigentlich nicht wie weiße<br />

Elefanten aus. Ich meinte nur die Färbung ihrer Haut durch die Bäume.“<br />

„Wollen wir noch was trinken“<br />

„Schön.“<br />

Der warme Wind blies den Perlenvorhang gegen den Tisch.<br />

„Das Bier ist gut und kalt“, sagte der Mann.<br />

„Es ist herrlich“, sagte das Mädchen.<br />

„Es ist wirklich eine furchtbar einfache Operation, Jig“, sagte der Mann. „Es ist<br />

eigentlich gar keine Operation.“<br />

Das Mädchen sah <strong>zu</strong> Boden, unten auf die Tischbeine.<br />

„Ich weiß, dass es dir nichts ausmacht, Jig. Es ist tatsächlich gar nichts. Es wird<br />

nur Luft hineingelassen.“<br />

Das Mädchen sagte gar nichts.<br />

„Ich komme mit und bleibe die ganze Zeit über bei dir. Es wird nur Luft<br />

hineingelassen, und dann geht es alles von selbst.“<br />

„Was werden wir denn nachher tun“<br />

„Nachher wird’s uns wieder gut gehen. Genauso wie früher.“<br />

„Wieso glaubst du das“<br />

„Es ist das einzige, was uns Sorge macht. Es ist das einzige, was uns unglücklich<br />

gemacht hat.“<br />

Das Mädchen sah auf den Perlenvorhang, streckte ihre Hand aus und ergriff zwei<br />

der Perlenschnüre.<br />

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„Und du glaubst, dass dann alles in Ordnung sein wird und dass wir glücklich sein<br />

werden“<br />

„Ich weiß, dass es so sein wird. Du brauchst keine Angst <strong>zu</strong> haben. Ich kenne eine<br />

Menge Leute, die’s gemacht haben.“<br />

„Ich auch“, sagte das Mädchen. „Und nachher waren sie alle so glücklich.“<br />

„Nun“, sagte der Mann. „Wenn du nicht willst, brauchst du doch nicht. Ich will<br />

nicht, dass du es dir machen lässt, wenn du’s nicht willst. Aber ich weiß, dass es<br />

ganz einfach ist.“<br />

„Und willst du es wirklich“<br />

„Ich glaube, es ist das Beste, was man tun kann. Aber ich will nicht, dass du es<br />

tust, wenn du es nicht wirklich willst.“<br />

„Und wenn ich es tue, wirst du dann wieder glücklich sein, und wird dann wieder<br />

alles wie früher Und wirst du mich dann wieder lieb haben“<br />

„Ich hab dich jetzt auch lieb. Du weißt, dass ich dich lieb habe.“<br />

„Ich weiß. Aber wenn ich’s tue, dann wird es wieder hübsch sein, wenn ich sage,<br />

dass die Dinge wie weiße Elefanten aussehen, und du wirst es wieder mögen, ja“<br />

„Aber gewiss, natürlich; ich mag es doch jetzt auch; ich kann nur einfach an nichts<br />

denken. Du weißt, wie ich bin, wenn ich mir Gedanken mache.“<br />

„Und wenn ich’s tue, wirst du dir bestimmt niemals Gedanken machen“<br />

„Darüber werde ich mir keine Gedanken machen, weil es ganz einfach ist.“<br />

„Dann werde ich’s machen. Es geht ja nicht um mich.“<br />

„Was meinst du damit“<br />

„Es geht mir ja nicht um mich.“<br />

„Aber mir geht’s um dich.“<br />

„O ja. Aber mir geht’s nicht um mich. Und ich werde es tun, und dann ist alles<br />

wieder schön.“<br />

„Ich will nicht, dass du es dir machen lässt, wenn dir so <strong>zu</strong>mute ist.“<br />

Das Mädchen stand auf und ging bis <strong>zu</strong>m Ende des Bahnhofs. Drüben auf der<br />

anderen Seite waren Getreidefelder und Bäume an den Ufern des Ebro. Weit weg,<br />

jenseits des Flusses, waren Berge. Der Schatten einer Wolke bewegte sich über das<br />

Getreidefeld, und sie sah den Fluss zwischen den Bäumen.<br />

„Und all das könnte uns gehören“, sagte sie. „Und wir könnten alles haben, und<br />

mit jedem Tag machen wir es immer unmöglicher.“<br />

„Was hast du gesagt“<br />

„Ich sagte, dass wir alles haben könnten.“<br />

„Wir können alles haben.“<br />

„Nein, das können wir nicht.“<br />

„Wir können die ganze Welt haben.“<br />

„Nein, das können wir nicht.“<br />

„Wir können überallhin.“<br />

„Nein, wir können’s nicht. Sie gehört uns nicht mehr.“<br />

„Sie gehört uns.“<br />

„Nein, nicht mehr. Und wenn’s einem erst mal fortgenommen worden ist,<br />

bekommt man’s nicht wieder.“<br />

„Aber niemand hat sie uns weggenommen.“<br />

„Wir wollen abwarten.“<br />

„Komm <strong>zu</strong>rück in den Schatten“, sagte er. „Du musst dir nicht solche Gedanken<br />

machen.“<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

„Ich mach mir ja keine“, sagte das Mädchen. „Ich weiß nur manches.“<br />

„Ich will nicht, dass du irgendwas tust, was du nicht willst...“<br />

„Oder was nicht gut für mich ist“, sagte sie. „Ich weiß. Können wir noch ein Glas<br />

Bier trinken“<br />

„Schön. Aber du musst dir klar sein...“<br />

„Ich bin mir klar“, sagte das Mädchen. „Können wir nicht vielleicht aufhören <strong>zu</strong><br />

reden“<br />

Sie setzten sich an den Tisch, und das Mädchen blickte hinüber <strong>zu</strong> den Hügeln auf<br />

der ausgetrockneten Talseite, und der Mann blickte sie und den Tisch an.<br />

„Du musst dir darüber klar sein“, sagte er, „dass ich nicht will, dass du es tust,<br />

wenn du es nicht willst. Ich bin ganz damit einverstanden, den Dingen ruhig ihren<br />

Lauf <strong>zu</strong> lassen, wenn dir etwas daran liegt.“<br />

„Liegt dir denn nichts daran Wir könnten es schon schaffen.“<br />

„Natürlich tut’s das, aber ich will niemanden außer dir. Ich will sonst niemanden.<br />

Und ich weiß, es ist ganz einfach.“<br />

„Ja, du weißt, dass es ganz einfach ist.“<br />

„Du sagst das so, aber ich weiß es wirklich.“<br />

„Würdest du mir jetzt einen Gefallen tun“<br />

„Ich würde alles für dich tun.“<br />

„Würdest du bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte, bitte still sein.“<br />

Er sagte nichts, sondern blickte auf die Reisetaschen, die an der Bahnhofsmauer<br />

lehnten, mit den aufgeklebten Zetteln aus all den Hotels, in denen sie übernachtet<br />

hatten.<br />

„Aber ich will doch nicht, dass du’s tust“, sagte er. „Mir ist es wirklich ganz egal.“<br />

„Ich schreie gleich“, sagte das Mädchen.<br />

„Die Frau trat durch den Vorhang mit zwei Glas Bier und setzte sie auf die<br />

feuchten Fil<strong>zu</strong>ntersätze. „Der Zug kommt in fünf Minuten“, sagte sie.<br />

„Was hat sie gesagt“ fragte das Mädchen.<br />

„Dass der Zug in fünf Minuten kommt.“<br />

Das Mädchen lächelte die Frau strahlend an, um ihr <strong>zu</strong> danken.<br />

„Ich trag wohl das Gepäck lieber rüber auf die andere Seite des Bahnhofs“, sagte<br />

der Mann. Sie lächelte ihm <strong>zu</strong>.<br />

„Schön, dann komm <strong>zu</strong>rück, und dann trinken wir unser Bier aus.“<br />

Er nahm die beiden schweren Reisetaschen auf und trug sie um die Station herum<br />

<strong>zu</strong>m anderen Gleis. Er sah die Gleise entlang, konnte aber den Zug nicht sehen. Auf<br />

dem Weg <strong>zu</strong>rück ging er durch das Gastzimmer, wo Leute, die auf den Zug warteten,<br />

etwas tranken. Er trank einen Anis an der Theke und musterte die Leute. Sie<br />

warteten alle ganz friedlich auf den Zug. Er ging durch den Perlenvorhang ins Freie.<br />

Sie saß am Tisch und lächelte ihn an.<br />

„Fühlst du dich besser“ fragte er.<br />

„Ich fühl mich glänzend“, sagte sie. „Mir fehlt gar nichts. Ich fühl mich glänzend.“<br />

Aus: Ernest Hemingway. Gesammelte Werke 6: Stories I. Überset<strong>zu</strong>ng von<br />

Annemarie Horschitz-Horst. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1977.<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Raymond Carver<br />

RUF AN, WENN DU MICH BRAUCHST<br />

Wir hatten uns beide in diesem Frühling mit anderen Leuten eingelassen, aber als es<br />

Juni wurde und die Schule aufhörte, beschlossen wir, unser Haus den Sommer über<br />

<strong>zu</strong> vermieten und von Palo Alto in das Gebiet an der Nordküste Kaliforniens <strong>zu</strong><br />

gehen. Richard, unser Sohn, fuhr <strong>zu</strong> Nancys Mutter, die in Pasco, Washington,<br />

wohnte; er wollte den Sommer dort verbringen und arbeiten, um sich Geld fürs<br />

College im Herbst <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>sparen. Seine Großmutter wusste über die häusliche<br />

Situation Bescheid und hatte früh darauf hingearbeitet, dass er raufkam, und sie<br />

hatte ihm lange vor seiner Ankunft einen Job verschafft. Sie hatte mit einem<br />

befreundeten Farmer gesprochen und die Zusage erhalten, dass er Richard Arbeit<br />

geben würde er sollte Heu bündeln und Zäune bauen. Er fuhr mit dem Bus los, am<br />

Morgen nach seiner Highschool-Abschlussfeier. Ich brachte ihn <strong>zu</strong>m Busbahnhof,<br />

stellte das Auto ab und ging mit rein und saß mit ihm <strong>zu</strong>sammen, bis sein Bus aufgerufen<br />

wurde. Seine Mutter hatte ihn schon umarmt und hatte geweint und ihn <strong>zu</strong>m<br />

Abschied geküsst und ihm einen langen Brief gegeben, den er gleich bei der Ankunft<br />

seiner Großmutter geben sollte. Nancy war jetzt <strong>zu</strong> Hause, packte noch die letzten<br />

Sachen für unsere eigene Reise ein und wartete auf das Paar, das in unserem Haus<br />

wohnen würde. Ich kaufte Richards Fahrkarte, gab sie ihm, und wir setzten uns auf<br />

eine der Bänke im Busbahnhof und warteten. Wir hatten auf dem Weg <strong>zu</strong>m<br />

Busbahnhof ein bisschen gesprochen.<br />

»Werdet ihr euch scheiden lassen, du und Mam«, hatte er gefragt. Es war<br />

Sonnabend morgen, und es waren nicht viele Autos unterwegs.<br />

»Möglichst nicht, wenn's geht«, sagte ich. »Wir möchten es nicht. Darum gehen wir<br />

weg von hier und wollen den ganzen Sommer niemanden sehen. Darum haben wir<br />

unser Haus für den Sommer vermietet und uns das Haus oben in Eureka gemietet.<br />

Und darum fährst du auch weg, nehm ich an. Jedenfalls ist das einer der Gründe.<br />

Ganz abgesehen davon, dass du mit den Taschen voller Geld <strong>zu</strong>rückkommen wirst.<br />

Wir wollen keine Scheidung. Wir wollen den Sommer über allein sein und sehen,<br />

dass wir Klarheit in die Dinge bekommen.«<br />

»Liebst du Mom noch«, sagte er. »Sie hat <strong>zu</strong> mir gesagt, sie liebt dich.«<br />

»Klar, natürlich liebe ich sie«, sagte ich. »Das solltest du inzwischen wissen. Wir<br />

hatten einfach unser Päckchen Sorgen und schwierige Verpflichtungen, wie jeder<br />

andere auch, und jetzt müssen wir eine Zeit lang allein sein und sehen, dass wir<br />

<strong>zu</strong>rechtkommen. Aber mach dir keine Sorgen um uns. Fahr du nur da rauf und<br />

genieß den Sommer und arbeite tüchtig und spar dein Geld. Denk dran, dass es auch<br />

Ferien sind. Geh zwischendurch so viel wie möglich angeln. Man kann gut angeln da<br />

oben.«<br />

»Wasserski fahren auch«, sagte er. »Ich möchte gern Wasserski fahren lernen.«<br />

»Ich bin nie Wasserski gefahren«, sagte ich. »Fahr ein bisschen für mich mit, machst<br />

du das«<br />

Wir saßen in dem Busbahnhof. Er blätterte in seinem Jahrbuch, während ich eine<br />

Zeitung auf den Knien hielt. Dann wurde sein Bus aufgerufen, und wir standen auf.<br />

Ich nahm ihn in die Arme und sagte: » Mach dir keine Sorgen, mach dir keine<br />

Sorgen. Wo ist deine Fahrkarte«<br />

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Er klopfte sich auf die Jackentasche, und dann nahm er seinen Koffer. Ich begleitete<br />

ihn rüber, dahin, wo sich im Terminal die Schlange bildete, dann umarmte ich ihn<br />

wieder und küsste ihn auf die Wange und sagte Lebwohl.<br />

»Leb wohl, Dad«, sagte er und wandte sich von mir ab, damit ich seine Tränen nicht<br />

sah.<br />

Ich fuhr nach Hause, wo im Wohnzimmer unsere Pappkartons und Koffer warteten.<br />

Nancy war in der Küche und trank Kaffee mit dem jungen Paar, das sie gefunden<br />

haue und das unser Haus für den Sommer nehmen wollte. Ich hatte die beiden,<br />

Jerry und Liz, beide graduierte Mathematikstudenten, wenige Tage <strong>zu</strong>vor schon<br />

einmal gesehen, aber wir schüttelten uns wieder die Hand, und ich trank eine Tasse<br />

Kaffee, die Nancy mir einschenkte. Wir saßen rings um den Tisch und tranken<br />

Kaffee, während Nancy ihre Liste von Dingen fertig stellte, um die sich die beiden<br />

kümmern oder die sie an bestimmten Tagen im Monat erledigen sollten, dem ersten<br />

und letzten eines jeden Monats, wohin sie die Post schicken sollten und dergleichen<br />

mehr. Nancy haue einen angespannten Gesichtsausdruck. Sonne fiel durch die<br />

Gardine auf den Tisch, während der Vormittag langsam verging.<br />

Schließlich schien alles geregelt, und ich ließ die drei in der Küche <strong>zu</strong>rück und fing<br />

an, die Sachen ins Auto <strong>zu</strong> laden. Es war ein möbliertes Haus, in dem wir wohnen<br />

würden, voll eingerichtet bis hin <strong>zu</strong> Geschirr und Kochutensilien, so dass wir nicht<br />

viel aus diesem Haus mitnehmen mussten, nur die wesentlichen Dinge.<br />

Ich war drei Wochen <strong>zu</strong>vor nach Eureka raufgefahren, dreihundertfünfzig Meilen<br />

nördlich von Palo Alto, an der Nordküste Kaliforniens, und haue das möblierte Haus<br />

für uns gemietet. Ich fuhr mit Susan, der Frau, mit der ich mich oft getroffen hatte.<br />

Wir blieben drei Nächte in einem Motel am Rand der Stadt, und ich sah die Zeitung<br />

durch und suchte Immobilienmakler auf. Sie sah mir <strong>zu</strong>, als ich den Scheck über die<br />

Miete für drei Monate ausschrieb. Später, wieder im Motel, im Bett, lag sie da, mit<br />

der Hand auf der Stirn, und sagte: »Ich beneide deine Frau. Ich beneide Nancy. Du<br />

hörst die Leute immer von ,der anderen< reden und dass die angetraute Ehefrau die<br />

Privilegien und die eigentliche Macht hat, aber ich hab das nie verstanden und mich<br />

nie um solche Dinge gekümmert. Jetzt verstehe ich. Ich beneide sie. Ich beneide sie<br />

um das Leben, das sie in dem Haus mit dir haben wird. Ich wünschte, ich wär an<br />

ihrer Stelle. Ich wünschte, wir wären es. Oh, wie sehr wünschte ich, wir wären es.<br />

Ich fühl mich so mies«, sagte sie. Ich strich ihr über die Haare.<br />

Nancy war eine hochgewachsene, langbeinige Frau: sie haue braunes Haar und<br />

braune Augen und eine großzügige Seele. Aber letzthin hatten wir beide wenig<br />

Großzügigkeit und Seele bewiesen. Der Mann, mit dem sie sich oft getroffen hatte,<br />

war ein Kollege von mir, ein geschiedener, flotter Kerl im Dreiteiler und mit Schlips,<br />

mit langsam ergrauendem Haar, der <strong>zu</strong> viel trank, so dass manchmal, wie mir ein<br />

paar von meinen Studenten erzählt hatten, seine Hände im Unterricht zitterten. Er<br />

und Nancy waren bei einer Party während der Feiertage in ihre Affäre gedriftet,<br />

nicht lange nachdem Nancy hinter meine Affäre gekommen war. Jetzt klingt das<br />

alles langweilig und schäbig - und es ist auch langweilig und schäbig -, aber in dem<br />

Frühling war es das, was es war, und es verzehrte alle unsere Energien und unsere<br />

Aufmerksamkeit und schloss alles andere aus.<br />

Irgendwann gegen Ende April fassten wir den Plan, unser Haus <strong>zu</strong> vermieten und<br />

den Sommer über weg<strong>zu</strong>gehen wir wollten versuchen, das Zerbrochene wieder<br />

<strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>fügen, falls es sich wieder <strong>zu</strong>sammenfügen ließ. Wir verabredeten,<br />

dass wir unsere anderen Partner weder anrufen noch ihnen schreiben oder sonstwie<br />

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in Verbindung mit ihnen treten würden. Und so trafen wir Vereinbarungen für<br />

Richard, fanden das Paar, das sich um unser Haus kümmern würde, und ich hatte<br />

auf eine Landkarte geguckt und war von San Francisco nach Norden gefahren und<br />

hatte Eureka gefunden und einen Makler, der bereit war, ein möbliertes Haus für<br />

den Sommer an ein respektables Ehepaar mittleren Alters <strong>zu</strong> vermieten. Ich glaube,<br />

ich gebrauchte dem Makler gegenüber die Formulierung »zweite Flitterwochen«,<br />

während - Gott verzeihe mir - draußen im Auto Susan eine Zigarette rauchte und<br />

Broschüren für Touristen las.<br />

Ich verstaute die letzten Koffer, Taschen und Kartons im Kofferraum und auf der<br />

hinteren Sitzbank und wartete, während Nancy sich auf der Veranda endgültig<br />

verabschiedete. Sie gab beiden die Hand und wandte sich dann um und kam auf das<br />

Auto <strong>zu</strong>. Ich winkte dem Paar, und die beiden winkten <strong>zu</strong>rück. Nancy stieg ein und<br />

schloss die Tür. »Lass uns fahren«, sagte sie. Ich legte den Gang ein, und wir fuhren<br />

<strong>zu</strong>m Freeway. An der Ampel kurz vor dem Freeway sahen wir vor uns ein Auto vom<br />

Freeway runterfahren, das einen kaputten Auspufftopf hinter sich herzog, so dass<br />

die Funken flogen. »Sieh dir das an«, sagte Nancy. »Könnte leicht Feuer fangen.«<br />

Wir warteten und sahen <strong>zu</strong>, bis das Auto endlich von der Fahrbahn runter an den<br />

Straßenrand fuhr.<br />

Wir hielten an einem kleinen Cafe abseits vom Highway, in der Nähe von Sebastopol.<br />

»Essen und Treibstoff« stand auf dem Schild. Wir lachten darüber. Ich fuhr bis vor<br />

das Cafe, und wir gingen rein und setzten uns an einen Tisch bei einem Fenster ganz<br />

hinten. Nachdem wir Kaffee und Sandwiches bestellt hatten, berührte Nancy den<br />

Tisch mit dem Zeigefinger und zeichnete Linien im Holz nach. Ich zündete mir eine<br />

Zigarette an und blickte nach draußen. Ich bemerkte eine rasche Bewegung, und<br />

dann wurde mir klar, dass ich einen Kolibri in dem Busch neben dem Fenster sah.<br />

Seine Flügel bewegten sich in einem verschwimmenden Schwirren, und immer<br />

wieder tauchte er den Schnabel in eine Blüte an dem Busch.<br />

»Nancy, guck mal«, sagte ich. »Da ist ein Kolibri.«<br />

Aber in diesem Augenblick flog der Kolibri auf, und Nancy guckte und sagte: »Wo<br />

Ich seh ihn nicht.«<br />

»Eben war er noch da«, sagte ich. »Guck mal, da ist er. Ein anderer, nehm ich an.<br />

Auch ein Kolibri.«<br />

Wir beobachteten den Kolibri, bis die Kellnerin uns das Essen brachte und der Vogel<br />

bei der Bewegung wegflog und hinter der Ecke des Gebäudes verschwand.<br />

»Na, das ist ein gutes Zeichen, glaub ich«, sagte ich. »Kolibris. Kolibris sollen Glück<br />

bringen.«<br />

»Ich hab das auch irgendwo gehört«, sagte sie. »Ich weiß nicht, wo ich's gehört hab,<br />

aber ich hab's gehört. Um so besser«, sagte sie, »Glück ist das, was wir brauchen<br />

könnten. Findest du nicht auch«<br />

»Sie sind ein gutes Zeichen«, sagte ich. »Ich bin froh, dass wir hier Halt gemacht<br />

haben.«<br />

Sie nickte. Sie wartete einen Moment, dann biss sie von ihrem Sandwich ab.<br />

Wir kamen kurz vor Dunkelheit in Eureka an. Wir fuhren an dem Motel am Highway<br />

vorbei, in dem Susan und ich zwei Wochen <strong>zu</strong>vor abgestiegen waren und drei Nächte<br />

verbracht hatten, dann bogen wir vom Highway ab; die Straße, die wir nahmen,<br />

führte einen Hügel hinauf, von dem man über die Stadt blickte. Ich hatte die<br />

Hausschlüssel in der Tasche. Wir überquerten den Hügel und fuhren noch eine<br />

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Meile oder so, bis wir an eine kleine Kreu<strong>zu</strong>ng kamen, wo eine Tankstelle und ein<br />

Lebensmittelladen waren. Bewaldete Berge erhoben sich weiter vor uns im Tal, und<br />

ringsum war Weideland. Ein paar Rinder grasten auf einer Wiese hinter der<br />

Tankstelle. ,>Eine hübsche Landschaft ist das hier«, sagte Nancy. »Ich bin gespannt<br />

auf das Haus.«<br />

»Wir sind fast da«, sagte ich. »Nur noch die Straße hier runter«, sagte ich, »und über<br />

die Erhebung da.«<br />

»Hier«, sagte ich einen Moment darauf und bog in eine Einfahrt mit einer Hecke <strong>zu</strong><br />

beiden Seiten hin. »Das ist es. Na, was sagst du da<strong>zu</strong>« Das Gleiche hatte ich Susan<br />

gefragt, als sie und ich in der Einfahrt gehalten hatten.<br />

»Es ist schön«, sagte Nancy. »Es sieht hübsch aus, wirklich. Lass uns aussteigen.«<br />

Wir standen einen Moment im Vorgarten und sahen uns um. Dann gingen wir die<br />

Stufen <strong>zu</strong>r Veranda rauf, und ich schloss die Haustür auf und machte überall Licht.<br />

Wir gingen durch das Haus. Es gab zwei kleine Schlafzimmer, ein Bad, ein<br />

Wohnzimmer mit alten Möbeln und einem Kamin und eine große Küche mit Blick auf<br />

das Tal.<br />

»Gefällt's dir«, sagte ich.<br />

»Ich finde es einfach wunderbar«, sagte Nancy. Sie lächelte. »Ich bin froh, dass du's<br />

gefunden hast. Ich bin froh, dass wir hier sind.« Sie öffnete den Kühlschrank und<br />

fuhr mit dem Zeigefinger über die Arbeitsfläche. »Gott sei Dank, es sieht ganz<br />

sauber aus. Ich muss also nicht gleich putzen.«<br />

»Sauber bis <strong>zu</strong> den frisch bezogenen Betten«, sagte ich. »Ich hab's geprüft. Ich hab<br />

mich vergewissert. Genau so vermieten sie es. Sogar Kopfkissen. Und<br />

Kopfkissenbezüge auch.«<br />

»Wir müssen vielleicht ein bisschen Feuerholz kaufen«, sagte sie. Wir standen im<br />

Wohnzimmer. »Wir werden uns an Abenden wir heute sicher gern ein Feuer im<br />

Kamin machen.«<br />

»Ich werd mich morgen nach Feuerholz umsehen«, sagte ich. »Wir können dann<br />

einkaufen gehen und uns die Stadt ansehen.«<br />

Sie sah mich an und sagte: »Ich bin froh, dass wir hier sind.«<br />

Die nächsten Tage verbrachten wir damit, uns ein<strong>zu</strong>richten, kurze Fahrten nach<br />

Eureka <strong>zu</strong> machen, rum<strong>zu</strong>spazieren und Schaufenster an<strong>zu</strong>gucken und durch das<br />

Weideland hinter dem Haus <strong>zu</strong> gehen, den ganzen Weg bis <strong>zu</strong>m Wald. Wir kauften<br />

Lebensmittel, und ich fand in der Zeitung eine Anzeige für Feuerholz, rief an, und<br />

ein, zwei Tage später lieferten zwei junge Männer mit langem Haar eine Pickup-<br />

Ladung Erlenholz und stapelten es im angebauten Autoschuppen. An diesem Abend<br />

saßen wir nach dem Essen am Kamin und tranken Kaffee und sprachen darüber,<br />

dass wir uns einen Hund besorgen wollten.<br />

»Ich will keinen jungen Hund«, sagte Nancy. »Keinen, hinter dem wir herputzen<br />

müssen oder der die Sachen zerbeißt. Das brauchen wir nicht. Aber ich hätte gern<br />

einen Hund, ja. Wir haben lange keinen Hund gehabt. Ich glaube, hier oben könnten<br />

wir einen Hund gut brauchen«, sagte sie.<br />

»Und wenn wir <strong>zu</strong>rückgehen«, sagte ich. »Wenn der Sommer vorbei ist« Ich<br />

formulierte die Frage anders. »Was machen wir in der Stadt mit einem Hund«<br />

»Das sehen wir dann. Inzwischen lass uns Ausschau halten nach einem Hund. Nach<br />

der richtigen Sorte Hund. Ich weiß immer erst, was ich will, wenn ich's vor mir sehe.<br />

Lass uns die Kleinanzeigen lesen, und notfalls gehen wir <strong>zu</strong>m Tierasyl.« Aber<br />

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obwohl wir mehrere Tage lang immer wieder über Hunde sprachen und einander auf<br />

Hunde aufmerksam machten, die wir in Gärten sahen, an denen wir vorbeifuhren,<br />

Hunde, wie wir gern einen haben wollten, kam nichts dabei raus, wir fanden keinen<br />

Hund.<br />

Nancy rief ihre Mutter an und gab ihr unsere Adresse und unsere Telefonnummer.<br />

Richard arbeitete und war offenbar glücklich, sagte ihre Mutter. Ihr selbst ging es<br />

gut. Ich hörte Nancy sagen: »Uns beiden geht's gut. Das hier ist die beste Medizin.«<br />

Eines Tages, Mitte Juli, fuhren wir den Highway am Ozean entlang und sahen, als wir<br />

über eine Erhebung kamen, einige Lagunen, die durch Sandbänke vom Meer<br />

abgeschnitten waren. Dort waren mehrere Leute, die vom Ufer aus angelten, und<br />

zwei Boote waren draußen auf dem Wasser.<br />

Ich fuhr an den Straßenrand und hielt an. »Komm, wir sehen mal, wonach sie<br />

angeln«, sagte ich. »Vielleicht kriegen wir irgendwo Angelgerät und können auch<br />

angeln gehen.«<br />

»Wir sind seit Jahren nicht mehr angeln gewesen«, sagte Nancy. »Seit der Zeit, als<br />

Richard klein war und wir in der Nähe vom Mount Shasta gezeltet haben. Erinnerst<br />

du dich daran«<br />

»Ich erinnere mich«, sagte ich. »Ich hab auch gerade gedacht, dass ich das Angeln<br />

vermisst habe. Lass uns runtergehen und sehen, wonach sie angeln.«<br />

»Forellen«, sagte der Mann, den ich fragte. »Seeforellen und Regenbogenforellen.<br />

Sogar den einen oder anderen Stahlkopf und ein paar Lachse. Sie kommen im<br />

Winter hier rein, wenn die Sandbank offen ist, und dann, wenn sie sich im Frühling<br />

schließt, sind sie in der Falle. Jetzt ist eine gute Zeit im Jahr für Lachse. Heute hab<br />

ich keinen gefangen, aber letzten Sonntag hab ich vier gefangen, ungefähr vierzig<br />

Zentimeter lang. Der beste Speisefisch der Welt, und sie kämpfen wie die Teufel. Die<br />

Leute in den Booten haben heute ein paar gefangen, aber bisher hab ich noch nichts<br />

dran gehabt.«<br />

»Was nehmen Sie als Köder«, fragte Nancy.<br />

»Alles«, sagte der Mann. »Würmer, Lachsrogen, Maiskörner. Werfen Sie einfach aus<br />

und lassen Sie die Angel am Boden liegen. Ziehen Sie eine kleine Schleife raus, und<br />

dann behalten Sie Ihre Schnur im Auge.«<br />

Wir standen noch ein bisschen länger rum, sahen dem Mann beim Angeln <strong>zu</strong> und<br />

beobachteten, wie die kleinen Boote quer durch die Lagune hin und her tuckerten.<br />

»Danke«, sagte ich <strong>zu</strong> dem Mann. »Und Ihnen viel Glück.~< »Ihnen auch viel Glück«,<br />

sagte er. »Viel Glück Ihnen beiden.«<br />

Auf dem Rückweg in die Stadt hielten wir an einem Sportartikelgeschäft und kauften<br />

Lizenzen, billige Angeln und Rollen, Nylonschnur, Haken, Leitschnüre, Gewichte und<br />

einen Fischkorb. Wir nahmen uns vor, am nächsten Morgen angeln <strong>zu</strong> gehen.<br />

Aber an diesem Abend, nachdem wir gegessen und das Geschirr abgewaschen<br />

hatten und nachdem ich Feuer im Kamin gemacht hatte, schüttelte Nancy den Kopf<br />

und sagte, es gehe so nicht.<br />

»Warum sagst du das«, fragte ich. »Was meinst du damit«<br />

»Ich mein, dass es so nicht geht. Lass uns der Tatsache ins Gesicht sehen.« Sie<br />

schüttelte wieder den Kopf. »Ich glaube nicht, dass ich morgen angeln gehen<br />

möchte, und ich will auch keinen Hund. Nein, keine Hunde. Ich glaube, ich möchte<br />

rauffahren und meine Mutter und Richard besuchen. Allein. Ich möchte allein sein.<br />

Ich vermisse Richard«, sagte sie und fing an <strong>zu</strong> weinen. » Richard ist mein Sohn,<br />

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mein Baby«, sagte sie, »und er ist fast erwachsen und aus dem Haus. Ich vermisse<br />

ihn.«<br />

»Und Del Vermisst du Del Shreader auch«, sagte ich. »Deinen Freund Vermisst<br />

du ihn«<br />

»Ich vermisse alle heut Abend«, sagte sie. »Ich vermisse auch dich. Ich vermisse<br />

dich jetzt schon ganz lange. Ich hab dich so sehr vermisst, dass du irgendwie<br />

verloren gegangen bist, ich kann's nicht erklären. Ich hab dich verloren. Du bist<br />

nicht mehr mein.«<br />

»Nancy«, sagte ich.<br />

»Nein, nein«, sagte sie. Sie schüttelte den Kopf. Sie saß auf dem Sofa am<br />

Kaminfeuer und schüttelte immer<strong>zu</strong> den Kopf. »Ich möchte morgen rauffliegen und<br />

meine Mutter und Richard besuchen. Wenn ich fort bin, kannst du deine Freundin<br />

anrufen.«<br />

»Das will ich gar nicht«, sagte ich. »Ich hab nicht die Absicht, das <strong>zu</strong> tun.«<br />

»Du wirst sie anrufen«, sagte sie.<br />

»Du wirst Dei anrufen«, sagte ich und fand es billig, dass ich das gesagt hatte.<br />

»Du kannst tun, was du willst«, sagte sie und wischte sich mit dem Ärmel die Augen.<br />

»Im Ernst. Ich möchte nicht so reden, als wär ich hysterisch. Aber ich fahr morgen<br />

rauf nach Washington. Und jetzt geh ich sofort <strong>zu</strong> Bett. Ich bin völlig erledigt. Es tut<br />

mir Leid. Es tut mir für uns beide Leid, Dan. Wir werden es nicht schaffen. Der<br />

Angler heute hat uns Glück gewünscht.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich wünsche uns<br />

auch Glück. Wir werden es brauchen.«<br />

Sie ging ins Bad, und ich hörte Wasser in die Badewanne laufen. Ich ging raus, setzte<br />

mich auf die Verandastufen und rauchte eine Zigarette.<br />

Es war dunkel und still draußen. Ich blickte in Richtung der Stadt und sah einen<br />

schwachen Widerschein von Lichtern am Himmel, und Nebelschwaden, die vom<br />

Ozean ins Tal trieben. Ich musste an Susan denken. Ein wenig später kam Nancy aus<br />

dem Badezimmer, und ich hörte, wie sich die Schlafzimmertür schloss. Ich ging<br />

nach drinnen und legte noch einen Holzklotz auf den Rost und wartete, bis die<br />

Flammen an der Rinde heraufzüngelten. Dann ging ich ins andere Schlafzimmer und<br />

schlug die Decke <strong>zu</strong>rück und starrte auf das Blumenmuster auf den Laken. Dann<br />

duschte ich, zog mir meinen Pyjama an und setzte mich wieder an den Kamin. Der<br />

Nebel war jetzt draußen vorm Fenster. Ich saß am Feuer und rauchte. Als ich wieder<br />

aus dem Fenster blickte, bewegte sich etwas in dem Nebel, und ich sah ein Pferd im<br />

Vorgarten grasen.<br />

Ich trat ans Fenster. Das Pferd sah einen Moment <strong>zu</strong> mir auf, dann fuhr es fort, Gras<br />

<strong>zu</strong> rupfen. Ein anderes Pferd spazierte am Auto vorbei in den Garten und begann <strong>zu</strong><br />

grasen. Ich machte das Verandalicht an und stand am Fenster und beobachtete sie.<br />

Es waren große weiße Pferde mit langen Mähnen. Sie waren durch einen Zaun oder<br />

ein nicht <strong>zu</strong>gesperrtes Tor von einer der in der Nähe gelegenen Farmen gekommen<br />

und irgendwie in unserem Vorgarten gelandet. Sie vergnügten sich, genossen ihren<br />

Ausbruch über die Maßen. Aber sie waren auch nervös: Ich sah das Weiß ihrer<br />

Augäpfel von da, wo ich hinter dem Fenster stand. Sie spitzten dauernd die Ohren<br />

und ließen sie wieder sinken, während sie Grasbüschel ausrissen. Ein drittes Pferd<br />

kam in den Garten spaziert, und dann ein viertes. Es war eine Herde weißer Pferde,<br />

und sie grasten in unserem Vorgarten.<br />

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Ich ging ins Schlafzimmer und weckte Nancy. Ihre Augen waren gerötet, und die<br />

Haut um die Augen war geschwollen. Sie hatte sich Lockenwickler ins Haar gedreht,<br />

und ein Koffer lag offen am Fußende des Bettes auf dem Boden.<br />

»Nancy«, sagte ich. »Schatz, komm und sieh dir an, was vorn im Garten ist. Komm<br />

und sieh's dir an. Du musst das sehen. Du wirst es nicht glauben. Schnell, komm.«<br />

»Was ist denn da«, sagte sie. »Tu mir nicht weh. Was ist da«<br />

»Schatz, du musst das sehen. Ich tu dir nicht weh. Es tut mir Leid, wenn ich dich<br />

erschreckt hab. Aber du musst rüberkommen und dir das ansehen.«<br />

Ich ging wieder ins andere Zimmer und stellte mich ans Fenster, und nach wenigen<br />

Minuten kam Nancy; sie band sich im Gehen ihren Bademantel <strong>zu</strong>. Sie sah aus dem<br />

Fenster und sagte: »Mein Gott, sind die schön! Woher sie wohl kommen, Dan Sie<br />

sind einfach wunderschön.«<br />

»Sie müssen irgendwo hier in der Gegend ausgerissen sein«, sagte ich. »Von einer<br />

der Farmen. Ich ruf gleich beim Sheriff an, damit sie die Eigentümer ausfindig<br />

machen. Aber ich wollte, dass du sie vorher siehst.«<br />

»Ob sie beißen«, sagte sie. »Ich würde das eine da gern streicheln, das da, das uns<br />

gerade angeguckt hat. Ich würde gern seinen Hals streicheln. Aber ich möchte nicht<br />

gebissen werden. Ich geh mal raus.«<br />

»Ich glaub nicht, dass sie beißen«, sagte ich. »Sie sehen nicht so aus wie Pferde, die<br />

beißen. Aber zieh dir eine Jacke über, wenn du rausgehst; es ist kalt da draußen.«<br />

Ich zog mir die Jacke über meinen Pyjama und wartete auf Nancy. Dann öffnete ich<br />

die Haustür und trat hinaus und ging in den Garten mit den Pferden. Alle blickten auf<br />

und guckten uns an. Zwei rupften gleich darauf wieder Gras. Eines von den anderen<br />

schnaubte und wich ein paar Schritt <strong>zu</strong>rück, und dann rupfte es auch wieder Gras<br />

und kaute, mit gesenktem Kopf. Ich rieb die Stirn eines der Pferde und tätschelte<br />

seinen Hals. Es kaute weiter. Nancy streckte die Hand aus und streichelte die Mähne<br />

eines anderen Pferdes. »Pferdchen, wo kommst du her«, sagte sie. »Wo bist du <strong>zu</strong><br />

Hause, Pferdchen, und warum bist du ausgegangen heut Abend«, sagte sie und<br />

streichelte weiter die Mähne des Pferdes. Das Pferd sah sie an und blies durch die<br />

Lippen und senkte wieder den Kopf. Nancy streichelte seinen Hals. »Ich glaub, ich<br />

sollte lieber den Sheriff anrufen«, sagte ich.<br />

»Noch nicht«, sagte sie. »Wart noch eine Weile. Wir werden so was nie wieder<br />

sehen. Wir werden nie, nie wieder Pferde in unserem Vorgarten haben. Wart noch<br />

eine Weile, Dan.«<br />

Etwas später - Nancy war noch immer draußen, ging von einem Pferd <strong>zu</strong>m andern,<br />

klopfte ihnen den Hals und streichelte ihre Mähne - wanderte eines der Pferde aus<br />

dem Garten in die Einfahrt und spazierte um das Auto herum und die Einfahrt<br />

hinunter auf die Straße <strong>zu</strong>. Da wusste ich, dass ich anrufen musste.<br />

Es dauerte nicht lange, da kreuzten mit im Nebel aufblitzenden roten Lichtern die<br />

zwei Sheriff-Autos auf, und wenige Minuten später folgte ein Mann in einem<br />

Schaffellmantel, der einen Pickup mit einem Pferdetrailer dahinter fuhr. Jetzt<br />

scheuten die Pferde und versuchten <strong>zu</strong> entkommen, und der Mann mit dem<br />

Pferdetrailer fluchte und versuchte, einem der Pferde ein Seil um den Hals <strong>zu</strong><br />

werfen.<br />

»Tun Sie ihm nicht weh!«, sagte Nancy.<br />

Wir gingen wieder ins Haus und standen hinter dem Fenster und sahen <strong>zu</strong>, wie die<br />

Deputys und der Rancher sich mühten, die Pferde <strong>zu</strong>sammen<strong>zu</strong>treiben.<br />

»Ich mach mal Kaffee«, sagte ich. »Möchtest du auch Kaffee, Nancy«<br />

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»Ich sage dir, was ich möchte«, sagte sie. »Ich bin high, Dan. Mir ist, als wäre ich<br />

vollgedröhnt. Mir ist... ich weiß nicht wie, aber ich mag, wie ich mich fühle. Mach du<br />

Kaffee, und ich such uns inzwischen ein bisschen Musik im Radio, und dann kannst<br />

du das Feuer wieder in Gang bringen. Ich bin <strong>zu</strong> aufgeregt <strong>zu</strong>m Schlafen.«<br />

So saßen wir am Feuer und tranken Kaffee und hörten einen Sender aus Eureka, der<br />

die ganze Nacht durch spielte, und sprachen über die Pferde, und dann sprachen wir<br />

über Richard und über Nancys Mutter. Wir tanzten. Wir sagten kein Wort über die<br />

gegenwärtige Situation. Der Nebel hing draußen vorm Fenster, und wir sprachen<br />

und waren freundlich miteinander. Als es hell wurde, drehte ich das Radio aus, und<br />

wir gingen ins Bett und schliefen miteinander.<br />

Am nächsten Morgen, nachdem Nancy ihre Vorbereitungen getroffen und ihre Koffer<br />

gepackt hatte, fuhr ich sie <strong>zu</strong> dem kleinen Flugplatz; dort würde sie einen Flug nach<br />

Portland bekommen und dann auf eine andere Fluggesellschaft umsteigen, mit der<br />

sie am späten Abend in Pasco, Washington, ankommen würde.<br />

»Sag deiner Mutter, dass ich sie grüßen lasse. Umarm Richard für mich und sag<br />

ihm, dass er mir fehlt«, sagte ich. »Sag ihm, dass ich ihn liebe.«<br />

»Er liebt dich auch«, sagte sie. »Du weißt das. Und auf jeden Fall siehst du ihn im<br />

Herbst, da bin ich mir sicher.« Ich nickte.<br />

»Leb wohl «, sagte sie und streckte die Arme nach mir aus. Wir hielten einander.<br />

»Ich bin froh wegen heute Nacht«, sagte sie. »Die Pferde. Dass wir gesprochen<br />

haben. Alles. Es hilft«, sagte sie. »Wir werden das nicht vergessen«, sagte sie. Und<br />

sie fing an <strong>zu</strong> weinen.<br />

»Schreib mir, tust du das«, sagte ich. »Ich hab nicht gedacht, dass uns das<br />

passieren würde«, sagte ich. »AlI diese Jahre. Ich hab es nie auch nur eine Minute<br />

gedacht. Nein, nicht uns.«<br />

»Ich schreib dir«, sagte sie. »Ein paar dicke Briefe. Den dicksten, den du je gesehen<br />

hast, seit ich dir auf der Highschool immer Briefe geschickt hab.«<br />

»Ich werd drauf warten«, sagte ich.<br />

Dann sah sie mich wieder an und berührte mein Gesicht. Sie drehte sich um und ging<br />

über den Asphalt auf das Flugzeug <strong>zu</strong>.<br />

Geh, Liebste, und Gott sei mit dir.<br />

Sie stieg in das Flugzeug, und ich blieb stehen, bis die Triebwerke angestellt wurden<br />

und einen Moment darauf das Flugzeug die Startbahn entlang <strong>zu</strong> rollen begann. Es<br />

hob ab, gewann über der Humboldt Bay an Höhe und war bald nur noch ein Punkt<br />

am Horizont.<br />

Ich fuhr <strong>zu</strong>rück <strong>zu</strong>m Haus und parkte in der Einfahrt und betrachtete die Abdrücke<br />

von den Hufen der Pferde vom Abend <strong>zu</strong>vor. Es waren tiefe Spuren im Gras und<br />

klaffende Lücken, und ich sah Haufen von Pferdemist. Dann ging ich ins Haus, und<br />

ohne auch nur meine Jacke aus<strong>zu</strong>ziehen, ging ich ans Telefon und wählte Susans<br />

Nummer.<br />

Aus: Raymond Carver. Erste und letzte Storys. Berlin: BvT Berliner Taschenbuch<br />

Verlags GmbH, 2004.<br />

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ÜBER RAYMOND CARVER<br />

Philipp Carson<br />

CARVER UND DER ALKOHOL<br />

Raymond Carvers Figuren kämpfen sich in privater Verzweiflung<br />

durch ihr Leben und erkennen in seltenen Augenblicken von<br />

Klarheit, dass das gute Leben, von dem sie gehofft hatten, es durch<br />

harte Arbeit <strong>zu</strong> erreichen, nicht kommen wird. In vielerlei Hinsicht<br />

war Carvers Leben das Vorbild für all seine Figuren. Am 7. Juni<br />

1957, mit neunzehn Jahren, heiratete er Maryann Burk und hatte<br />

im Oktober 1958 bereits zwei Kinder mit ihr. Das Leben des Paares<br />

war für Jahre vorausbestimmt. Zunächst hatte Carver das Gefühl,<br />

dass harte Arbeit ihre Probleme beiseite schaffen würden. „Wir Raymond Carver<br />

dachten, wir könnten es alles hinkriegen“, sagte er in einem Interview, „Wir waren<br />

arm, aber wir dachten, dass wenn wir weiter arbeiteten, wenn wir das Richtige taten,<br />

würde auch das Richtige passieren.“ [...] Irgendwo mitten in seinem Leben voller<br />

Sackgassen-Jobs und Kindererziehung erkannte er, ganz wie eine seiner Figuren,<br />

dass sich die Dinge nicht verändern würden. [...] Carvers Schriftstellerkarriere<br />

begann sich <strong>zu</strong> entwickeln, als er seinen B.A. Kurs am Chico State College im Herbst<br />

1958 als Teilzeitstudent begann. Im Herbst 1959 belegte er einen Creative Writing<br />

Kurs bei einem unveröffentlichten Schriftsteller, der vor kurzem an Chico State<br />

angefangen hatte <strong>zu</strong> unterrichten, John Gardner. Carver betrachtete Gardners<br />

Einfluss auf ihn als prägend, obwohl er ihm nur kurz ausgesetzt war, nämlich nur<br />

während eines akademischen Jahres von 1959 bis 1960. Gardner erkannte Carvers<br />

Bedürfnis nach einem ruhigen Platz <strong>zu</strong>m Schreiben und lieh ihm den Schlüssel für<br />

sein Büro, damit Carver dort arbeiten konnte. [...] Neben all seinen akademischen<br />

und familiären Verpflichtungen war Carvers Alkoholismus der stärkste negative<br />

Einfluss auf seine Arbeit. Das Laster wurde <strong>zu</strong>r Gewohnheit, als seine Verzweiflung<br />

über die Frage wuchs, ob er je das „gute Leben“ durch einfache Arbeit würde finden<br />

können. Er fühlte sich vom Pech verfolgt angesichts der finanziellen Situation seiner<br />

Familie, mit der er <strong>zu</strong> kämpfen hatte. [...] Carver erkannte an, dass der Alkohol sehr<br />

entscheidend für sein Werk war:<br />

Es ist offensichtlich, dass meine Erfahrungen mit dem Trinken mir dabei halfen,<br />

verschiedene Geschichten <strong>zu</strong> schreiben, die mit Alkohol <strong>zu</strong> tun haben. Aber die Tatsache,<br />

dass ich das durchgemacht habe und dann in der Lage war, darüber <strong>zu</strong> schreiben, ist nicht<br />

weniger als ein Wunder. Nein, ich glaube nicht, dass irgendwas außer Verschwendung,<br />

Schmerz und Unglück bei meinem Alkoholismus heraus gekommen ist... [...]<br />

Es gibt zwei Hauptperioden in Carvers Werk. [...] Er veröffentlichte eine Reihe von<br />

Beiträgen in Literaturzeitschriften, bevor die Familie plante für ein Jahr mit dem<br />

California State College Study Abroad Program nach Israel <strong>zu</strong> gehen. [...] Er wurde<br />

für dieses Jahr von seinem Job als Schulbuchlektor beurlaubt, und sie fuhren im<br />

Juni 1968 ab. Sie sollten nur für vier Monate bleiben. [...] Sie kehrten <strong>zu</strong>rück und<br />

wohnten bei Verwandten in Hollywood bis Ende Februar 1969. [...] 1970 erhielt Carver<br />

eine Auszeichnung des National Endowment for the Arts, und beendete seine Arbeit<br />

als Lektor. Zusammen mit der Abfindung und dem Arbeitslosengeld erlaubte ihm<br />

diese Auszeichnung ein ganzes Jahr lang <strong>zu</strong> schreiben. [...] Der Alkoholismus nahm<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

einen immer größeren Teil seiner Zeit in Anspruch. Er wurde <strong>zu</strong> einem „Vollzeitpraktizierenden<br />

Alkoholiker“, wie er es nannte. 1976, im gleichen Jahr in dem WILL<br />

YOU PLEASE BE QUIET veröffentlicht wurde, lief Carver auf Grund. Zwischen Oktober<br />

1976 und Januar 1977 wurde er viermal wegen akutem Alkoholismus ins<br />

Krankenhaus eingeliefert. Das Haus der Carvers wurde im Oktober verkauft, und<br />

Carver lebte von seiner Frau getrennt. [...] Carver hörte am 2. Juni 1977 auf <strong>zu</strong><br />

trinken und schrieb beinahe für ein ganzes Jahr nichts. [...] Sein erstes Leben, die<br />

Zeit der „Bad Raymond Days“, wie er sie nannte, war vorbei, und sein zweites Leben<br />

begann mit seiner Trockenheit. Eine ganze Zeit lang schrieb er nichts, dann folgten<br />

die Geschichten, die in WHAT WE TALK ABOUT WHEN WE TALK ABOUT LOVE<br />

enthalten sind. Diese Sammlung wurde 1981 veröffentlicht, das Buch ist der<br />

Endpunkt seines ersten literarischen Lebens, seines extrem reduzierten Stils. 1982,<br />

fünf Jahre nach dem Wendepunkt, schrieb Carver die Titelgeschichte seiner<br />

nächsten Sammlung CATHEDRAL. [...] Dieser drastische und unmittelbare<br />

Umschwung in Carvers Stil war auch der Zeitpunkt seines Durchbruchs. [...] Carver<br />

gewann, <strong>zu</strong>sammen mit Cynthia Ozick, den Mildred and Harold Strauss Living Award<br />

der American Academy of Arts and Letters. Dieses fünfjährige Stipendium war mit<br />

einem Betrag von $35.000 verbunden, außerdem wurde es Carver untersagt anderen<br />

Beschäftigungen außer dem Schreiben nach<strong>zu</strong>gehen. Zurückblickend scheint es<br />

sehr passend, dass er sich in seinen letzten fünf Lebensjahren nur dem Schreiben<br />

widmen konnte.<br />

Aus<strong>zu</strong>g aus: „Carver's Vision“ von Philipp Carson.<br />

http://www.philandjulie.com/carver/. Überset<strong>zu</strong>ng: Michael Sommer.<br />

William L. Stull<br />

CARVER UND TSCHECHOW<br />

In seinem Leben, seiner Kunst, und sogar in seinem Tod war<br />

Anton Tschechow ein Double, Mentor und Seelenverwandter<br />

von Raymond Carver. Wie Tschechow (1860-1904), dessen<br />

Großvater sich selbst aus der Leibeigenschaft freigekauft und<br />

dessen Vater mit seinem Lebensmittelladen bankrott ging, war<br />

Carver ein Kind armer Arbeiter. Sein Vater, Clevie Raymond<br />

Carver („C.R.“), kam während der Wirtschaftskrise der<br />

Dreißiger Jahre auf der Eisenbahn von Arkansas nach<br />

Washington State. C.R. arbeitete in einer Sägemühle – und Anton Tschechow<br />

wurde <strong>zu</strong>m Alkoholiker, der mit 53 Jahren starb. Seine Frau, Ella Casey Carver,<br />

kannte häusliche Gewalt nur all<strong>zu</strong> gut. Sie arbeitete als Kellnerin und Verkäuferin,<br />

um das Familieneinkommen <strong>zu</strong> sichern. Raymond Clevie Carver, Spitzname „Junior“,<br />

„Frog“ und „Doc“, wurde am 25 Mai 1938 in Clatskanie, Oregon, einer kleinen<br />

Holzindustrie-Stadt mit siebenhundert Einwohnern am Columbia River geboren. Die<br />

Familie kehrte 1941 nach Washington <strong>zu</strong>rück, und Carver wuchs in Yakima, einer<br />

Stadt von 20.000 Einwohnern, im „Fruchtkorb der Nation“, dem fruchtbaren Tal<br />

östlich der Cascades, auf.<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Carver war ein verspätetes Kind der Großen Depression, und noch bis weit in die Zeit<br />

des Nachkriegswohlstands hinein hatte sein Haus keine Toilette. Sein Gedicht<br />

„Shiftless“ (1986) umreißt die wirtschaftliche Situation seiner Kindheit: „The people<br />

who were better off than us were comfortable .... / The ones worse off were sorry and<br />

didn’t work.” So wie Tschechow kannte Carver genau die Härte und den Dreck des<br />

Lebens am Rand der Gesellschaft, und schuf daraus hellsichtige Geschichten voll<br />

Empathie, Gefährdung und schwer gewonnener Bestätigung. „Es sind meine Leute“,<br />

sagte er später über die sprachlosen Arbeiter und Angestellten, die seine<br />

Geschichten bevölkern. „Ich könnte ihnen niemals gerecht werden.“<br />

Vor Tschechow gab es Fabeln, Erzählungen und Skizzen. Aber noch keine<br />

Kurzgeschichten, keine „handlungslose“ Beschreibungen menschlicher Subjektivität<br />

an der Schwelle <strong>zu</strong>r Wahrnehmung. Tschechow schuf die moderne Geschichte in den<br />

1880ern, teils aus journalistischer Notwendigkeit, indem er realistische Details und<br />

romantischen Lyrizismus verwob. Das Ergebnis war eine Art des Erzählens, das die<br />

Geheimnisse des „normalen“ Lebens ausdrückt. In solchen Geschichten wie „Not“<br />

(1886), „Anjuta“ (1886) und „Der Kuss“ (1887), schließt das Tschechowsche Moment,<br />

wenn auch nur halb erfasst und flüchtig, eine Seele ein. Tschechows <strong>zu</strong>rückhaltende<br />

und doch klingende Manier wurde <strong>zu</strong>m Standard für die Geschichtenschreiber des<br />

zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich Carvers amerikanischer Vorbilder<br />

Sherwood Anderson, Ernest Hemingway und John Cheever. In den späten 1960ern<br />

war allerdings die nichtrealistische, experimentelle „Superfiktion“ das<br />

Lieblingsmodell der literarischen Avantgarde geworden. Realistische Geschichten,<br />

wie der „alles umfassende“ Roman, wurden für altmodisch, wenn nicht überholt<br />

gehalten.<br />

Während dieser Jahre, im Hinterland von Washington und Nord Kalifornien, hatte<br />

Raymond Carver mit neunzehn geheiratet, und war mit zwanzig Vater zweier Kinder.<br />

Er jonglierte mit „Scheißjobs“, Vaterschaft und schließlich „Vollzeittrinken als<br />

ernsthafte Beschäftigung“, und versuchte Zeit <strong>zu</strong>m Schreiben heraus <strong>zu</strong> pressen.<br />

„Fang an, hör auf. Zögere nicht. Mach weiter“, waren die Überschriften seines<br />

Lebens. Aus der Notwendigkeit heraus formten sie seine Kunst. „Ich musste etwas<br />

schreiben, für dass ich sofort irgend eine Bezahlung bekommen konnte“, sagte er<br />

später. „Also Gedichte und Geschichten.“<br />

Tschechow hätte es verstanden. Mit neunzehn war er aus Taganrog in der Provinz<br />

nach Moskau gezogen und hatte die Verantwortung für seine geldlose Familie<br />

übernommen. Obwohl er in Medizin studierte, verdiente „Papa Antoscha“ dringend<br />

benötigtes Geld indem er Skizzen von trockenstem Humor für Wochenzeitungen des<br />

Massenmarkts schrieb. In einem Brief vom 10. Mai 1886 umreißt er die Richtlinien<br />

für das, was kleingeistige Kritiker eines späteren Jahrhunderts „minimale“ Literatur<br />

nennen würden: „(1) keine politisch-ökonomisch-sozialen Ergießungen; (2)<br />

Objektivität von Anfang bis Ende; (3) Wahrheit in der Beschreibung der Charaktere<br />

und Dinge; (4) Extreme Kürze; (5) Frechheit und Originalität-meidende Klischees; (6)<br />

Warmherzigkeit”. Da er unter ähnlichen Bedingungen von „ständiger Verantwortung<br />

und Ablenkung“ arbeitete, fand Carver Tschechows Vorgaben kongenial, und erfand<br />

in den 1960ern und 70ern die Kurzprosa nach Tschechowschen Vorbildern neu. Auf<br />

diese Weise legte er den Grundstein für das Wiederaufleben des Realismus in den<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

1980ern. „In einem literarischen Sinne“, so der Romancier Douglas Unger kurz nach<br />

Carvers Tod, „ist seine Geschichte ein Sinnbild der Wiederauferstehung der<br />

Kurzgeschichte.“<br />

Nur wenige würden Carvers Behauptung wiedersprechen, Tschechow sei „der größte<br />

Autor von Kurzgeschichten, der je gelebt hat.“ Ebenfalls würden wenige Charles<br />

Mays Urteil in Frage stellen, der in A Chekhov Companion (1985) behauptete,<br />

Raymond Carver sei der Tschechowsche Schriftsteller der Gegenwart. Als Künstler<br />

und als Menschen lebten die beiden parallele Leben. Tragischerweise konvergierten<br />

diese Parallelen 1988, als Carver wie Tschechow viel <strong>zu</strong> früh einer Krankheit <strong>zu</strong>m<br />

Opfer fiel, die emblematisch für seine Ära war. In Tschechows Fall war die Krankheit<br />

Tuberkulose, die sein Leben mit vierundvierzig beendete. Im Falle Carvers war es<br />

Lungenkrebs. Der Schriftsteller, der sich einmal als „Zigarette mit einem<br />

angehängten Körper“ bezeichnet hatte, starb am 2. August, zwei Monate nach<br />

seinem fünfzigsten Geburtstag. Zwei Jahre früher hatte der Romancier Robert Stone<br />

Carver den „besten Amerikanischen Kurzgeschichten-Schreiber seit Hemingway“<br />

genannt. Als er bei Carvers Gedenkgottesdienst am 22. September in New York<br />

sprach, machte er ihm so gar noch ein größeres Kompliment. Indem er eine Phrase<br />

aus seinem eigenen Essay über Tschechow entlehnte, nannte er Carver „einen Held<br />

der Wahrnehmung.“ [...]<br />

Carvers großartigste Hommage an Tschechow wurde „Errand“, eine preisgekrönte<br />

Geschichte, die auch sein letztes Prosawerk sein würde. „Errand“ setzt in der<br />

Biographie an, mit einem kunstvoll angelegten Bericht über Tschechows letzte<br />

Monate, und findet ihren Höhepunkt darin, dass er ein letztes Glas Champagner<br />

trinkt, bevor er in Badenweiler, einem kleinen Kurort im Schwarzwald [sic] stirbt.<br />

Nachdem die harten Fakten erzählt sind, fährt die Geschichte als Tschechowsche<br />

Fiktion fort. Carver beschreibt die „menschlichen Besorgungen“, die nach<br />

Tschechows Tod getan werden müssen, mehr und mehr lyrisch. Nach einer langen<br />

Nachwache instruiert Tschechows Witwe einen jungen Pagen einen Bestatter<br />

ausfindig <strong>zu</strong> machen. Respektvoll, aber nur halb verstehend, hört er ihrem Auftrag<br />

<strong>zu</strong>. Bevor er geht, beugt sich der junge Mann diskret herunter und hebt den herunter<br />

gefallenen Champagnerkorken auf. Diese Geste, so nobel wie unbemerkt, bringt die<br />

Geschichte <strong>zu</strong> einem tadellos Tschechowschen Ende.<br />

„Errand“ erschien am 1. Juni 1987 im New Yorker. Im folgenden Frühling gewann die<br />

Geschichte den O. Henry Award und erschien in Prize Stories 1988. Im gleichen<br />

Zeitraum jedoch imitierte Carvers Leben seine Kunst – mit fatalen Folgen. Im<br />

September begann er Blut <strong>zu</strong> husten. Im Oktober wurden ihm zwei Drittel seiner<br />

Lunge entfernt. Über die nächsten neun Monate führte Carver einen mutigen aber<br />

aussichtslosen Kampf gegen den Krebs. Tschechow wurde <strong>zu</strong> seinem geisterhaften<br />

Double. „Wenn die Hoffnung vorbei ist,“ schrieb er in seinem Tagebuch, „ist es die<br />

<strong>zu</strong>letzt nur noch vernünftig, sich an Strohhalmen fest <strong>zu</strong> halten.“ Auch Tschechow<br />

hatte sich bis <strong>zu</strong>letzt an Strohhalmen festgehalten; er prahlte einen Monat vor<br />

seinem Tod, dass er jetzt „anfinge robust <strong>zu</strong> werden.“ Im März 1988 hatte der Krebs<br />

Carvers Gehirn erreicht. Bevor er eine Strahlentherapie begann, schrieb er eine<br />

Meditation über Tschechows „Station Nr. 6“ (1892). Indem er ein Stück Dialog des<br />

gleichgültigen Doktors, Andrej Jefinitsch erörterte, bemerkte er wie sogar in<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Tschechows gottverlassenen Irrenhaus „eine kleine Stimme in der Seele“ aufstieg,<br />

die „Glaube an eine zerbrechliche, aber konsequente Natur“ forderte.<br />

Carvers fünfzigster Geburtstag kam schnell näher, und im Mai erhielt er eine Welle<br />

von Anerkennungen und Auszeichnungen.[...] Ebenfalls im Mai wurde Where I’m<br />

Calling From, eine Sammlung von neuen und ausgesuchten Geschichten, von<br />

Atlantic Monthly Press veröffentlicht. [...] Where I’m Calling From wurde von Küste<br />

<strong>zu</strong> Küste hervorragend besprochen, einschließlich eines Artikels auf der ersten Seite<br />

der New York Times Book Review. Wichtiger als diese Kritiken war allerdings die<br />

Neueinordnung Carvers, die viele Kritiker anlässlich dieser Retrospektive<br />

vornahmen. Wiewohl er weithin als „einer der großen Kurzgeschichtenschreiber<br />

unserer Zeit“ anerkannt wurde, war er lange Zeit als „Minimalist“ bezeichnet<br />

worden, ein herabsetzendes Attribut, dass dem Geist seines Werkes nicht gerecht<br />

wird. [...] „Carver ist kein Minimalist, sondern ein Prezisionist gewesen“, schrieb<br />

David Lipsky in der National Review (5. August 1988). [...]<br />

Im Juni tauchte der Krebs wieder in Carvers Lungen auf. Die Diagnose war ein<br />

Todesurteil, wie er in einem Gedicht mit dem Titel „What the Doctor Said“ festhielt.<br />

Tschechow hatte ein entsprechendes Urteil drei Jahre vor seinem Tod erhalten und<br />

reagiert indem er Olga Knipper heiratete [...]. Carver überholte seinen Mentor und<br />

heiratete am 17. Juni seine Begleiterin und Mitarbeiterin während der letzten Zehn<br />

Jahre, die Schriftstellerin Tess Gallagher. Die Hochzeit fand in Nevada, in der Heart<br />

of Reno Kapelle statt, und Carver beschrieb es genüsslich als „hochtrabende Sache“.<br />

Ganz der Tragikomik der Situation angemessen, hatte Gallagher eine drei Tage<br />

andauernde Glückssträhne beim Roulette.<br />

Carver und Gallagher kehrten schnell nach Port Angeles, Washington, <strong>zu</strong>rück, das<br />

während der letzten fünf Jahre <strong>zu</strong> ihrem Zuhause geworden war, und beeilten sich<br />

damit, einen letzten Gedichtband A New Path to the Waterfall (1989) <strong>zu</strong>sammen <strong>zu</strong><br />

stellen. In dieser ungewöhnlichen Sammlung stehen Carvers Verse in einem Dialog<br />

mit Werken anderer Dichter – und mit Prosagedichten aus Tschechows Schriften.<br />

Gemeinsam machten die beiden „Seelenverwandten“ eine „letzte, ganz erstaunliche<br />

Reise“ die ein verschwenderisch gelebtes Leben rekapitulierte. Indem er seine<br />

frühen Gedichte noch einmal veröffentlicht, ruft sich Carver noch einmal die wenigen<br />

schönen Tage seiner jugendlichen Ehe in Erinnerung. Er stattet der Küche seiner<br />

Eltern einen Besuch ab, ertappt dabei seinen Vater in ehebrecherischer Umarmung.<br />

Mit Czeslaw Miloszs „Rückkehr nach Krakau 1880“ stellt er den Wert seiner Arbeit in<br />

Frage: „To win / To lose / What for, if the world will forget uns anyway.“ In<br />

Gedichten von brennender Offenheit, kämpft er darum <strong>zu</strong> sagen was ihm und den von<br />

ihm geliebten Menschen „wirklich geschah“. Schließlich, auf den Endseiten,<br />

konfrontiert er sich mit der „erstaunlichen Trauer“ seines drohenden Todes. Die<br />

Lebensreise endet mit Tschechowschem Zwielicht in „Nachglühen“ [...]. Die Coda<br />

des Buches, „Spätes Fragment“, drückt Carvers hart erkämpfte Selbstakzeptanz<br />

aus:<br />

And did you get what<br />

you wanted from this life, even so<br />

I did.<br />

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And what did you want<br />

To call myself beloved, to feel myself<br />

beloved on the earth.<br />

Als das Manuskript abgeschlossen war, machten Carver und Gallagher einen<br />

Angeltrip nach Alaska und planten eine „Traumreise“ nach Moskau. „Ich werde vor<br />

dir da sein“, sagte er scherzend im Krankenhaus, „Ich reise schneller.“ Carver wurde<br />

in die Pflege seiner Frau entlassen, und verbrachte seinen letzten Nachmittag auf<br />

der Veranda seines neugebauten Hauses, mit Blick auf die Rosen. [...] Um 6.20 Uhr<br />

starb Carver im Schlaf. Ohne die Dringlichkeit seiner Situation <strong>zu</strong> verraten, hatte<br />

Carver in den letzten Monaten seines Lebens Interviewern gesagt, was er als Epitaph<br />

wünschen würde: „Ich kann mir nichts besseres vorstellen, als ein Schriftsteller<br />

genannt <strong>zu</strong> werden – außer Dichter vielleicht. Kurzgeschichtenschreiber, Dichter,<br />

gelegentlicher Essayist.“ Nach einem Familiengottesdienst am 4. August wurde er<br />

auf dem Ocean View Friedhof in Port Angeles beigesetzt. [...]<br />

Aus<strong>zu</strong>g aus „Biographisches Essay über Raymond Carver“ von William L. Stull.<br />

Ursprünglich veröffentlicht im Dictionary of Literary Biography. Nachdruck auf<br />

http://www.whitman.edu/english/carver/biography1.html. Überset<strong>zu</strong>ng: Michael<br />

Sommer.<br />

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Denys Arcand<br />

DER UNTERGANG DES AMERIKANISCHEN IMPERIUMS<br />

I. Eingangsszene<br />

Diane interviewt Dominique<br />

DIANE<br />

Interview mit Dominique Santano von Diane<br />

Leonard für Literatur und Medien... Sie sind<br />

Leiterin der historischen Fakultät der<br />

Universität und sie haben gerade im<br />

Universitätsverlag ein Buch veröffentlicht<br />

mit dem Titel "Variationen der Idee vom<br />

Glück". Worum geht es in diesem Buch<br />

DOMINIQUE<br />

Ja. In Variationen entwickele ich die<br />

Hypothese, dass sich die Idee vom<br />

persönlichen Glück immer dann literarisch<br />

bedeutsam wird, wenn die<br />

Ausstrahlungskraft einer Nation oder einer<br />

Zivilisation kleiner wird.<br />

DIANE<br />

Und was ist Ihrer Ansicht nach persönliches Glück<br />

DOMINIQUE<br />

Das ist die Idee, dass man in seinem Alltagsleben für das was man getan hat, stets<br />

sofort belohnt wird, und dass der Umfang dieser Belohnungen eigentlich den<br />

normativen Parameter für das Gelebte bildet.<br />

DIANE<br />

Könnten Sie das unseren Hörern mit einem Beispiel veranschaulichen<br />

DOMINIQUE<br />

Ja. Zum Beispiel die Institution der Ehe. In den stabilen Gesellschaften hat die Ehe<br />

die Funktion des wirtschaftlichen oder politischen Ausgleichs oder die einer<br />

Produktionsgemeinschaft.<br />

DIANE<br />

Und das bedeutet<br />

DOMINIQUE<br />

Das bedeutet, dass eine gute Ehe überhaupt nichts mit dem persönlichen Glück der<br />

beiden verheirateten Individuen <strong>zu</strong> tun hat. Die Frage stellt sich vielleicht nicht<br />

einmal. In einer unterentwickelten Gesellschaft sind ja auch erst einmal das<br />

Wohlergehen der Gesellschaft und Ihre Zukunft wichtiger als augenblickliche<br />

persönliche Zufriedenheit. In der römischen Literatur <strong>zu</strong>m Beispiel ist von der<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

ehelichen Liebe überhaupt erst im zweiten oder dritten Jahrhundert nach Christus<br />

die Rede. Gerade als die Strukturen des Reiches anfingen sich auf<strong>zu</strong>lösen. Das<br />

gleiche Phänomen wiederholt sich im Europa des 18. Jahrhunderts, wo die<br />

Glücksvorstellungen von Rousseau der Französischen Revolution vorausgehen. Und<br />

ich stelle mir die paradox klingende Frage: Diese Sucht nach ausgeprägtem<br />

persönlichen Glück, den wir derzeit in unserer Gesellschaft beobachten können, hat<br />

der [sic] historisch betrachtet nicht etwas mit dem gerade beginnenden Untergang<br />

des amerikanischen Imperiums <strong>zu</strong> tun<br />

II. Später, nach dem gemeinsamen Abendessen<br />

Acht Personen, vier Männer und vier Frauen, Bekannte, Freunde, die allesamt an der<br />

historischen Fakultät der Universität arbeiten, haben gemeinsam <strong>zu</strong> Abend gegessen<br />

und hören sich nun den Rest des Interviews an, das Dominique Diane gegeben hat.<br />

DIANE<br />

Und Sie glauben, dass diese Entwicklung unaufhaltsam ist<br />

DOMINIQUE<br />

Ja, ganz sicher. Auch wenn man, wie <strong>zu</strong> allen Zeiten, Scharlatane findet, die einem<br />

sagen, das Heil liege in der Kommunikation, dem Informationsaustausch in<br />

Kleinzirkeln, in der religiösen Erneuerung, der körperlichen Fitness oder<br />

irgendeinem anderen Unsinn. Der Untergang einer Zivilisation ist genauso<br />

unvermeidlich wie das Altern eines Individuums. Im besten Fall darf man hoffen,<br />

dass dieser Vorgang verzögert werden kann, sonst nichts. Wir müssen uns klar<br />

machen, dass wir das Glück haben, am Rande des amerikanischen Imperiums <strong>zu</strong><br />

leben, wo wir die Erschütterungen viel weniger heftig verspüren. Man muss aber<br />

auch sagen, dass das Leben in dieser Zeit <strong>zu</strong>m Teil sehr angenehm sein kann.<br />

Jedenfalls stünde unsere mentale Einstellung ohnehin jeder anderen Lebensweise<br />

im Wege. Ich glaube nicht, dass es viele von uns fertig bringen würden, unter den<br />

Puritanern im Neuengland des Jahres 1650 <strong>zu</strong> leben.<br />

DIANE<br />

Dominique Santano, ich danke ihnen.<br />

RÉMY<br />

Ja, das ist nett.<br />

LOUISE (RÉMYS FRAU)<br />

Ich finde das falsch. Ich bin sicher, dass es Wissenschaftler gibt, die genauso<br />

überzeugend das Gegenteil beweisen könnten. Dass wir in einer Zeit ganz<br />

außergewöhnlicher Erneuerung leben, dass die Wissenschaft noch nie so hoch<br />

entwickelt und das Leben noch nie so angenehm gewesen ist. Es ist doch noch nicht<br />

möglich <strong>zu</strong> sagen in was für einer Epoche wir leben. Das Beste was man machen<br />

kann, ist versuchen glücklich <strong>zu</strong> sein. Das haben die Menschen doch immer gewollt.<br />

Und die es nicht geschafft haben, die erfanden Geschichten um ihr Unglück <strong>zu</strong><br />

rechtfertigen. Das hast du doch selbst gesagt. Nein, ich meine, wenn du ganz alleine<br />

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lebst, dann weil du dein Leben deiner Karriere geopfert hast. Das ist doch kein Grund<br />

<strong>zu</strong> behaupten, wenn man klug ist müsste man heute auch deprimiert sein, oder<br />

DOMINIQUE<br />

(<strong>zu</strong> Pierre und Rémy) Ihr habt mir noch nicht gesagt, was ihr von meinem Buch<br />

haltet.<br />

LOUISE<br />

Na die meinen das gleiche wie ich, aber sie trauen es sich nicht <strong>zu</strong> sagen.<br />

DOMINIQUE<br />

Sie werden einverstanden sein, denke ich.<br />

PIERRE<br />

Wieso einverstanden<br />

DOMINIQUE<br />

Schließlich habt ihr alle zwei mit mir geschlafen.<br />

Le déclin de l’empire américain. Spielfilm, Kanada, 1985. Buch und Regie: Denys<br />

Arcand. Mit: Dominique Michel, Dorothée Berryman, Louise Portal, Pierre Curzi,<br />

Rémy Girard, Ives Jacques, Geneviève Rioux, Daniel Brière, Gabriel Arcand.<br />

Transskript: Michael Sommer.<br />

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François Höpflinger<br />

ALLES LIEBE, ODER WAS<br />

Wie es <strong>zu</strong>r staatlichen Sanktionierung eines Monogamiemodells für eine nicht sehr<br />

monogame Spezies und <strong>zu</strong>m Ewigkeitsgebot von etwas nicht Ewigem kam.<br />

DIE INSTITUTION EHE erfüllte von Anfang an gesellschaftliche Ordnungs- und<br />

Schutzfunktionen: Erstens wurde mit Hilfe der Ehe das Verhalten junger Frauen<br />

kontrolliert; gleichzeitig war die Ehe eine Einrichtung <strong>zu</strong>r Kanalisierung männlicher<br />

Sexualität. Vor- und aussereheliche Sexualität waren lange verpönt. Bis <strong>zu</strong> Beginn<br />

des 20. Jahrhunderts galt als Norm, dass <strong>zu</strong>mindest die Frau unberührt in die Ehe<br />

eintrat.<br />

Zweitens war die Ehe die Institution <strong>zu</strong>r Regelung von Geburten und<br />

Kindererziehung. Lange Zeit wurden nur ehelich geborene Kinder rechtlich<br />

anerkannt; unverheiratete Mütter und ihre Kinder wurden stigmatisiert. Gleichzeitig<br />

half die Institution der Ehe, die väterliche Verantwortung für die Nachkommen<br />

fest<strong>zu</strong>schreiben. Bis heute gelten alle innerhalb einer Ehe geborenen Kinder<br />

automatisch als Kinder des Ehegatten.<br />

Drittens regelte die Ehe das häusliche Zusammenleben von Mann und Frau. Vor<br />

Einführung des Wohlfahrtsstaates waren Ehe und<br />

Familie die wichtigste Not- und Solidargemeinschaft.<br />

Die Bedeutung der Ehe wie auch das konkrete<br />

Zusammenleben der Eheleute haben sich im Verlaufe<br />

der Zeit enorm gewandelt. Von explosiver Kraft erwies<br />

sich vor allem der Versuch, Ehe und Liebe<br />

beziehungsweise Institution und Gefühl in der<br />

bürgerlichen Liebesehe <strong>zu</strong> vereinigen.<br />

EHESAKRAMENT VERSUS PRIESTERZÖLIBAT.<br />

Ordnungspolitische Gesichtspunkte des christlichen<br />

Ehemodells waren von vornherein Monogamie und<br />

Unauflöslichkeit. Dagegen fand das persönliche<br />

Verhältnis der Ehegatten in der mittelalterlichen<br />

Theologie kaum Aufmerksamkeit. Der primäre Zweck<br />

der Ehe lag in der Erzeugung von Kindern. Das<br />

Christentum - als Gemeindereligion - brach radikal<br />

mit allen früheren Haus-, Familien- und Ahnenkulten.<br />

Dadurch erhielt die europäische Ehe ihre spezifische Prägung. Im Gegensatz <strong>zu</strong><br />

vielen aussereuropäischen Kulturen wurde die Beziehung zwischen den Ehegatten -<br />

und nicht jene <strong>zu</strong>r Sippe oder <strong>zu</strong>m Clan - ins Zentrum gerückt. Die Betonung der Ehe<br />

als Zweierbeziehung stärkte die Stellung junger Eheleute gegenüber der älteren<br />

Generation. Zudem wurde damit die Entwicklung <strong>zu</strong>r Kernfamilie gefördert.<br />

Das Verhältnis der mittelalterlichen Kirche <strong>zu</strong>r Ehe war allerdings durch und durch<br />

zwiespältig: Einerseits galt die Ehe gegenüber einem keuschen Leben als<br />

minderwertig. Im Vergleich mit dem Zölibat - einem nur Christus verpflichteten<br />

Leben - galt die Ehe bestenfalls als «etwas Zweitbestes». Die religiöse<br />

Minderwertigkeit der Ehe wurde vor allem nach dem 11. Jahrhundert betont, als sich<br />

der Klerikerzölibat innerkirchlich durchgesetzt hatte. Die mittelalterliche<br />

Gesellschaft war aufgeteilt in einen ehelosen Stand von Klerikern (Mönchen,<br />

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Nonnen, Priestern) und einen weniger vollkommenen Stand verheirateter Laien.<br />

Diese Zweiteilung hat in der katholischen Kirche bis heute überlebt.<br />

Andererseits wurde die Ehe als unauflösliches Sakrament («. . . bis dass der Tod<br />

Euch scheidet») definiert und die Eheschliessung schon früh der kirchlichen<br />

Gerichtsbarkeit unterstellt. Ab dem 9. Jahrhundert wurde verstärkt gefordert, nur<br />

eine kirchliche Eheschliessung <strong>zu</strong> akzeptieren. Die christliche Heirat und mit ihr das<br />

kirchliche Eherechtsmonopol setzte sich - gegen den Widerstand lokaler Traditionen<br />

- allerdings erst im 12. Jahrhundert durch. Die Idee der Unauflösbarkeit der Ehe und<br />

das Prinzip, dass nur eine kirchliche Heirat gültig sei, gehören in der katholischen<br />

Kirche bis heute <strong>zu</strong>r kirchlichen Doktrin.<br />

Ab dem 12. Jahrhundert setzte sich in Westeuropa allmählich das Konsensprinzip<br />

durch: Ehewillen beziehungsweise Verlobung waren der Beginn der Ehe; eine Ehe<br />

ohne Einwilligung beider Ehepartner wurde <strong>zu</strong>r Ausnahme. Junge Frauen wurden<br />

damit selbständiger und getrauten sich, einen unliebsamen Heiratspartner<br />

<strong>zu</strong>rück<strong>zu</strong>weisen. Während in vielen anderen Kulturen die Eltern bis heute den<br />

Ehepartner, die Ehepartnerin ihrer Kinder bestimmen, gewannen junge Männer und<br />

Frauen in Westeuropa relativ früh die Freiheit, bei der Wahl eines Ehepartners -<br />

<strong>zu</strong>mindest innerhalb des gleichen Dorfes oder des gleichen Standes -<br />

mit<strong>zu</strong>entscheiden. Das Konsensprinzip schloss ein, sich gegen die Ehe entscheiden<br />

<strong>zu</strong> können. Seitens der Kirche ging es darum, «religiöse Berufungen <strong>zu</strong> schützen»<br />

und Eltern daran <strong>zu</strong> hindern, Kinder gegen deren Willen in den unauflöslichen<br />

Ehestand <strong>zu</strong> nötigen.<br />

Faktisch musste die mittelalterliche<br />

Kirche immer wieder gegen lokale<br />

Traditionen (etwa Heirat unter<br />

Blutsverwandten, Brautkauf) und<br />

Formen ausserehelicher Sexualität<br />

ankämpfen. Angesichts der häufigen<br />

Todesfälle - speziell während Pestzeiten<br />

- war die durchschnittliche Ehedauer<br />

gering. Wiederverheiratung war häufig,<br />

schon aus wirtschaftlichen Gründen. Vor<br />

allem für Frauen war und blieb die Ehe<br />

die einzige wirtschaftliche Absicherung. So machten viele Zünfte jüngeren Witwen<br />

die Auflage, sich innerhalb eines Jahres mit einem Mann desselben Handwerks <strong>zu</strong><br />

verheiraten.<br />

Am Ende des Hochmittelalters hatte sich das kanonische Eherecht (Ehe als<br />

unauflösliches Sakrament, kirchliches Heiratsmonopol) durchgesetzt. Aber der<br />

grundlegende Zwiespalt zwischen Priesterzölibat und verheirateten Laien blieb<br />

bestehen und beschäftigt die katholische Kirche bis heute.<br />

AUFWERTUNG VON EHE UND FAMILIE. Die Reformatoren, namentlich Calvin und<br />

Zwingli, haben den mittelalterlich-kirchlichen Zwiespalt gegenüber der Ehe<br />

grundsätzlich aufgelöst. Der Priesterzölibat wurde kurzerhand abgeschafft, der<br />

sakramentale Status der Ehe verneint, was aber nicht etwa <strong>zu</strong>r Abwertung, sondern<br />

im Gegenteil <strong>zu</strong>r Aufwertung von Ehe und Familie führte.<br />

Durch die Priesterehe wurde die Trennung zwischen Klerikern und Laien<br />

aufgehoben. Die Pfarrfamilien wurden <strong>zu</strong>m lebendigen und sichtbaren Vorbild<br />

christlicher Eheführung. Dass die Reformatoren Haus und Familie ins Zentrum der<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

christlichen Lebensführung rückten, stärkte die Ehe ebenfalls. Durch die Streichung<br />

des sakramentalen Charakters der Ehe - die <strong>zu</strong> einem «eusserlich weltlich ding»<br />

(Luther) wurde - entkrampfte sich hingegen das Verhältnis der Kirche <strong>zu</strong>r ehelichen<br />

Sexualität. Schon Calvins Einstellung <strong>zu</strong>r ehelichen Sexualität war positiver, was auf<br />

der anderen Seite die aussereheliche Sexualität und die nichtehelichen Geburten<br />

<strong>zu</strong>sätzlich herabwürdigte.<br />

Während in den katholischen Orten der Alten Eidgenossenschaft weiterhin das<br />

kanonische Eherecht gültig blieb, setzten die protestantischen Gebiete der Schweiz<br />

ein gemeinsames reformiertes Eherecht durch. Gemäss dem Zürcher Ehegesetz von<br />

1524 wurden Eheversprechen und Verlobung als Eheschliessung betrachtet. Eine<br />

kirchliche Trauung war damals noch nicht unbedingt nötig, da sie nach Ansicht der<br />

Reformatoren nichts Neues schaffte, sondern die Ehe - die mit dem Eheversprechen<br />

begann - lediglich legitimierte. Neu war, dass Männer ab 20 Jahren und Frauen ab<br />

18 Jahren auch ohne Einwilligung der Eltern heiraten durften. Neu war auch die<br />

Möglichkeit einer Ehescheidung im Falle eines Ehebruchs. In späteren Gesetzen des<br />

17. Jahrhunderts wurden auch böswilliges Verlassen und Impotenz als<br />

Scheidungsgründe akzeptiert.<br />

Auch bei den Reformatoren stand allerdings der institutionelle Charakter der<br />

Ehegemeinschaft im Vordergrund. Hauptzweck der Ehe war und blieb die Zeugung<br />

und Auf<strong>zu</strong>cht von Kindern. Mit der religiösen Aufwertung der Familie wurde <strong>zu</strong>dem<br />

die Stellung des Hausvaters - verantwortlich für die religiöse Haus<strong>zu</strong>cht -<br />

hervorgehoben. Die patriarchale Arbeitsteilung zwischen Ehemann und Ehefrau hielt<br />

der Reformator Bullinger in seiner 1547 erschienenen Schrift «Der Christlich<br />

Eestand» wie folgt fest: «Waz ussethalb dem huss zehandeln ist / als hin und här<br />

reisen / gwün und gwärb fertigen / kauffen und verkauffen / und der glychen eehaffte<br />

stuck / ist des manns arbeit. Der sol glych wie ein empsiger vogel hin und här fliegen<br />

/ die narung und notturfft samlen und flyssig <strong>zu</strong>o näst tragen. Und alles was also in<br />

daz huss gebracht wirt / sol das wyb samlen / ordnen / nüt <strong>zu</strong>o verlieren gon lassen /<br />

und alles was in huss zethon ist flyssig und fruotig ussrichten.»<br />

Diese Rollenverteilung - Mann sichert Existenz der Familie, Frau kümmert sich um<br />

Haushalt und Kinder - blieb bis <strong>zu</strong>r Einführung des partnerschaftlichen Eherechts im<br />

Jahre 1988 im Prinzip unverändert.<br />

Zur Kontrolle der Ehe als Institution des paternalistischen und obrigkeitlichen<br />

Staates wurden in den reformierten Orten spezielle Ehegerichte eingesetzt, so etwa<br />

von Zwingli 1525 in Zürich. Andere protestantische Orte übernahmen diese<br />

Einrichtung, die bis <strong>zu</strong>m Ende der Alten Eidgenossenschaft überlebte. Aufgabe der<br />

Ehegerichte waren die Durchset<strong>zu</strong>ng und Bewahrung guter ehelicher Sitten. So<br />

bestimmt die Helvetische Konfession von 1723: «Es sollen in der Kirche gesetzt und<br />

geordnet werden fromme, redliche Richter <strong>zu</strong> einem Ehegericht, welche die Ehen<br />

schirmen und erhalten, und aller Un<strong>zu</strong>cht und Unverschämtheit wehren: Und vor<br />

denen alle Streitigkeiten, die sich von der Ehe wegen erheben, verhört und gerichtet<br />

werden.» Die Eherichter hatten weiter über strittige Eheversprechen <strong>zu</strong> entscheiden,<br />

und sie konnten - um dem «Laster der Un<strong>zu</strong>cht» vor<strong>zu</strong>beugen - Eheverfügungen<br />

erlassen. Die Ehegerichte mussten <strong>zu</strong>dem Vaterschaftsklagen beurteilen oder<br />

vorehelichen Beischlaf büssen. In einigen Fällen waren die Eherichter auch für den<br />

Landesverweis unehelicher Mütter <strong>zu</strong>ständig.<br />

Vor allem im 17. Jahrhundert verstärkte sich in den protestantischen Gebieten - und<br />

als Folge der Gegenreformation auch in den katholischen Kantonen - die ethische<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Reglementierung des Ehelebens. Der Zugriff der Kirche auf das Sexualverhalten der<br />

Bevölkerung wurde härter. Gleichzeitig kam es jedoch <strong>zu</strong> einer stärkeren Betonung<br />

der ehelichen Gemeinschaft und Liebe: gegenseitige Hilfe und Beistand als<br />

Ehezwecke wurden vermehrt hervorgehoben. Die Ehe wurde somit einerseits ein<br />

Instrument <strong>zu</strong>r sexuellen Disziplinierung der jungen Generation. Andererseits<br />

begann eine «Ethisierung der Ehe», indem etwa das Schlagen der Ehefrau nicht<br />

mehr länger gutgeheissen wurde. Mit der <strong>zu</strong>erst religiös begründeten Betonung der<br />

Gattenliebe setzte der grundlegende Wandel <strong>zu</strong>r Liebesehe ein.<br />

WUNSCH UND REALITÄT. Im Grunde ist die bürgerliche Liebesehe, die das heutige<br />

Eheverhalten bestimmt, ein Versuch, Feuer und Wasser <strong>zu</strong> mischen. Die Idee, die<br />

Ehe (als Institution) mit der Liebe (als Gefühl) <strong>zu</strong> koppeln, war insofern erfolgreich,<br />

als sich dieses Modell im 20. Jahrhundert voll durchsetzte. Es war jedoch ein<br />

Prozess, der langfristig <strong>zu</strong>r institutionellen Entwertung der Ehe führte. Bis ins 18.<br />

Jahrhundert hinein war die Liebe mit der Ehe, <strong>zu</strong>m Teil aber auch die Liebe mit<br />

Sexualität als unvereinbar erklärt worden. Tatsächlich standen etwa in der<br />

Aristokratie bei der Heirat immer dynastische Überlegungen im Zentrum. Sexualität<br />

und Liebe wurden ausserhalb der Ehe gesucht. Bei den bäuerlichen und städtischen<br />

Unterschichten war die Ehe primär eine wirtschaftliche Not- und<br />

Zwangsgemeinschaft, in der für Liebe kaum Raum blieb.<br />

Das aufstrebende Bürgertum des 18. Jahrhunderts versuchte erstmals, Liebe,<br />

Sexualität und Ehe <strong>zu</strong> einem Gesamtpaket <strong>zu</strong> schnüren. Genau dies war das Neue<br />

am bürgerlichen Ehemodell, das in der Romantik seine klare Fassung erhielt und<br />

das in einer ganzen Flut von Eheratgebern vermittelt wurde. Die (romantische) Liebe<br />

wurde allmählich <strong>zu</strong>m einzig gültigen Anlass und Motiv. Damit verknüpft war die<br />

Betonung eines häuslichen Ehe- und Familienlebens nach gutbürgerlicher<br />

Sittlichkeit. Der häusliche Charakter der Kleinfamilie wurde verstärkt, die Ehefrau in<br />

der Folge oft <strong>zu</strong>r blossen Hausfrau entwertet. Andererseits zielte die bürgerliche<br />

Häuslichkeit darauf, den Ehemann <strong>zu</strong> disziplinieren und ihn etwa von Müssiggang,<br />

Schankwirtschaften und Prostitution fern<strong>zu</strong>halten.<br />

In jedem Fall wurden Eheglück und eheliche Liebe ab dem späteren 18. Jahrhundert<br />

immer mehr <strong>zu</strong>m Leitmotiv eines bürgerlichen Ehe- und Familienlebens. Erstmals<br />

sprachen sich die Ehegatten mit Du an, später auch die Kinder ihre Eltern. Es<br />

dauerte allerdings seine Zeit, bis sich das bürgerliche Ehemodell - gegenüber<br />

aristokratischen Ehenormen oder bäuerlichen Eheformen - durchsetzen konnte. Die<br />

verbreitete wirtschaftliche Armut der damaligen Zeit war ein bedeutsames Hindernis<br />

in der Entwicklung der Liebesehe. Selbst im Bürgertum standen die neuen<br />

Vorstellungen von häuslichem Glück und gegenseitiger Rücksichtnahme oft in<br />

Konflikt mit patriarchalen Eheregelungen.<br />

Bis weit ins 19. Jahrhundert übten Kirche und weltliche Obrigkeit eine straffe<br />

Kontrolle aus. Mit der Entwicklung des Absolutismus wurde die Eheschliessung<br />

vermehrt unter staats- und bevölkerungspolitischen Gesichtspunkten geregelt.<br />

Heiraten mit Ortsfremden oder Nichtansässigen wurden behindert oder gar<br />

verboten. Vielerorts machte man eine Heirat vom Nachweis eines Mindestvermögens<br />

abhängig, um die Vermehrung von Armengenössigen <strong>zu</strong> verhindern. Wohnungsnot<br />

oder das Warten auf das väterliche Erbe waren weitere Ehehindernisse.<br />

Wirtschaftliche und staatliche Ehebeschränkungen führten im 18. und im 19.<br />

Jahrhundert <strong>zu</strong> zwei Tendenzen: Viele Frauen und Männer blieben zwangsweise<br />

ledig, und wenn geheiratet wurde, dann meist spät. Das mittlere Erstheiratsalter von<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Männern in der Schweiz lag zwischen 27 und 29 Jahren, was angesichts der damalig<br />

tiefen Lebenserwartung schon ein recht hohes Alter war.<br />

Der Weg <strong>zu</strong> einer liberalen Ehegesetzgebung war in der Schweiz sehr lang. Erst 1821<br />

schlossen zehn Kantone ein Konkordat ab, das den Abschluss konfessionell<br />

gemischter Ehen erlaubte. Gesamtschweizerisch fiel das Verbot von konfessionellen<br />

Mischehen erst 1850. Noch länger, bis 1874, dauerte es, bis das Recht auf<br />

Eheschliessung voll verankert war und die Zivilehe eingeführt wurde. Das Eherecht<br />

blieb jedoch einer patriarchalen Ordnung verpflichtet. Auch gemäss revidiertem<br />

Eherecht von 1912 war der Ehemann das Oberhaupt der Familie und besass<br />

beispielsweise das Recht, seiner Frau eine ausserhäusliche Erwerbstätigkeit <strong>zu</strong><br />

verbieten.<br />

DURCHBRUCH DER LIEBESEHE. Auch wenn es lange dauerte, bis sich die<br />

«bürgerliche Liebesehe» (mit ihrer Dreieinigkeit von Liebe, Ehe und Sexualität)<br />

tatsächlich in weiteren Bevölkerungskreisen durchsetzte, hatte dieses Ehemodell<br />

einige unwiderrufliche Konsequenzen: So nahm der Einfluss der Eltern und übrigen<br />

Verwandten auf die Partnerwahl weiter ab. Liebe lässt sich nicht befehlen, und wenn<br />

eine Ehe auf Liebe gegründet wird, muss die Wahl des Ehepartners der jungen<br />

Generation überlassen werden. Die Eheschliessung, aber auch das Eheleben,<br />

wurden immer mehr <strong>zu</strong>r «Privatsache» der Beteiligten. Damit ging der Einfluss der<br />

Kirchen immer stärker <strong>zu</strong>rück.<br />

Eine zweite Folge der Liebesehe war, dass die Stellung junger Frauen gegenüber<br />

jungen Männern gestärkt wurde. Die Männer mussten um die Frau «werben». Auch<br />

nach der Heirat musste sich der Mann um die Zuneigung seiner Gattin «bemühen».<br />

Eine Liebesehe ist immer auf Gegenseitigkeit aufgebaut, und im Grunde waren die<br />

herkömmlichen patriarchalen Ehevorstellungen mit dem Prinzip einer Liebesehe<br />

unvereinbar. Mit der Erfindung der bürgerlichen Liebesehe wurde langfristig das<br />

Ende des Patriarchats eingeläutet.<br />

Eine dritte Konsequenz der Liebesehe war, dass damit auch eine Eheauflösung in<br />

Frage kam. Wenn die eheliche Liebe Fundament und Sinn einer Ehe ist, wird die Ehe<br />

sinnlos, wenn die Liebe verschwunden ist. Weshalb also eine sinnentleerte<br />

Beziehung weiterführen Mit dem Durchbruch der Liebesehe musste schliesslich die<br />

Legitimität einer Ehescheidung akzeptiert werden. Die wachsende<br />

Scheidungshäufigkeit lässt sich deshalb als sozio-logische Konsequenz des Sieges<br />

der Liebesehe interpretieren.<br />

Der Erste Weltkrieg und Wirtschaftskrisen führten allerdings auch <strong>zu</strong> Beginn des 20.<br />

Jahrhunderts da<strong>zu</strong>, dass viele Frauen und Männer erst spät heiraten konnten oder<br />

ledig blieben. Das Ideal der bürgerlichen Liebesehe war zwar weit verbreitet, aber<br />

die wirtschaftlichen Hindernisse standen seiner Verwirklichung im Weg. Manch<br />

junges Dienstmädchen und manch junger Arbeiter musste sich mit dem Lesen<br />

romantischer Liebesgeschichten begnügen.<br />

Erst die Hochkonjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg erleichterte den jungen Leuten<br />

die Eheschliessung. Entsprechend sank das Heiratsalter deutlich, und der Anteil der<br />

Ledigen reduzierte sich auf einen historischen Tiefstwert. Gleichzeitig blieb die Ehe<br />

vorläufig die einzig akzeptierte Form heterosexuellen Zusammenlebens, da sowohl<br />

voreheliche Sexualität als auch nichteheliches Zusammenleben («wilde Ehe»<br />

genannt) verpönt waren. Die klassische Arbeitsteilung (Mann sichert Existenz der<br />

Familie, Frau arbeitet im Haushalt) wurde erst selten in Zweifel gezogen, und dank<br />

steigender Löhne konnten sich mehr Männer eine vollberufliche Hausfrau leisten.<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Die ersten Nachkriegsjahrzehnte waren so<strong>zu</strong>sagen das goldene Zeitalter der<br />

bürgerlichen Ehe: Die Wünschbarkeit dieser Lebensform war nahe<strong>zu</strong> unbestritten,<br />

und Alternativen gab es kaum. Dank wachsendem Wohlstand waren einer frühen<br />

Heirat keine wirtschaftlichen Hindernisse mehr im Weg. Allerdings erwies sich<br />

dieses «goldene Zeitalter» als vorübergehend, da die bürgerliche Liebesehe - mit<br />

ihrer Kombination von Gefühlen und institutioneller Ordnung - eine grundsätzlich<br />

widersprüchliche Konstruktion ist.<br />

ENTINSTITUTIONALISIERUNG DER EHE. Ende der sechziger Jahre begann die<br />

bürgerliche Ehekonstruktion mit ihrer Einheit von Sexualität, Zusammenleben und<br />

Ehe so<strong>zu</strong>sagen auseinander<strong>zu</strong>fallen. Zum ersten wurden voreheliche sexuelle<br />

Erfahrungen bei der jungen Generation populär, und auch die Diskriminierung<br />

ausserehelicher Kinder und lediger Mütter erwies sich endlich als unhaltbar. 1978<br />

erfolgte im Rahmen des neuen Kindsrechts die Gleichstellung ehelicher und<br />

nichtehelicher Kinder, auch was Erbansprüche betrifft. In den siebziger Jahren<br />

wurden nichteheliche Lebensformen unter jungen Leuten beliebt, und die<br />

Heiratsraten sanken entsprechend. Gleichzeitig setzten sich partnerschaftliche<br />

Ehevorstellungen immer stärker durch; eine Entwicklung, die mit dem Inkrafttreten<br />

des neuen Eherechts 1988 rechtlich verankert wurde. Ab 1966/67 hatte <strong>zu</strong>dem die<br />

Zahl der Scheidungen rasant <strong>zu</strong>genommen, was die Idee der Ehe als unauflösliche<br />

Institution grundsätzlich erschütterte. In den siebziger Jahren wurde deshalb das<br />

Ende der Ehe prophezeit.<br />

Diese Voraussage sollte sich als voreilig erweisen. Ab Mitte der achtziger Jahre<br />

erfuhren Heirat und Ehe einen neuen Aufschwung. Partnerschaftliche<br />

Ehevorstellungen begannen sich durch<strong>zu</strong>setzen, traditioneller Ballast wurde<br />

abgeworfen. Damit wurde die Ehe wieder attraktiver; die Heiratszahlen stiegen<br />

zeitweise erneut an. Gleichzeitig trugen die wirtschaftlichen Unsicherheiten da<strong>zu</strong> bei,<br />

dass die Ehe als private Solidargemeinschaft erneut an Bedeutung gewann.<br />

Die Geschichte der Ehe ist keineswegs <strong>zu</strong> Ende geschrieben. Ihre Monopolstellung<br />

als einzig legitime Lebensform hat sie allerdings wohl endgültig verloren.<br />

François Höpflinger ist Professor für Soziologie an der Universität<br />

Zürich.<br />

NZZ Folio 04/96<br />

http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1996/04/articles/ehegeschichte.html<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Stefan Hradil<br />

DIE SINGLE-GESELLSCHAFT<br />

Das 20. Jahrhundert ist gekennzeichnet von der Aufweichung des starren<br />

bürgerlichen Normgefüges. Hier<strong>zu</strong> trugen nicht <strong>zu</strong>letzt die Massenwanderungen<br />

vom Land in die Stadt bei. Die Verstädterung lockerte Familienverbände und<br />

Generationsbeziehungen. Die anonyme Freiheit der Großstadt, die geringe soziale<br />

Kontrolle dort, die Akzeptanz oder sogar Hochschät<strong>zu</strong>ng des freien Studentenlebens,<br />

all das machte sich in einer höheren Einschät<strong>zu</strong>ng des Alleinlebens bemerkbar.<br />

Letztendlich sorgte dann aber erst die Schaffung eines Rentensystems und einer<br />

Hinterbliebenenversorgung, die Etablierung des Ruhestands als einer<br />

eigenständigen Lebensphase und die damit <strong>zu</strong>sammenhängende Lebensform des<br />

Rentners dafür, dass unter den Menschen im höheren Lebensalter die erste größere<br />

Bevölkerungsgruppe von Alleinlebenden entstand.<br />

Aus: Stefan Hradil. Die „Single-Gesellschaft“. München: C.H.Beck’sche Verlagsbuchhandlung,<br />

1995. P. 16.<br />

Frank Naumann<br />

DIE FAMILIE – EIN AUSLAUFMODELL<br />

Da sind <strong>zu</strong>nächst die gesellschaftlichen Umstände. Bis Ende der sechziger Jahre galt<br />

die Familie weithin als einzig sinnvolle Lebensform. Alleinlebende waren arme<br />

Würstchen. Familie und wohlmeinende Freunde versuchten, sie so schnell wie<br />

möglich wieder unter die Haube <strong>zu</strong> bringen. Unglückliche Ehen, gescheiterte<br />

Beziehungen gab es damals auch. Aber die Reaktion war eine ganz andere als heute.<br />

Eine zerbrochene Ehe, das war ein zerbrochener Lebensplan. Man war persönlich<br />

gescheitert. Deshalb galt es, alle Anstrengungen darauf <strong>zu</strong> richten, schnell eine neue<br />

Ehe ein<strong>zu</strong>gehen. [...] Dass sich diese Situation geändert hat, liegt an der<br />

massenhaften Erfahrung, dass eine verfehlte Ehe mit anschließender<br />

Kampfscheidung eine weitaus größere Katastrophe darstellt, als allein, aber frei <strong>zu</strong><br />

sein. Viele junge Singles haben in ihrer Kindheit erlebt, was es bedeutet, wenn die<br />

Eltern sich verkrachen. Als „Scheidungswaisen“ haben sie am eignen Leib gespürt,<br />

in welch existentielle Not ein Kind gerät, wenn Vater und Mutter (die beide lieb<br />

haben) versuchen, einander bei dem Kind aus<strong>zu</strong>stechen. Mal herumgezerrt, mal mit<br />

Geschenken überhäuft, aber nie wirklich geliebt – lebende Munition im Krieg der<br />

Geschlechter.<br />

Die glückliche Familie ist <strong>zu</strong>m Ausnahmefall geworden. Im wirklichen Leben ist es<br />

schon schwierig genug, sich erst einmal selbst glücklich <strong>zu</strong> machen.<br />

Dennoch werden Ehe und Familie nie völlig verschwinden. Unter der Vielfalt der<br />

Lebensformen werden sie ihren Platz behaupten, solange es Menschen gibt, die<br />

⋅ vernarrt in Kinder sind und sich nichts Schöneres vorstellen können, als von<br />

morgens bis abends Eltern <strong>zu</strong> spielen;<br />

⋅ für eine pompöse Hochzeit in Weiß bereit sind, spätere Krisen, Tränen und<br />

fliegende Teller in Kauf <strong>zu</strong> nehmen;<br />

⋅ allein einfach hilflos sind;<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

⋅ sich ausrechnen, wie viel Steuern, Miete und Lebenshaltungskosten sie in einer Ehe<br />

sparen;<br />

⋅ wie ihre Großeltern denken: Als Mann suchen sie eine Hausfrau, als Frau einen<br />

Versorger;<br />

⋅ gern wissen wollen, wem sie einst ihre aufgehäuften Reichtümer vererben werden;<br />

⋅ die tatsächlich die große Liebe ihres Lebens fanden. [...]<br />

Die Ideale der Singles prägen auch die bestehenden Partnerschaften. Mehr als<br />

früher versuchen Männer und Frauen im Zusammenleben individuelle Freiräume <strong>zu</strong><br />

erhalten. Wer das nicht respektieren kann, wer „klammert“, muss damit rechnen,<br />

bald wieder allein <strong>zu</strong> sein.<br />

Die Folgen sind ab<strong>zu</strong>sehen: Nach mehrfachem Scheitern stürzt sich der<br />

Vereinsamte in Ersatzbeschäftigungen. Arbeit bis <strong>zu</strong>m Umfallen, auch abends und an<br />

den Wochenenden. Wohltätigkeit für Bekannte und anonyme Organisationen, um Lob<br />

für seine Selbstlosigkeit <strong>zu</strong> ernten. Eine Fülle von Freizeitaktivitäten nach<br />

Terminkalender, ein Hasten von Höhepunkt <strong>zu</strong> Höhepunkt, nur nicht einen Moment<br />

<strong>zu</strong>r Besinnung kommen! Bis eines Tages der Burn-out – die totale Erschöpfung –<br />

alle Tätigkeiten stoppt.<br />

Der Begriff „Burn-out“ tauchte Ende der siebziger Jahre in den USA auf, um ein<br />

neues Krankheitsbild <strong>zu</strong> bezeichnen, das vor allem unter Angehörigen pflegender<br />

Berufe – Ärzte, Sozialarbeiter, Krankenschwestern – gehäuft auftrat. Es ist ein<br />

Zustand innerer Erschöpfung, der mit depressiven Stimmungen einhergeht, welche<br />

die Betroffenen meist mit Alkohol und Tabletten bekämpfen, was auf Dauer die<br />

Depression noch vertieft. Der Ablauf ist in der Regel der folgende:<br />

1. Mit Überengagement und Arbeitswut versuchen die Betroffenen, vor sich<br />

selbst die dämmernde Erkenntnis <strong>zu</strong> verbergen, dass ihr Beruf ihnen nicht<br />

den Sinn ihres Lebens <strong>zu</strong> liefern im Stande ist.<br />

2. Sobald nicht mehr <strong>zu</strong> leugnen ist, dass ihr Bemühen nicht die erwarteten<br />

Erfolge brachte, folgt eine Phase der Desillusionierung. Die Arbeitseinstellung<br />

wandelt sich von Eifer <strong>zu</strong> Widerwillen und Verdruss. Auf hohe<br />

Beanspruchungen reagieren sie von nun an mit Hilflosigkeit, aggressiven<br />

Ausbrüchen oder Depression.<br />

3. Es wird nur noch das absolut Notwendige getan. Alkohol und Medikamente<br />

betäuben. Fehlzeiten häufen sich. Das verstärkt den Eindruck, erfolglos <strong>zu</strong><br />

sein. Am Ende steht Verzweiflung, manchmal sogar ein Selbstmordversuch.<br />

Wer sich engagiert, nicht um des Engagements willen, sondern um das Gefühl<br />

privaten Versagens <strong>zu</strong> kompensieren, ist besonders gefährdet. Irgendwann bricht<br />

das Gefühl der inneren Leere mit doppelter Härte durch. Egal, ob es gelingt,<br />

lebenslang die Selbsttäuschung aufrecht<strong>zu</strong>erhalten, oder ob irgendwann der<br />

Zusammenbruch kommt – es ist diese Gruppe von Singles, die die Statistik von<br />

Lebenserwartung und Gesundheit nach unten drückt.<br />

Die Lösung besteht nicht in einer Flucht in irgendeine Ehe. (Burn-out kommt<br />

ebenso unter Verheirateten vor.) Vielmehr muss der Betroffene lernen, mit sich<br />

selbst Freundschaft <strong>zu</strong> schließen. Wer ständig die Anerkennung von anderen<br />

braucht, um sich wertvoll und glücklich <strong>zu</strong> fühlen, wird leiden, wenn diese<br />

Bestätigung ausbleibt. Das ist ein Zeichen für einen Mangel an Selbstliebe. Erst<br />

dadurch wird das Gefühl der Vereinsamung übermächtig.<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

Frank Naumann. Solo in die Jahre kommen: Auch Singles werden älter. Reinbek bei<br />

Hamburg: Rowohlt, 1997. P. 28-31.<br />

André Habisch<br />

VERÄNDERTES HEIRATSVERHALTEN DER BEVÖLKERUNG<br />

Noch immer ist die ganz große Mehrheit der Deutschen mindestens einmal im Leben<br />

verheiratet. So bleiben bis <strong>zu</strong>m 50. Lebensjahr lediglich 12,6% der Männer und 7,5%<br />

der Frauen ledig. Doch auch dieser Anteil der vollständig ehe-abstinenten Personen<br />

steigt kontinuierlich an. Für die 1960 geborenen deutschen Männer geht man heute<br />

von 30 Prozent, für die Frauen von 20 Prozent lebenslang Ledigen aus. (...)<br />

Hinsichtlich der Ehescheidungsziffern liegt Deutschland im europäischen Mittelfeld.<br />

Die <strong>zu</strong>sammengefasste Scheidungsziffer liegt bei 39 Prozent, die durchschnittliche<br />

Ehedauer bei der Scheidung beträgt 12 Jahre. Bei knapp der Hälfte der im Jahr 2000<br />

geschiedenen Ehen lebten minderjährige Kinder im Haushalt. (...)<br />

Eine Spitzenposition in Europa nimmt Deutschland bei zwei charakteristischen<br />

Werten ein: Mit 35,2 Prozent ist der Anteil der Einpersonenhaushalte an allen<br />

Haushalten der höchste in der EU und das Ausmaß dauerhafter Kinderlosigkeit ist im<br />

ehemaligen Bundesgebiet höher als in allen anderen Ländern der Europäischen<br />

Union. Deutschland ist eines der am meisten individualistischen und kinderärmsten<br />

Länder Europas.<br />

Aus: André Habisch. Erfolgsmodell Ehe: Die Magie des Trauscheins – und die Fakten.<br />

München: Olzog Verlag GmbH, 2004. P. 16-18.<br />

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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />

QUELLENNACHWEISE<br />

Le déclin de l’empire américain. Spielfilm, Kanada, 1985. Buch und Regie: Denys<br />

Arcand. Mit: Dominique Michel, Dorothée Berryman, Louise Portal, Pierre Curzi,<br />

Rémy Girard, Ives Jacques, Geneviève Rioux, Daniel Brière, Gabriel Arcand.<br />

Transskript: Michael Sommer.<br />

Philipp Carson. „Carver und der Alkohol“. Aus<strong>zu</strong>g aus „Carver's Vision“ von Philipp<br />

Carson. http://www.philandjulie.com/carver/. Überset<strong>zu</strong>ng: Michael Sommer.<br />

Raymond Carver. „Ruf an, wenn du mich brauchst“ aus Erste und letzte Storys.<br />

Berlin: BvT Berliner Taschenbuch Verlags GmbH, 2004.<br />

André Habisch. „Verändertes Heiratsverhalten der Bevölkerung“ aus Erfolgsmodell<br />

Ehe: Die Magie des Trauscheins – und die Fakten. München: Olzog Verlag GmbH,<br />

2004. P. 16-18.<br />

Ernest Hemingway. „Hills Like White Elefants” aus Men Without Women. London:<br />

Grafton, 1977.<br />

Ernest Hemingway. „Hügel wie weiße Elefanten“ aus Gesammelte Werke 6: Stories I.<br />

Überset<strong>zu</strong>ng von Annemarie Horschitz-Horst. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1977.<br />

François Höpflinger. „Alles Liebe oder was“ NZZ Folio 04/96.<br />

http://www-x.nzz.ch/folio/archiv/1996/04/articles/ehegeschichte.html<br />

Stefan Hradil. Die „Single-Gesellschaft“. München: C.H.Beck’sche<br />

Verlagsbuchhandlung, 1995. P. 16.<br />

Frank Naumann. „Die Familie – ein Auslaufmodell“ aus Solo in die Jahre kommen:<br />

Auch Singles werden älter. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1997. P. 28-31.<br />

William L. Stull. „Carver und Tschechow“. Aus<strong>zu</strong>g aus „Biographical Essay“ von<br />

William L. Stull. Ursprünglich veröffentlicht im Dictionary of Literary Biography.<br />

Nachdruck auf http://www.whitman.edu/english/carver/biography1.html.<br />

Überset<strong>zu</strong>ng: Michael Sommer.<br />

ABBILDUNGEN<br />

Foto Sabine Harbeke: Rechte Peter Walder, 2003<br />

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