1 SPIELZEIT 06/07 Materialien zu NUR NOCH ... - Theater Ulm
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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />
1980ern. „In einem literarischen Sinne“, so der Romancier Douglas Unger kurz nach<br />
Carvers Tod, „ist seine Geschichte ein Sinnbild der Wiederauferstehung der<br />
Kurzgeschichte.“<br />
Nur wenige würden Carvers Behauptung wiedersprechen, Tschechow sei „der größte<br />
Autor von Kurzgeschichten, der je gelebt hat.“ Ebenfalls würden wenige Charles<br />
Mays Urteil in Frage stellen, der in A Chekhov Companion (1985) behauptete,<br />
Raymond Carver sei der Tschechowsche Schriftsteller der Gegenwart. Als Künstler<br />
und als Menschen lebten die beiden parallele Leben. Tragischerweise konvergierten<br />
diese Parallelen 1988, als Carver wie Tschechow viel <strong>zu</strong> früh einer Krankheit <strong>zu</strong>m<br />
Opfer fiel, die emblematisch für seine Ära war. In Tschechows Fall war die Krankheit<br />
Tuberkulose, die sein Leben mit vierundvierzig beendete. Im Falle Carvers war es<br />
Lungenkrebs. Der Schriftsteller, der sich einmal als „Zigarette mit einem<br />
angehängten Körper“ bezeichnet hatte, starb am 2. August, zwei Monate nach<br />
seinem fünfzigsten Geburtstag. Zwei Jahre früher hatte der Romancier Robert Stone<br />
Carver den „besten Amerikanischen Kurzgeschichten-Schreiber seit Hemingway“<br />
genannt. Als er bei Carvers Gedenkgottesdienst am 22. September in New York<br />
sprach, machte er ihm so gar noch ein größeres Kompliment. Indem er eine Phrase<br />
aus seinem eigenen Essay über Tschechow entlehnte, nannte er Carver „einen Held<br />
der Wahrnehmung.“ [...]<br />
Carvers großartigste Hommage an Tschechow wurde „Errand“, eine preisgekrönte<br />
Geschichte, die auch sein letztes Prosawerk sein würde. „Errand“ setzt in der<br />
Biographie an, mit einem kunstvoll angelegten Bericht über Tschechows letzte<br />
Monate, und findet ihren Höhepunkt darin, dass er ein letztes Glas Champagner<br />
trinkt, bevor er in Badenweiler, einem kleinen Kurort im Schwarzwald [sic] stirbt.<br />
Nachdem die harten Fakten erzählt sind, fährt die Geschichte als Tschechowsche<br />
Fiktion fort. Carver beschreibt die „menschlichen Besorgungen“, die nach<br />
Tschechows Tod getan werden müssen, mehr und mehr lyrisch. Nach einer langen<br />
Nachwache instruiert Tschechows Witwe einen jungen Pagen einen Bestatter<br />
ausfindig <strong>zu</strong> machen. Respektvoll, aber nur halb verstehend, hört er ihrem Auftrag<br />
<strong>zu</strong>. Bevor er geht, beugt sich der junge Mann diskret herunter und hebt den herunter<br />
gefallenen Champagnerkorken auf. Diese Geste, so nobel wie unbemerkt, bringt die<br />
Geschichte <strong>zu</strong> einem tadellos Tschechowschen Ende.<br />
„Errand“ erschien am 1. Juni 1987 im New Yorker. Im folgenden Frühling gewann die<br />
Geschichte den O. Henry Award und erschien in Prize Stories 1988. Im gleichen<br />
Zeitraum jedoch imitierte Carvers Leben seine Kunst – mit fatalen Folgen. Im<br />
September begann er Blut <strong>zu</strong> husten. Im Oktober wurden ihm zwei Drittel seiner<br />
Lunge entfernt. Über die nächsten neun Monate führte Carver einen mutigen aber<br />
aussichtslosen Kampf gegen den Krebs. Tschechow wurde <strong>zu</strong> seinem geisterhaften<br />
Double. „Wenn die Hoffnung vorbei ist,“ schrieb er in seinem Tagebuch, „ist es die<br />
<strong>zu</strong>letzt nur noch vernünftig, sich an Strohhalmen fest <strong>zu</strong> halten.“ Auch Tschechow<br />
hatte sich bis <strong>zu</strong>letzt an Strohhalmen festgehalten; er prahlte einen Monat vor<br />
seinem Tod, dass er jetzt „anfinge robust <strong>zu</strong> werden.“ Im März 1988 hatte der Krebs<br />
Carvers Gehirn erreicht. Bevor er eine Strahlentherapie begann, schrieb er eine<br />
Meditation über Tschechows „Station Nr. 6“ (1892). Indem er ein Stück Dialog des<br />
gleichgültigen Doktors, Andrej Jefinitsch erörterte, bemerkte er wie sogar in<br />
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