1 SPIELZEIT 06/07 Materialien zu NUR NOCH ... - Theater Ulm
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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />
Tschechows gottverlassenen Irrenhaus „eine kleine Stimme in der Seele“ aufstieg,<br />
die „Glaube an eine zerbrechliche, aber konsequente Natur“ forderte.<br />
Carvers fünfzigster Geburtstag kam schnell näher, und im Mai erhielt er eine Welle<br />
von Anerkennungen und Auszeichnungen.[...] Ebenfalls im Mai wurde Where I’m<br />
Calling From, eine Sammlung von neuen und ausgesuchten Geschichten, von<br />
Atlantic Monthly Press veröffentlicht. [...] Where I’m Calling From wurde von Küste<br />
<strong>zu</strong> Küste hervorragend besprochen, einschließlich eines Artikels auf der ersten Seite<br />
der New York Times Book Review. Wichtiger als diese Kritiken war allerdings die<br />
Neueinordnung Carvers, die viele Kritiker anlässlich dieser Retrospektive<br />
vornahmen. Wiewohl er weithin als „einer der großen Kurzgeschichtenschreiber<br />
unserer Zeit“ anerkannt wurde, war er lange Zeit als „Minimalist“ bezeichnet<br />
worden, ein herabsetzendes Attribut, dass dem Geist seines Werkes nicht gerecht<br />
wird. [...] „Carver ist kein Minimalist, sondern ein Prezisionist gewesen“, schrieb<br />
David Lipsky in der National Review (5. August 1988). [...]<br />
Im Juni tauchte der Krebs wieder in Carvers Lungen auf. Die Diagnose war ein<br />
Todesurteil, wie er in einem Gedicht mit dem Titel „What the Doctor Said“ festhielt.<br />
Tschechow hatte ein entsprechendes Urteil drei Jahre vor seinem Tod erhalten und<br />
reagiert indem er Olga Knipper heiratete [...]. Carver überholte seinen Mentor und<br />
heiratete am 17. Juni seine Begleiterin und Mitarbeiterin während der letzten Zehn<br />
Jahre, die Schriftstellerin Tess Gallagher. Die Hochzeit fand in Nevada, in der Heart<br />
of Reno Kapelle statt, und Carver beschrieb es genüsslich als „hochtrabende Sache“.<br />
Ganz der Tragikomik der Situation angemessen, hatte Gallagher eine drei Tage<br />
andauernde Glückssträhne beim Roulette.<br />
Carver und Gallagher kehrten schnell nach Port Angeles, Washington, <strong>zu</strong>rück, das<br />
während der letzten fünf Jahre <strong>zu</strong> ihrem Zuhause geworden war, und beeilten sich<br />
damit, einen letzten Gedichtband A New Path to the Waterfall (1989) <strong>zu</strong>sammen <strong>zu</strong><br />
stellen. In dieser ungewöhnlichen Sammlung stehen Carvers Verse in einem Dialog<br />
mit Werken anderer Dichter – und mit Prosagedichten aus Tschechows Schriften.<br />
Gemeinsam machten die beiden „Seelenverwandten“ eine „letzte, ganz erstaunliche<br />
Reise“ die ein verschwenderisch gelebtes Leben rekapitulierte. Indem er seine<br />
frühen Gedichte noch einmal veröffentlicht, ruft sich Carver noch einmal die wenigen<br />
schönen Tage seiner jugendlichen Ehe in Erinnerung. Er stattet der Küche seiner<br />
Eltern einen Besuch ab, ertappt dabei seinen Vater in ehebrecherischer Umarmung.<br />
Mit Czeslaw Miloszs „Rückkehr nach Krakau 1880“ stellt er den Wert seiner Arbeit in<br />
Frage: „To win / To lose / What for, if the world will forget uns anyway.“ In<br />
Gedichten von brennender Offenheit, kämpft er darum <strong>zu</strong> sagen was ihm und den von<br />
ihm geliebten Menschen „wirklich geschah“. Schließlich, auf den Endseiten,<br />
konfrontiert er sich mit der „erstaunlichen Trauer“ seines drohenden Todes. Die<br />
Lebensreise endet mit Tschechowschem Zwielicht in „Nachglühen“ [...]. Die Coda<br />
des Buches, „Spätes Fragment“, drückt Carvers hart erkämpfte Selbstakzeptanz<br />
aus:<br />
And did you get what<br />
you wanted from this life, even so<br />
I did.<br />
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