1 SPIELZEIT 06/07 Materialien zu NUR NOCH ... - Theater Ulm
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<strong>Theater</strong> <strong>Ulm</strong> <strong>NUR</strong> <strong>NOCH</strong> HEUTE <strong>Materialien</strong><br />
Carver war ein verspätetes Kind der Großen Depression, und noch bis weit in die Zeit<br />
des Nachkriegswohlstands hinein hatte sein Haus keine Toilette. Sein Gedicht<br />
„Shiftless“ (1986) umreißt die wirtschaftliche Situation seiner Kindheit: „The people<br />
who were better off than us were comfortable .... / The ones worse off were sorry and<br />
didn’t work.” So wie Tschechow kannte Carver genau die Härte und den Dreck des<br />
Lebens am Rand der Gesellschaft, und schuf daraus hellsichtige Geschichten voll<br />
Empathie, Gefährdung und schwer gewonnener Bestätigung. „Es sind meine Leute“,<br />
sagte er später über die sprachlosen Arbeiter und Angestellten, die seine<br />
Geschichten bevölkern. „Ich könnte ihnen niemals gerecht werden.“<br />
Vor Tschechow gab es Fabeln, Erzählungen und Skizzen. Aber noch keine<br />
Kurzgeschichten, keine „handlungslose“ Beschreibungen menschlicher Subjektivität<br />
an der Schwelle <strong>zu</strong>r Wahrnehmung. Tschechow schuf die moderne Geschichte in den<br />
1880ern, teils aus journalistischer Notwendigkeit, indem er realistische Details und<br />
romantischen Lyrizismus verwob. Das Ergebnis war eine Art des Erzählens, das die<br />
Geheimnisse des „normalen“ Lebens ausdrückt. In solchen Geschichten wie „Not“<br />
(1886), „Anjuta“ (1886) und „Der Kuss“ (1887), schließt das Tschechowsche Moment,<br />
wenn auch nur halb erfasst und flüchtig, eine Seele ein. Tschechows <strong>zu</strong>rückhaltende<br />
und doch klingende Manier wurde <strong>zu</strong>m Standard für die Geschichtenschreiber des<br />
zwanzigsten Jahrhunderts, einschließlich Carvers amerikanischer Vorbilder<br />
Sherwood Anderson, Ernest Hemingway und John Cheever. In den späten 1960ern<br />
war allerdings die nichtrealistische, experimentelle „Superfiktion“ das<br />
Lieblingsmodell der literarischen Avantgarde geworden. Realistische Geschichten,<br />
wie der „alles umfassende“ Roman, wurden für altmodisch, wenn nicht überholt<br />
gehalten.<br />
Während dieser Jahre, im Hinterland von Washington und Nord Kalifornien, hatte<br />
Raymond Carver mit neunzehn geheiratet, und war mit zwanzig Vater zweier Kinder.<br />
Er jonglierte mit „Scheißjobs“, Vaterschaft und schließlich „Vollzeittrinken als<br />
ernsthafte Beschäftigung“, und versuchte Zeit <strong>zu</strong>m Schreiben heraus <strong>zu</strong> pressen.<br />
„Fang an, hör auf. Zögere nicht. Mach weiter“, waren die Überschriften seines<br />
Lebens. Aus der Notwendigkeit heraus formten sie seine Kunst. „Ich musste etwas<br />
schreiben, für dass ich sofort irgend eine Bezahlung bekommen konnte“, sagte er<br />
später. „Also Gedichte und Geschichten.“<br />
Tschechow hätte es verstanden. Mit neunzehn war er aus Taganrog in der Provinz<br />
nach Moskau gezogen und hatte die Verantwortung für seine geldlose Familie<br />
übernommen. Obwohl er in Medizin studierte, verdiente „Papa Antoscha“ dringend<br />
benötigtes Geld indem er Skizzen von trockenstem Humor für Wochenzeitungen des<br />
Massenmarkts schrieb. In einem Brief vom 10. Mai 1886 umreißt er die Richtlinien<br />
für das, was kleingeistige Kritiker eines späteren Jahrhunderts „minimale“ Literatur<br />
nennen würden: „(1) keine politisch-ökonomisch-sozialen Ergießungen; (2)<br />
Objektivität von Anfang bis Ende; (3) Wahrheit in der Beschreibung der Charaktere<br />
und Dinge; (4) Extreme Kürze; (5) Frechheit und Originalität-meidende Klischees; (6)<br />
Warmherzigkeit”. Da er unter ähnlichen Bedingungen von „ständiger Verantwortung<br />
und Ablenkung“ arbeitete, fand Carver Tschechows Vorgaben kongenial, und erfand<br />
in den 1960ern und 70ern die Kurzprosa nach Tschechowschen Vorbildern neu. Auf<br />
diese Weise legte er den Grundstein für das Wiederaufleben des Realismus in den<br />
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