Dissertation Dr. Hermann Wögerer - Miteinander
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„Mediziner sind auf dem Hintergrund der naturwissenschaftlichen Prägung ihres Denkens<br />
gewohnt, zahlreiche Probleme, denen sie im Umgang mit behinderten Menschen begegnen,<br />
als unmittelbare Konsequenz eines biologischen Defektes zu deuten<br />
(‚Unmittelbarkeitspostulat’). So haben wir in unserer Ausbildung gelernt, unseren Blick<br />
primär auf den ‚Defekt’ und auf das ‚Anderssein’ des behinderten Menschen zu lenken“<br />
(BERGER, 2). Als Folge daraus war die Versorgung auf medizinische Behandlung und Pflege<br />
und nicht auf Förderung ausgerichtet, die Menschen wurden in den Anstalten beschützt und<br />
verwahrt, jedoch ohne jegliche Entwicklungsmöglichkeit. Dadurch haben sich oftmals die<br />
Auffälligkeiten noch verstärkt und vermeintliche ‚Defekte’ waren teilweise nur durch die<br />
Unterbringung in den Anstalten ohne Förderung begründet.<br />
Eine weitere Sichtweise, die geistige Behinderung als Intelligenzschwäche meint, führte zur<br />
Normierung nach dem Intelligenzgrad (IQ). Ausgehend von amerikanischen Organisationen,<br />
führte dies zu Katalogisierungen und entsprechenden Aussonderungen. Nach dem von der<br />
Weltgesundheitsorganisation 1954 aufgestellten <strong>Dr</strong>ei-Stufen-Schema teilte man ein in<br />
• leichte Unterentwicklung (debil) mit einem IQ von 50 – 69,<br />
• mittlere Unterentwicklung (imbezill) mit einem IQ von 20 – 49,<br />
• schwere Unterentwicklung (blödsinnig, idiotisch) mit einem IQ von 0 – 19.<br />
Wenn auch die Diagnose des Intelligenzgrades in den folgenden Jahren immer wieder<br />
diskutiert wurde, war die Einteilung danach durchaus auch in Deutschland und Österreich<br />
üblich. Die Grenze zwischen lernbehindert und geistig behindert lag zwischen IQ 60 und IQ<br />
70, wobei Aufzählung und Beschreibung von Defiziten die Einordnung zusätzlich<br />
ermöglichen sollten.<br />
Die Sichtweise der geistigen Behinderung als Entwicklungsschwäche oder ‚kognitives<br />
Anderssein’ ging von der Retardierung und der langsamen geistigen Entwicklung von<br />
Menschen aus. Dieser Denkansatz hat dazu geführt, dass Menschen mit geistiger Behinderung<br />
als ‚ewige Kinder’ angesehen und auch dementsprechend behandelt wurden.<br />
Menschen mit höherer geistiger Behinderung galten als nicht bildungsfähig und hatten als<br />
Perspektiven lediglich die Unterbringung in einer Anstalt gemeinsam mit Menschen mit<br />
psychischer Behinderung oder das Verbleiben in der Familie, soweit das möglich war. Für<br />
Überlegungen der ArbeitgeberInnen zur Aufnahme in einem Betrieb war diese Gruppe<br />
praktisch nicht existent.<br />
Nur Menschen mit einem geringen Grad an geistiger Beeinträchtigung, die nicht als<br />
‚Behinderte’ gesehen wurden und als HilfsschülerIn eine Ausbildung erhalten hatten,<br />
bekamen zum Teil eine Chance, im allgemeinen Arbeitsmarkt als HilfsarbeiterIn in der<br />
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