aktuelle Lage und neuere Entwicklungen in der Bildungspolitik

Zur Situation von lebensweltlich mehrsprachigen SchülerInnen 19
wenngleich neuerdings eine Kindergartenpflicht für Vierjährige („Der Kurier“
vom 17.07.2011: „Kurz: ‚Deutsch hat Vorrang‘“) mit „Sprachdefiziten“ 16 angedacht
wird.
Daran knüpft sich die Hoffnung, dass die betreffenden Kinder mit dem
Eintritt in die Volksschule der deutschen Sprache bereits mächtig sind und somit
die vielfach als lästig empfundene Pflicht, sie in der Schule mit der Unterrichtssprache
vertraut zu machen, entfällt. Dieses Wunschdenken findet in der Realität
allerdings nur selten eine Entsprechung. Schließlich wäre es unsinnig zu
erwarten, dass Kinder, deren Deutscherwerb im Alter von fünf Jahren einsetzt,
nach nur einem Jahr ein Niveau erreichen, für das ihre einsprachig aufwachsenden
AltersgenossInnen bis zum Schuleintritt immerhin sechs Jahre lang
Zeit hatten.
Die Vorteile eines Kindergartenbesuchs für alle Kinder sollen hier nicht in
Abrede gestellt werden, doch muss vor überzogenen Erwartungen gewarnt
werden. Vor allem der Umkehrschluss, dass Kinder, die bei Schuleintritt noch
nicht Deutsch können, den richtigen Zeitpunkt für den Erwerb der Unterrichtsund
Landessprache bereits verpasst haben und somit „hoffnungslose Fälle“ sind,
ist unzulässig. Viele Menschen, die erst im Alter von sieben oder acht Jahren
bzw. noch viel später erstmals mit Deutsch in Berührung gekommen sind, haben
diese Sprache auf muttersprachlichem Niveau erworben 17 und sind mitunter
sogar als DeutschlehrerInnen tätig.
Anstatt die Zuständigkeit für den Deutscherwerb immer weiter ins frühkindliche
Alter zu verlagern (und damit die Verantwortung dafür – zumindest
teilweise – von der Schule fernzuhalten), sollte endlich anerkannt werden, dass
Spracherwerb ein langjähriger Prozess ist, der mit dem Übertritt vom Kindergarten
in die Schule bei Weitem noch nicht abgeschlossen ist, und zwar weder
bei einsprachigen noch bei lebensweltlich mehrsprachigen Kindern. Gefordert
sind deswegen Konzepte zu einer ganzheitlichen Sprachförderung während der
gesamten Bildungslaufbahn. 18
16 Die Wortwahl ist verräterisch: Wenn von „Sprachdefiziten“, „Spracherwerb“, „Sprachkompetenz“
usw. die Rede ist, dann ist fast immer Deutsch gemeint.
17 Man denke an die Schwimmerin Mirna Jukić, die Nationalratsabgeordnete Alev Korun
oder die Wiener Vizebürgermeisterin Maria Vassilakou, um nur einige prominente
Beispiele zu nennen.
18 Das am 19.05.2011 im BM für Unterricht, Kunst und Kultur von den Universitätsprofessoren
Krumm und Reich vorgestellte Curriculum Mehrsprachigkeit zielt in diese
Richtung. Siehe http://oesz.at./download/cm/CurriculumMehrsprachigkeit2011, Zugriff
14.02.2013.