Lügen ist menschlich - Marius Leutenegger
Lügen ist menschlich - Marius Leutenegger
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32 | Kaffeepause Books Nr. 2/2013 Alle Bücher finden Sie auch auf Kaffeepause | 33<br />
Das dritte Licht<br />
Claire Keegan<br />
96 Seiten<br />
CHF 25.90<br />
Steidl<br />
Dunkle Gewässer<br />
Joe R. Lansdale<br />
320 Seiten<br />
CHF 31.90<br />
Tropen bei Klett-Cotta<br />
In Küstennähe<br />
Joachim B. Schmidt<br />
368 Seiten<br />
CHF 33.90<br />
Landverlag<br />
Die Debatte<br />
Was machen Buchhändlerinnen in der Kaffeepause Sie<br />
plaudern über Bücher. Books hat sich im Café Bagels in<br />
der Filiale Winterthur zu den Orell-Füssli-Mitarbeiterinnen<br />
Patrizia Melaugh und Bettina Zeidler gesetzt.<br />
<strong>Marius</strong> <strong>Leutenegger</strong><br />
Erik Brühlmann<br />
«Books»: Heute beginnen wir mit einem<br />
schmalen Buch: «Das dritte Licht» von<br />
Claire Keegan. Du hast es mitgebracht,<br />
Patrizia. Worum geht’s<br />
Patrizia Melaugh (PM): Die Geschichte<br />
spielt im ländlichen Irland. Ein Mädchen<br />
kommt für ein paar Sommermonate zu<br />
Pflegeeltern; sie stammt aus einer grossen<br />
Familie, ihre Mutter <strong>ist</strong> schon wieder<br />
schwanger, und der Vater bringt das<br />
Mädchen zur Gastfamilie, einem kinderlosen<br />
Paar. Claire Keegan beschreibt die<br />
Zeit, die das Mädchen bei den Pflegeeltern<br />
verbringt; alltägliche Dinge wie das Essen<br />
bei der Ankunft oder der abendliche Besuch<br />
von Freunden sind für das Mädchen<br />
ungewohnt, und erstmals fühlt es sich<br />
umsorgt. Diese Erwachsenen kümmern<br />
sich um das Mädchen, kaufen ihm neue<br />
Kleider oder führen es auch einmal an der<br />
Hand. Aus Kinderperspektive wird hier<br />
eine ganz einfache Geschichte erzählt.<br />
Wie endet sie<br />
Bettina Zeidler (BZ): Das Mädchen<br />
kommt zurück zu ihrer Familie, denn<br />
der Bruder <strong>ist</strong> zur Welt gekommen. Das<br />
Ende hat mich tief beeindruckt: wie das<br />
Mädchen von den leiblichen Eltern lieblos<br />
empfangen wird und dann ihrem Gastvater<br />
nachrennt, um ihn noch einmal zu<br />
umarmen.<br />
PM: Das Mädchen hat in den Monaten<br />
bei den Pflegeeltern wichtige Erfahrungen<br />
gemacht und auch ein Geheimnis<br />
entdeckt. Ich fand eindrücklich, wie die<br />
Pflegemutter zu Beginn mit dem Problem<br />
des Bettnässens umging – geschickt<br />
und unaufgeregt löst sie das Problem.<br />
Claire Keegan zeigt, wie unterschiedlich<br />
Familien sein können und dass die eigene<br />
Familie nicht unbedingt ein Hort von<br />
Geborgenheit und Liebe sein muss. Trotz<br />
seines geringen Umfangs hat «Das dritte<br />
Licht» eine unheimlich grosse Tiefe.<br />
Wie b<strong>ist</strong> du auf dieses Buch gestossen<br />
PM: Ich habe ein gewisses Interesse an<br />
irischer Literatur und entdeckte diese<br />
Neuerscheinung in einer Vorschau. Weil<br />
das Buch nicht einmal hundert Seiten<br />
umfasst, habe ich allerdings erst gezögert,<br />
es in diese Runde einzubringen ...<br />
BZ: Aber manchmal <strong>ist</strong> weniger einfach<br />
mehr – und das gilt bei diesem Buch auf<br />
jeden Fall.<br />
PM: Ja, für mich <strong>ist</strong> «Das dritte Licht»<br />
ein echtes Juwel, eine perfekte Kurzgeschichte.<br />
Dies auch deshalb, weil die<br />
Autorin nicht alles sagt, sondern vieles<br />
nur andeutet.<br />
BZ: Sie lässt uns Lesenden einen grossen<br />
Spielraum. Sie mutet uns zu, dass wir das,<br />
was sie schreibt, schon richtig interpretieren<br />
können. Mir hat auch sehr gefallen,<br />
dass alles sehr authentisch wirkt. Nie hatte<br />
ich das Gefühl, die Autorin übertreibe<br />
oder überzeichne etwas. Und die Sprache<br />
hat mich ebenfalls beeindruckt.<br />
PM: Bei diesem Buch liegt die Schönheit<br />
in der Einfachheit. Und in der Präzision:<br />
Oft benötigt Claire Keegan nur einen Satz<br />
– schon sieht man die Situation vor sich.<br />
Wem könnte dieses Buch gefallen<br />
BZ: Allen, die eine berührende Geschichte<br />
suchen. Die Geschichte <strong>ist</strong> so einfühlsam<br />
geschrieben.<br />
PM: Ich finde, dieses Buch kann jeder<br />
lesen, der sich nicht nur für Thriller interessiert.<br />
«Das dritte Licht» stammt von einer<br />
unbekannten Autorin und erscheint bei<br />
einem unabhängigen Verlag. Kann so ein<br />
Buch überhaupt ein Erfolg werden<br />
PM: Wir machen es zum Bestseller! Ich<br />
werde es auf jeden Fall jedem und jeder<br />
ans Herz legen.<br />
BZ: Ja, das <strong>ist</strong> ein Buch, das unbedingt<br />
empfohlen werden muss. Und das sicher<br />
sein Publikum finden wird. Es gibt zum<br />
Glück viele Leute, die kürzere Geschichten<br />
mögen.<br />
Das nächste Buch, über das wir sprechen,<br />
<strong>ist</strong> wesentlich dicker: «Dunkle<br />
Gewässer» von Joe R. Lansdale.<br />
BZ: Dieses Buch <strong>ist</strong> nicht nur bezüglich<br />
Umfang ganz anders als «Das dritte<br />
Licht».<br />
Es sieht von aussen aus wie ein<br />
Fantasy-Epos.<br />
BZ: Das <strong>ist</strong> es aber nicht.<br />
Was dann<br />
BZ: Das <strong>ist</strong> schwierig zu sagen. Es <strong>ist</strong><br />
auch kein Thriller und kein Krimi, wie auf<br />
dem Cover angekündigt wird. Im Internet<br />
fand ich den Begriff «Lansdale-Genre»;<br />
der Autor schreibt offenbar sehr eigen.<br />
Auf einer Fanseite erfuhr ich auch, dass<br />
Lansdale Zombie-Bücher schreibt. Zum<br />
Glück vernahm ich das erst, nachdem<br />
ich mich entschieden hatte, dieses Buch<br />
hier zu lesen – denn ich mag es zwar<br />
deftig, aber mit Zombies kann ich gar<br />
nichts anfangen. In «Dunkle Gewässer»<br />
kommen sie allerdings auch nicht vor. Die<br />
Geschichte spielt in den 1930er-Jahren in<br />
einer rückständigen Gegend von Osttexas.<br />
Es <strong>ist</strong> eine düstere Zeit, die von Prohibition,<br />
Depression und Rassismus geprägt<br />
wird. May Lynn, eines der schönsten<br />
Mädchen der Gegend, wird von ihrer besten<br />
Freundin Sue Ellen ermordet am Ufer<br />
des River Sabine aufgefunden. Gemeinsam<br />
mit ein paar Freunden beschliesst<br />
Sue Ellen, die Asche der Freundin nach<br />
Hollywood zu bringen, denn May Lynn<br />
wollte immer Filmstar werden. Sue Ellen<br />
und ihre Freunde stossen auf Geld, das<br />
May Lynns Bruder bei einem Banküberfall<br />
erbeutete, und machen sich damit, mit<br />
der Asche von May Lynn und Sue Ellens<br />
tablettensüchtiger Mutter auf den Weg<br />
nach Hollywood – sie fahren auf einem<br />
Boot den River Sabine hinunter. Wegen<br />
der Beute aus dem Banküberfall <strong>ist</strong> eine<br />
ganze Menge Leute hinter ihnen her: der<br />
Sheriff, die gierige Verwandtschaft und<br />
vor allem der schwarze Kopfgeldjäger<br />
Skunk. Die Reise wird wegen der Verfolger<br />
sehr gefährlich und abenteuerlich, es<br />
passiert dabei ungeheuer viel.<br />
Das <strong>ist</strong> also sozusagen die Entsprechung<br />
zu einem Road-Movie – ein River-Book<br />
BZ: Das kann man so sagen. Einige vergleichen<br />
dieses Buch mit «Huckleberry<br />
Finn», und inhaltlich gibt es tatsächlich<br />
gewisse Ähnlichkeiten. Aber «Dunkle Gewässer»<br />
<strong>ist</strong> viel brutaler als ein Buch von<br />
Mark Twain, es <strong>ist</strong> blutig und derb. Einem<br />
Jugendlichen kann man es jedenfalls<br />
nicht zu lesen geben. Weil ich selber aber<br />
Düsterkeit und Brutalität zwischen zwei<br />
Buchdeckeln mag, hat mir dieser Roman<br />
sehr gefallen – und auch deshalb, weil er<br />
so abenteuerlich <strong>ist</strong> und die Figuren so<br />
skurril sind. Ich habe als Leserin mehrere<br />
Seelen in mir, und hier <strong>ist</strong> meine Schlachtplattenseite<br />
gut bedient worden.<br />
Patrizia, du machst seit über drei Jahren<br />
bei der Debatte in «Books» mit, ich kenne<br />
deinen Geschmack daher ein wenig<br />
und wage die Behauptung: Lansdale <strong>ist</strong><br />
nicht dein Stil.<br />
PM: Tatsächlich nicht. Ich merkte sofort,<br />
dass dies kein Buch für mich <strong>ist</strong>. Ehrlich<br />
gesagt gefiel mir an diesem Roman gar<br />
nichts, weder der Ton noch die Geschichte<br />
noch das Personal. Aber hier geht es wohl<br />
um Geschmacksfragen, und ich muss<br />
sagen, dass ich eben auch «Huckleberry<br />
Finn» nie mochte. Ich sehe allerdings,<br />
dass man «Dunkle Gewässer» durchaus<br />
als spannendes Buch lesen kann.<br />
BZ: Mir war klar, dass dieses Buch polarisiert.<br />
Niemand wird sagen, das finde ich<br />
jetzt sosolala. Entweder mag man so etwas<br />
– oder nicht. Dieses Buch hat einfach<br />
meine düstere Seite angesprochen. Und<br />
mir gefällt sehr, wie Lansdale schreibt – er<br />
findet aussergewöhnliche Wege, einem etwas<br />
näherzubringen, und man kann sich<br />
alles hervorragend vorstellen. Ich roch<br />
beim Lesen förmlich, wie Skunk stinkt.<br />
Für wen eignet sich denn dieses Buch<br />
BZ: Ich werde es nur jenen empfehlen, die<br />
ich kenne und bei denen ich weiss, dass<br />
ihnen so etwas gefällt. Man kann sich mit<br />
der Empfehlung dieses Buchs auch in die<br />
Nesseln setzen, denn es <strong>ist</strong> schon sehr<br />
brutal – selbst ich als geübte Thriller-<br />
Leserin habe gelegentlich schlucken<br />
müssen. Aber manche Abenteurer unter<br />
den Lesern werden diesen Roman heiss<br />
und innig lieben.<br />
Kommen wir zum dritten Buch: «In<br />
Küstennähe». Autor <strong>ist</strong> der Schweizer<br />
Joachim B. Schmidt, der in Island lebt.<br />
Spielt der Roman auch dort<br />
BZ: Ja. Erzählt wird die Geschichte einer<br />
sich anbahnenden Freundschaft zwischen<br />
zwei Männern, die unterschiedlicher<br />
nicht sein können. Auf der einen Seite<br />
haben wir den 23-jährigen Lárus, auf der<br />
anderen den alten Grímur, einen alten<br />
Patrizia Melaugh, 61, lebt in Schaffhausen<br />
und arbeitet in der Abteilung Belletr<strong>ist</strong>ik<br />
der Filiale Kramhof. Sie mag vor allem<br />
Bücher aus dem englischen Sprachraum.<br />
Patrizia Melaugh:<br />
«Wir machen<br />
dieses Buch zum<br />
Bestseller! Ich werde<br />
es auf jeden Fall<br />
jedem und jeder<br />
ans Herz legen.»<br />
Bettina Zeidler:<br />
«Ja, das <strong>ist</strong> ein<br />
Buch, das unbedingt<br />
empfohlen<br />
werden muss. Und<br />
das sicher sein<br />
Publikum finden<br />
wird.»<br />
Bettina Zeidler, 48, lebt in St. Gallen.<br />
Sie arbeitet in der Abteilung Belletr<strong>ist</strong>ik<br />
der St. Galler Buchhandlung Rösslitor, die<br />
zu Orell Füssli gehört. Am liebsten liest sie<br />
skandinavische Krimis und Thriller