10.02.2015 Aufrufe

Lügen ist menschlich - Marius Leutenegger

Lügen ist menschlich - Marius Leutenegger

Lügen ist menschlich - Marius Leutenegger

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Books Nr. 2/2013 Kolumne | 51<br />

GESCHICHTEN<br />

SPINNEN<br />

Schweizer Autorinnen und<br />

Autoren erzählen in «Books»,<br />

warum sie schreiben.<br />

Heute: Linus Reichlin<br />

würde sie Tee aus einem Samowar trinken<br />

und sich überlegen, wohin die Reise als<br />

nächstes führt, ob man einen Spaziergang<br />

zum Strand macht oder nicht doch lieber<br />

sich ein Pferd mietet.<br />

Hauptpreis:<br />

2 Übernachtungen für<br />

2 Personen in der<br />

Literaturküche in<br />

Bad Zurzach<br />

voralpen-express.ch<br />

Der wettbewerb Kurzgeschichten-<br />

2013!<br />

Der schönste Ort um zu lesen <strong>ist</strong> für mich<br />

ein frisch bezogenes Hotelbett. Nach einem<br />

guten Abendessen und reichlich Wein legt<br />

man sich kurz vor Mitternacht in die duftenden<br />

Laken, und im Schein der Nachttischlampe<br />

versinkt man in dem Buch, das<br />

man gerade liebt, folgt dem Helden auf seinen<br />

Wegen und wird von Seite zu Seite<br />

müder.<br />

Es <strong>ist</strong> mein erklärtes Ziel, Bücher zu schreiben,<br />

die den Lesern in einem Hotelbett<br />

solche Glücks- und Geborgenheitsgefühle<br />

verschaffen. Obwohl aber das Bett der primäre<br />

Ort der Leselust <strong>ist</strong>, soll man meine<br />

Bücher natürlich auch in der Hotellobby<br />

lesen können oder in der Hotelbar, meinetwegen<br />

auch im Speisesaal – Hauptsache<br />

Hotel. Literatur und Hotels gehören untrennbar<br />

zusammen, nirgendwo sind Bücher<br />

so sehr Bücher wie in Hotels, und<br />

keine Bibliothek <strong>ist</strong> so verlockend und<br />

abenteuerlich wie die in einem Hotel. Literatur<br />

<strong>ist</strong> immer Aufbruch, mit dem ersten<br />

Satz packen Autor und Leser gleichermassen<br />

ihr Bündel und betreten fremde Welten.<br />

Und wo stimmt das besser mit der<br />

Wirklichkeit überein als eben in einem Hotel,<br />

in dem auf den Aufbruch die Ruhe folgt<br />

und man bestenfalls in einem Kaminzimmer<br />

in einem englischen Ohrensessel sitzt<br />

und den Roman weiterliest, der nun gleichfalls<br />

nach dem Aufbruch in eine Phase der<br />

Ruhe eingetreten <strong>ist</strong>, in der die Geschichte<br />

vorübergehend an Tempo verliert, so als<br />

Schade für den Schriftsteller <strong>ist</strong> nur, dass<br />

er immer ein bisschen weniger Reisender<br />

<strong>ist</strong> als der Leser. Er <strong>ist</strong> gewissermassen der<br />

Reiseleiter und kennt deswegen sämtliche<br />

Sehenswürdigkeiten und Aussichtspunkte<br />

schon. Zweifellos <strong>ist</strong> das Auftauchen der<br />

Pyramiden aus dem Kairoer Smog morgens<br />

um halb sechs auch für ihn immer<br />

wieder ein Ereignis, aber es <strong>ist</strong> eben nicht<br />

mehr so überraschend wie für den Reisenden,<br />

der es zum ersten Mal sieht. Und<br />

selbst wenn der Reiseleiter – beispielsweise<br />

bei einem Trekking-Urlaub – ebenfalls,<br />

wie der Reisende, zum ersten Mal unbekanntes<br />

Terrain betritt, wenn er also vorangeht<br />

und mit der Machete den Weg freihackt,<br />

<strong>ist</strong> für ihn das Erlebnis des Neuen<br />

mit Arbeit verbunden, während der Reisende<br />

hinter ihm auf dem frisch geschlagenen<br />

Weg das Neue mühelos geniessen<br />

kann. Der Schriftsteller arbeitet, der Leser<br />

geniesst, und deswegen <strong>ist</strong> es nur gerecht,<br />

dass er für den Genuss etwas bezahlt. Ich<br />

schreibe, damit Menschen in Hotels meine<br />

Bücher lesen, für die sie zuvor bezahlt haben.<br />

Mit einem Teil des so verdienten Geldes<br />

begleiche ich meinerseits die Rechnung<br />

des Hotels, in dem ich wiederum das<br />

Buch eines Kollegen lese, mit dem Unterschied,<br />

dass ich me<strong>ist</strong>ens für die Bücher<br />

von Kollegen nichts bezahlen muss, weil<br />

ich sie mir auf irgendeinem Weg erschnorre.<br />

Dadurch spare ich im Jahr rund 500<br />

Franken an Bücherkosten. Man könnte<br />

also auch sagen: Ich schreibe, um zu sparen,<br />

auch beispielsweise Schlusspointen.<br />

Linus Reichlin<br />

Linus Reichlin, 56, kam in Aarau zur Welt<br />

und lebt heute in Berlin. Bekannt wurde<br />

er erst als Journal<strong>ist</strong>, dann als Kolumn<strong>ist</strong> –<br />

und schliesslich als Schriftsteller. Für «Die<br />

Sehnsucht der Atome» erhielt er 2009 den<br />

Deutschen Krimipreis.<br />

Das Leuchten in der Ferne<br />

299 Seiten<br />

CHF 29.90<br />

Galiani<br />

© Susanne Schleyer

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!