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Wolf Kahlen Museum Bernau

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anerkannt werden muss, auch ein Selbst hat, das wir als Menschen aus Besitzstandsdenken<br />

nur nicht bereit sind zuzugeben. Das Bild stirbt also auf der ersten Seite an Durchlöcherung,<br />

aber langsam. Beim Anklicken des ersten Users fällt ein einzelnes Pixel raus,<br />

der nächste User verursacht das Herausfallen des nächsten, eines jeweils zufälligen, usw.<br />

Auf der zweiten Seite, im Nadelöhr sozusagen, sehen und hören wir, woran das Bild stirbt,<br />

an dem (und anderen) ausgelösten Pixel(n), einer Pixel-Absorptionskrankeit sagen wir mal.<br />

Blutkörperchenverlust zu sagen wäre zu pathetisch, würde ich Geist- oder Energiepäckchenverlust<br />

sagen, klänge das noch unglaublicher, obwohl das nun wieder genau zutrifft.<br />

Und auf der dritten Seite formiert sich der abgeflossene, abgesaugte Pixelhaufen neu –<br />

Sie haben doch das wegschlürfende Geräusch in dem ›Pixelrauschen‹ eben gehört!? –.<br />

Ein neues Bild, Achtung, es ist ein anderes, wächst click by click heran, ein neues Selbst<br />

baut sich auf: Seite 1 = Tod, Seite 2 = Diagnose, Seite 3 = Wiedergeburt eines Anderen,<br />

das nicht nur die Umkehr vom Negativ ins Positiv ist. Das Negativ-Positiv-Umkippen ist<br />

nur der äussere Schein, wenn Sie genau hinsehen, der Unterschied der beiden Selbst ist<br />

homöopathisch dosiert, das heißt nur für oberflächliche Denker marginal, für sinnliche<br />

Wahrnehmer ein höchst effektives Salzkörnchen in der Suppe.<br />

Der Vorgang zeigt Bedingtheit, meinetwegen nennen Sie das auch Interdependenz, der<br />

grössere Teil der (asiatischen) Welt nennt das Karma, ein kürzeres Wort kenne ich nicht,<br />

und schöner ist es auch als die zwei ersteren. Nicht aus Koketterie mit dem (tatsächlich)<br />

Globalem benutze ich das Wort Karma, sondern ich sehe das auch so. Und das Netz ist<br />

voll solcher ›nachhaltiger Taten‹, ein Musterobjekt für den Nachweis solcher Spuren von<br />

Aktionen, deren Synonym der Click ist. Von winzigen Taten, die energetisch etwas in<br />

die Welt gesetzt haben, das wie Teeflecken nie wieder rausgeht. Oberflächlich vielleicht<br />

schon, tiefenpsychologisch gesehen aber nicht. Damit wir uns nicht missverstehen, ich<br />

will Karma nicht mit ›Christlicher Schuld‹ vergleichen, um Allahs Willen, nein mir geht es<br />

ums reine Feststellen, dass da etwas Unabänderliches geschieht, das man garnicht mehr<br />

gutmachen kann. Was in der Welt ist, ist in der Welt, ob ›gutes oder schlechtes‹ Clicken.<br />

Es gibt aber einen, wohl aussichtslosen, Traum: Wenn man Karma vermeiden könnte,<br />

das wäre doch was.<br />

120 121<br />

Mein Stück kommt gezielt mittelalterlich daher. Scheint nur minimalistisch. Oder konstruktiv.<br />

Ist aber noch weit reduzierter, ist ein ›reiner‹ Prozess, aber ein quasi reversibler und<br />

nicht aufhaltbarer, der sich von der Entropie in Negentropie und ins Chaos und auf- und<br />

abschaukelt, eben wie Leben und Tod verlaufen, eines das kommt und wieder geht und<br />

wiederkommt. Wenn jemand in der Presse am Anfang des infiniten Prozesses im Januar<br />

2000 schrieb, <strong>Kahlen</strong> ›opfert sich rituell im Netz‹, dann war das mehr als ein billiges Bonmot,<br />

dann war das der enthüllende Beweis, wie wir Menschen, kleinlich am aktuellen Sein<br />

verhaftet, das bildliche Opfer nicht als im Alltäglichen stets vorhanden wiedererkennen,<br />

sondern wir nur dessen einmaliges, lineares, nachrichtengeiles Spektakel ›verstehen‹.<br />

Mein Stück zeigt ein einziges Bild auf der sonst leeren Seite, als ob das Netz ein Buch<br />

wäre. Den Hyperventilierenden usern stehen schon jetzt die Haare zu Berge. Da gibt es<br />

garnichts pseudozukommunizieren, keine buttons, kein chatten, kein Abschiessen, kein<br />

Anclicken, nichts zu bestellen und nichts zu kaufen. Man darf nicht mal Ja oder Nein dazu<br />

sagen.<br />

Unbemerkt für den Einzelnen verändert sich das Stück durch ›Die neue Kulturtechnik des<br />

Clickens‹ (W.K. 1999), die wir seit dem On und Off-Schalten der Maschinen mittels der<br />

gemeinen Elektrizität, und das ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, garnicht mehr in<br />

ihrer psychoästhetischen medialen Rückwirkung auf unser Sein reflektieren. Das Lagerfeuer<br />

früher brannte manchmal besser, manchmal schlechter, flackerte auf oder ab, ach nein,<br />

oder doch ? Das TV-Lagerfeuer kann nur wie ein lästiger Gast durch Abschalten der Saftzufuhr<br />

zum Gehen veranlasst werden. Damals fehlte das Binäre, diese neue rigorose, angeblich<br />

wertvolle Entscheidungsfreude zwischen Ja oder Nein, Tod oder Leben, Männlich<br />

oder Weiblich. Entweder bist Du oder nicht. Das ist Händlermentalität, entweder Du kaufst<br />

oder nicht, das Handeln vorher zählt hinterher nicht mehr, taucht in der Statistik nicht auf.<br />

Dabei ist das das Leben. Ach wie schön waren die Vielleicht, die Malsehen, ein Meinst-<br />

DuWirklich. Wir waren schon mal viel weiter in der Geistesgeschichte der Menschheit, wir<br />

haben, wenn es um den Computer als Einfluss auf unsere Psyche (nicht um seine sonstigen<br />

Berechtigungen) geht, mit ihm den ›grössten Rückschritt in der Geistesgeschichte der<br />

Menschheit‹ (W.K.) je gemacht. Wir haben die homöopathischen Dosierungen zwischen

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