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Wolf Kahlen Museum Bernau

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Über eckige Fotos oder:<br />

Die Vernunft reicht nicht in die Ecken der Gefühle<br />

Gehen wir davon aus, was sich »alt eingesessen hat«, eingenistet wie Füllsel<br />

in den Ecken von Fotos: Fotos sind viereckig. So wie viele Bilder. Aber<br />

nicht alle. Es ist immer viel Kraft in Kunst und Geschichte nötig gewesen,<br />

um aus dem Rahmen zu treten, den Rahmen zu sprengen; wer »aus dem<br />

Rahmen fällt«, steht außerhalb. Wer innerhalb ist, ist auch im Blickfeld. Er<br />

sieht aus dem Fenster und steht im Fenster. Das Rechteck ist ein Fenster,<br />

woher vielleicht auch ursprünglich die Form der Gemälde von Jahrhunderten<br />

stammt. Denn vor der geradlinig gespannten Leinwand über einem<br />

Holzkreuz, das einem Fensterrahmen nicht unähnlich ist, gab es ja das<br />

Tafelbild in unseren Kulturräumen, auf einer Tafel aus Holz, übertragen auf<br />

die Flächen von Papier, Pergament, eine Haut oder ein Gewebe.<br />

Es ist nicht so einfach, die Form des Rechtecks von Anfang an allein technologisch<br />

zu begründen (s. Auf der Suche nach dem rechten Winkel, 1972-<br />

1982), was wir hier nicht untersuchen wollen. Die Setzung des Rechtecks<br />

als das allgemeine Bildformat war sicherlich eine gewaltige Tat. Für die es<br />

heute vielzuviele gute Gründe gibt, um so schnell nicht oder auch nie wieder<br />

davon abzurücken. Die Ausgangsmaterialien waren einfach zu kostbar,<br />

um leichthin beschnitten, nicht voll genutzt zu werden. Es muss andere<br />

Gründe gegeben haben, einleuchtendere, solche aus einer Balance von<br />

Vernunft und Gefühlen. (Unfassbare, weil unsinnliche Begriffe wie Gesellschaft,<br />

Kult, Ideologie drängen sich auf, lohnen sich aber nicht zu bemühen;<br />

so leicht sie von der Zunge fließen, zerschmelzen sie auch wieder.)<br />

Viel naheliegender ist wohl, dass tatsächlich das Fenster Pate gestanden<br />

hat. Nicht allein die statisch feste und vielfunktionale Form des rechteckigen<br />

Fensters zum Beispiel eines Mayapalastes in Palenque, der Katsura-<br />

Villa in Kyoto oder eines ibizenkischen Bauernhauses. Sondern der Schutz,<br />

den es bietet einerseits und die Gefühle, die es weckt, wenn wir es öffnen<br />

und aus seinem Schutz heraus hinaussehen, andererseits, sind die tiefen,<br />

wiederholten Erfahrungen, die für uns zum bevorzugten Bild vom Anderen,<br />

vom Draußen, vom Neuen geworden sind. Ich denke, wir haben unsere<br />

Bildwelten schon damit sehr frühzeitig geprägt, sie in den Künsten bestätigt<br />

und sie – vielfach bewährt – bis in die Form des Fernsehers tradiert.<br />

(Das Bildtelefon wird dem nicht nachstehen, obwohl doch der Kopf meist<br />

rund ist. Der Film hat sich da am beharrlichsten verhalten, unbeirrt das<br />

querliegende Format nie in Frage gestellt und es dem Fernsehen vererbt.<br />

Die Maler schwanken da mehr und gehen oft in der Geschichte auf Exkursionen,<br />

während die Bildhauer das Problem gar nicht kennen.)<br />

Mag sein, dass die rationale Technologie sich für immer durchgesetzt hat,<br />

ihre psychoästhetischen Folgen aber haben Wurzeln, die die Seh- und Denkerfahrung<br />

nähren. Karl Friedrich Gauß, der Astronom und Mathematiker,<br />

spürte, vielleicht wusste er sicher, dass die in der Makrowelt nicht vorzufindende<br />

Rechtwinkligkeit selbst möglichen kosmischen Wesen von Menschen<br />

auf dieser Erde Zeichen geben könnte, als er vorschlug, gewaltige,<br />

Hunderte von Kilometern lange rechtwinklige Schneisen in die sibirische<br />

Taiga zu schlagen.<br />

Diesem konzeptuellen Land-Art-Gedanken folgte damals im 19. Jhdt. ein<br />

Vorschlag des österreichischen Astronomen J. J. von Littrow, man solle in<br />

der Sahara geometrische Kanäle ausheben, mit Petroleum füllen und bei<br />

Nacht anzünden, eine Idee, die dem Gespür für die Fremdartigkeit und<br />

Magie des nichtnatürlichen Lichtes in der Nacht ihre Kraft verdankt. (Peter<br />

Tompkins und Christopher Bird: Das geheime Leben der Pflanzen. Frankfurt<br />

am main: S. Fischer, 1977).<br />

Und als wäre die rechteckige Bilderfahrung noch nicht selten genug, (widerspricht<br />

sie doch der unbegrenzt gleitenden Augenbewegung, die immer<br />

wieder Neues fokussierend Anderes in Unschärfe lässt), versuchte die Fotografie<br />

anfänglich die Sukzession des Augenerlebens auszutauschen gegen<br />

die Simultaneität der Schärfe alles Anwesenden gleichzeitig. Das hatte<br />

sie von der Malerei gelernt, und nur von dieser, denn es gab keine einzige<br />

andere Erfahrensquelle der gleichzeitigen Schärfe. Nun kann man entgegnen,<br />

auch diese gleichzeitige Schärfe im Foto würde nur sukzessive wahrgenommen.<br />

Das stimmt aber nicht für jeden Augenblick, während ich das<br />

Foto lese (s. Fotos Lesen, 1984). Denn Fotos können gelesen werden wie<br />

ein Text, gehört wie ein Musikstück, abgeschritten wie eine Architektur, umwandert<br />

wie eine Skulptur, und doch tritt noch eine weitere Seherfahrung<br />

hinzu, die des Gemäldes: Ich kann eben doch die mir näher befindliche<br />

Nähmaschine mit dem weit dahinterliegenden Pinienwald direkt zusammen<br />

sehen ohne neue Schärfeneinstellung des Auges, das heißt in einer anderen<br />

Zeitlichkeit, der Simultaneität. Die ersten Fotografen suchten diese<br />

Schärfe, ihre Ergebnisse sind bestechend in dieser Fremdartigkeit. Dann<br />

folgte eine Zeit, in der die Unschärfe in die Fotos zurückgeholt wurde, um<br />

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dem normalen Augenerlebnis manchmal wieder näher zu sein. Und heute<br />

erkennen wir rückblickend, worin die Faszination der gestochenen Schärfe<br />

eigentlich liegt, bewundern ihre Exotik oder ihre Kühlheit, kurz gesagt den<br />

Charakter ihrer instrumentellen Künstlichkeit, ihrer Erfindung.<br />

Zu allem Unglück unterscheidet die Bildschärfe aber nicht zwischen Gemeintem<br />

oder Nichtgemeintem, zwischen Zentrum und Ecken des Bildes.<br />

Fatal, was sich da oft in den Ecken der Fotos »ansammelt«. Unbewusst,<br />

wenig bewusst oder unvermeidlich. Dinge, die stören, nunmal da waren,<br />

oder erst Jahre später Überraschung auslösen und Anlass werden, sich in<br />

ganz andere Erinnerungen zu verlieren, als sie der »Auslöser« des Fotos<br />

waren: Beutestücke, Mitgefangene.<br />

In diesen Ecken, die nicht Kinder der Vernunft sind, begegnen sich Zeitgeist<br />

und Zeitabfall.<br />

Die Vernunft reicht eben nicht in die Ecken der Gefühle, 1984. Nicht in die,<br />

die veranlasst haben, das Bild auf-zu-nehmen, es sich anzueignen, und<br />

nicht in jene, die veranlassen, es anzusehen. Auch nicht in die vom Fotografen<br />

gelenkten Ecken der Gefühle, die ihn bewegt haben mögen, diese<br />

Fülle der am Rande liegenden Details gesehen und bewusst mit-genommen<br />

zu haben. Oder die Augen heften sich ganz besonders an diese Randerscheinungen<br />

und schieben einen hellgrauen Schleier über den zentralen<br />

Rest des Bildes.<br />

Das ist alles in Ordnung so. Es ist nur gelegentlich besser, es zu wissen.<br />

Nicht immer. Wie schön, wenn man sich auch in einem Foto verlieren kann!<br />

Erstaunlich, dass kein Fotograf aufmuckt gegen das vorgegebene Bildformat,<br />

das diese Ecken zeugt. Dass er nur die Teile des Bildes entwickelt,<br />

die er haben will (s. Fotos Lesen, 1984). Die Vergrößerungstechnik ändert<br />

da nichts, liefert nur neue Ecken. Für den Laien ist es ohnehin stets ein<br />

Wunder, wie die Ecken genutzt werden, die Verschwendung von Raum und<br />

Material ist maßlos, weil ungesehen und ungeliebt.<br />

Beim alltäglichen Sehen landet das Bewusstsein nie wie ein nasser Sack in<br />

einer Ecke, auch nicht das Bewusstsein des Sehens. Es ist sich des Nichtendens<br />

der Wahrnehmung stets sicher, darum muss ein Bild mit Ecken<br />

sich selbst genug sein, sonst treten wir schnell wieder heraus. In Einzelfällen<br />

kann natürlich auch dieser Effekt gewünscht sein, zum Beispiel, wenn<br />

ich Fotos mache über Illusion im Bild und das Abbrechen der Illusion am<br />

Bildrand, also diese Gedanken selbst zum Thema einer Arbeit mache, sie<br />

in ein Bild für etwas verwandle, ein neues Zeichen setze (s. Bilder die im<br />

Wege sind, 1977 und 1980, Selbstbildnis, 1980, u. a.). Es gehört wohl doch<br />

mit zur konzentrierten Illusion aller Bildwelten, den Rand zu spüren, den<br />

das Fenster schneidet, die Wirklichkeit in Bildstücke brechend.<br />

Dies muss eine gewachsene, keine vorgefundene Konzeption sein. Sie<br />

begann mit dem erwähnten ungeheuerlichen Anspruch der Fotografie,<br />

Gemäldeschärfe zu erreichen. Welch phanstastischer Gedanke, die beim<br />

Sehen-Denken nicht vorhandene, aber manchmal eingebildete Simultanschärfe<br />

mithilfe eines dazu untauglichen physikalischen Vorgangs hervorzuzaubern,<br />

indem man den Punkt sucht, an dem das Auge nicht mehr<br />

unterscheiden kann, was scharf und was unscharf ist. Also eine verlogene<br />

Grenzsituation als die objektive Wahrheit auszugeben. Oder haben die Physiker<br />

das gar nicht so gemeint und wir haben’s nur so gewollt? Es ändert<br />

nichts an der Tatsache, dass wir uns gerne täuschen lassen. Wissen wir<br />

doch, dass das aus dem kreisförmigen Abbild hinter der Linse rechtwinklig<br />

herausgeschnittene Endbildstück eigentlich nur eine einzige Schärfeebene<br />

hat, alle anderen Ebenen sind mehr oder weniger unscharf geduldet. Aber<br />

wo unsere Geduld zuende ist, endet auch das Bildformat. (Der gekrümmte<br />

Fernsehbildschirm entspricht dem gleichen Problem und ist eine ähnlich<br />

einfältige Täuschung.) Die Täuschung der »tiefenscharfen« Fotografie ist<br />

geradezu magisch und ein Ausnahmezustand des Sehens (s. Tele-Visio es<br />

l’excepcio de la visio, Text Barcelona, 1980), dessen Faszination noch nicht<br />

nachgelassen hat.<br />

Der nächste Schritt in der Entwicklung galt der Formatqualität: zwischen<br />

einem Kreis, gleichmäßig zentrierend, dem Quadrat, dem undefinierten<br />

oder einem ausgebreitet daliegenden Feld, wie es den zwei nebeneinanderstehenden<br />

Augen nahekommt, wenn es nicht diese unwirklichen Ecken<br />

hätte. Also müsste das bessere Bildfeld eine liegende Ellipse sein, dem das<br />

liegende Rechteck recht nahekommt. So erklärt sich auch, warum der weit<br />

überwiegende Teil aller gedachten und gemachten Fotos Querformate sind,<br />

insofern richtig mitgesteuert durch die Apparatdesigner, dass der Hochformatwunsch<br />

mit Arm- und Körperverrenkungen bestraft wird. Der in die<br />

Vertikalen wandernde Blick wird daher immer seltener.

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