Epistemologische ErnüchterungUnsere konkrete Erfahrung im Forschungsprojekt “Ungleiche<strong>Vielfalt</strong>” ist freilich e<strong>in</strong>e epistemologisch hochgradigernüchternde. Es ist nämlich ke<strong>in</strong>eswegs e<strong>in</strong>fach,etwas über diese Ebene der Qualitäten zu erfahren<strong>und</strong> zu dokumentieren. In Schulen entwickeln sicheigenständige Kulturen, im S<strong>in</strong>ne von Alltagspraktiken,die <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em bestimmten Gebäude von den Menschengeteilt werden, die sich dort bewegen. Quer dazu liegenaber Bedeutungskonstruktionen, die SchülerInnenaus ihrer primären Sozialisations<strong>in</strong>stanz, ihren Familienmitbr<strong>in</strong>gen. Manche tragen Migrationserfahrungen <strong>in</strong>die Schule, andere nicht. Die e<strong>in</strong>en mussten mehr Brüche<strong>in</strong> ihrer Biographie erfahren, die anderen weniger.Manche s<strong>in</strong>d traumatisiert <strong>und</strong> wissen selbst nichtdavon. Andere s<strong>in</strong>d tatsächlich nur verträumt, vielleichtweil sie nie zu diszipl<strong>in</strong>ierter Traumlosigkeit erzogenwurden. Ahnungen von Ängsten können Ursachen fürLernblockaden <strong>und</strong> sche<strong>in</strong>bar destruktive Strategiense<strong>in</strong>. Eigentlich ist es so, dass e<strong>in</strong> ganz konventionellesSchulgebäude wie die KMS 18 oder das BG 18 (B<strong>und</strong>esgymnasiumWien 18) e<strong>in</strong>e Vielzahl von unterschiedlichenGeschichten <strong>und</strong> Stimmen <strong>in</strong> sich birgt.Hier zu erfassen, was die relevanten, die sozial verb<strong>in</strong>dlichenDeutungen <strong>und</strong> Erzählungen s<strong>in</strong>d, ist ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>facheAufgabe. Das für so unterschiedliche MenschenBedeutsame <strong>in</strong> nur e<strong>in</strong>er Sprache nacherzählen zuwollen, ist vermessen <strong>und</strong> kann nicht gel<strong>in</strong>gen. Ebensowenig kann es <strong>in</strong> der Sprache nur e<strong>in</strong>er Diszipl<strong>in</strong> erzähltwerden. Wie gesagt: In e<strong>in</strong>em Schulgebäude f<strong>in</strong>den wirmehrere Sonnensysteme <strong>und</strong> Galaxien. Manche wohnenh<strong>in</strong>ter dem Mond, andere s<strong>in</strong>d vom Mars. Um daszu erfassen, braucht es e<strong>in</strong>e neue Form des Wissens,e<strong>in</strong> auf e<strong>in</strong>er höheren Ebene <strong>in</strong>tegriertes Weltwissen.Transdiszipl<strong>in</strong>arität bedeutet, diese hier angesprochenenGeschichte <strong>und</strong> Stimmen, von Sonnensystemen<strong>und</strong> Galaxien, von divergenten Realitätsebenen zuverb<strong>in</strong>den zu suchen, <strong>und</strong> damit “trans-”, nämlich zwischendie Diszipl<strong>in</strong>en zu gehen. Das ist der erste vondrei Verweisen durch das Präfix „trans-“.Doch wir wissen auch, dass die Verwaltung der StadtWien vor der Herausforderung steht, mit <strong>Vielfalt</strong> <strong>und</strong><strong>Ungleichheit</strong> umzugehen. <strong>Vielfalt</strong> wie auch <strong>Ungleichheit</strong>wandeln sich ständig, sodass es ke<strong>in</strong>e Option ist,alles zu lassen, wie es ist. Der Arbeitsmarkt verlangtnach jungen Menschen, die lesen <strong>und</strong> schreiben können.Die politischen Prozesse sollten von Menschen gesteuertwerden, die über ihre subjektive Erfahrung h<strong>in</strong>auszu reflektieren imstande s<strong>in</strong>d. Bildungsforschungmuss mit Politikwissenschaft kurzgeschlossen werden,L<strong>in</strong>guistik mit Institutionenk<strong>und</strong>e. Hier gilt es, quer zuden Diszipl<strong>in</strong>en zu wandern, also nochmals „trans-“.Womit wir bei dem zweiten von drei Verweisen durchdas Präfix „trans-“ wären.Jenseits der Diszipl<strong>in</strong>enEs schaut derzeit nicht so aus, trotz aller Probleme, alswürde das soziale Geme<strong>in</strong>wesen <strong>in</strong> Wien <strong>in</strong> absehbarerZeit kollabieren. Ist denn das alles wirklich so wichtig?Der von Nicolescu beschriebene Zusammenbruch derZivilisation dürfte sich mehr auf der Ebene der anhaltendenWeltwirtschaftskrise <strong>und</strong> der Klimakrise abspielen.Daher jetzt, als dritter <strong>und</strong> letzter Verweis durchdas Präfix „trans-“, die Frage, wie denn s<strong>in</strong>nvoll überdas Weltklima gesprochen, wie die Weltwirtschaftskrisebewältigt werden kann, wenn nicht e<strong>in</strong>mal die SchülerInnenmite<strong>in</strong>ander kommunizieren können, wenn siee<strong>in</strong>ander im Marie von Ebner-Eschenbach-Park begegnen,ausgespuckt von ihren jeweiligen Institutionenauf das kle<strong>in</strong>e Fleckchen Grün dazwischen. Jenseitsder Diszipl<strong>in</strong>en geht es um Demokratie, <strong>und</strong> die setztallenthalben Kommunikation <strong>und</strong> Verstehen voraus.Demokratie ist aber auch e<strong>in</strong>e utopische Tätigkeit. Eswar e<strong>in</strong>er der wichtigen Slogans der Pariser 68er-Bewegung,daran zu er<strong>in</strong>nern, dass es unter den Pflasterste<strong>in</strong>ene<strong>in</strong>en Strand gibt: “Sous les pavés la plage.”Mit Blick auf die Pflaster des 18. Wiener Geme<strong>in</strong>debezirkesist man geneigt, das für e<strong>in</strong>en Witz zu halten– oder eventuell e<strong>in</strong>e pubertäre Verwirrung. Docheigentlich geht es um jenes „trans-“, das jenseits derDiszipl<strong>in</strong>en verweist. Gewiss kl<strong>in</strong>gt hier auch so etwaswie Freiheit von unterdrückender Diszipl<strong>in</strong>ierung an,doch es geht um mehr, denn es geht eigentlich umTranszendenz: Um die Dimension des Wünschens <strong>und</strong>des Begehrens. Was mag unter dem Pflaster zu f<strong>in</strong>dense<strong>in</strong>? Die Träume der jungen Menschen hoffen aufsozialen Aufstieg oder malen beängstigende Bilder dessozialen Abstiegs. Diese Träume machen auch die Stadtaus, denn auch sie bilden e<strong>in</strong>e Realitätsebene, e<strong>in</strong>etraumpolitische, e<strong>in</strong>e politische Onirik gewissermaßen.52 // <strong>Soziale</strong> <strong>Ungleichheit</strong> <strong>und</strong> <strong>kulturelle</strong> <strong>Vielfalt</strong> <strong>in</strong> europäischen Städten // Aktion & Reflexion
Weiterh<strong>in</strong> bleiben <strong>in</strong> Wien große Hürden bestehen,die verh<strong>in</strong>dern, dass diese Stadt zu e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>tegriertenGeme<strong>in</strong>wesen wird. Ausschlussmechanismen wirkenausgrenzend. Welche Realität ist es, die fruchtbareLösungen verh<strong>in</strong>dert? Welche Sprachen sollten gesprochenwerden, um epistemische Barrieren, Wälle derBedeutungszuschreibung, die Schützengräben der Semiotiküberw<strong>in</strong>den zu können? Wir leben nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erfriedlichen Stadt, heute nicht <strong>und</strong> morgen nicht.Es sche<strong>in</strong>t, als täte es Not, mehr quer zu denken – querzu den Diszipl<strong>in</strong>en, quer zu den sozialen Grenzziehungen,quer zu politischen Erwartungen. Transdiszipl<strong>in</strong>aritätmuss als e<strong>in</strong>e Strategie des Querdenkens verstandenwerden.Wir stehen immer noch am Anfang unseres Forschungsprojektes.Literatur:Balsiger, Philipp W. (2005): Transdiszipl<strong>in</strong>arität: systematischvergleichendeUntersuchung diszipl<strong>in</strong>enübergreifender Wissenschaftspraxis.München: F<strong>in</strong>k.Bergmann, Matthias/Jahn, Thomas/Knobloch, Tobias/Krohn,Wolfgang/Pohl, Christian/Schramm, Engelbert (2010): Methodentransdiszipl<strong>in</strong>ärer Forschung. E<strong>in</strong> Überblick mit Anwendungsbeispielen.Frankfurt am Ma<strong>in</strong>/New York: Campus.Cass<strong>in</strong>ari, Davide/Hillier, Jean/Miciukiewicz, Konrad/Novy,Andreas/Habersack, Sarah/MacCallum, Diana/Moulaert, Frank:Transdiscipl<strong>in</strong>ary Research <strong>in</strong> Social Polis. 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