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gleis eins ausgabe 02

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SPRACHTHERAPIE<br />

AKADEMISCHE PRAXIS FÜR SPRACHTHERAPIE<br />

Mehrsprachigkeit ist ein Thema, das sehr<br />

viele Menschen betrifft. Ungefähr jeder<br />

zehnte Bundesbürger kommt aus einem<br />

anderen Heimatland oder lebt als Kind<br />

von eingewanderten Eltern in einer mehrsprachigen<br />

Situation. Die Kultur und Lebensweise<br />

mehrsprachiger Bürger ist Teil<br />

unserer Gesellschaft. Insgesamt betrachtet,<br />

ist mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung<br />

multilingual, d.h. mehrsprachig.<br />

Auch in den Kindergärten gibt es immer<br />

mehr Kinder, die mit mehreren Sprachen<br />

aufwachsen. In den Städten Frankfurt am<br />

Main, Stuttgart, Düsseldorf und Nürnberg<br />

liegt der Anteil von unter 5-jährigen Kindern,<br />

die aus einem anderen Heimatland<br />

mit einer anderen Muttersprache kommen<br />

bei über 60%.<br />

Allen Eltern ist gemein, dass sie sich um<br />

die Integration ihrer Kinder bemühen und<br />

versuchen, so gut es geht, ihren Kindern<br />

die deutsche Sprache zu lernen. Wenn sie<br />

aber Schwierigkeiten in der Sprachentwicklung<br />

zeigen, verzichten die Eltern oft<br />

auf ihre Muttersprache. Wegen der besseren<br />

Eingewöhnung in den Kindergarten<br />

oder die Schule wird die Muttersprache<br />

vernachlässigt und nur noch deutsch<br />

mit den Kindern gesprochen.<br />

Durch die tägliche Praxis und die neueren<br />

Erkenntnisse der Mehrsprachigkeitsforschung<br />

wissen wir aber, dass die Vernachlässigung<br />

der Muttersprache keinesfalls<br />

dazu führt, dass die deutsche Sprache<br />

schneller und besser erworben wird. Es<br />

müssen beide Sprachen für die Kinder bedeutsam<br />

sein, da nur so ein Lerninteresse<br />

und damit Sprechfreude entstehen.<br />

Wir möchten Ihnen im Folgenden aufzeigen,<br />

wann man von einer mehrsprachigen<br />

Person spricht, welche Chancen eine mehrsprachige<br />

Erziehung bietet und warum es<br />

viele Kinder gibt, die große Schwierigkeiten<br />

haben, eine gute Mehrsprachkompetenz<br />

aufzubauen.<br />

Was macht eine mehrsprachige<br />

Person aus?<br />

Ganz allgemein ist eine mehrsprachige<br />

Person jemand, der zwei oder mehr Spra-<br />

Akademische Praxis für Sprachtherapie<br />

Mehrsprachigkeit und<br />

Sprachentwicklungsstörungen<br />

Anemone Söllner (Sprachheilpädagogin M.A., Fremdsprachenkorrespondentin)<br />

Michelle, ein Deutsch-Russisch<br />

sprechendes Mädchen<br />

chen als Muttersprache im Kleinkindalter<br />

erworben hat. Aber auch wenn sich eine<br />

Person täglich in zwei oder mehr Sprachen<br />

unterhält, kann man von einer mehrsprachigen<br />

Person sprechen. Es gibt verschiedene<br />

Faktoren, die bei der Mehrsprachigkeit<br />

eine wichtige Rolle spielen. Dazu<br />

gehören z.B.:<br />

• Spracherwerbsalter<br />

Wenn ein Mensch eine Zweitsprache im<br />

Kleinkindalter erlernt, so kann dieser Erwerbsprozess<br />

auf zwei unterschiedliche<br />

Arten verlaufen. Wenn ein Kind von Geburt<br />

an zwei Sprachen gleichzeitig erwirbt,<br />

spricht man von einem simultanen<br />

Spracherwerb. Diese Form tritt meist<br />

bei Kindern auf, deren Elternteile unterschiedliche<br />

Muttersprachen besitzen. So<br />

kann sich das Kind auf natürliche Weise<br />

die beiden Sprachen parallel aneignen.<br />

Unter dem sukzessiven (sukzessiv = nacheinander)<br />

Spracherwerb versteht man das<br />

Aneignen der Zweitsprache etwa ab dem<br />

3. Lebensjahr. Die Erstsprache ist schon<br />

teilweise ausgebildet wenn die Zweitsprache<br />

erworben wird und hat somit<br />

einen deutlichen Vorsprung in ihrer Entwicklung.<br />

Die Zweitsprache wird hier<br />

hauptsächlich in Einrichtungen (Kindergarten,<br />

Schule) gesprochen, die Primärsprache<br />

hingegen im familiären Umfeld.<br />

• Sprachdominanz<br />

Die meisten mehrsprachigen Personen beherrschen<br />

die einzelnen Sprachen nicht<br />

gleich gut. Die besser entwickelte Sprache,<br />

die „starke“ oder auch „dominante“<br />

Sprache ist fast genauso gut entwickelt<br />

wie bei gleichaltrigen <strong>eins</strong>prachigen Kin-<br />

dern. Die Sprachfähigkeit der anderen<br />

Sprachen entwickelt sich meist langsamer.<br />

Sie erreicht selten das Niveau der<br />

starken Sprache.<br />

Mehrsprachigkeit als Chance<br />

Normalerweise hat die mehrsprachige Erziehung<br />

große Vorteile für ein Kind, denn<br />

in der natürlichen Umgebung erlernt ein<br />

Kind eine zweite Sprache ohne größere<br />

Schwierigkeiten und viel spielender und<br />

besser als später in der Schule. Der gleichzeitige<br />

Erwerb zweier oder mehrerer Sprachen<br />

bedingt meist bessere linguistische<br />

Fähigkeiten in den einzelnen Sprachen,<br />

und so sind mehrsprachige Kinder häufig<br />

sehr sprachgewandt und geschickt im Umgang<br />

mit den Sprachen, die sie sprechen.<br />

Damit der Erwerb einer zweiten oder mehrerer<br />

Sprachen gelingt, sollten Eltern auf<br />

verschiedene sprachfördernde Faktoren<br />

achten. Dazu gehören:<br />

• Sprachtrennung – une personne, une<br />

langue (eine Person – eine Sprache)<br />

Der wohl wichtigste Faktor beim Erlernen<br />

einer zweiten oder dritten Sprache ist die<br />

Sprachtrennung. Der französische Linguist<br />

Grammont (1908) gab vor, dass jeder<br />

Elternteil oder jede Bezugsperson in<br />

seiner/ihrer Muttersprache mit dem Kind<br />

sprechen soll. Das Kind erlernt so die Sprache<br />

von kompetenten Sprechern und<br />

übernimmt nicht das möglicherweise<br />

fehlerhafte sprachliche Vorbild seiner<br />

Bezugsperson. Jeder Elternteil vermittelt<br />

auf diese Weise eine emotionale Bindung<br />

an seine Sprache. Dieses Modell gibt jedem<br />

Elternteil die Möglichkeit, zu seiner<br />

ethnischen Identität zu stehen und dem<br />

Kind mehr authentische Emotionen zu vermitteln.<br />

So entsteht ein natürlicher Spracherwerb<br />

in einer ungezwungenen Kommunikationssituation.<br />

• Sprachinput und Sprachoutput<br />

Zum Erlernen einer Sprache benötigt ein<br />

Kind ausreichend Input (= Angebot), d.h.<br />

es braucht Wissen, das ihm die Welt erklärt<br />

und seine eigenen Gedanken und<br />

Gefühle verstehen lässt. Kinder, deren<br />

Muttersprache nicht die Umgebungs-<br />

sprache ist, bekommen bis zum Eintritt in<br />

den Kindergarten (ca. 3. Lebensjahr) diesen<br />

Input hauptsächlich von ihrer Mutter.<br />

Dadurch sind die sprachlichen Fähigkeiten<br />

in dieser Sprache bis zu diesem Alter<br />

besser entwickelt als in der Umgebungssprache.<br />

Besuchen Kinder für eine gewisse<br />

Zeit eine Einrichtung, machen sie in<br />

der Umgebungssprache durch die vielen<br />

sprachlichen Anregungen rasch Fortschritte.<br />

Deshalb beherrschen viele mehrsprachige<br />

Kinder die Umgebungssprache<br />

nun besser als ihre Muttersprache (ab ca.<br />

4. Lebensjahr). Es ist daher von großer<br />

Bedeutung, dass mehrsprachige Kinder<br />

viele sprachliche Anreize in der Muttersprache<br />

bekommen, beispielsweise durch<br />

Kinderbücher, Lieder und Hörspiele.<br />

A. Söllner mit Javier (Name geändert), einem<br />

Spanisch-Deutsch sprechenden Jungen<br />

Nun muss ein Kind, das zwei oder mehr<br />

Sprachen erlernt, diese Sprachen auch erwerben,<br />

d.h. es muss gleichzeitig viel mehr<br />

leisten als ein Kind, das nur die Wörter<br />

und grammatischen Regeln einer Sprache<br />

lernen muss. Für den gesamten Verlauf der<br />

sprachlichen Entwicklung bedeutet das,<br />

dass das Kind fortlaufend auf ein umfassendes<br />

sprachliches Angebot sowohl in<br />

der Herkunftssprache (z.B. türkisch, griechisch,<br />

spanisch, russisch, englisch etc.)<br />

als auch in seiner Umgebungssprache<br />

(z.B. deutsch) in gleichem Maße angewiesen<br />

ist, um seine Kenntnisse in beiden<br />

Sprachen kontinuierlich zu erweitern.<br />

Abgesehen vom Sprachinput ist der<br />

Sprachoutput (=Sprechen) einer Sprache<br />

unerlässlich. Beim Sprechen werden die<br />

Sprachlaute und die Sprachmelodie trainiert<br />

und das Kind muss aktive grammatische<br />

Strukturen bilden, wenn es sich<br />

verständlich ausdrücken möchte. Damit<br />

ein Kind die Übergänge von einer Sprache<br />

in die andere bewältigen kann, muss<br />

es erleben, dass die Sprecher der verschiedenen<br />

Sprachen in Kontakt miteinander<br />

treten, dass sie kommunizieren.<br />

Die negativ verlaufende mehrsprachige<br />

Sprachentwicklung<br />

Zu einer Sprachentwicklungsstörung bei<br />

Mehrsprachigkeit kommt es, wenn beide<br />

Sprachen so mangelhaft erworben werden,<br />

dass es dem Kind nicht möglich ist,<br />

sich in einer der beiden Sprachen verständlich<br />

zu machen, bzw. die sprachliche<br />

Entwicklung in beiden Sprachen deutlich<br />

unter der von <strong>eins</strong>prachigen gleichaltrigen<br />

Kindern liegt. Durch eine Sprachdiagnostik<br />

in beiden Sprachen zeigen sich<br />

meist:<br />

• ein eingeschränkter Wortschatz in beiden<br />

Sprachen,<br />

• Probleme im Sprachverständnis auf<br />

Wort-, Satz- und Textebene in beiden<br />

Sprachen,<br />

• ein unzureichender Grammatikerwerb<br />

in beiden Sprachen,<br />

• eine fehlerhafte Lautbildung in beiden<br />

Sprachen,<br />

• eine mangelnde sprachliche Kreativität<br />

und<br />

• eine geringer ausgebildete Fähigkeit,<br />

Wörter in ihrer Bedeutung voneinander<br />

zu unterscheiden.<br />

Der Erwerb mehrerer Sprachen ist ein äußerst<br />

vielschichtiger und komplexer Prozess.<br />

Bei der Erklärung der Entstehung von<br />

Störungen der Sprachentwicklung bei<br />

Mehrsprachigkeit gibt es keine einfache<br />

Antwort. Bei allen wichtigen Faktoren der<br />

mehrsprachigen Erziehung kann es zu<br />

Schwierigkeiten kommen, so z.B. wenn:<br />

• Eltern gegenüber den Kindern ungeregelt<br />

von einer Sprache in die andere<br />

wechseln,<br />

• generell Eltern mit dem Kind nicht in<br />

ihrer Muttersprache sprechen,<br />

• Eltern nicht im Dialog mit ihren Kindern<br />

sind,<br />

• Eltern keine verbessernde Wiederholung<br />

in der Muttersprache anwenden,<br />

• die Mehrsprachigkeit nicht nach außen<br />

vertreten wird und dem Kind nicht vorgelebt<br />

wird.<br />

Mehrere Sprachen zu erlernen, bietet einem<br />

Kind eindeutige Vorteile. Aber es ist<br />

auch ein schwieriger Prozess, der von vielen<br />

Faktoren beeinflusst wird, wie z.B.<br />

sprachliches Vorbild der Bezugsperson,<br />

Förderung im Kindergarten und im sozialen<br />

Umfeld, Persönlichkeit des Kindes etc.<br />

Kommt es in diesen Bereichen zu Störungen,<br />

Fehlentwicklungen etc. kann sich<br />

das auf die Sprachentwicklung mehrsprachiger<br />

Kinder in stärkerem Maße auswirken,<br />

als das bei <strong>eins</strong>prachigen Kindern<br />

der Fall wäre.<br />

Wir möchten alle Eltern ermutigen, sich<br />

nicht aus Sorge vor einer Überforderung<br />

ihres Kindes ausschließlich auf die deut-<br />

18 19<br />

Anzeige<br />

sche Sprache (mit möglicherweise fehlerhaftem<br />

Sprachvorbild) zu beschränken,<br />

sondern ihr Kind mehrsprachig zu<br />

erziehen.<br />

Bei auftretenden Schwierigkeiten sollte<br />

eine sprachliche Diagnostik, eine Beratung<br />

der Eltern und gegebenenfalls Therapie<br />

so früh wie möglich erfolgen, damit<br />

eine weitere Stagnation der Entwicklung<br />

verhindert werden kann, und damit ihr<br />

Kind bis zum Beginn der Einschulung die<br />

gleichen Bildungschancen erhält wie andere<br />

<strong>eins</strong>prachige Kinder auch.<br />

Wir bieten Elternberatung und Förderung<br />

bei mehrsprachiger Erziehung sowie gezielt<br />

dargebotene Therapien an, in den<br />

Bereichen, in denen ihr Kind sein sprachliches<br />

Wissen auffüllen muss. Diagnostik<br />

und Therapie sind in deutscher, englischer<br />

und spanischer Sprache möglich.<br />

Gerne stehen wir Ihnen für weitere Informationen<br />

in der Akademischen Praxis<br />

Dr. I. Maser zur Verfügung.<br />

V. links: Anemone Söllner (Sprachheilpädagogin<br />

M.A., Fremdsprachenkorrespondentin),<br />

Dr. phil. Ingeborg Maser (Neurolinguistin,<br />

Klinische Linguistin), Sabine Büdel (akademische<br />

Sprachtherapeutin M.A.)<br />

Literatur/Quellennachweise:<br />

Belliveau, C. (20<strong>02</strong>): Simultaner bilingualer Spracherwerb unter entwicklungs- und kognitionspsychologischen<br />

Aspekten. Aachen: Shaker Verlag.<br />

Müller, N., Kupisch, T., Schmitz, K., Cantone, K. (2007): Einführung in die Mehrsprachigkeitsforschung.<br />

Tübingen: Gunter Narr Verlag.<br />

Söllner, A. (2009): Analyse der Wortschatzentwicklung bilingual deutsch-spanisch aufwachsender<br />

Kinder anhand des AWST-Rs.<br />

Triarchi-Herrmann, V. (2006): Mehrsprachige Erziehung. München: Ernst Reinhardt Verlag<br />

Jenny, C. (2008): Sprachauffälligkeiten bei zweisprachigen Kindern. Bern: Verlag Hans Huber,<br />

Hogrefe AG<br />

HIER FINDEN SIE UNS:<br />

Akademische Praxis für<br />

Sprachtherapie (alle Kassen –<br />

Termine nach Vereinbarung)<br />

Dr. Ingeborg Maser<br />

Neurolinguistin/Klinische<br />

Linguistin dbs/dbl<br />

Stadtpalais | Elisenstraße 32<br />

Eingang A<br />

63739 ASCHAFFENBURG<br />

Telefon 0 60 21/45 27 27<br />

Telefax 0 60 21/45 27 28<br />

www.sprachtherapie-maser.de

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