IST MUSIK-KRITIK NOCHUP TO DATE?GMD Franz Welser-Möst setztseine Diskussionsrunde im GustavMahler-Saal fortAm 22. September um 11.00 Uhr gehen diePositionslichter in die nächste Runde, Titeldieser Ausgabe: Ist Musikkritik noch up to date?Dass dieses Thema gerade in Wien besondere Relevanzhat, zeigt bereits ein kleiner Blick in die Kulturgeschichte:War es doch gerade diese Stadt, in derder berühmte Kritikerpapst Eduard Hanslick aus derMusikberichterstattung eine eigene Kunstformmachte. Man las seine Rezensionen nicht nur umihrer Aussage willen – sondern auch aufgrund derFormulierungen, der Pointen, der gewitzten Urteile.Es ging um das Wie, und Musikkritik war plötzlichFeuilleton, war Literatur, gehörte zum guten Stil.Dass Hanslick in seinen Kritiken keineswegs objektivurteilte, sondern sich einem Subjektivismus verschriebenhatte, lag in der Natur der Sache; dass erKulturpolitik zu betreiben versuchte bzw. genauer:seine kunstästhetischen Meinungen vertrieb, verwunderteniemanden. Und auch heute, da seine Urteilein vielen Fällen widerlegt sind, lesen sich die Texteimmer noch gut, und sind auch informativ. Denn sieweisen nicht nur auf einen gebildeten Fachmann hin(Hanslick war Musikwissenschaftler und komponiertemitunter auch), sondern geben auch Einblick in diemusiktheoretischen Grabenkämpfe des 19. Jahrhunderts.Seither sind viele Jahre vergangen. Und immer wiedersteht die Musikkritik ihrerseits im Kreuzfeuer derKritik. Was darf sie? Was soll sie? Soll sie belehren und/oder unterhalten? Soll sie nur Ausdruck einer persönlichenMeinung eines Kritikers sein? Oder muss einRezensent beschreiben, allgemein formulieren, informieren?Wie steht es um die Ausbildung eines Kritikers?Muss ein Kritiker eine Gesangsausbildung haben,um über Sänger schreiben zu dürfen? Oder istihre Zeit schon abgelaufen, in Zeiten des Bloggensund Internet-Postens?In dieser Positionslichter-Ausgabe wird Franz Welser-Möst mit dem Kulturkritiker Karl Löbl, dem GaleristenThaddaeus Ropac, der Kritikerin Eleonore Büningund dem Publizisten und Herausgeber Peter MichaelLingens über die Musikkritik diskutieren und dasaktuelle Thema – wie schon bei den vergangenenMatinee-Terminen – in einer gesellschaftlichen, kulturwissenschaftlichenund intellektuellen Zusammenhangbeleuchten.Oliver Lang18 N° 171 www.wiener-staatsoper.at
AMSTEHPLATZMeine Stehplatzzeit deckt sich mit meinenGymnasial-Oberstufenjahren und der DirektionsäraKarajan an der <strong>Wiener</strong> <strong>Staatsoper</strong>. Wenn ichmich heute an diese mich ungemein prägende Zeiterinnere, die meine glühenden Liebe zur Oper bewirkthat, so sehe ich unvergessliche Erfahrungenfür mein Leben.Als „Stehplatzler“ – ich war überzeugter „Galerist“,wesentlich der Akustik wegen – fühlten wir uns –also alle, mit denen man sich fast täglich anstellte– eigentlich als das Gerüst und die Basis der <strong>Wiener</strong><strong>Staatsoper</strong>. Wir wussten auch, was Karajan als Direktorfalsch machte, wir haben Rollenbesetzungen alsfalsche Entscheidungen demaskiert und die musikalischenLeitungen kritisiert. Kurz gesagt, man hätteuns die Leitung der <strong>Staatsoper</strong> übergeben sollen.Wir waren ja mit den Sängern auf Du und Du,Madeira war nur die Jean, Di Stefano Pippo, GiuliettaSimionato die Giù. Die Diskussion um künstlerischeLeistungen, Stimmen, Rollenbesetzungenüberwog die über Inszenierungen, denn es gab inder damaligen Zeit Sänger, die ihre eigene, sehrpersönliche Auffassung einer Rollengestaltung hatten.Es wäre auch kaum ein Regisseur auf die Ideegekommen, diesen Sängern in der Darstellungetwas vorzuschreiben, das gegen ihre Idee und Vorstellungder jeweiligen Partie gewesen wäre. Ausdieser meiner Stehplatzzeit sind mir viele Erinnerungengeblieben, welche mich mein Leben langbegleiten und dankbar machen.Wenn Jean Madeira als Carmen den Rock hob unddarunter ein Straps sich zeigte, mit dem sie dieAugen des Don José –meist war es Di Stefano – zumSchielen brachte, so war dies ein erotischer Moment;er war nicht gespielt, er war gelebt! Wenn manvor der Arie des Cavaradossi im letzten Akt der Toscanicht nur auf Di Stefanos Ausbruch bis ins Pianissimogehend wartete, sondern ebenso auf das vorangehendeKlarinetten-Solo des 1. Klarinettistender <strong>Wiener</strong> Philharmoniker Peter Schmidl; wenn ichan die beiden Hauskapellmeister Lovro von Matačićund Heinz Wallberg denke, die das gesamte Repertoirebetreuten und unglaubliche Sängerdirigentenwaren, so war der Opernhimmel immer in Ordnung.Und es gab herausragende Abende, die den Alltag,sprich den normalen Repertoirebetrieb übertrafen.Dimitri Mitropoulos löste 1960 in der Forza delDestino nach der Ouverture, die nach dem Calatrava-Aktgespielt wurde, einen Jubel im Publikum aus,da war man Zeuge eines historischen Ereignisses.Wenn George London während der Champagner-Arie im Don Giovanni die Glacé Handschuhe anzogund dann rhythmisch mit einer Macho-Arroganz,die ihresgleichen sucht, sie zwischen den Fingernzurechtzog, war dies eine Personenregie, wie siewahrscheinlich nur von einem so intelligenten Sängererfunden werden kann. Unvergesslich Di StefanosCanio im Bajazzo, wo er am Schluss durch dasAufschlagen der Knie und einem verzweifelten „lacommedia è finita“ dem Zuschauer die Tränen in dieAugen trieb. Keiner von uns hat sich dieser Tränengeschämt, genauso wenig wie beim Abschied desTuriddù mit seinen Mamma-Rufen in Mascagnis Cavalleriarusticana.Zu meinen Höhepunkten gehört die Parsifal-Premiere1961 unter Karajan, wo ich ganze 24 Stundendurchgestanden bin, sodass ich nach dem Bühnenweihfestspielso erschöpft war, dass ich nicht mehrmit meinen Eltern, die auf mich warteten, Abendessengehen konnte. Diese Aufführung ist aus zweierleiGründen in meiner Erinnerung immer noch lebendig:es war mein erster Parsifal, und er machtemich zum Wagnerianer. Durch das lange Anstellenmusste ich meine Mathematikaufgabe liegend amkalten Steinboden verrichten und zog mir einenBlasenkatarrh samt Harnröhrenentzündung zu –aber was tut man nicht alles für die Oper!Was man von der Oper lernen kann – ich konnte dergebotenen Kürze wegen nur über einige wenigeEreignisse berichten –, dass man in der Liebe leidenmuss. Ohne diese Jahre am Stehplatz der <strong>Wiener</strong><strong>Staatsoper</strong> wäre mein Leben anders verlaufen, wäresicher ärmer und ich hätte nicht den Beruf des Komponistenund Musikmanagers eingeschlagen.Rainer BischofDR. RAINER BISCHOFStudium der Rechtswissenschaft,Philosophie,Kunstgeschichte undKomposition. Neben seinerKomponistentätigkeitbekleidete er zahlreicheLeitungspositionen im<strong>Wiener</strong> Kulturleben, u.a.als Leiter des TheaterundMusikreferates desKulturamtes der StadtWien, Intendant des <strong>Wiener</strong>Musiksommers, Generalsekretärder <strong>Wiener</strong>Symphoniker, Präsidentder Internationalen GustavMahler Gesellschaft.SERIEwww.wiener-staatsoper.at N° 171 19