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Daniel Roth - Zeit Kunstverlag

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<strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>von Michael HüblAusgabe 78Heft 142. Quartal 2007B 26079Eine Edition der<strong>Zeit</strong>verlag BeteiligungsGmbH & Co. KGKünstlerKritisches Lexikon derGegenwartskunst


1 Lost Arms in a Crystal World, 20042-part installationDetail: bw-print110 x 150 cmCourtesy Meyer Riegger (für sämtliche Abbildungen)»... wie die Pillen, die im Blutkreislauf und letztlich im Gehirn ankommen.Man wird zum Echo, zu einer inneren Struktur des Körpers. Oderman sieht: Auch Landschaft ist nur ein Teil der Kultur als Echo desMenschen, als Membran zwischen dem Rationalen und dem Unerklärlichen.Der Unterwelt, dem Inland, dem weissen Rauschen, das unsalle umfängt«.(Dr. Gregor Jansen anlässlich der <strong>Daniel</strong>-<strong>Roth</strong>-Ausstellung Inland in Karlsruhe)


Michael Hüblüber <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>Erfindung ist WahrheitSchächte, Stollen, unergründliche Gänge, die sich im Erdinnerenverlieren: Die Zeichnungen, Objekte und Installationen von<strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong> erinnern manchmal an eine bestimmte Art vonComputerspielen. Man betritt eine menschenleere Landschaft,und das einzige, das einen begleitet, ist das Bewusstsein, esmüsse da ein Geheimnis verborgen sein. Ein winziger Felsvorsprung,ein unscheinbares Stückchen Holz, eine spezielleSchraube in einer gleichmäßigen Reihe gleichartiger Schraubenkönnte den Schlüssel liefern zu einem neuen Abschnitt desSpiels. Hat man die richtige Stelle getroffen, geht ein Tor aufund öffnet den Zugang zu einem – meist unterirdischen – Pfad,auf dem neue ludische Herausforderungen warten. Wie ein Grubenarbeiter,ein Hauer oder ein Mineur gräbt sich der Spieler inein virtuelles Gebirgsmassiv hinein, und es sieht so aus, alswürde er tiefer und tiefer zum Erdkern vorstoßen. Dabei bewegter sich lediglich innerhalb der mathematischen Algorithmen,nach denen diese Produkte aufgebaut sind.Hier liegt ein erster wichtiger Unterschied zu den Arbeiten von<strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>. Bei <strong>Roth</strong> dringt die reale Wirklichkeit ins Bild, undscheint sie noch so abwegig oder absurd zu sein. Da ist etwavon einem Kriegsschiff in einem Park die Rede, von einemSchiffsinnenraum nur wenige hundert Meter entfernt von einerHotellobby, fast so, als sei <strong>Roth</strong> während des Gestaltungsprozessesin einen Phantasy-Roman gerutscht. Aber die Umstände,die der Künstler im Begleittext zu seiner Arbeit beschreibt,basieren auf einer konkreten Situation. Das erwähnte Schiff istdie Puglia, ein Kreuzer aus dem Ersten Weltkrieg, den sich Gabrieled’Annunzio 1923 von der italienischen Marine schenkenließ und dessen vordere Hälfte bald darauf in die ausgedehnteGartenanlage seines Anwesens Vittoriale degli Italiani eingebautwurde. Ein Farbfoto der Puglia, deren Rumpf sich zwischen Zypressenund anderen Gewächsen in die Landschaft reckt, istTeil der Arbeit D’Annunzio - Pension Hohl (2000/2003), und wiemeist bei seinen größeren Arbeiten hat <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong> auch hierunterschiedliche Gestaltungselemente zusammengebracht:Großformatige Zeichnungen, Fotografie, Leuchtschrift, einschwefelgelbes Objekt, das wie ein wuchtiger Sulfatbrocken aneine Wand montiert ist, bilden die Bausteine von D’Annunzio -Pension Hohl. Das real Greifbare wechselt mit visuellen Repräsentationenvon tatsächlichen oder fiktiven Gegebenheiten.Imaginäre WeltenDie Zeichnungen wirken als Bindeglieder zwischen den Realitätsebenen.<strong>Roth</strong> verknüpft in den strikt linear entwickelten Blätternzwei Optionen des graphischen Mediums. Die dokumentarische,positivistisch-exakte Wiedergabe offensichtlicherSachverhalte geht nahtlos über in die andere Seite des Zeichnens– in das freie Entwerfen und in die scheinbar punktgenaueDarstellung imaginärer Welten. So meint man etwa auf einer derD’Annunzio-Zeichnungen Pflanzen, Felsgestein und – sehr abstrahiert– den Rumpf der Puglia wahrzunehmen; alles deutetauf Landschaft und Außenraum, passt aber doch nicht bruchloszusammen, weil sich von oben eine Art Sonde in die Szenesenkt und durch drei Linien der Eindruck eines Innenraums simuliertwird, in dessen Decke sich eine viereckige Luke öffnet.Pforten, Tore, ein Durchlass oder Durchschlupf – das sind stetigwiederkehrende Motive in <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>s Kunst, und die Zeichnungdient dabei als Instrument, um in Bereiche zu gelangen, indenen der logische Zusammenhang außer Kraft gesetzt scheint.Dort, wo das nicht der Fall ist, bleibt zumindest ungewiss, obdas Bild auf Fakten beruht oder ob es bloßer Erfindung entwuchs.Die Spannung zwischen diesen beiden Möglichkeiten wirddurch fotografische Erzeugnisse wie Postkarten, Architekturaufnahmenoder vermeintliche Schnappschüsse aufrecht erhalten,ja aufgeladen. Zusammen mit den Zeichnungen und materiellenObjekten, die <strong>Roth</strong> für seine Installationen verwendet, bilden sieein lockeres Gefüge heterogener Elemente. Die Beziehungenzwischen ihnen bleiben rätselhaft, so dass man vermuten könnte,sie träfen zufällig aufeinander, gleichsam in der methodischenTradition des Comte de Lautréamont und seiner surrealistischenNachfolger. Tatsächlich sind jedoch die einzelnenBausteine der Arbeiten <strong>Roth</strong>s genauestens aufeinander abgestimmt.Dabei dienen die Fotos meist als Schwelle, über dieman auf weiter führende Erkenntniswege und in sich verzweigendeGedankengänge gelangt. So markiert etwa die KombinationD’Annunzio - Pension Hohl nicht nur den Gegensatzzwischen einer banalen Touristenunterkunft und dem quasisakralenLebensraum eines Dichters, der sich selbst als Seher(»Vate«) bezeichnete. Vielmehr bedeutet jede der beiden Aufnahmen,die zu der Arbeit gehören, einen Einstieg in die Geschichtedieser Orte. Dabei stellt sich dann heraus, dass diewerbewirksam aufbereitete Ansichtskarte der Pension Hohl keinenbeliebigen Beherbergungsbetrieb, sondern ein Gebäudeabbildet, das nur rund 200 Meter von d’Annunzios Vittoriale entferntliegt.In einem kleinen Begleittext suggeriert <strong>Roth</strong>, dass die zwei Örtlichkeitendurch einen unterirdischen Gang miteinander verbundenseien. Der Betrachter kann diese Behauptung nicht überprüfen.Was die beiden Orte aber zweifelsfrei verbindet, ist dieGeschichte des industrialisierten 19. Jahrhunderts, ist der Aufbruchin die Moderne, mit dem ein Ausbrechen aus zivilisatorisch-merkantilerEnge und die Suche nach Ursprünglichkeit,Natur und Sommerfrische einhergingen. Gegenden wie derGardasee waren gewissermaßen prädestiniert, diesem BedürfnisBefriedigung zu verschaffen. Das Großbürgertum ließ sich –zurückhaltend oder protzig, prunkvoll oder bescheiden – Villen3


<strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>34 52 Weller Volker, 1998/995-part installationmixed mediaInstallationsansicht Badischer Kunstverein 2007Detail: Aussenansicht / Eingang3 Weller Volker, 1998/995-part installationmixed mediaInstallationsansicht Badischer Kunstverein 2007Detail: Innenansicht4 701XXKA, 20023-part installationmixed mediaInstallationsansicht Badischer Kunstverein 2007Detail: Raum 15 701XXKA, 20023-part installationmixed mediaInstallationsansicht Badischer Kunstverein 2007Detail: Raum 25


auen und akzentuierte damit die Attraktivität einer Landschaft,die dann sowohl für die Familie Hohl aus Davos1 als auch fürden Poeten, Piloten und Politiker Gabriele d’Annunzio Gelegenheitbot, sich in Gardone Riviera zu etablieren.Mit der Postkarte der Pension und dem Farbfoto der Puglia initiiert<strong>Roth</strong> so etwas wie Tiefenbohrungen in den Untergrund derGeschichte. Die Aufnahmen werden zu Auslösern für einen Erkundungsprozess,der immer weiter vorstößt in das Sedimenthistorischer Ereignisse, kultureller Überlieferungen oder gesellschaftlicherOrdnungssysteme.Rhizomartiges Geflecht<strong>Roth</strong>s Arbeiten sind Aufforderungen, in Bereiche jenseits desoberflächlich Bekannten vorzustoßen. Rasch gerät man dabei inein rhizomartiges Geflecht oder Gefüge sozialer, ästhetischeroder politischer Bezüge, Überlagerungen, Querverweise, wiegerade an Gabriele d’Annunzios Vittoriale degli Italiani sichtbarwird. Denn die Geschichte der Anlage erweist sich als ebensoverwinkelt und verwunschen, schillernd und vielschichtig wiedie Arbeiten von <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>. Das beginnt schon damit, dassdie Villa Cargnacco, die der hoch dekorierte d’Annunzio 1921erwarb, um sie nach und nach zum Nukleus des Vittoriale auszugestalten,ursprünglich dem deutschen Kunsthistoriker HenryThode gehört hatte. Thode war nach dem Ende des ErstenWeltkriegs vom italienischen Staat enteignet worden und hattedie gesamte Einrichtung zurücklassen müssen einschließlichdes Flügels von Franz Liszt. Das Musikinstrument war durch<strong>Daniel</strong>a von Bülow in den Haushalt gekommen, der ersten Fraudes Wissenschaftlers. Die wiederum war die älteste Tochter CosimaWagners aus deren Ehe mit dem Dirigenten Hans Guidovon Bülow – kurz: D’Annunzio logierte plötzlich in einem Ambiente,das in einem offenkundigen und materiell greifbaren Bezugzu den Lebensumständen des von ihm verehrten KomponistenRichard Wagner stand2.Setzt man diese Assoziationskette fort, streift sie an einer Stellesogar <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>s Biographie. Der Kunsthistoriker Henry Thodewar nämlich mit dem Maler Hans Thoma befreundet, undüber diesen Künstler ergibt sich gleich zweimal ein indirekterHinweis auf <strong>Roth</strong>s Vita. Beide, Thoma und <strong>Roth</strong>, sind imSchwarzwald geboren, für beide wurde Karlsruhe eine wichtigeStation ihrer Existenz. Es gibt Arbeiten von <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>, in denenderlei Anspielungen auf individuelle Lebensdaten einegrundlegende Position einnehmen. Markantestes Beispiel istTalstadt. Die 1998 erstmals ausgeführte und danach wiederholtvariierte Installation kommt im Werk von <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong> einer programmatischenAusgangsbasis gleich. Den bildlichen Einstiegzu dieser Arbeit bietet eine Luftaufnahme des StädtchensSchramberg, einem Zentrum der Schwarzwälder Uhrenindustrie.Hier ist <strong>Roth</strong> geboren und aufgewachsen. Der Ortsnamebeschreibt die geographische Situation: Das mittelhochdeutscheWort »schram« meint eine lange Wunde, einen Riss, eineFelsspalte. Dieser von dicht bewaldeten Bergen umgebeneLandschaftseinschnitt, auf dessen Grund der Ort Schrambergliegt, bildet die Negativform für die – allemal fiktive – Talstadt.Das Gebiet zwischen den Mittelgebirgszügen ist mit Beton ausgegossen,der nun aber nicht in monolithischer Massivität dasTal ausfüllt, sondern durchzogen wird von weitverzweigten Tunnelsystemen.In einem Text, der Teil der Gesamtinstallation ist,teilt <strong>Roth</strong> mit: »Nachträglich gebohrte Gänge in den Bergenführen unter der Betonoberfläche in einzelne ausgesuchte Häuser«3.»Geisterhafte Existenzen«4 sollen in diesen Kavernen ihr Daseinverbringen. <strong>Roth</strong> greift hier offensichtlich auf Sagen zurück, dieüber einzelne Gegenden des Schwarzwalds kursieren. Nichtselten werden sie touristisch vermarktet, wie etwa am Mummelsee,wo die Ausflügler beim Spazierengehen einem verkleidetenFreizeit-Neptun mit Dreizack, Tang und Krone begegnen können,der sich als »Mummelseekönig« ausgibt. In seiner einleitendenBeschreibung zu Talstadt stellt <strong>Roth</strong> einen ausdrücklichenBezug zu diesen Wasserarealen her, indem er erklärt, manblicke »auf die Betonoberfläche wie auf einen See«5. Dabeikönnte der Mummelsee auch insofern ein Vorbild abgegebenhaben, als die Mär geht, das fischlose Gewässer sei bevölkertvon Wassergeistern. Hans Jakob Christoph von Grimmelshausenhat ihnen in seinem Roman Der Abentheurliche SimplicissimusTeutsch Mitte des 17. Jahrhunderts ein literarisches Denkmalgesetzt. Im V. Buch nimmt er die Mummelsee-Sagen zumAnlass, um über das Wesen des Menschen, über seine Stellungzwischen Gott und Tier zu spekulieren. Er konstruiert hierzu eineBegegnung zwischen seinem Romanhelden und dem Prinzenvom Mummelsee, der den scheinbar tumben Protagonisten unteranderem darüber aufklärt, dass der gesamte Globus kreuzund quer von subterranen, Wasser führenden Verbindungendurchzogen werde; den Seen komme dabei schon deshalb einebesondere Funktion zu, weil durch sie die Meere »gleichsamwie mit Nägeln an die Erde geheftet«6 seien.Ohne sie explizit anzusprechen, nähert sich <strong>Roth</strong> derartigen Geschichtenund schließt sie kurz mit dem <strong>Zeit</strong>alter des World WideWeb und des Cyberspace. Die Häuser im betonschweren Innerender Talstadt, deren Ansichten <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong> alsZeichnungen vorlegt, zeigen so ziemlich alle gängigen Standardsmodernen Bauens. Auffällig sind die Rohre, Kabel, Leitungen,die anscheinend als Schnittstellen zu nicht weiter definiertenVersorgungs- oder Kommunikationsnetzen fungierenund mit bizarren, manchmal biomorphen Formen konkurrieren,die wie Wurzeln oder Gesteinsadern in den Bildraum hineinwachsen.Manchmal schieben sie sich auch wie Stalagmiten6


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<strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>86 Cabrini Green Forest, 20047-part installationmixed mediaDetail: Gefängnishochhaus in Chicago7 Cabrini Green Forest, 20047-part installationmixed mediaDetail: Portal8 Cabrini Green Forest, 20047-part installationmixed mediaDetail: Wandzeichnung9 Cabrini Green Forest, 20047-part installationmixed mediaDetail: Bender-Rieger99


was ist, was denkbar ist, gedacht wurde oder sich im kollektivenGedächtnis ablagerte – diese Grenzen sind so fließend wiedas Element Wasser, das sich als steter motivischer Stromdurch das gesamte Werk des Künstlers zieht. Das beginnt mitTalstadt und dem Bild der – in Beton erstarrten – Überschwemmungund setzt sich fort in einer Arbeit wie Das Linke Bein desOffiziers (2000), als deren Dispositiv <strong>Roth</strong> die Flutung der Tälerzwischen Zürichsee, Walensee und Glarus anführt, oder TheThermal Bath of the Naked Truth (2002), bei der ein Schwimmbassinzum Ursprungsort für die Idee zur Züchtung intelligenterWasserpflanzen wird. Oder Cabrini Green Forest: Dort spricht<strong>Roth</strong> in dem Text, der bei jeder seiner Arbeiten sozusagen dienarrative Initialzündung liefert, von unterirdischen »dunkel gefärbtenFlussläufen und Seen«8, die sich von dem brutalistischenBetonbau (einem Gefängnishochhaus in Downtown Chicago)bis zu einem fehlgeschlagenen Siedlungsprojekt namensCabrini Green erstrecken.Die Installation umfasst unter anderem ein Becken aus Epoxidharz,das mit fast schwarzem Wasser gefüllt ist. Es stellt densymbolischen Einstieg in die ansonsten abgeschotteten geheimnisvollenLandschaften von Cabrini Green Forest dar. Ganzallgemein betrachtet ist es ein Symbol für einen folgenschwerenÜbergang, und in diesem Sinn hat <strong>Roth</strong> das Wasserbecken beimehreren Ausstellungsgelegenheiten verwendet. Nicht zuletztmit der Installation River Styx (2005), einer Variante der Cabrini-Green-Arbeit, hat er kenntlich gemacht, dass dieser Übergangals ein Schritt von existenzieller Tragweite zu verstehen ist. Wiederbildet das Metropolitan Correctional Center Chicago einender beiden Endpunkte eines düsteren Gewässers, dessen unterirdischerVerlauf sich diesmal bis zu einer Insel im Pazifik erstreckt.Hier gibt der Titel einen eindeutigen Hinweis auf diegriechische Mythologie, der sofort die Wahrnehmung der einzelnenInstallationskomponenten beeinflusst: Das Becken mit demundurchdringlich dunklen Wasserspiegel, die Fotos von Bohrlöchern,finsteren Einstiegsöffnungen im nackten Gestein oderdie romantisch anmutenden Aufnahmen gischtumsprühter Felsenim Meer lassen sich mit dem Styx assoziieren, den Charonmit seinem Kahn überquert, um die Verstorbenen in den Hades,das Reich der Toten, zu bringen.Direkt und unmissverständlich wird mit River Styx ein Momentangesprochen, das durch die stille Poesie der Installationenleicht übersehen wird. Unterschwellig ist in <strong>Roth</strong>s Arbeiten oftgenug von den Schattenseiten des Daseins, von Elend und Entfremdung,von Katastrophen und Tod die Rede. Mitunter nennter die Ereignisse unverhohlen beim Namen: Wie die Leichen derMafia vorbeitreiben (E-Werk) (1999) heißt eine frühe Arbeit von<strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>, der häufig in den Texten zu seinen Installationeneinschlägige Informationen parat hält: Bergsturz (1999) ist aufden Schweizer Ort Glarus bezogen, der durch einen Bergsturzverschüttet wurde und den <strong>Roth</strong> imaginär mit den Plitvicer Seenverbindet, wodurch er in Erinnerung ruft, dass dieses Naturschutzgebiet1991 Schauplatz eines Schusswechsels zwischenSerben und Kroaten war, der zum Auslöser des jugoslawischenBürgerkriegs wurde; Die Stimme (2004) geht von einem Feldpostbriefaus, dem <strong>Roth</strong> die Fotos eines Erdlochs und zweierlanger, aus dem Gestein gehauener Passagen zuordnet und zudem er anmerkt: »Nachrichten der oft kaum mehr zu entzifferndenFeldpostbriefe aus dem Ersten und Zweiten Weltkrieg sindStimmen gefallener, verschollener oder unbekannter Soldaten,die aus Bombentrichtern Gedankengebäude erwachsenlassen«9. In beiden Fällen – in Bergsturz wie in der Arbeit DieStimme – liegt das Geschehen in der Vergangenheit und ist lediglichdurch Spuren oder historische Relikte präsent. Bei Palace(2005), einer Installation, die ebenfalls das Thema Todberührt, dauert die Katastrophe an. Hier wird die texanischeStadt Dallas als ein urbanes Gebilde beschrieben, das unter einerdicken Eisschicht eingefroren ist.Verborgenes NetzwerkBei Palace – der Titel klingt wie eine lautmalerische Assonanz aufDallas – hat <strong>Roth</strong> auf die ausdrückliche Erwähnung eines verborgenenNetzwerks aus Gängen, Röhren oder Flussläufen verzichtet.Man kann diesen Verzicht als Ausdruck für Endgültigkeit deuten:Es gibt hier keinen, auch keinen gedanklichen Ausweg mehr,während ansonsten die doppelte Realität aus einer oberirdischenund einer unterirdischen Welt offen lässt, welche von beiden nundas eigentliche Dasein darstellt. Es wird da keine Entscheidunggefällt, aber es wird auch keine platonische Hierarchie zwischenGeist und Materie oder ein romantischer Gegensatz zwischen Innenweltund Außenwelt aufgebaut. Das wesentliche Paradigmader Arbeiten von <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong> besteht gerade darin, dass zwarzwischen innen und außen, sichtbar und unsichtbar unterschiedenwird, dass aber diese Zustände nicht wirklich voneinandergetrennt sind. Insofern ist es bemerkenswert, dass <strong>Roth</strong> bei einerArbeit ausgerechnet den Styx ins Spiel bringt: Markiert er docheine zentrale Stelle im Mythos von Orpheus und Eurydike.Unterirdische BereicheHier trifft sich die antike Überlieferung mit der gänzlich gegenwartsnahenkünstlerischen Praxis von <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>. Das griechisch-römischeAltertum ist nicht seine erste Inspirationsquelle.Weitaus mehr Einfluss hatte auf ihn der Film; vor allem dieProduktionen des Regisseurs David Lynch mit ihren kruden Verschmelzungenaus entfesselter Phantasie und postindustriellerTrostlosigkeit bilden Bezugsgrößen für sein Werk. Die Analogiezum Orpheus-Mythos liegt im Außerkraftsetzen des Status quomittels der Kunst. Die Kunst ist das Vehikel, um in jene (unterirdischen,endokrinen, tiefenpsychologischen) Bereiche vorzu-10


<strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>dringen, die dem gewöhnlichen, dem alltäglichen, dem »normalen«Blick verborgen bleiben. Sie fördert das Abseitige und Bedrohlichezutage, das unter den Oberflächen der äußeren Realitätsein zähes Residuum hat. So wurde denn auch in <strong>Roth</strong>sInstallationen eine »nach-apokalyptische Welt«10 erkannt. Allerdingslässt sich gar nicht genau feststellen, ob die Apokalypsebereits eingetreten ist oder ob sie noch bevorsteht.<strong>Roth</strong> hält auch hierin die Waage. Er ist kein Wissenschaftler, erist Künstler. Und obschon er mit unbeirrter Exaktheit vorgeht,stellt er doch keine Messreihen oder Statistiken auf, sondernsetzt eher auf die Maske des Narren. Auf der formalen Seite hält<strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong> sein Werk »nüchtern, streng, distanziert, kalkuliert«11,aber die Situationen, die er inszeniert, und die Figuren,die er aufführt, liegen oder agieren in den Grauzonen des irrationalenRaunens, des Traumes und der pataphysischen Spekulation.Das geht so weit, dass <strong>Roth</strong> selbst der Part eines Mediumszugeschrieben wird, »wie wenn auf den Künstler eine Art Vorsehungeinwirkte, die in der Lage ist, mit perfekter Klarheit denVerlauf seiner Vorstellungen zu leiten«12. Unbeschadet solcherVermutungen gilt, dass <strong>Roth</strong> mit seiner künstlerischen Arbeitjust dort ansetzt, wo die Gesetze der Logik ausgebootet, alleRegeln ausgehebelt und sämtliche Regulierungen aufgehobensind, wo das Magische möglich scheint und das Manische zudessen Boten wird.Diese elementare Entgrenzung, diese akribisch aufrecht erhalteneDissoziation findet ihre Personifizierung in ambivalenten Figuren.Das kann der fiktive Diplomat Dr. h.c. Edmund F. Dräcker13sein, ein Phantom aus der Kategorie Wissenschaftlicher Witz,dem <strong>Roth</strong> mit seiner Installation Die <strong>Zeit</strong>passagen des Dr.Dräcker – in den Höhlen des schwarzen Staubes (2002/ 2003)frische Lebensimpulse verliehen hat, doch auch der Narro, einein Schramberg beheimatete Gestalt der alemannischen Fasnet,kommt als Grenzgänger zwischen den Welten in Frage. <strong>Roth</strong> hateine Larve des Narro in seine Arbeit Town hidden under Concrete– Passageway (2006), eine Abwandlung der Talstadt, integriert.Die holzgeschnitzten Züge dieser Narrenmaske sind genaufestgelegt. Ein Traditionsverein wacht über die Einhaltungder Vorschriften, damit die starre, erstarrte Identität unangetastetbleibt. Aber – und das macht <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong> in seinem gesamtenWerk deutlich: Man kann nie sicher sein, ob nicht sogar hinterden festesten Gewissheiten Energien fließen, die sich (noch)der Wahrnehmung entziehen. Zu <strong>Roth</strong>s Installation Town hiddenunder Concrete – Passageway gehört die Fotografie eines Mannes,der die Narro-Larve – wie ein Grubenarbeiter seinen Atemschutz– nach oben geschoben hat. Das Foto könnte ein Symbolsein: Mit seiner Kunst zieht <strong>Roth</strong> der Gegenwart die Maskevom Gesicht. Und stülpt sie ihr wieder über, damit sie, die aktuelleWirklichkeit, sich auf sich selbst besinnt.Anmerkungen1 Zur Geschichte der Pension Holt, heute HotelVilla Sofia, s. www.lagodigardamagazine.com,hier: Stand 27.02.2007.2 Thodes zweite Frau, die dänische Musikerin HertaTegner, bemühte sich später um Restitutionder Einrichtung; sie erhielt schließlich nach einerIntervention Adolf Hitlers den Flügel zurück. S.Piero Chiara Vita di Gabriele d’Annunzio, Mailand21981, S. 379.3 Claus Hüppe-Stiftung in Zusammenarbeit mitder Stadt Oldenburg (Hg.): <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>. Katalogzur Ausstellung im Horst-Janssen-Museum Oldenburg,Oldenburg 2005, S. 18.4 ebenda5 ebenda6 Hans Jakob Christoph von Grimmelshausen Derabenteuerliche Simplicissimus Teutsch, V. Buch,12. Kapitel, zit. nach der Ausgabe Stuttgart 1986(= Reclam Universal- Bibliothek Bd. 761), S. 516.7 <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>. Black Dust Passages. Katalog zurAusstellung im Museum der bildenden KünsteLeipzig, Leipzig 2003, S. 44.8 Hüppe-Stiftung (Hg.), <strong>Roth</strong>, a.a.O., S. 56.9 ebenda, S. 50.10 »In <strong>Roth</strong>’s post-apocalyptic world, the borderbetween the imaginary and real, the psychologicaland physical, is blurred;« - Suzanne Weaver,Faltblatt zur Ausstellung im Dallas Museum ofArt 2005.11 Noemi Smolik: <strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>, in: Kunstforum International,Bd. 145, Ruppichteroth 1999, S. 367-368, hier S. 368.12 »...come se sull’artista agisse una specie di preveggenzain grado di guidare con perfetta luciditàil tracciato della sua visione.« - Luca Cerizza:<strong>Daniel</strong> <strong>Roth</strong>: mappare l’invisibile, in: <strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>, Lugano 2006, S. 59-75, hier S. 69.13 s. hierzu Karl Günther von Hase und JohannesMarre (Hg.): Ministerialdirigent a.D. Dr. H.c. EdmundF. (Friedemann) Dräcker, Baden-Baden22000.FotonachweisCoverThomas RieggerDie Installationsansichten im BadischenKunstverein Karlsruhe stammen von Heinz Pelz.Das Abbildungsmaterial wurde uns freundlicherweisevon der Galerie Meyer Riegger in Karlsruhezur Verfügung gestellt.Michael Hübl, geboren 1955,studierte Kunst, Kunstgeschichteund Germanistik an der KunstakademieKarlsruhe und an den UniversitätenHeidelberg, Karlsruheund Hamburg. Seit 1981 zahlreicheTexte zur Kunst der Gegenwart.Leiter des Kulturressorts derBadischen Neuesten Nachrichten.11


1010 The Well, 2006mixed media installationdimensions variableInstallationsansicht South London Gallery11 The Well, 2006mixed media installationdimensions variableInstallationsansicht South London GalleryDetail: Stadtkarte The lost rivers and wells in London12 The Well, 2006mixed media installationdimensions variableInstallationsansicht South London GalleryDetail: Wandzeichnung und Rohr1113 The Well, 2006mixed media installationdimensions variableInstallationsansicht South London GalleryDetail: Torfarchitektur12


<strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>121313


Kurzer Chat zur KunstEs kommunizieren Michael Hübl und <strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>M.H.: Die banalste aller Fragen ist vielleicht diewichtigste - wie fing es bei Ihnen an mit derKunst? Wann, warum oder wie fiel die Entscheidung,Künstler zu werden?D.R.: Als Kind habe ich immer viel gemalt, vorallem mit meinem Vater zusammen.Irgendwann wollte ich Linksaußen und Försterwerden.Mit 16 Jahren träumte ich dann von einem Lebenals informeller Maler.Glücklicherweise bekam ich einen Studienplatzan der Akademie in Karlsruhe und konnte ab '91bei Harald Klingelhöller studieren.Meine erste Einzelausstellung hatte ich ´96 beiThomas Riegger in seinem Wohnzimmer in derBernhardstrasse.Ohne die handwerkliche Unterstützung vonFreunden wäre das Projekt wohl in die Hosengegangen. So wurde dann ein 70 cm hoherdoppelter Boden eingezogen. Im hinteren Teilder Installation war ein Ausstieg eingelassen,ähnlich einer Falltüre. Ich musste dabei an eineFalltür im »Oberwirtshäusle« denken und wieder Wirt beim Hinabsteigen hinter dem Tresenverschwindet.Kurz nach dem Studium ´98 kam es zu einer erstenAusstellung bei Meyer Riegger, für die ichdas erste »Storyboard« entwickelt hatte. Die Arbeitheisst Talstadt unter Beton / Weller Volkerund bezieht sich auf einen unter Beton versiegeltenOrt. Diese Arbeit war der Ausgangspunktfür andere Gedankenmodelle, die ihren Ursprungmeist in realen Landschaften oder Architekturenfinden. So entsteht eine sich immerweiter ausdehnende fiktive Landkarte, die sicheiner Imagination folgend über die Welt legt. DieTalstadt unter Beton bezeichnet für mich eineArt Matrix, einen Ort, an den ich immer wiedergedanklich und physisch zurückkehren kann.M.H.: In Texten zu ihrem Werk wird wiederholtauf den Film und insbesondere auf David Lynchhingewiesen. In Ihrer Arbeit für den BadischenKunstverein nehmen Sie sogar direkt auf Eraserhead,Lynchs ersten Langfilm, Bezug. Wardieses Interesse immer schon da oder hat essich erst mit Ihrem Werk entwickelt?D.R.: Es gibt so etwas wie eine fiktive Gesellschaftfür mich, ein grosser Tisch mit leerenStühlen.Einer davon ist sicher für Lynch reserviert. Vorkurzem habe ich »Lynch über Lynch« gelesen,ein Interviewband im Verlag der Autoren erschienen.Vieles was er gesagt hat war mir vertrautund ich habe es sehr gern gelesen.Was ich an seinen Filmen mag ist, dass es keinelineare Handlung gibt, der Begriff <strong>Zeit</strong> istschwer fassbar, es ist als würde man sich imKreis drehen. Als ich einen Holzkörper für eineneue Arbeit entwickelt habe, einen Raumteilermit eng aneinander geleimten Holzleisten,musste ich im Nachhinein an David Lynch denken.Der Holzkörper und seine Schattenfugensind für mich wie die Falten eines grossen Kinovorhangs,oder wie die Zwischenräume einesHeizkörpers, von denen man magisch angezogenwird, weil ein dahinter liegender Raumvorstellbar ist. Die Erinnerung an einen Filmkann etwas Zeichenhaftes haben, das mich inspiriert.M.H.: Sprache spielt eine wichtige Rolle innerhalbIhrer Installationen. War sie von Anfang an14


<strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>Teil der künstlerischen Praxis oder kam sie erstnach einer Weile hinzu - vielleicht weil man denvisuellen Medien allein nicht trauen kann?D.R.: Im Moment habe ich das Gefühl, dass ichauf geschriebene Texte mehr und mehr verzichtenwerde. Die Texte haben bisher wie Skizzenfunktioniert, wie erste schriftliche Hinweise aufdie Entwicklung einer Szene, die manchmal fürKatalogbeiträge benutzt wurden.Der Einstieg kann zukünftig abstrakter werden.Ich habe da so ein Bild im Kopf, wie die Atmosphäreeiner Geschichte, ähnlich einem Gas, dasaus einer Erdbox strömt, sich im Raum ausbreitetund wieder in einer Kiste verschwindet.KünstlerKritisches Lexikon derGegenwartskunsterscheint viermal jährlich mit insgesamt28 Künstlermonografien auf über 500 Text- undBild-Seiten und kostet im Jahresabonnementeinschl. Sammelordner und Schuber € 148,–,im Ausland € 158,–, frei Haus.www.weltkunst.dePostanschrift für Verlag und Redaktion<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KGNymphenburger Straße 84D-80636 MünchenTel. 0 89/12 69 90-0 · Fax 0 89/12 69 90-11Bankkonto: Commerzbank StuttgartKonto-Nr. 525 55 34, BLZ 600 400 71›Künstler‹ erscheint in der<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KGGründungsherausgeberDr. Detlef BluemlerProf. Lothar Romain †RedaktionHans-Joachim MüllerDokumentationAndreas GrönerGeschäftsführerDr. Rainer EsserVerlagsleiterBoris Alexander KühnleGrafikMichael MüllerAbonnement und Leserservice<strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KGNymphenburger Straße 84 · Postfach 19 09 18D-80609 MünchenTel. 0 89/12 69 90-0›Künstler‹ ist auch über denBuchhandel erhältlichPrepressFranzis print & media GmbH,MünchenDruckAumüller Druck KG,RegensburgDie Publikation und alle in ihrenthaltenen Beiträge und Abbildungensind urheberrechtlich geschützt. JedeVerwertung, die nicht ausdrücklich vomUrheberrechtsgesetz zugelassen ist,bedarf der vorherigen Zustimmung desVerlages. Dies gilt insbesondere fürVervielfältigungen, Bearbeitungen,Übersetzungen, Mikroverfilmungen unddie Einspeicherung und Verarbeitungin elektronischen Systemen.© <strong>Zeit</strong>verlag Beteiligungs GmbH & Co. KG,München 2007ISSN 0934-173015


<strong>Daniel</strong><strong>Roth</strong>1415 1614 A History of Echoes of Places, 20079-part installationmixed mediaInstallationsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe 200715 A Historyf of Echoes of Places, 20079-part installationmixed mediaInstallationsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe 2007Detail: Pillen16 A Historyf of Echoes of Places, 20079-part installationmixed mediaInstallationsansicht Badischer Kunstverein Karlsruhe 2007Detail: Erdbox16

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