08 Titel»Nimm dir verdammtnoch mal die Zeit!«Der Lebenslauf ist längst Statussymbol. Die Dauer des Studiums spielt dabeieine tragende Rolle – angeblich zumindest. Sollte uns das kümmern? TychoSchildbach und Katharina Fiedler haben mit einem Langzeit – und einemTurbostudenten über Sinn und Unsinn ihrer Studiengestaltung diskutiert.Filip Tuma (30) schreibtnach 13 Semestern seine Magisterarbeitin Sinologie. AlsNebenfächer studierte er Musikwissenschaftund Politikwissenschaft.Zusätzlich lernte erChinesisch und war journalistischtätig. Filip war anderthalbJahre während des Studiumsim Ausland, in Shanghai undParis. Er finanziert sich durchNebenjobs.Christoph Schaller (22),genannt Chris, steht nachsieben Semestern vor seinerMasterarbeit in Mathematik.Nach zwei Jahren Studiumhatte er schon den Bachelorin der Tasche. Nebenbeistudierte Chris vier SemesterVollzeit Physik, weil Mathe ihnnicht genug forderte. Jetzt willer promovieren. Geld verdientChris unter anderem als Tutor.<strong>FURIOS</strong>: Was ist für euch der Wert desStudiums?Chris: Selbstfindung. (lacht)<strong>FURIOS</strong>: Dafür hast du Zeit?Chris: Ja, das geht schon. Im Studium kannman vieles tun, was man später nicht mehrmachen kann.Filip: Betreibst du Selbstfindung als Hobbyoder im Studium?Chris: Ich bin kein Mensch, der darin aufgehtnur zu studieren. Ich bin im Fußballvereinund spiele außerdem zwei Instrumente.Selbstfindung betreibe ich also nebenher.<strong>FURIOS</strong>: Deine Einstellung zum Studiumist also eher pragmatisch.Chris: Ja. Ich wusste schon nach dem Abi,dass ich Mathe studieren und promovierenmöchte.Filip: Mit 21, als du deinen Mathe-Bachelorhattest, habe ich mein erstes Studium,Informatik, abgebrochen und nach einemNeustart gesucht. Ich würde niemandenverurteilen, der sich die Zeit nicht nimmt, umeine Entscheidung zu treffen. Ich habe siegebraucht, also habe ich sie mir genommen.<strong>FURIOS</strong>: Die Frage ist, wie Arbeitgeberüber Studierende urteilen, die länger brauchenals vorgeschrieben ist. Wie schätzt ihreure Chancen auf dem Arbeitsmarkt ein?Filip: Der Punkt ist, dass wir uns nicht nurauf die bekannten Arbeitgeber konzentrierendürfen. Deshalb mache ich mir generellkeine Sorgen, wenn ich bereit bin, ein bisschenüber den Tellerrand zu schauen.Chris: Es ist nicht so, dass ich denke, ichwäre der Beste und mich würde jeder nehmen.Ehrlich gesagt mache ich mir darüber
Titel09nicht wirklich Gedanken. Aber hast du nichtAngst, als Arbeitnehmer unattraktiver zusein, weil du lange studiert hast?Filip: Nein. (lacht) Aber ich hatte natürlichdiese Ängste.Chris: Die hast du wieder abgelegt?Filip: Der Lebenslauf bringt dich wirklichnur bis ins Personalbüro. Bei allem danachkommt es auf dich an und nicht auf deinenCV. Die Arbeitgeber wollen wissen, ob dudie Arbeit machen kannst.Chris: Aber gerade wenn es um eine Beförderunggeht, schaut der Personalbereichnoch mal drüber.<strong>FURIOS</strong>: Also legst du großen Wert auf einenlückenlosen Lebenslauf?Chris: Nein, aber ich denke, es hat Vorteile.Es ist nicht der alles entscheidende Faktor,aber viele Unternehmen checken bei Bewerbungenerst einmal den Standardlebenslaufauf Regelstudienzeit und Auslandssemester.Filip: Nach diesem Schema wirst du nichtdie besten Mitarbeiter finden. Aber da diePersonalabteilungen der großen Unternehmengenau so arbeiten, poliert jeder seinenLebenslauf auf. Tätigkeiten werden danachausgewählt, wie sie sich im CV machen.Wenn das jeder macht, verliert der Lebenslaufan Wert und an dem Punkt sind wirschon längst.<strong>FURIOS</strong>: Der Lebenslauf ist also ein Statussymbol?Filip: Ja, genau.Chris: Da ist schon was dran.<strong>FURIOS</strong>: Wir studieren an einer staatlichenUni. Kannst du, Filip, den Vorwurf nachvollziehen,dass du so lange Zeit auf Kosten derSteuerzahler studiert hast?»Der Lebenslaufbringt dich nur bisins Personalbüro«Filip: Das ist die Art von Propaganda, mitder die Bologna-Reform begründet wurde.Ich bin noch keine produktive Kraft dieserGesellschaft. Aber was ist der Aufwand, dender Staat und die Uni haben, dass ich mich inSeminare setze? Die müssen die Gebäude inStand halten und die nutze ich. Aber das hättensie auch getan, wenn ich nicht hier wäre.Chris: Wenn das jetzt aber jeder sagt, funktioniertdas System nicht.Filip: Wir bemessen das Studium heuteausschließlich nach den potenziellen Produktivkräften:Welche Kosten ersparen wir derGesellschaft? Was dabei völlig außer Achtgelassen wird, sind die Gedanken, die hierausgetauscht werden.»Das Systemfunktioniert nicht,wenn jeder solange studiert«Chris: Ich bleibe dabei: Nicht jeder kann esso machen wie du.Filip: Ich habe den Eindruck, dass da einunglaublicher Bruch zwischen unseren Generationenist, was die Gesellschaft voneinem erwartet. Jede Sekunde, die du längerStudent bist, giltst du als Schmarotzer.Ich bin hier, um mich ernsthaft mit Themenauseinanderzusetzen, die ich nicht in einemSechssemesterstudium lösen kann.Chris: Man kann sich auch drei Jahre mitirgendwas auseinandersetzen und nicht sehrproduktiv dabei sein.Filip: Wenn es dir um Produktivkraft geht,mach’ eine handwerkliche Ausbildung. Mangeht nur noch an die Uni, um einen Schein zuhaben, wo »Universität« draufsteht.<strong>FURIOS</strong>: Hat bei dir vielleicht auch Bequemlichkeiteine Rolle gespielt?Filip: (lacht) Das Problem ist, obwohl wirnoch unser ganzes Leben vor uns haben,wird uns suggeriert, den perfekten Lebenslaufhaben zu müssen: eine fröhliche Familie,Auslandserfahrung, einen super Job undfünf Hobbys – das ist der Anspruch heute.Irgendwann muss man sich entscheiden.Chris: Man kann doch mehrere Dingegleichzeitig machen. Ich wäre nicht zufriedendamit, weniger als 30 Leistungspunkteim Semester zu machen.<strong>FURIOS</strong>: Du bist aber auch ein Stressjunkie!Chris: (lacht) Ich stehe da überhaupt nichtdrauf. Wie kann einem Stress Spaß machen?Ich bin total happy, wenn ich etwas geschaffthabe.<strong>FURIOS</strong>: Aber du rennst von einem Erfolgzum nächsten, weil dich das so glücklichmacht?Chris: (lacht) Nein, nein, nein! Ich findeStress doof! Trotzdem schiebe ich keine Aufgabenvor mir her. So ein Wischiwaschi istfür mich keine Option.Filip: Aber wenn du alles gleichzeitigmachst, leidet irgendwann die Qualität. Abeiner gewissen Belastung kannst du einfachnicht das Ergebnis abliefern, das du möchtest.Chris: Das ist echt der Kernunterschiedzwischen uns. Für dich ist es der Anspruch,etwas qualitativ Hochwertiges zu machen.Ich hingegen will Ziele sofort durchsetzen.Ich denke schon, dass die Qualität mitunterleidet. Manchmal finde ich es schade, nichtdie Zeit zu haben, noch weiter in die Tiefezu gehen.Filip: Aber da sag’ ich dir ganz offen: Du bist22 – nimm dir verdammt noch mal die Zeit!Chris: Wenn ich alles mache, was mich interessiert,würde ich nicht fertig werden. Fürmich ist es kein erstrebenswertes Ziel ewigzu studieren. Das passt nicht in mein Gesellschaftsbild.»Selbstzweifelsind für mich eineSchwäche«<strong>FURIOS</strong>: Gab es Momente, in der ihr euerStudienkonzept in Frage gestellt habt?Chris: Nö.Filip: Keine Zeit für Selbstzweifel?Chris: Natürlich nicht. Selbstzweifel sind fürmich eine Schwäche.Filip: Polemisch gesagt: Deine Generationist nicht mehr in der Lage, Zweifel auszuhalten.Ich war nicht immer von dem überzeugt,was ich tue. Aber gerade das bringtdich voran. Ich bin aus solchen Phasen immergestärkt hervorgegangen.Fotos: Christoph SpiegelTycho Schildbach hält KatharinaFiedlers Lebenslauffür den Porsche unterden CVs, seinen eigenenfür einen bunten Trabi.Die Diskussion läuft.