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passagen - Pro Helvetia

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Die verschwisterten Republiken<br />

Was denken Amerikaner über die Schweiz?<br />

Alfred Defago<br />

Das Interesse Amerikas an Europa sinkt. Doch Gemeinsamkeiten – auch im Falle der Schweiz – bleiben bestehen.<br />

Entstehen auch neue? Alfred Defago auf der Suche nach einer transatlantischen Balance ❙<br />

Der Lapsus: Es war am 14. Mai 1997. Pünktlich<br />

um 14.30 fuhr eine schwarze Stretch-Limousine<br />

des US-Aussenministeriums samt Polizeieskorte<br />

mit Blaulicht vor der Residenz des Schweizer Botschafters<br />

in Washington vor. Meine Frau und ich<br />

sollten zur offiziellen Übergabe des Beglaubigungsschreibens<br />

an Präsident Clinton im Weissen<br />

Haus abgeholt werden. Alles hatte das amerikanische<br />

<strong>Pro</strong>tokoll detailliert vorbereitet, der Ablauf<br />

war auf die Minute genau geplant. Nach dem protokollarisch<br />

vorgesehenen ‹Small Talk› mit zwei<br />

Vertretern des Staatsdepartements in unserer Residenz<br />

war die Abfahrt auf 14.45 festgesetzt. Doch<br />

als wir auf die Limousine zugingen, passierte es:<br />

«Ich glaube, da stimmt was nicht», flüsterte mir meine<br />

Frau zu und zeigte mit den Augen diskret auf<br />

die Kühlerhaube der langezogenen Limousine des<br />

State Department. Und in der Tat: Da prangte sie,<br />

die Nationalflagge mit dem weissen Kreuz im rotem<br />

Feld. Doch leider war es nicht die schweizerische,<br />

sondern unverkennbar die dänische Flagge,<br />

der Danebrog, den die Amerikaner hier aufgepflanzt<br />

hatten. Als wir unsere Beobachtung dem<br />

mitfahrenden amerikanischen <strong>Pro</strong>tokollbeamten<br />

mitteilten, setzte es zuerst ein betretenes Schweigen<br />

ab. Dann ein verzweifeltes «Oh my god!» sowie<br />

ein nervöses Telefongespräch mit dem <strong>Pro</strong>tokolldienst<br />

des Staatsdepartements. Wir fuhren<br />

schliesslich ab, mit der dänischen Flagge. Doch sie<br />

wurde eine Meile vor dem Weissen Haus durch<br />

eine schweizerische ersetzt, die ein Polizeifahrzeug<br />

eilends aus dem Aussenministerium herbeigeschafft<br />

hatte. Als wir endlich an der Ehrengarde<br />

vorbei beim Portal des Weissen Hauses<br />

vorfuhren, war es das Schweizerkreuz im roten<br />

Feld, das im Wind munter und gut sichtbar flatterte.<br />

Ich habe diese Episode wohlweislich erst einige<br />

Jahre nach dem Vorfall zu erzählen begonnen. Im<br />

Mai 1997, als die Wogen über die Rolle der Schweiz<br />

im 2. Weltkrieg bei uns hochgingen, wäre ein solcher<br />

Lapsus in der Schweiz zum explosiven Politikum<br />

geworden. Dies umso mehr, als die Vorfahrt<br />

vor dem Weissen Haus von einem Team des<br />

Schweizer Fernsehens für die Tagesschau gefilmt<br />

wurde.<br />

Schweizer, denen ich diese kleine Geschichte später<br />

erzählt habe, reagierten meist mit Kopfschütteln.<br />

Der Vorfall erschien ihnen ‹typisch amerikanisch›,<br />

d.h. als ein klares Indiz für amerikanische<br />

Arroganz, Ignoranz und letztlich das Fehlen jeglicher<br />

Sensibilität gegenüber der Aussenwelt. Wie<br />

kann man nur die dänische mit der schweizerischen<br />

Flagge verwechseln? Doch damit nicht genug.<br />

Gleich mehrere Male habe ich mit meinem<br />

schwedischen Amtskollegen in Washington Briefe<br />

ausgetauscht, die von amerikanischen Absendern,<br />

darunter auch Senatoren und Kongressabgeordneten,<br />

offensichtlich an den ‹falschen› der beiden<br />

Botschafter gesandt worden waren.<br />

Ein klares Schweiz-Bild gibt es in den USA nicht:<br />

Wer über das amerikanisch-schweizerische Verhältnis<br />

schreiben oder reden soll, tut gut daran,<br />

sich dieser Episoden zu erinnern. Zwar gibt es<br />

sie, die Schweiz-Kenner in der Neuen Welt. In der<br />

Wirtschaft, der Politik und selbstverständlich an<br />

den vielen erstklassigen Universitäten des Landes.<br />

Da kann man denn in der Tat nur staunen, wenn<br />

etwa an der University of Wisconsin-Madison regelmässig<br />

Vorlesungen über Frauenliteratur in<br />

der Westschweiz des 20. Jahrhunderts oder – an<br />

gleich mehreren Top-Instituten – Seminare über<br />

das politische Konsens-System in der schweizeri-<br />

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