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GESUNDHEITSZENTRUM UNO-CITY - setzer verlag

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PAUL-WATZLAWICK-EHRENRING DER ÄRZTEKAMMER FÜR WIEN 2009<br />

Auf dem Weg zu einer europäischen Gedächtniskultur<br />

Im Zuge der „Wiener Vorlesungen“ erhielt die deutsche Kulturwissenschafterin Aleida Assmann am 30. März 2009 im Wiener Rathaus<br />

den von der Wiener Ärztekammer gestifteten Paul-Watzlawick-Ehrenring 2009. Der Preis wird an Menschen verliehen, die sich für den<br />

Diskurs zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen sowie um die Humanisierung der Welt verdient gemacht haben. Er ist eine Hommage<br />

an den großen – 2007 verstorbenen – Kommunikationstheoretiker Paul Watzlawick, der unter anderem durch seine Publikationen<br />

„Anleitung zum Unglücklichsein“ und „Wie wirklich ist die Wirklichkeit?“ Bekanntheit erlangte. Im Rahmen der Preisverleihung hielt<br />

Assmann einen Vortrag zum Thema „Auf dem Weg zu einer europäischen Erinnerungskultur“. doktorinwien bringt Auszüge aus diesem<br />

Vortrag.<br />

Europa und die Nationen<br />

Vor 130 Jahren machte sich der französische Philosoph<br />

Ernest Renan Gedanken über die Zukunft<br />

des Nationalstaats. Dabei kam er zu dem Ergebnis:<br />

„Die Nationen sind nichts Ewiges. Sie haben<br />

einmal begonnen, sie werden einmal enden. Die<br />

europäische Konföderation wird sie wahrscheinlich<br />

ablösen.“ 1<br />

Heute nach annähend 60 Jahren Geschichte der<br />

europäischen Konföderation müssen wir Renan<br />

Recht geben, aber nicht uneingeschränkt. Die Nationalstaaten<br />

haben sich nicht aufgelöst; sie sind,<br />

wie man auf englisch sagt, „alive and kicking“. Es<br />

gibt sogar Stimmen wie die von Tony Judt, die wieder<br />

auf die Nationalstaaten setzen und der EU keine<br />

Zukunftschancen einräumen. Das Buch dieses<br />

Europessimisten, wie er sich selbst tituliert, trägt<br />

den Titel: „Große Illusion Europa“ 2 .<br />

Renan sprach 1882 noch in der ihm verfügbaren<br />

Sprache des 19. Jahrhunderts von einer „Seele“<br />

der Nation, aber auch bereits von einer Erinnerungs-<br />

(und Vergessens-)Gemeinschaft: „Was die<br />

Nation ausmacht, ist der gemeinsame Besitz eines<br />

reichen Erbes von Erinnerungen 3 “. Der Inbegriff<br />

eines solchen die einzelnen Regionen des Landes<br />

und seine Bewohner miteinander verbindenden<br />

symbolischen Vorstellungsgehalts ist ein nationaler<br />

Mythos.<br />

Dieser Mythos kann ebenso auf die Vergangenheit<br />

gegründet wie auf die Zukunft ausgerichtet sein.<br />

Der Literaturkritiker Leslie Fiedler hat zum Beispiel<br />

betont, dass die amerikanische Nation im<br />

Gegensatz zu der englischen oder französischen<br />

nicht durch ein gemeinsames Erbe, sondern<br />

durch einen gemeinsamen Traum zusammengehalten<br />

wird. „Als Amerikaner“, so drückte er sich<br />

aus, „sind wir Bewohner einer gemeinsamen Utopie<br />

und nicht einer gemeinsamen Geschichte“. 4<br />

Die Europäer, so könnte man mit Fiedler weiterdenken,<br />

sind beides: Bewohner einer gemeinsamen<br />

Utopie und einer gemeinsamen Geschichte.<br />

In Europa ist beides untrennbar miteinander ver-<br />

6 5|09<br />

bunden. Der amerikanische Traum besteht bekanntlich<br />

darin, dass ein jeder, eine jede, es in<br />

der Gesellschaft ohne Ansehen der Person, ihrer<br />

Klasse, ihres Geschlechts oder ihrer Rasse zu etwas<br />

bringen kann. Mit Barak Hussein Obama,<br />

dem 44. Präsidenten der Vereinigten Staaten, ist<br />

dieser Traum in eindrucksvollster Weise eingelöst<br />

worden.<br />

Der europäische Traum ist aber nicht weniger beeindruckend:<br />

Er besteht in der Überzeugung, dass<br />

aus ehemaligen Todfeinden friedlich koexistierende<br />

und sogar eng miteinander kooperierende<br />

Nachbarn werden können.<br />

So weit, so gut, aber wir sind in Europa noch nicht<br />

am Ziel. Den Europäern fehlt es noch am Selbstbewusstsein,<br />

sie sind noch nicht wirklich die Bewohner<br />

ihres Traums und ihrer Geschichte. Was<br />

ihnen fehlt, ist jene mobilisierende und identitätsbildende<br />

Kraft, die Nationalstaaten in einer integrierenden<br />

Symbolik �nden.<br />

Wie könnte man sich diese Gemeinschaft vorstellen?<br />

Aus welchen Vorstellungen könnte sich dieses<br />

gemeinsame Selbstbild Europas zusammensetzen,<br />

das die Differenz der unterschiedlichen Nationalstaaten<br />

anerkennt und überwölbt?<br />

Erbe einer langen Geschichte<br />

Ganz anders als die Amerikaner sind die Europäer<br />

die Erben einer sehr langen Geschichte, die bis in<br />

die griechische und römische Antike zurückreicht<br />

und über die Bibel auch Überlieferungsströme<br />

des Vorderen Orients mit aufgenommen hat.<br />

Die Europäer sind aber auch die Erben einer gemeinsamen<br />

Geschichte, die wesentlich kürzer zurückliegt.<br />

Das ist die Geschichte zweier Weltkriege<br />

von ungekanntem Ausmaß, die Europa in Trümmer<br />

gelegt haben. Während die Amerikaner von<br />

dem Versprechen eines Neubeginns ausgehen, gehen<br />

die Europäer von dieser gemeinsamen Erfahrung<br />

der Zerstörung aus. Wenn wir also fragen,<br />

was Europa im Innersten zusammenhält, dann<br />

müssen wir bei dieser Geschichte und ihrer Verar-<br />

beitung ansetzen. Europa als vorgestellte Gemeinschaft<br />

– das kann dann auch heißen: Europa als<br />

Erinnerungsgemeinschaft und Erbe einer traumatischen<br />

Geschichte.<br />

Ich möchte drei Fragen dazu stellen und genauer<br />

diskutieren:<br />

n ob Europa auf dem Weg zu einer gemeinsamen<br />

Erinnerungskultur ist,<br />

n welche Hindernisse auf diesem Weg liegen und<br />

n wie diese Hindernisse möglicherweise aus dem<br />

Weg geräumt werden können.<br />

Auf der Suche nach Identität<br />

Die Geschichte des vereinigten Europas hat 1950<br />

mit der Zusammenlegung der deutschen und französischen<br />

Kohle- und Stahlproduktion begonnen.<br />

Diese Maßnahme, die ursprünglich als Kriegsprävention<br />

gedacht war, wurde zur Keimzelle einer<br />

sich stetig ausweitenden europäischen Wirtschaftskooperation.<br />

Der gemeinsame wirtschaftliche Wiederaufbau<br />

bewährte sich aber nicht nur als<br />

Kriegsprävention, sondern auch als Anästhesierung<br />

der Erinnerung an die traumatische Geschichte.<br />

Nach dem Zusammenbruch Europas<br />

1945 stand überall die Nachkriegszeit zunächst im<br />

Zeichen der praktischen Bewältigung von Lebensproblemen<br />

sowie der sozialen und politischen Integration.<br />

Der Kalte Krieg war zugleich eine Eiszeit<br />

der Erinnerung. Es dauerte 20 Jahre, bis der Holocaust<br />

aus seiner Überlagerung und Verdeckung<br />

durch den Zweiten Weltkrieg allmählich (wieder)<br />

zum Vorschein kam, weitere 20 Jahre, bis diesem<br />

Menschheitsverbrechen im Weltbewusstsein ein<br />

Platz zugewiesen wurde, und dann noch einmal 20<br />

Jahre, bis dieses Ereignis in die Form einer transnationalen<br />

Kommemoration überführt wurde.<br />

Nach dem Fall der Mauer und dem darauf folgenden<br />

Zusammenbruch der Sowjetunion war die<br />

sich rapide nach Osten erweiternde Europäische<br />

Union auf der Suche nach einer neuen Identität.<br />

Auf welche Basis sollte diese Identität aber gestellt<br />

werden?<br />

1 Ernest Renan, „Was ist eine Nation?”, Vortrag, gehalten an der Sorbonne am 11. März 1882; in: Was ist eine Nation? und andere politische Schriften, Wien, Bozen 1995, 57.<br />

2 Tony Judt, Große Illusion Europa. Gefahren und Herausforderungen einer Idee, München 1996. Original: The Grand Illusion? An Essay on Europe, New York 1996. Ähnlich hatte sich zuvor schon<br />

Alan Milward in seiner klassischen Studie ausgesprochen: The European Rescue of the Nation-State, London 1992.<br />

3 Renan (wie Anm. 1), 56.<br />

4 Leslie Fiedler, „Cross the Border, Close the Gap“, in: Wolfgang Welsch, Hrsg., Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim 1988, 57-74; hier: 73.

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