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GESUNDHEITSZENTRUM UNO-CITY - setzer verlag

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PAUL-WATZLAWICK-EHRENRING DER ÄRZTEKAMMER FÜR WIEN 2009<br />

Grenze, die die EU einst von den östlichen Staaten<br />

getrennt hatte, nun mitten durch sie hindurch.“<br />

Anders als im Nachkriegsdeutschland gab es in<br />

Russland keinen Identitätswechsel des politischen<br />

Regims. Im Gegenteil konnte sich die Siegernation<br />

mit den anderen Alliierten moralisch auf der richtigen<br />

Seite wissen. Ohne eine solche Zäsur und einen<br />

entsprechenden Außendruck besteht aber kein<br />

inneres Bedürfnis, die dunklen Episoden der eigenen<br />

Geschichte aufzuarbeiten und zu erinnern.<br />

Salomonische Formel<br />

Etwa zur gleichen Zeit, als die Frage nach dem Vergleich<br />

der beiden Massenverbrechen noch aus der<br />

Sorge heraus tabuisiert wurde, die Erinnerung an<br />

die Verbrechen des Stalinismus könnte die Erinnerung<br />

an das Verbrechen des Holocaust relativieren,<br />

wurde eine salomonische Formel gefunden,<br />

die es erlaubt, der Sorge des Vergleichs explizit zu<br />

begegnen. Sie entstand in einer Historikerkommission,<br />

die über der Frage der Gewichtung der Erinnerung<br />

an die beiden deutschen Diktaturen zu<br />

zerbrechen drohte. Bernd Faulenbach löste damals<br />

den Kon�ikt mit zwei salomonischen Sätzen:<br />

1. Die Erinnerung an den Stalinismus (wir können<br />

dafür auch einsetzen: an die Verbrechen und<br />

Leiden des Zweiten Weltkriegs) darf die Erinnerung<br />

an den Holocaust nicht relativieren.<br />

2. Die Erinnerung an den Holocaust darf die Erinnerung<br />

an den Stalinismus (beziehungsweise an<br />

die Verbrechen und Leiden des Zweiten Weltkriegs)<br />

nicht trivialisieren. 8<br />

8 5|09<br />

Dieses Beispiel zeigt, dass Erinnerungskon�ikte<br />

dialogisch überwunden werden können, wenn es<br />

gelingt, einen Konsens im Dissens auszumachen.<br />

In diesem Falle wird durch Hierarchisierung die<br />

Integration und Koexistenz unterschiedlicher Erinnerungen<br />

möglich. Gleichzeitig verwandelt sich<br />

ein unversöhnliches, auf Verdrängung ausgerichtetes<br />

Entweder-oder in ein Sowohl-als-auch.<br />

Es gibt aber nicht nur Gegensätze, es gibt auch<br />

merkwürdige Asymmetrien im europäischen Gedächtnis.<br />

Während sich die Holocaust-Erinnerung<br />

inzwischen weit über die europäischen Grenzen<br />

ausgedehnt hat, tut sich innerhalb Europas eine<br />

signi�kante Leerstelle auf. In Russland ist nicht nur<br />

Der Paul-Watzlawick-Ehrenring der Ärztekammer für Wien wird jährlich an herausragende, interdisziplinär forschende<br />

Wissenschafter verliehen: Aleida Assmann mit Hubert Ehalt von den „Wiener Vorlesungen“ (li.) und<br />

Ärztekammerpräsident Walter Dorner<br />

das Gedächtnis des Stalinismus gänzlich verdrängt,<br />

auch das Gedächtnis des Holocaust �ndet dort keinen<br />

Anhaltspunkt. Das ist jedoch paradox. Am 27.<br />

Januar wird inzwischen in immer mehr Nationen<br />

jährlich der Befreiung des Vernichtungslagers<br />

Auschwitz im Jahr 1945 gedacht, doch die Befreier<br />

selbst gehören nicht zu dieser ständig wachsenden<br />

Erinnerungsgemeinschaft.<br />

Gegenläu�ge Gedächtnisse<br />

Dabei ist die Rote Armee im post-sowjetischen<br />

Russland durchaus Gegenstand intensiver nationaler<br />

Kommemoration. Die Russen erinnern sich<br />

an den 9. Mai 1945, also nicht an das Ende des<br />

Massenmords an den europäischen Juden, sondern<br />

an das Ende des Zweiten Weltkriegs und den<br />

Sieg der ruhmreichen Roten Armee.<br />

In seinem Buch über „Gegenläu�ge Gedächtnisse“<br />

erkennt Diner im „Auseinandertreten von Krieg<br />

und Holocaust“ die Tendenz eines „ohnehin diagnostizierbaren<br />

Verfalls des geschichtlichen Denkens<br />

und des ihn begleitenden Verlusts historischer<br />

Urteilskraft“. 9 Dieses Auseinandertreten<br />

von Krieg und Holocaust hatte bereits das Geschichtsbild<br />

des Kalten Kriegs bestimmt, als die<br />

Erinnerung an den Krieg die Erinnerung an den<br />

Holocaust gänzlich verdeckte. Dafür ist das heutige<br />

russische nationale Gedächtnis ein deutliches<br />

Beispiel: Es konstruiert über den problematischen,<br />

imageschädigenden Systemwandel von<br />

1990/91 hinweg eine lange historische Kontinuität<br />

von russischer Ehre und russischem Leid. Das<br />

ehemalige internationalistische Selbstbild ist dem<br />

af�rmativen Selbstbild einer imperialen Nation<br />

gewichen. 10 Für das tiefgründig negative Holocaust-Gedächtnis,<br />

das mit einem positiven Bekenntnis<br />

zu und Einsatz für Menschenrechte verbunden<br />

ist, hat das heroisch nationale Kriegs-<br />

Gedächtnis des heutigen Russlands keinen Platz.<br />

Das dialogische Erinnern<br />

Wie aber können diese Asymmetrien und Grenzen<br />

überwunden werden und Europa von einer gespaltenen<br />

zu einer integrierten und gemeinsamen Gedächtniskultur<br />

�nden? Um diese Frage zu beantworten,<br />

möchte ich den Begriff des „dialogischen<br />

Erinnerns“ einführen. Darunter verstehe ich eine<br />

Erinnerungspolitik zwischen zwei oder mehreren<br />

Staaten, die durch eine gemeinsame Gewaltgeschichte<br />

miteinander verbunden sind, und die gegenseitig<br />

ihren eigenen Anteil an der traumatisierten<br />

Geschichte des anderen anerkennen und empathisch<br />

das Leiden des anderen ins eigene Gedächtnis<br />

mit einschließen. Dialogisches Erinnern<br />

steht deshalb auch für die wechselseitige Verknüpfung<br />

und Aufrasterung allzu einheitlicher Gedächtniskonstruktionen<br />

entlang nationaler Grenzen. 11<br />

Das Prisma des nationalen Gedächtnisses tendiert<br />

deshalb stets dazu, die Geschichte auf einen akzeptablen<br />

Ausschnitt zu verengen. Angesichts einer<br />

traumatischen Vergangenheit gibt es üblicherweise<br />

überhaupt nur drei Rollen, die das nationale<br />

Gedächtnis akzeptieren kann: die des Siegers, der<br />

das Böse überwunden hat, die des Widerstandskämpfers<br />

und Märtyrers, der gegen das Böse gekämpft<br />

hat, und die des Opfers, das das Böse passiv<br />

erlitten hat. Was jenseits dieser Positionen und<br />

ihrer Perspektiven liegt, kann gar nicht oder nur<br />

sehr schwer zum Gegenstand eines akzeptierten<br />

Narrativs werden und wird deshalb auf der of�ziellen<br />

Ebene „vergessen“.<br />

8 Bernd Faulenbach, Probleme des Umgangs mit der Vergangenheit im vereinten Deutschland. Zur Gegenwartsbedeutung der jüngsten Geschichte, in: Werner Weidenfeld, Hrsg., Deutschland. Eine<br />

Nation – doppelte Geschichte. Materialien zum deutschen Selbstverständnis, Köln 1993, 190.<br />

9 Dan Diner, Gegenläu�ge Gedächtnisse, 9.<br />

10 Dan Diner, Gegenläu�ge Gedächtnisse, 58.<br />

11 Dazu ausführlicher: Aleida Assmann, „Europe: A Community of Memory?“, Twentieth Annual Lecture of the GHI, November 16, 2006, in: German Historical Institute Bulletin, No. 40 (Spring 2007), 11- 25.

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