Seite 10 | <strong>Rechtspopulismus</strong> in BerlinKampagnen auf dem Rücken von sozial benachteiligtenMinderheiten inszeniert. Häufig genug spielt die Boulevardpressedabei eine unrühmliche Rolle als Sprachrohreiner intoleranten und illiberalen Mehrheitsgesellschaft.3.Sofern eine Rechtspartei die »Systemfrage« in denMittelpunkt rückt und sich vor allem die verbreiteteEnttäuschung über ihre etablierten Konkurrentinnenauf dem »Wählermarkt« und die Entfremdung vieler Bürger/innengegenüber dem bestehenden Regierungs- bzw.Parteiensystem (»Politikverdrossenheit«) zunutze macht,das sie mit Korruption gleichsetzt und aus prinzipiellenErwägungen ablehnt, erreicht die populistische Zuspitzungeine andere Qualität, was die Bezeichnung »Radikalpopulismus«rechtfertigt. Bei dieser Variante legt einepopulistische Bewegung den Maßstab für ihr eigenes Verhaltensehr hoch. Umso leichter kann sie daran gemessenund – wie schon oft geschehen – selbst der politischenUnfähigkeit, Inkompetenz und Korruptionsanfälligkeitüberführt werden.4.Steht der staatliche Innen-außen-Gegensatz bzw.die angebliche Privilegierung von Zuwandererngegenüber den Einheimischen oder die »kulturelleÜberfremdung« im Vordergrund, handelt es sich umNationalpopulismus. Charakteristisch ist für ihn, dassdie zunehmende Pauperisierung breiter Bevölkerungsschichten,übrigens vor allem ethnischer Minderheiten,nicht etwa als Konsequenz ihrer Diskriminierung (z.B. imBildungsbereich sowie auf dem Arbeitsmarkt) und einerungerechten Verteilung der gesellschaftlichen Ressourcen,vielmehr als Resultat der zu großen Durchlässigkeit bzw.Aufhebung der Grenzen für Migrant(inn)en thematisiertund die Angst vor einer »Überflutung« bzw. »-fremdung«vornehmlich durch Muslime kultiviert wird.Die Sinnkrise des Sozialen als geistiger Nährbodendes <strong>Rechtspopulismus</strong>Staat und Gesellschaft leiden gegenwärtig vor allem unterder massiven Entwertung bzw. einer tiefen Sinnkrise desSozialen, die den geistigen Nährboden des <strong>Rechtspopulismus</strong>bildet und aus folgenden Teilprozessen besteht:1.fällt die Tendenz zur Ökonomisierung des Sozialenins Auge. Fast alle Lebensbereiche, etwa Kultur,(Hoch-)Schule, Freizeit und auch die soziale Infrastruktur,werden nach dem Muster des Marktes restrukturiert.Sozial zu sein bedeutet fortan nicht mehr, sich gemäßhumanistischer Grundüberzeugungen oder christlicherNächstenliebe um arme, benachteiligte oder Menschenmit Behinderungen und ihre Probleme zu kümmern bzw.moralischen Verpflichtungen und ethischen Normennachzukommen. Vielmehr wird auch das Soziale zunehmendvom neoliberalen Zeitgeist durchdrungen und vonder Konkurrenz, dem Gewinnstreben und betriebswirtschaftlicherEffizienz bestimmt.2.findet eine Kulturalisierung des Sozialen statt. Seitgeraumer Zeit stehen nicht mehr materielle Interessenbzw. Interessengegensätze im Blickfeld, wenn manüber die Entwicklung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaftspricht, sondern die kulturelle Identität. Die Kulturalisierungdes Sozialen bedeutet, dass die Zugehörigkeitzur Gesellschaft nicht mehr über die Zugehörigkeitihrer Mitglieder zu einer bestimmten Klasse, Schicht oderGruppe definiert wird, die gemeinsame Interessen haben(und daher ein hohes Maß an Solidarität realisieren können,falls sie sich dessen bewusst werden), sondern dassstärker nach kulturellen Übereinstimmungen, also gemeinsamerSprache, Religion und Tradition, gefragt wird. Dasist der Grund, weshalb sich Widerstand gegen diese Entwicklungnur schwer artikulieren und organisieren kann.3.ist eine Ethnisierung des Sozialen festzustellen. Jemehr die ökonomische Konkurrenz im Rahmender »Standortsicherung« verschärft wird, umso leichterlässt sich die kulturelle Differenz zwischen Menschenunterschiedlicher Herkunft aufladen und als Ab- bzw.Ausgrenzungskriterium gegenüber Mitbewerber(innen)um soziale Transferleistungen instrumentalisieren. Ein»nationaler Wettbewerbsstaat« (Joachim Hirsch), derkein herkömmlicher Wohlfahrtsstaat mehr sein möchte,bereitet Ethnisierungsprozessen den Boden. Diese habenzwei Seiten: Neben einer Stigmatisierung »der Anderen«bewirken sie eine stärkere Konturierung »des Eigenen«bzw. die Konstituierung einer nationalen bzw. »Volksgemeinschaft«,mit der viel weiter reichende Ziele verfolgtwerden. »Deutsche(s) zuerst!« lautet ein Slogan, der solcheVorstellungen genauso wie »Ausländer raus!«-Parolen imMassenbewusstsein verankert.4.zeichnet sich eine Biologisierung des Sozialen ab.Gesellschaftlich bedingte Verhaltensweisen werdenheute immer häufiger an den Genen festgemacht.Dabei spielt der Demografie-Diskurs, d.h. die Art undWeise, wie über die (Alters-)Struktur der Gesellschaft gesprochenund geschrieben wird, eine Schlüsselrolle. Mitdem demografischen Wandel rückt die Humanbiologieins Zentrum der Gesellschaftspolitik und entscheidetquasi naturwüchsig, wie ein naturgesetzlicher Sachzwang,über Rentenhöhen und darüber, wie Sozialleistungen zubemessen sind. Wer die meist Katastrophenszenarien gleichendenBevölkerungsprognosen betrachtet, deren Häufungin den Medien auffällt, stellt fest, dass die Urangstvon Neonazis und Rechtsextremisten, »das deutsche Volk«könne »aussterben« (und zuwandernden Muslimen somitwiderstandslos »das Feld räumen«), in die Mitte der Gesellschaftwandert.
Rainhard Haese (rechts, »RepublikanerBerlin« & »Pro Berlin«)Kundgebung am Breitsscheidplatz3. Oktober 2010