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Für die Patienten ist diese Behandlungsform vorteilhaft,<br />
weil sie zum einen nicht aus ihrer vertrauten Umgebung<br />
gerissen werden oder, wie es Diethelm ausdrückt,<br />
„nicht erst entwurzelt und nachher wieder mühsam<br />
verwurzelt werden müssen“. Zum anderen ist dadurch<br />
ein am Lebensumfeld orientiertes Arbeiten für Diethelm<br />
und seine Kolleg/innen möglich. Die Patienten werden<br />
ganzheitlich mit all ihren Ressourcen und Fähigkeiten<br />
wahrgenommen, auch mit ihrem sozialen Umfeld wie<br />
Familie und Nachbarn. „Von den Patienten wird diese<br />
Behandlungsform gut angenommen“, sagt Diethelm und<br />
zählt Patientengruppen auf, die den Weg in eine Klinik<br />
zur dortigen stationären Behandlung aus unterschiedlichen<br />
Gründen kaum antreten würden: Migrant/innen,<br />
die aus familiär-kulturellen Gründen einem Klinikaufenthalt<br />
skeptisch gegenüberstehen und Menschen mit<br />
Versorgungsverpflichtungen wie etwa Mütter mit Kindern<br />
oder Erwachsene, die einen Elternteil pflegen.<br />
Diethelm sieht es als großen Fortschritt<br />
an, dass „durch eine langjährige,<br />
gezielte Sensibilisierung der Öffentlich-<br />
keit Menschen mit psychischen<br />
Störungen sich schneller behandeln<br />
lassen als früher“ und dass dadurch<br />
die ärztliche Hilfe schneller und erfolg-<br />
versprechender erfolgen könne.<br />
Die Aufnahmezahlen von Patienten mit psychischen<br />
Störungen in den Krankenhäusern ist auch deshalb<br />
deutlich angestiegen. Gleichzeitig ist die Verweildauer<br />
der einzelnen Patienten gesunken. Seit 1975 wurden<br />
mehr als 50 Prozent der Krankenhausbetten in Kliniken<br />
für Psychiatrie und Psychotherapie abgebaut. Die Versor-<br />
Titel<br />
gungsverlagerung vom stationären in den ambulanten<br />
Bereich, die ja lange vehement gefordert worden war,<br />
fand also statt, allerdings ohne den gleichzeitigen Transfer<br />
von Ressourcen.<br />
Worin aber liegen nach wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />
die Ursachen für die gewachsene Zahl von Menschen mit<br />
psychischen Störungen?<br />
Das Wort „multifaktoriell“ kommt bei der Beantwortung<br />
dieser Frage beinahe als Standard aus dem Mund der<br />
Experten. Veränderungen der Familienstrukturen seien<br />
mitverantwortlich, heißt es immer wieder. Alte Familienverbünde<br />
haben sich weitgehend aufgelöst, der soziale<br />
Zusammenhalt der Menschen wird allgemein kleiner. Die<br />
daraus resultierenden möglichen Faktoren Einsamkeit<br />
und Isolation setzen der Psyche häufig zu. Das weltweit<br />
zu beobachtende Phänomen der Massenmigration hat<br />
ebenfalls tragische Folgen in Form von posttraumatischen<br />
Belastungsstörungen vieler Migrant/innen. Als<br />
bedeutende – hier bereits erwähnte – Ursache wird von<br />
den meisten Experten schließlich die stark belastende<br />
Situation in der Arbeitswelt angebracht.<br />
Neurobiologische Forschungen haben darüber hinaus<br />
ergeben, dass psychische Erkrankungen zwar nicht<br />
genetisch verursacht, aber doch genetisch beeinflusst<br />
sind. So konnten in jüngster Vergangenheit Schizophrenie<br />
beeinflussende Gene identifiziert werden.<br />
Mit ihrer Entdeckung gibt es Hoffnung für die Entwicklung<br />
neuer und besser wirkender Medikamente. Das mag<br />
aus einer wissenschaftlich orientierten Sicht eine gute<br />
Nachricht sein – an den zumeist gesellschaftlich bedingten<br />
Ursachen für psychische Störungen ändert<br />
das jedoch gar nichts. Beim Blick in die Zukunft regiert<br />
bei vielen Fachleuten daher auch eine skeptische bis<br />
pessimistische Grundhaltung.<br />
Artur Diethelm etwa prognostiziert, dass es auf dem<br />
ersten Arbeitsmarkt bald gar keine Nischen mehr für<br />
psychisch Erkrankte geben wird. „Diejenigen, die sich<br />
noch halten konnten, werden in die Rente gedrückt<br />
werden oder auf andere unerfreuliche Art rausfallen.“<br />
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