90BEITRÄGEhatte, war auch schon <strong>de</strong>r Junge bei ihr, reichte ihr dieHand, half ihr auf, sagte irgen<strong>de</strong>twas und putzte ihr sogarnoch <strong>de</strong>n Sand vom Rücken.Ich war begeistert. Hier führten Kin<strong>de</strong>r vor, wie unkompliziertMiteinan<strong>de</strong>r funktionieren kann. Meine Freu<strong>de</strong>währte jedoch nicht lange, <strong>de</strong>nn von <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>ren Seite <strong>de</strong>sPlatzes hörte ich einen lauten Aufschrei, <strong>de</strong>r nichts Gutesverhieß. Ich selbst war zu <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>rn getreten,hatte meiner Tochter ein paar trösten<strong>de</strong> Worte gesagt und<strong>de</strong>m ganz und gar zutraulichen polnischen Jungen über <strong>de</strong>nKopf gestrichen.Inzwischen war auch <strong>de</strong>r Rufer herangekommen –keine dreißig Jahre alt und offensichtlich <strong>de</strong>r Vater <strong>de</strong>sKnaben – packte sich <strong>de</strong>rb <strong>de</strong>n Kleinen, zog ihn zur Seiteund fing heftig an zu schimpfen. Zwar verstand ich nichtsvon <strong>de</strong>m, was er sagte, versuchte aber <strong>de</strong>nnoch zu beschwichtigen,schließlich war dieser kaum erwähnenswerteUnfall kein Grund dafür, <strong>de</strong>rartig heftig zu wer<strong>de</strong>n.Das kam jedoch nicht gut an, <strong>de</strong>nn sofort bekam auchich ein paar böse Worte an <strong>de</strong>n Kopf geworfen. In dieseunschöne Szene mischte sich nun noch ein Dritter ein, auchein Pole, <strong>de</strong>r sich ziemlich vehement an <strong>de</strong>n aufgebrachtenVater wandte und mit ihm eine lautstarke Auseinan<strong>de</strong>rsetzungführte. Im Ergebnis griff sich dieser seinen Sohn undverließ – immer noch sichtlich aufgebracht – <strong>de</strong>n Ort <strong>de</strong>sGeschehens in Richtung Stadtbrücke.Auch wir schickten uns an, <strong>de</strong>n Heimweg anzutreten,wur<strong>de</strong>n aber durch <strong>de</strong>n Hinzugekommenen aufgehalten.„Haben Sie <strong>de</strong>nn garnichts von <strong>de</strong>m verstan<strong>de</strong>n, was <strong>de</strong>rMann gesagt hat?” In fast akzentfreiem Deutsch richtete<strong>de</strong>r Mann die Frage an mich und ich mußte gestehen, wirklichnichts begriffen zu haben. „Er hat nicht mit seinemSohn gescholten, weil er ihre Tochter umgestoßen hat, son<strong>de</strong>rnweil <strong>de</strong>r sich bei ihr entschuldigt hat. Und zu Ihnensagte er: faß mein Kind nicht an, du <strong>de</strong>utsches ...”. Ich mußwohl ziemlich verdattert ausgesehen haben, <strong>de</strong>nn auf <strong>de</strong>mGesicht meines Gegenübers zeichnete sich ein breites, abernicht unfreundliches Lächeln ab. „Wollen wir re<strong>de</strong>n?” Erbegleitete sein Gesprächsangebot mit einer einla<strong>de</strong>n<strong>de</strong>nHandbewegung, hin zu einer <strong>de</strong>r freien Parkbänke. Warumnicht! Inzwischen war ohnehin eine Freundin meiner Tochteraufgetaucht, mit <strong>de</strong>r sie und <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re polnische Jungeeinträchtig im Sand spielten.„Warum können wir nicht sein, wie die Kin<strong>de</strong>r...?” beganner seinen ersten Satz nach<strong>de</strong>m wir Platz genommenhatten und vollen<strong>de</strong>te ihn nach langer Pause scheinbar völligzusammenhangslos mit <strong>de</strong>n Worten „ ... weil sie nur ihreigenes Gedächtnis haben.”Neugierig gewor<strong>de</strong>n, betrachtete ich mein Gegenüber.Er mochte um die 60 Jahre alt sein, durch die Gläser einerrandlosen Brille blickten zwei hellgraue Augen und dasschüttere blaßgraue Haar lag streng nach hinten gekämmtan seinem Kopf an. „Sie fragen sich bestimmt, warum ichso gut ihre Sprache beherrsche. Nein, nein, ich habe keine<strong>de</strong>utschen Wurzeln, ich bin ein waschechter Pole. MeineFamilie gehörte zu jenen, die in <strong>de</strong>n 1920iger Jahren in die<strong>de</strong>n Russen abgenommenen Gebiete umsie<strong>de</strong>lte. Von dortaus sind sie 1939 zu Verwandten nach Oberschlesien geflohen.Da bin ich geboren und habe auch die Bekanntschaftmit <strong>de</strong>r <strong>de</strong>utschen Sprache geschlossen. Ich hatte einenSchulfreund in <strong>de</strong>ssen Elternhaus <strong>de</strong>utsch gesprochenwur<strong>de</strong> und es hat mir riesigen Spaß gemacht seine Sprachezu erlernen, vielleicht gera<strong>de</strong> weil es streng verboten war.Ich weiß noch ganz genau, was mein Vater mit mir angestellthat, als er es herausbekam. Aber ich habe es mir nichtverbieten lassen. Die Deutschen, die dort lebten hatten mirnichts getan, ganz im Gegenteil, wir, die Polen waren es,die sie abfällig behan<strong>de</strong>lten. Mein Vater sagte mir nach <strong>de</strong>rverabreichten Prügel, nur ein Pole, <strong>de</strong>r keinen Funken Ehreim Leibe habe, gebe sich mit Deutschen ab. Und fast dasGleiche hat vorhin <strong>de</strong>r junge Mann zu seinem Kind gesagt.Da fühlte ich mich so sehr an meine eigene Kindheiterinnert, daß ich einfach dazwischengehen mußte.”Bislang war ich stumm geblieben und hatte aufmerksamgelauscht. Dann fielen mir wie<strong>de</strong>r seine ersten Worte einund ich fragte ihn, was er damit gemeint habe. „Es ist dochganz einfach, Kin<strong>de</strong>r nehmen sich als Kin<strong>de</strong>r wahr, sie fin<strong>de</strong>nsich sympathisch o<strong>de</strong>r eben nicht. Das hat viel mitÄußerlichkeiten zu tun, Mädchen o<strong>de</strong>r Junge, lange Haare,kurze Haare, Augenfarbe, auch Bekleidung, aber <strong>de</strong>r Umstand,welche Sprache sie sprechen spielt nur eine untergeordneteRolle. Was ihre Gedanken und Erinnerungen bewegt,ist das ganz und gar eigene Erleben. Später erst,durch Eltern, Freun<strong>de</strong>, Schule än<strong>de</strong>rt sich das. Da wird diesemGedächtnis ganz viel Frem<strong>de</strong>s hinzugefügt und je nach<strong>de</strong>m, wie wahrhaftig, wie aufrichtig, wie ehrlich die Informationensind, wird sich auch <strong>de</strong>r Charakter <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>sentwickeln. Ihr Deutschen erzieht eure Kin<strong>de</strong>r schon sehrzeitig in <strong>de</strong>m Bewußtsein, daß ihre Vorfahren mal etwasganz Schlimmes angerichtet haben. Wir Polen hingegen betonengern, daß unsere Ahnen durch euch Deutsche Schrecklicheserlei<strong>de</strong>n mußten. Wohin es führt, wenn bei<strong>de</strong> Seiten –warum auch immer – <strong>de</strong>r nachwachsen<strong>de</strong>n Generation nurTeilwissen vermitteln, haben Sie ja gemerkt. Es gehört nunmal zur ganzen Wahrheit, daß auch die Deutschen währendund vor allem nach <strong>de</strong>m Krieg Entsetzliches erlei<strong>de</strong>n mußtenund daß die Polen an diesem Leid eine Mitschuld tragen.Es ist höchste Zeit, daß wir beginnen, an einem gemeinsamenGedächtnis zu arbeiten ...”Mitten im begonnenen Satz klingelte sein Mobiltelefon.Entschuldigend nahm er das Gespräch an, wechselte einpaar Worte, been<strong>de</strong>te das Telefonat und wandte sich dannwie<strong>de</strong>r an mich. „Sie wer<strong>de</strong>n verzeihen, aber ich muß mitmeinem Enkel schnellstens nach Hause, meine Frau wartetmit <strong>de</strong>m Mittagessen. Pawlek kommst Du?!” Fast ein wenigmürrisch erhob sich <strong>de</strong>r kleine Bub aus <strong>de</strong>r Gesellschaftmeiner Tochter und ihrer Freundin. „Es war schön mitIhnen zu sprechen. Glauben Sie mir, es gibt viele Menschenin Polen, die so wie ich <strong>de</strong>nken. Scha<strong>de</strong> ist nur, daßwir noch nicht mutig genug sind, es dort auch auszusprechen”.Als er fort war, gestand ich mir lächelnd ein, daß wireigentlich kein Gespräch geführt hatten. Aber was hätte ichauch beitragen können? Ohne mich zu kennen, hatte mir daein Wildfrem<strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r Seele gesprochen und mit seinemletzten Satz dafür gesorgt, meine immer wie<strong>de</strong>r aufkeimen<strong>de</strong>nÄngste bei Besuchen jenseits <strong>de</strong>r Neiße, zu lin<strong>de</strong>rn.
MELDUNGEN 91„Soviel du brauchst” – Impressionen vom KirchentagCHRISTOPH SCHOLZEs war klug ausgewählt das Motto <strong>de</strong>s 34. DeutschenEvangelischen Kirchentags in Hamburg.Wir fin<strong>de</strong>ndie sogenannte Manna-Geschichte in 2. Mose,16.Dort wird von <strong>de</strong>r Rettung <strong>de</strong>r Israeliten auf <strong>de</strong>r Wüstenwan<strong>de</strong>rungvon Ägypten nach Palästina durch Wachtelnund Manna erzählt. Wie wun<strong>de</strong>rbar paßt dieser kurze Satzin unsere Zeit <strong>de</strong>r europäischen Schul<strong>de</strong>nkrise, <strong>de</strong>s angesagtenSparens bei <strong>de</strong>n Staatshaushalten und <strong>de</strong>r zu weitauseinan<strong>de</strong>rklaffen<strong>de</strong>n Schere zwischen <strong>de</strong>n sehr Wohlhaben<strong>de</strong>nund <strong>de</strong>n erschreckend Armen bei uns im Land!„Soviel du brauchst” war auch das beherrschen<strong>de</strong> Themabei <strong>de</strong>n drei verpflichten<strong>de</strong>n Bibel-Arbeiten: „Eine Witwefor<strong>de</strong>rt Gerechtigkeit”, Lukas 18,1-8 am Donnerstag;„Das Erlaßjahr”, 5.Mose 15, 1-11 am Freitag und schließlicham Samstag „Die Speisung <strong>de</strong>r 5000, Joh.6,1-15.Ebenso gilt dies für viele Foren. Das Maßhalten wur<strong>de</strong>behan<strong>de</strong>lt beim Wirtschaftswachstum, bei Lohnfor<strong>de</strong>rungen,beim privaten Konsum und bei unserem überzogenenAnspruchs<strong>de</strong>nken. Aus <strong>de</strong>n großen Messehallen mit politischer,wissenschaftlicher, theologischer und wirtschaftlicherProminenz auf <strong>de</strong>n Podien sorgten solche Themen fürausreichen<strong>de</strong>n Gesprächsstoff und erhitzten immer wie<strong>de</strong>rdie Gemüter <strong>de</strong>r mit Fragen nachbohren<strong>de</strong>n und diskutieren<strong>de</strong>nTeilnehmer. Drei Beispiele: „Gutes Leben, soviel dubrauchst” dazu <strong>de</strong>r Untertitel: „Zwischen Wachstum, Fortschrittund Gerechtigkeit” mit Dr. Höppner, früher Ministerpräsi<strong>de</strong>ntin Sachsen-Anhalt und Frau Kolbe, MdB undVorsitzen<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand,Lebensqualität am Donnerstag o<strong>de</strong>r am Freitag:„Und siehe es war sehr gut”. Was ist Schöpfung in <strong>de</strong>r globalenWelt wert? mit Bun<strong>de</strong>skanzlerin Merkel und <strong>de</strong>rUno-Prominenten Helen Clark, Leiterin <strong>de</strong>s Entwicklungsprogramm<strong>de</strong>r Vereinten Nationen, also zwei auf verschie<strong>de</strong>nenEbenen am gleichen Ziel arbeiten<strong>de</strong>n mächtigenFrauen. Und bei<strong>de</strong> klagen über die ungeheuer großen Wi<strong>de</strong>rstän<strong>de</strong>z.B. bei <strong>de</strong>r Reduzierung <strong>de</strong>s CO2-Ausstoßes;und Energiewen<strong>de</strong> ein Projekt für alle in Deutschland mitKlaus Töpfer und Minister Peter Altmaier am Samstag.Gera<strong>de</strong> in diesem Bereich sei auch private Sparsamkeit angesagt.Ich bin sicher: Je<strong>de</strong>rmann unter <strong>de</strong>n 120.000 Dauerteilnehmernund 40000 Tagesgästen in Hamburg dürfte vondieser biblischen, gera<strong>de</strong> heute sehr eindringlich mahnen<strong>de</strong>nBotschaft „Soviel du brauchst” erreicht wor<strong>de</strong>n sein.Wie können wir Abstriche machen ohne säuerlichesGesicht, son<strong>de</strong>rn ganz im Gegenteil durch Einsatz von Zeitfür Bedürftige, z.B. bei <strong>de</strong>r Tafel, bei weiteren karitativenEh-renämtern, durch Spen<strong>de</strong>n und Kollekten für „Brot fürdie Welt” ein bewußteres und erfüllteres Leben führen?Hier noch ein paar Beispiele für die gewohnte Kirchentags-Vielfaltin theologischen, medizinisch-ethischen, wirtschaftlichenund natürlich ganz praktischen Fragen <strong>de</strong>r Kirchengemein<strong>de</strong>n:a) Altes Testament: neuere Forschungen;b) unerwünscht, aussortiert, vorgeburtliche Diagnostik unddann?; c) eine Ausstellung: Geschichten <strong>de</strong>r Schul<strong>de</strong>nkrise;d) Füreinan<strong>de</strong>r Sorge tragen: Gemein<strong>de</strong>n gestalten Nachbarschafto<strong>de</strong>r e) Ehrenamt in <strong>de</strong>r Kirchengemein<strong>de</strong>.Ungewöhnlich für Hamburg: die Sonne begünstigte allefünf Tage lang die Freiluftveranstaltungen, beson<strong>de</strong>rs dievier Eröffnungsgottesdienste am Hafen, auf <strong>de</strong>m Rathausmarkt,auf <strong>de</strong>r Reeperbahn und am Fischmarkt, dazu <strong>de</strong>nAbschlußgottesdienst am Sonntag im Stadtpark mit 130.000Teilnehmern.Bei aller Freu<strong>de</strong> über begeistern<strong>de</strong> Andachten (z.B.Margot Käßmann, die eloquente und wie<strong>de</strong>r ins SchwarzeTreffen<strong>de</strong> beim ‘Gleichnis „<strong>de</strong>r nerven<strong>de</strong>n Witwe” und