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Widerstand gegen das NS-Regime in den Regionen Mecklenburg ...

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<strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong><strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong><strong>Mecklenburg</strong> und VorpommernReiheBeiträge zur Geschichte<strong>Mecklenburg</strong>-VorpommernNr. 12Landesbüro<strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern


Friedrich-Ebert-StiftungLandesbüro <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern<strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong><strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong><strong>Mecklenburg</strong> und VorpommernReiheBeiträge zur Geschichte<strong>Mecklenburg</strong>-VorpommernNr. 12Unter Mitarbeit vonHans CoppiKyra T. Inach<strong>in</strong>Kai LangerGeorg DiederichIrmfried GarbeFalk BerschAndreas WagnerAchim v. BorriesMario NiemannDetlef Graf von Schwer<strong>in</strong>Dieter KrügerAnnette LeoSchwer<strong>in</strong> 2007


© Copyright byFriedrich-Ebert-StiftungLandesbüro <strong>Mecklenburg</strong>-VorpommernArsenalstr. 819053 Schwer<strong>in</strong>2. AuflageSchwer<strong>in</strong> im Februar 2007Layout & Satz: Wolfgang HoyerDruck: Altstadtdruck RostockISBN 3-89892-399-1Bildnachweise:S. 16: Am Lankesee bei Liebenberg...: Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher <strong>Widerstand</strong> Berl<strong>in</strong>;S. 28: Karl Buschmann, Schwer<strong>in</strong>er Landgerichtspräsi<strong>den</strong>t: Bundesarchiv Berl<strong>in</strong>; S.47: Leopold Wiemker (1909-1976): Archiv des Erzbischöflichen Amtes Schwer<strong>in</strong>; S.49: Prof. Dr. Bernhard Schwentner (1891-1944): Archiv des Erzbischöflichen AmtesSchwer<strong>in</strong>; S. 63: Güstrower Geme<strong>in</strong>de der Bibelforscher: Wachtturm-Gesellschaft; S.73: Wehrmachtgefängnis Anklam: Politische Memoriale e.V.; S. 91: Fritz-Dietlof Grafvon der Schulenburg (1902-1944): Bildarchiv Stiftung Preußischer Kulturbesitz; S.92: Achim Freiherr von Willisen (1900-1983) Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher <strong>Widerstand</strong>Berl<strong>in</strong>; S. 94: Hans-Jürgen Graf von Blumenthal (1907-1944) Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher<strong>Widerstand</strong> Berl<strong>in</strong>; S. 95: Adolf-Friedrich Graf von Schack (1888-1945): Ge<strong>den</strong>kstätteDeutscher <strong>Widerstand</strong> Berl<strong>in</strong>; S. 96: Ewald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong> (1890-1945): Ge<strong>den</strong>kstätteDeutscher <strong>Widerstand</strong> Berl<strong>in</strong>; S. 98: Willy Jesse (1897-1971): Rechte<strong>in</strong>haberunbekannt, Archiv der Sozialen Demokratie Bonn; S. 103: Ulrich-Wilhelm Graf vonSchwer<strong>in</strong> von Schwanenfeld (1902-1944): Detlef Graf von Schwer<strong>in</strong>2


InhaltsverzeichnisVorwort ..................................................................................... 5Vorbemerkung ........................................................................... 7I. E<strong>in</strong>leitungHans CoppiDeutscher <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>– E<strong>in</strong>sichten, Ten<strong>den</strong>zen und Fragestellungen ............................ 8Kyra T. Inach<strong>in</strong><strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong><strong>Mecklenburg</strong> und Pommern 1933 bis 1945 ............................... 19II. <strong>Widerstand</strong> und Verfolgung <strong>in</strong> <strong>den</strong> ersten Jahrender <strong>NS</strong>-Herrschaft (1933-1939)Kai Langer»Panzertruppe der Rechtspflege«– Zur Rolle der mecklenburgischen Sondergerichte ................... 26Georg Diederich<strong>Widerstand</strong> der Katholischen Kirche <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933-45 ... 38Irmfried GarbeEvangelischer »Kirchenkampf« und »<strong>Widerstand</strong>« <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>& Pommern während des Nationalsozialismus. E<strong>in</strong>e Problemskizze 52Falk BerschSkizzen zu Verfolgung und <strong>Widerstand</strong> der Zeugen Jehovas<strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern unter dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> .............. 63III. <strong>Widerstand</strong> und Dissens im Zweiten WeltkriegAndreas WagnerOpposition und Verweigerung von Soldaten im ZweitenWeltkrieg: E<strong>in</strong>e regionalhistorische Bestandsaufnahmefür <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern ................................................ 72IV. E<strong>in</strong>zelschicksale aus dem regionalen <strong>Widerstand</strong>Achim von BorriesDas Ehepaar Lachmund ............................................................. 823


Mario NiemannDer 20. Juli 1944 <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern ...................... 90Detlef Graf v. Schwer<strong>in</strong>Ulrich-Wilhelm Graf v. Schwer<strong>in</strong> v. Schwanenfeld 1902-1944 ... 103V. Zum Umgang mit der VergangenheitDieter KrügerOtto Ernst Remer – E<strong>in</strong> Offizier zwischen Eid und Unkenntnis.E<strong>in</strong>e Person des Rechtsextremismus nach 1945 .......................... 116Annette LeoAusflug nach Göhren –Die Er<strong>in</strong>nerung an die Verschwörer des 20. Juli 1944 <strong>in</strong> der DDRund der Umgang mit der Geschichte nach 1990 ........................ 1244


VorwortDie Er<strong>in</strong>nerung an die mutigen Frauen und Männer aus dem <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong>verbrecherische <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> gehört zu <strong>den</strong> Grundpfeilern unserer politischen Kultur.In e<strong>in</strong>er Zeit, als die erdrückende Mehrheit der deutschen Bevölkerung begeistert <strong>den</strong>Nationalsozialisten folgte oder sich zum<strong>in</strong>dest mit dem <strong>Regime</strong> arrangierte, hattennur wenige Anders<strong>den</strong>kende <strong>den</strong> Mut, ihre Stimme <strong>gegen</strong> Rassenhass, Kriegsvorbereitungund politische Verfolgung zu erheben. Manche riskierten ihr Leben, als sie<strong>den</strong> Worten Taten <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>Regime</strong> folgen ließen. Sie handelten als E<strong>in</strong>zelpersonenoder im Rahmen illegaler Organisationen, immer <strong>in</strong> der Gefahr, durch Nachbarnoder Bekannte <strong>den</strong>unziert zu wer<strong>den</strong>. Unter diesen Bed<strong>in</strong>gungen <strong>den</strong> Mut zum<strong>Widerstand</strong> aufzubr<strong>in</strong>gen, verdient auch heute unsere Hochachtung, er<strong>in</strong>nert unsdaran, wie wertvoll Zivilcourage und <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gesellschaft s<strong>in</strong>d.Nach der Zerschlagung der <strong>NS</strong>-Diktatur an <strong>den</strong> deutschen <strong>Widerstand</strong> zu er<strong>in</strong>nern,war nicht e<strong>in</strong>fach, zumal die Mehrheit der Deutschen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Widerständlern immernoch Vaterlandsverräter oder Verbrecher sahen. E<strong>in</strong>erseits bedeutete die Existenzdes deutschen <strong>Widerstand</strong>s e<strong>in</strong>e Ehrenrettung des deutschen Volkes vor der Weltgeme<strong>in</strong>schaft.Andererseits verkörperte der <strong>Widerstand</strong> e<strong>in</strong>e bohrende Frage an allediejenigen, die <strong>das</strong> Verbrecherische der <strong>NS</strong>-Politik nicht erkannten, nicht erkennenwollten oder e<strong>in</strong>fach weggesehen hatten. Nur wenige fan<strong>den</strong> klare Worte wie derSchriftsteller Ernst Wiechert <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Rede an die deutsche Jugend 1945: »Die Hel<strong>den</strong>und Märtyrer jener Jahre, sie s<strong>in</strong>d nicht diejenigen, die mit dem Kriegslorbeeraus <strong>den</strong> eroberten Ländern zurückkehrten. Sie s<strong>in</strong>d diejenigen, die h<strong>in</strong>ter Gitternund Stacheldraht zur Ehre des deutschen Namens starben und verdarben. Zu se<strong>in</strong>eralle<strong>in</strong>igen Ehre, <strong>den</strong>n e<strong>in</strong>e andere gab es nicht mehr landauf und landab.«Es waren vor allem die Kamera<strong>den</strong> der Ermordeten und ihre Familienangehörigen,die e<strong>in</strong>e öffentliche Würdigung e<strong>in</strong>forderten, unterstützt von <strong>den</strong> Besatzungsmächten.Doch recht schnell kam es <strong>in</strong> Ost- und Westdeutschland zu e<strong>in</strong>er politischenInstrumentalisierung der Geschichte des <strong>Widerstand</strong>s. In der Bundesrepublik konzentriertesich der Blick auf <strong>den</strong> militärischen <strong>Widerstand</strong> des 20. Juli 1944 und <strong>in</strong>der DDR wurde der kommunistische <strong>Widerstand</strong> verklärt und heroisiert. Seit <strong>den</strong>1980er Jahren und <strong>in</strong>sbesondere seit dem Ende des Kalten Krieges f<strong>in</strong><strong>den</strong> zunehmendalle Formen des <strong>Widerstand</strong>s <strong>gegen</strong> die <strong>NS</strong>-Diktatur Aufmerksamkeit, wird<strong>den</strong> Vertretern des <strong>Widerstand</strong>s unabhängig von ihrer weltanschaulichen Positionund sozialen Herkunft öffentlicher Respekt erwiesen.Auch <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern gab es Menschen, die aktiv <strong>gegen</strong> die Nationalsozialistenkämpften, Angehörige der Arbeiterorganisationen, Mitglieder der5


unterschiedlichen Kirchen und Glaubensgeme<strong>in</strong>schaften, aber auch E<strong>in</strong>zelkämpferohne organisatorischen Rückhalt. Unser Wissen über diese Menschen und ihreSchicksale hat nach dem Ende der DDR, als ideologische Beschränkungen fielen undneue Aktenbestände zugänglich wur<strong>den</strong>, weiter zugenommen. Diese Forschungsarbeitist mehr als wissenschaftlicher Fortschritt, sie ist zugleich e<strong>in</strong>e verspätete öffentlicheWürdigung des Kampfes dieser Menschen. Jede Veröffentlichung über dieseMenschen ist e<strong>in</strong> Er<strong>in</strong>nerungszeichen, e<strong>in</strong> Stachel <strong>in</strong> unserem Gedächtnis mit derMahnung: <strong>Widerstand</strong> war möglich!Vor e<strong>in</strong>em Jahr, im August 2004, fand die Tagung »<strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern« <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burg statt,die von der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Landeszentrale für politische Bildunggetragen wurde. Die Landesfachstelle für Ge<strong>den</strong>kstättenarbeit beim Politische Memorialee. V. stellte <strong>in</strong> enger Zusammenarbeit mit der Neubran<strong>den</strong>burger Stadtarchivar<strong>in</strong>Frau Eleonore Wolf e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressantes Tagungsprogramm zusammen. Fürdiese Dokumentation haben bis auf zwei alle Vortragen<strong>den</strong> e<strong>in</strong>e Kurzfassung ihresBeitrages erarbeitet. Die Dokumentation macht deutlich, welche vielfältigen Formender <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> agrarisch strukturierten <strong>Regionen</strong> besaß, <strong>in</strong> welchegesellschaftlichen Verhältnisse er e<strong>in</strong>gebettet war und wie fließend die Übergängezu Formen der Verweigerung und des Nichtmitmachens ersche<strong>in</strong>en. Wenigstensteilweise geriet aber auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Blick, mit welchem Instrumentarium und welcherBrutalität die Nationalsozialisten <strong>Widerstand</strong> und jede Form von Nichtangepasstheitverfolgten, wie sie <strong>Widerstand</strong> krim<strong>in</strong>alisierten und propagandistisch stigmatisierten.Sich heute offensiv mit diesen Gegenkräften ause<strong>in</strong>anderzusetzen beugt Mythenund Verfälschungen vor, klärt über Zusammenhänge auf. Den Veranstaltern seifür ihren Mut gedankt, diese Fragen <strong>in</strong> die Tagung und ihre Dokumentation e<strong>in</strong>bezogenzu haben.Ich wünsche mir, <strong>das</strong>s diese Dokumentation dazu beiträgt, an <strong>den</strong> regionalen<strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> auch außerhalb von Jahrestagen zu er<strong>in</strong>nern, und<strong>das</strong>s sie Menschen anregt, auf Spurensuche zu vergessenen oder kaum bekanntenSchicksalen aus dem regionalen <strong>Widerstand</strong> zu gehen. Hier ist sicher auch mancheswiederzuentdecken und neu zu bewerten, was <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren nach dem Ende derDDR <strong>in</strong> Vergessenheit geriet. Und nicht zuletzt ist <strong>das</strong> Nach<strong>den</strong>ken über dieseshistorische ema auch e<strong>in</strong> aktueller Beitrag zur Stärkung von Zivilcourage undzur Abwehr rechtsextremer Geschichtsverfälschung. Allen Mitwirken<strong>den</strong>, vor allen<strong>den</strong> Vortragen<strong>den</strong>, sei für ihr Engagement sehr herzlich gedankt.Erw<strong>in</strong> Seller<strong>in</strong>g,Justizm<strong>in</strong>ister des Landes <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern, Oktober 20056


VorbemerkungDer vorliegende Band dokumentiert die Tagung »<strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern«, die am 20. und 21.August 2004 <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burg stattgefun<strong>den</strong> hat.Die Tagung behandelte <strong>den</strong> regionalen <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> die Nazi-Herrschaft<strong>in</strong> breiter Ausfächerung: So wurde der regionale <strong>Widerstand</strong> nichtnur allgeme<strong>in</strong> aufgearbeitet, sondern auch am Beispiel kirchlich motivierter<strong>Widerstand</strong>shandlungen wie des <strong>Widerstand</strong>s von E<strong>in</strong>zelpersonen verdeutlicht,es wur<strong>den</strong> die regionalen nationalsozialistischen Sondergerichte und derregionale Militärstrafvollzug als Unterdrückungs<strong>in</strong>strumente behandelt undder 20. Juli 1944 e<strong>in</strong>er näheren Betrachtung unterzogen.Dabei stellte die Ge<strong>den</strong>kveranstaltung für Ulrich-Wilhelm Graf von Schwer<strong>in</strong>von Schwanenfeld (1902-1944), e<strong>in</strong>en Mitverschwörer des 20. Juli 1944, <strong>in</strong>Göhren zweifellos <strong>den</strong> Höhepunkt der Tagung dar. Die Gespräche und dieBegleitung an diesem Ort durch <strong>den</strong> jüngsten Sohn des Mitverschwörers, Dr.Detlef Graf von Schwer<strong>in</strong>, haben e<strong>in</strong>en tiefen E<strong>in</strong>druck h<strong>in</strong>terlassen. DieserTeil der Veranstaltung zeigte, wie wichtig es ist, historische Orte zu bewahren,zu markieren und <strong>in</strong> die Er<strong>in</strong>nerungsarbeit e<strong>in</strong>zubeziehen. An diesen Stättentritt zur Wissensvermittlung auch e<strong>in</strong>e emotionale Berührung, ohne die e<strong>in</strong>elebendige Er<strong>in</strong>nerungskultur nicht <strong>den</strong>kbar ist.Erläuterungsbedürftig, weil e<strong>in</strong> wenig aus <strong>den</strong> Rahmen fallend, stellt sichder Beitrag »Otto Ernst Remer – e<strong>in</strong> Offizier zwischen Eid und Unkenntnis.E<strong>in</strong>e Person des Rechtsextremismus nach 1945« dar. Der <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burggebürtige Otto Ernst Remer gelangte als Kommandeur des Wachbataillons»Großdeutschland« im Rahmen der Ereignisse rund um <strong>den</strong> 20. Juli 1944zu e<strong>in</strong>iger Bekanntheit. Von <strong>den</strong> Ereignissen völlig überrascht, fuhr er trotzVerbots zu Goebbels und erfuhr durch e<strong>in</strong> Blitz-Gespräch mit Hitler vomScheitern des Attentats. Anschließend war er führend an der Niederschlagungdes Aufstands beteiligt. Nach Kriegsende war er <strong>in</strong> unterschiedlichen Funktionenund Zusammenhängen im rechtsextremistischen politischen Umfeldtätig, bis er 1997 <strong>in</strong> spanischer »Emigration« starb. Auf der Neubran<strong>den</strong>burgerTagung sollte der nachgezeichnete Lebenslauf Ernst-Otto Remers nicht nurAufklärung über e<strong>in</strong>en Neubran<strong>den</strong>burger Bürger während der Nazi-Zeitbr<strong>in</strong>gen, sondern auch se<strong>in</strong>e Bezüge zur politischen Nachkriegsentwicklungdeutlich machen.Erik GurgsdiesLeiter des FES-Landesbüros <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern7


I. E<strong>in</strong>leitungHans Coppi, Berl<strong>in</strong>Deutscher <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>– E<strong>in</strong>sichten, Ten<strong>den</strong>zen und Fragestellungen1. Geteilte RückschauBeide deutsche Staaten bezogen sich auf <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismusbzw. <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> deutschen Faschismus und begründeten <strong>in</strong>unterschiedlicher Weise ihre Legitimation aus diesem Teil deutscher Geschichte.Die oftmals wiederholte, aber sehr verkürzte Sicht, <strong>das</strong>s im Westen nur derbürgerliche <strong>Widerstand</strong> rezipiert wurde, während im Osten der kommunistische<strong>Widerstand</strong> alle<strong>in</strong>iger Maßstab für Er<strong>in</strong>nerung und staatliche S<strong>in</strong>nstiftungwar, ist kritisch zu h<strong>in</strong>terfragen.Auch <strong>in</strong> der Bundesrepublik erschwerten zunächst traditionsbil<strong>den</strong>de Bedürfnisse<strong>den</strong> Zugang zu der Frage nach <strong>den</strong> Grün<strong>den</strong> für die Vere<strong>in</strong>zelungdes <strong>Widerstand</strong>es und nach <strong>den</strong> Bed<strong>in</strong>gungen für <strong>den</strong> übermächtigen Konsensbis weit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> die e<strong>in</strong>st <strong>NS</strong>-resistenten Milieus. 1 Vielfach wur<strong>den</strong> unterVernachlässigung der Quellenkritik Deutungsmuster der Verfolgungsbehör<strong>den</strong>übernommen. 2 Fortschritte <strong>in</strong> der Erfassung der Wirklichkeit des »DrittenReiches« traten mit dem »Bayernprojekt« e<strong>in</strong>. 3 Metho<strong>den</strong> der Sozial- und Alltagsgeschichtsschreibungermöglichten die bis dah<strong>in</strong> primär organisationsfixierte1Gerhard Paul, Zwischen Traditionsbildung und Wissenschaft. Ten<strong>den</strong>zen und Erträge der lokal-und regionalgeschichtlichen <strong>Widerstand</strong>sforschung, <strong>in</strong>: Anpassung, Verweigerung und <strong>Widerstand</strong>.Soziale Milieus, Politische Kultur und der <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismusim regionalen Vergleich, hrsg. von Detlef Schmiechen-Ackermann, Berl<strong>in</strong> 1997. Zu <strong>den</strong> frühenÜberblicksdarstellungen zählt: Der lautlose Aufstand. Bericht über die <strong>Widerstand</strong>sbewegungdes deutschen Volkes 1933-1945, hrsg. von Günther Weisenborn, Hamburg 1954, <strong>in</strong> vielenNachauflagen, aber nicht <strong>in</strong> der DDR erschienen.2Hier sei nur <strong>das</strong> Beispiel der Roten Kapelle genannt. Die Deutungsmuster der Gestapo wirktennoch lange nach. Siehe auch: Rote Kapelle im <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus, hrsg.von Hans Coppi, Jürgen Danyel und Johannes Tuchel, Berl<strong>in</strong> 1994. Hans Coppi, Mythos RoteKapelle, <strong>in</strong>: Dieser Tod passt zu mir. Harro Schulze-Boysen – Grenzgänger im <strong>Widerstand</strong>, hrsg.von Hans Coppi und Geertje Andresen, Berl<strong>in</strong> 2001.3Mart<strong>in</strong> Broszat, Alltag und <strong>Widerstand</strong> – Bayern im Nationalsozialismus, München 1987; IanKershaw, Bayern <strong>in</strong> der <strong>NS</strong>-Zeit: Grundlegung e<strong>in</strong>es neuen <strong>Widerstand</strong>skonzeptes, <strong>in</strong>: 50 JahreInstitut für Zeitgeschichte: e<strong>in</strong>e Bilanz, hrsg. von Horst Möller, Udo Hengst, München 2000.8


<strong>Widerstand</strong>sforschung zu überw<strong>in</strong><strong>den</strong> und mit dem, obwohl umstrittenen,Resistenzbegriff widerständige Verhaltensweisen im Alltag e<strong>in</strong>zubeziehen. DetlevPeukerts Dissertation über <strong>den</strong> kommunistischen <strong>Widerstand</strong> im Ruhrgebiet 4markierte <strong>den</strong> qualitativen Sprung von der Traditionsbildung zur Wissenschaft.E<strong>in</strong>e mehr an der Sozialgeschichte orientierte <strong>NS</strong>-Forschung trug, untergleichzeitiger Anerkennung ihres opferreichen Kampfes, entschei<strong>den</strong>d zurEntmythologisierung der deutschen Arbeiterschaft als Hort des <strong>Widerstand</strong>sbei. 5 Weitere Untersuchungen zeigen, <strong>das</strong>s <strong>in</strong> der Bundesrepublik grundlegendeArbeiten zum kommunistischen <strong>Widerstand</strong> entstan<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. 6In der DDR sollte der Mythos von der immerwähren<strong>den</strong> Führung undAnleitung durch die KPD-Führung im antifaschistischen <strong>Widerstand</strong> auch dieUnfehlbarkeit der SED-Politik historisch legitimieren. Die traditionsbil<strong>den</strong>deParteigeschichte mit der besonderen Herausstellung und Überhöhung deskommunistischen <strong>Widerstand</strong>s verh<strong>in</strong>derte e<strong>in</strong>e differenzierte Beschäftigungmit unterschiedlichen Ansätzen wie auch mit der Vielfalt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Reihen derHitler-Gegner. 7 Die DDR-<strong>Widerstand</strong>sforschung war sowohl von dogmatischenE<strong>in</strong>seitigkeiten wie auch immer wieder von Bemühungen zu ihrerÜberw<strong>in</strong>dung gekennzeichnet. 8 Sie verblieb aber nicht nur im Arbeitermilieu,wie die Arbeiten über Claus Graf von Stauffenberg 9 und Helmuth Moltke 10 ,dem <strong>Widerstand</strong> der Kirchen 11 und auch die Veröffentlichungen zur WeißenRose 12 zeigen. Filme im DDR-Fernsehen zu York von Wartenburg und zu <strong>den</strong>4Detlev Peukert, Die KPD im <strong>Widerstand</strong>. Verfolgung und Untergrundarbeit an Rhe<strong>in</strong> undRuhr 1933 bis 1945, Wuppertal 1980. Mit e<strong>in</strong>em guten Überblick über <strong>den</strong> Forschungsstandzum kommunistischen <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> der Bundesrepublik und der DDR. Diese Arbeit erschiennicht <strong>in</strong> der DDR.5Gegner des Nationalsozialismus. Wissenschaftler und <strong>Widerstand</strong>skämpfer auf der Suche nachhistorischer Wirklichkeit, hrsg. von Christoph Kleßmann und Falk P<strong>in</strong>gel, Frankfurt (Ma<strong>in</strong>),1980.6Hermann Duhnke, Die KPD von 1933 bis 1945, Köln 1972; Beatrix Herlemann, Auf verlorenemPosten. Kommunistischer <strong>Widerstand</strong> im Zweiten Weltkrieg. Die Knöchel-Organisation,Bonn 1986.7Institut für Marxismus-Len<strong>in</strong>ismus beim Zentralkomitee der SED, Geschichte der deutschenArbeiterbewegung, Band 5, von Januar 1933 bis Mai 1945, Berl<strong>in</strong> 1966.8E<strong>in</strong>en guten Überblick vermittelt der Aufsatz von Ines Reich und Kurt F<strong>in</strong>ker, Reaktionäreoder Patrioten? Zur Historiographie und <strong>Widerstand</strong>sforschung <strong>in</strong> der DDR bis 1990, <strong>in</strong>: Der20. Juli 1944. Bewertung und Rezeption des deutschen <strong>Widerstand</strong>es <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>,Köln 1994.9Daniel Melnikow, 20. Juli. Legende und Wirklichkeit, Berl<strong>in</strong> 1964; Kurt F<strong>in</strong>ker, Stauffenbergund der 20. Juli 1944, Berl<strong>in</strong> 1965. 1989 erschien die 7. überarbeitete Nachauflage.10Kurt F<strong>in</strong>ker, Graf Moltke und der Kreisauer Kreis, Berl<strong>in</strong> 1978.9


Frauen des Kreisauer Kreises fan<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> achtziger Jahren e<strong>in</strong> <strong>in</strong>teressiertesPublikum.2. Idealtypische <strong>Widerstand</strong>skämpferDas Er<strong>in</strong>nern an <strong>den</strong> 20. Juli 1944 und <strong>das</strong> Nach<strong>den</strong>ken über <strong>das</strong> fehlgeschlageneAttentat auf Hitler fan<strong>den</strong> sechzig Jahre danach e<strong>in</strong>e große, bisher nichtgekannte öffentliche Aufmerksamkeit. Ke<strong>in</strong> anderes Ereignis der Geschichtedes Nazi-<strong>Regime</strong>s wurde zu solch e<strong>in</strong>em medialen Ereignis. Die Republikwürdigte, ehrte und feierte vor allem die Offiziere und Generäle des 20. Julials Vorbilder und Hel<strong>den</strong>. Sie hatten im Juli 1944 <strong>den</strong> Aufstand des Gewissensgewagt, <strong>den</strong> Gehorsam verweigert, <strong>den</strong> Eid gebrochen und <strong>den</strong> Krieg been<strong>den</strong>wollen. Für preußische Militärs war dies e<strong>in</strong>e ungewöhnlich oppositionelle,da obrigkeitswidrige Haltung. Umfragen belegen, <strong>das</strong>s Anerkennung undReputation von Claus von Stauffenberg und se<strong>in</strong>en mutigen Mitstreitern <strong>in</strong>Deutschland noch nie so e<strong>in</strong>deutig und ungeteilt waren. 13Von diesem Umsturzversuch g<strong>in</strong>g die größte Gefahr für <strong>das</strong> Nazi-<strong>Regime</strong>im Inneren Deutschlands aus. Viele der an <strong>den</strong> Planungen des UmsturzesBeteiligten lösten sich aber erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em komplizierten und widersprüchlichenProzess vom Naziregime. Die beteiligten Offiziere und Generäle waren zunächstan der Vorbereitung und Mitwirkung e<strong>in</strong>es verbrecherischen Angriffskriegesbeteiligt. E<strong>in</strong>zelne duldeten, andere wussten um die Verbrechen <strong>gegen</strong> Zivilistenund manche kooperierten mit <strong>den</strong> SS-E<strong>in</strong>satzgruppen. 14 Uns begegnenwiderspruchsvolle Biographien von Männern, die sich aus partieller Übere<strong>in</strong>-11Klaus Drobisch, Dokumentarbericht über Leben und Sterben des katholischen GeistlichenDr. Max Josef Metzger, Berl<strong>in</strong> 1970; Klaus Drobisch und Gerhard Fischer (Hrsg.), Ihr Gewissengebot es. Christen im <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Hitlerfaschismus; Gerhard Fischer, AntifaschistischesErbe - Mythos oder Auftrag? Lehren aus dem <strong>Widerstand</strong> von Christen <strong>in</strong> Deutschland,Berl<strong>in</strong> 1986.12Karl-He<strong>in</strong>z Jahnke, Antifaschistischer <strong>Widerstand</strong> an der Münchener Universität. Die Stu<strong>den</strong>tengruppeScholl/Schmorell, <strong>in</strong>: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 16, 1968; Wirschweigen nicht! E<strong>in</strong>e Dokumentation über <strong>den</strong> antifaschistischen Kampf Münchener Stu<strong>den</strong>ten1942/43, hrsg. und mit e<strong>in</strong>er biographischen Skizze der Geschwister Scholl e<strong>in</strong>geleitet vonKlaus Drobisch, Berl<strong>in</strong> 1980.13Der Spiegel 29/2004, S. 24. Über 70 Prozent der Befragten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Infratestumfrage vom22. bis 24. Juni drückten ihre Bewunderung und Achtung aus, wenn sie an <strong>das</strong> Attentat vom20. Juli dachten.14Christian Gerlach, Männer des 20. Juli und der Krieg <strong>gegen</strong> die Sowjetunion, <strong>in</strong>: Vernichtungskrieg<strong>gegen</strong> die Sowjetunion 1941 bis 1944, hrsg. von Hannes Heer und Klaus Naumann,Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1999.10


stimmung und Verstrickung mit dem Naziregime lösten und schließlich auchaus dem Eid auf Hitler befreiten. Wir entdecken Menschen, deren Ansichtensich durch E<strong>in</strong>sichten veränderten. 15 Dabei wurde im Sommer 2004 <strong>in</strong> vielenBeiträgen weniger oder eher beiläufig auf die Brüche <strong>in</strong> <strong>den</strong> Biographien derProtagonisten e<strong>in</strong>gegangen. Es geht allerd<strong>in</strong>gs nicht darum, wie Joachim Festbefürchtet, die Taten der Männer des 20. Juli durch e<strong>in</strong>e differenzierte Sichtauf ihr Leben herabsetzen zu wollen. 16 Erst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er behutsamen differenziertenAnnäherung wird der Spannungsbogen von Übere<strong>in</strong>stimmung undzunehmender Distanz, von quälendem Zögern und entschlossenem Handeln,wer<strong>den</strong> Motive ihres Wandels und Handelns für die Nachgeborenen sichtbar.Kontroversen gab es <strong>in</strong> diesem Jahr, im Gegensatz zum 20. Juli 1995, nichtmehr, wenn man von <strong>den</strong> Protesten der Gegner des öffentlichen Gelöbnissesvor dem Bendler-Block absieht.Der deutsche <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Breite, Vielfalt und Widersprüchlichkeit,mit all se<strong>in</strong>en Brüchen, Hoffnungen, Niederlagen und Neuanfängen 17 schienim Sommer 2004 bei der Fokussierung auf die Offiziere und Generäle des 20.Juli leider nur selten auf. Die Dynamik der Ereignisgeschichte des Attentatsauf Hitler ließ oftmals die beteiligten Sozialdemokraten und Gewerkschafter,Hitlergegner der ersten Stunde, zu Statisten und Randfiguren wer<strong>den</strong>. DieBemühungen Stauffenbergs, über Adolf Reichwe<strong>in</strong> und Georg Leber Kontaktezum kommunistischen <strong>Widerstand</strong> um Anton Saefkow und Franz Jakob <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong> 18 aufzubauen, waren nur selten e<strong>in</strong> ema. Auch die verfolgten 30 000Deserteure 19 , von <strong>den</strong>en 20 000 zum Tode verurteilt wur<strong>den</strong>, fan<strong>den</strong> kaume<strong>in</strong>e Erwähnung.15Peter Ste<strong>in</strong>bach, Der 20. Juli 1944. Gesichter des <strong>Widerstand</strong>s, Berl<strong>in</strong> 2004.16Joachim Fest, »Es g<strong>in</strong>g um e<strong>in</strong>en demonstrativen Akt«. Gedanken zum 20. Juli/HistorischerHochmut und ideologische Verranntheit <strong>in</strong> Zeiten moralischer Bequemlichkeit, <strong>in</strong>: FrankfurterAllgeme<strong>in</strong>e Zeitung vom 22. Juli 2004.17Hartmut Mehr<strong>in</strong>ger, <strong>Widerstand</strong> und Emigration. Das <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> und se<strong>in</strong>e Gegner, München1998. E<strong>in</strong>e umfangreiche Bestandsaufnahme mit e<strong>in</strong>em umfassen<strong>den</strong> Literaturüberblick.Ferner: Lexikon des deutschen <strong>Widerstand</strong>s, hrsg. von Wolfgang Benz und Walter H. Pehle,Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 2001; <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> die nationalsozialistische Diktatur 1933-1945,hrsg. von Peter Ste<strong>in</strong>bach und Johannes Tuchel, Bonn 2004; <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus.E<strong>in</strong> historisches Lehrbuch, hrsg. von Peter Ste<strong>in</strong>bach und Johannes Tuchel, München1997; Michael Ruck, Bibliographie zum Nationalsozialismus, Darmstadt 2000. Mit e<strong>in</strong>emumfangreichen Literaturüberblick zu <strong>Widerstand</strong> und Verfolgung <strong>in</strong> der <strong>NS</strong>-Zeit.18Johannes Tuchel, Kontakte zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten im Sommer 1944.Zur historischen Bedeutung des 20. Juli 1944, <strong>in</strong> Dachauer Hefte 11 (1995); Ursel Hochmuth,Illegale KPD und Bewegung »Freies Deutschland« <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und Bran<strong>den</strong>burg, Berl<strong>in</strong> 1998.11


Der 20. Juli schien plötzlich Beg<strong>in</strong>n, Höhepunkt und Ende von widerständigemVerhalten gewor<strong>den</strong> zu se<strong>in</strong> und nicht Ausdruck e<strong>in</strong>er politischenVielfalt, wie sie <strong>in</strong> der Literatur, <strong>in</strong> der ständigen Ausstellung der Ge<strong>den</strong>kstätteDeutscher <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und andernorts gezeigt wird. 20 DieEhrungen verdeutlichen aber, <strong>in</strong> welchem Maße der deutsche <strong>Widerstand</strong> zue<strong>in</strong>em wichtigen Bezugspunkt der politischen Kultur <strong>in</strong> der BundesrepublikDeutschland gewor<strong>den</strong> ist.Nach all <strong>den</strong> Veranstaltungen und Diskussionen entsteht für mich deridealtypische <strong>Widerstand</strong>skämpfer aus zwei unterschiedlichen Haltungen.Da s<strong>in</strong>d zum e<strong>in</strong>en die Männer des 20. Juli, die unter dem E<strong>in</strong>druck derVerbrechen und der sich abzeichnen<strong>den</strong> militärischen und politischen Niederlageihre Me<strong>in</strong>ung veränderten und <strong>das</strong> Nazi-<strong>Regime</strong> stürzen wollten. Ausloyalen Gefolgsleuten wur<strong>den</strong> entschie<strong>den</strong>e Hitler-Gegner. Damit stehen dieMänner des 20. Juli aber nicht alle<strong>in</strong>. Hans Fallada hat zum Beispiel solch e<strong>in</strong>eWandlung e<strong>in</strong>es Arbeiterehepaares e<strong>in</strong>drucksvoll beschrieben. 21Da s<strong>in</strong>d zum anderen tausende Kommunisten, Sozialdemokraten, Sozialisten,Anarchisten, Gewerkschafter, Liberale, Jugendliche und andere Hitler-Gegner.Viele von ihnen haben bereits vor und auch sofort nach Hitlers Machtergreifung<strong>das</strong> Nazi-<strong>Regime</strong> bekämpft. Dabei verkörpern die Kommunisten <strong>den</strong>größten Anteil am deutschen <strong>Widerstand</strong> und sie haben auch die meistenOpfer gebracht. Die um <strong>den</strong> 20. Juli 1995 erneut heftig geführte Diskussion,ob Kommunisten überhaupt zum deutschen <strong>Widerstand</strong> gehören, schien noche<strong>in</strong>mal zu bestätigen, <strong>das</strong>s <strong>in</strong> der Bundesrepublik besonders jene Nazi-Gegnergeehrt wur<strong>den</strong>, die nicht durch zu große Nähe zur KPD, zur Sowjetunionoder zur kommunistischen Emigration geprägt waren. 2219»Ich musste selber etwas tun«, Deserteure – Täter und Verfolgte im Zweiten Weltkrieg, GeschichtswerkstattMarburg (Hrsg.), Marburg 2000. Zum Forschungsstand vgl. Die anderen Soldaten.Wehrkraftzersetzung, Gehorsamsverweigerung und Fahnenflucht im Zweiten Weltkrieg,hrsg. von Norbert Hasse und Gerhard Paul, Frankfurt (Ma<strong>in</strong>) 1997.20Siehe auch Fußnote 17.21Hans Fallada, Jeder stirbt für sich alle<strong>in</strong>, Berl<strong>in</strong> 2000.22Peter Ste<strong>in</strong>bach, <strong>Widerstand</strong>, e<strong>in</strong> Bezugspunkt zur politischen Kultur. Zugleich e<strong>in</strong> Nachtragzur Kontroverse um <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong>, <strong>in</strong>: Peter Ste<strong>in</strong>bach, <strong>Widerstand</strong> im Widerstreit, S. 468;Peter Reichel, Politik der Er<strong>in</strong>nerung. Gedächtnisorte im Streit um die nationalsozialistischeVergangenheit, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1999. Peter Reichel beleuchtet die Kontroversen um <strong>den</strong>20. Juli 1995.12


Sicherlich hatte die antifaschistische Haltung von Kommunisten 23 unterschiedlicheFacetten von Selbstbehauptung und Anpassung, aber ihre e<strong>in</strong>deutigeAblehnung des Nazi-<strong>Regime</strong>s, auch nach Jahren der Haft, unterlagbei <strong>den</strong> meisten ke<strong>in</strong>em Wandel. Oft nahmen sie nach der Entlassung ausGefängnissen und Konzentrationslagern wieder Kontakt zu Gleichges<strong>in</strong>ntenauf, <strong>in</strong> dem Wissen, was e<strong>in</strong>e erneute Verhaftung für sie und für ihre Familienbedeuten würde.Die Gegner<strong>in</strong>nen und Gegner des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s blieben immer e<strong>in</strong>e verschw<strong>in</strong><strong>den</strong>dkle<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> der deutschen Gesellschaft. Was bewegte sie,politisch weiter zu arbeiten, sich äußerlich anzupassen, nicht aber ihre Zieleund ihre antifaschistische Haltung aufzugeben? Es war die eigene Entscheidungjedes e<strong>in</strong>zelnen, nicht die Umsetzung von Beschlüssen kaum bekannter oder<strong>in</strong>zwischen schon verhafteter übergeordneter Leitungen. E<strong>in</strong>, wenn auch kle<strong>in</strong>erwer<strong>den</strong>der Kreis von aktiven Kommunisten, Sozialdemokraten und anderen<strong>Regime</strong>-Gegnern verhielt sich weiterh<strong>in</strong> solidarisch, unterstützte Bedrohte unddie Familien von Verfolgten, setzte mit kle<strong>in</strong>en propagandistischen Aktionenöffentliche Zeichen, lernte mit <strong>den</strong> Gefahren zu leben und mit der ständigenBedrohung umzugehen.Das sozialistische Arbeitermilieu befand sich schon <strong>in</strong> der Weimarer Republikdurch Elemente der modernen Massenkultur, aber auch durch <strong>das</strong>Gegene<strong>in</strong>ander von SPD und KPD <strong>in</strong> Auflösung. Nach 1933 überwölbte<strong>in</strong>des die geme<strong>in</strong>same Bedrohung die Spaltung der Arbeiterbewegung. Auchwenn die Nazi-Ideologie <strong>in</strong> <strong>den</strong> Alltag der Arbeiterbezirke e<strong>in</strong>drang, Mitgliederund Funktionäre der Arbeiterparteien verhaftet wur<strong>den</strong> und manche sich <strong>den</strong>Nazis anschlossen, wirkte die mentale, kulturelle antifaschistische Prägungdes Kietzes weiter. 24 Zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten entstande<strong>in</strong>e Alltagssolidarität.23Klaus-Michael Mallmann, Konsistenz oder Zusammenbruch. Profile des kommunistischen<strong>Widerstand</strong>s, <strong>in</strong>: Anpassung, Verweigerung und <strong>Widerstand</strong>. Soziale Milieus, Politische Kulturund der <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus im regionalen Vergleich, hrsg. von DetlefSchmiechen-Ackermann, Berl<strong>in</strong> 1997; Hermann Weber und Andreas Herbst, Deutsche Kommunisten.Biografisches Handbuch 1918 bis 1945, Berl<strong>in</strong> 2004.24Anpassung, Verweigerung und <strong>Widerstand</strong>. Soziale Milieus, Politische Kultur und der <strong>Widerstand</strong><strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus im regionalen Vergleich, hrsg. von Detlef Schmiechen-Ackermann, Berl<strong>in</strong> 1997.13


3. <strong>Widerstand</strong> im AlltagBei der großen Übere<strong>in</strong>stimmung des deutschen Volkes mit dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>entsteht die Frage, wie deren Gegner im und zugleich <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> braunenStrom, im Spannungsfeld von Anpassung, Resistenz und <strong>Widerstand</strong> lebten.Häufig waren es zunächst Freundeskreise, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en <strong>Regime</strong>-Gegner zusammenfan<strong>den</strong>.Daraus entstan<strong>den</strong> Ges<strong>in</strong>nungsgeme<strong>in</strong>schaften und später auch<strong>Widerstand</strong>sgruppen. He<strong>in</strong>rich Scheel und andere beschreiben <strong>das</strong> Entstehenvon wechselvollen persönlichen und politischen Freundschaften undunterschiedliche zeitliche Phasen von Gegnerschaft und Aktionen. 25 DerZusammenhalt hatte <strong>in</strong>sbesondere <strong>in</strong> der Freizeit se<strong>in</strong>en Alltag. Nicht alleGeme<strong>in</strong>samkeiten und Interaktionen waren verkappte widerständige Tarnformen.E<strong>in</strong> freundschaftliches Mite<strong>in</strong>ander be<strong>in</strong>haltete geme<strong>in</strong>same, auchdem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> ent<strong>gegen</strong>gesetzte Interessen. In <strong>den</strong> Freundeskreisen entstande<strong>in</strong> nazifreier Raum, auch wenn nicht alle Beteiligten die freundschaftlichenBegegnungen bereits als e<strong>in</strong>en politischen Zusammenschluss ansahen. DerRomanist Werner Krauss, der 1940 bei e<strong>in</strong>em Freund e<strong>in</strong>en solchen Zirkeljunger Abendschüler kennen gelernt hatte, umschreibt diesen Kreis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emsatirischen Roman als »Bund für unentwegte Lebensfreude« und <strong>den</strong> <strong>in</strong>nerenKreis als »Katakombengesellschaft«. 26Nazi-Gegner erkannten e<strong>in</strong>ander, kamen mite<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>s Gespräch. Dawurde e<strong>in</strong>e andere Sprache, e<strong>in</strong> anderer Ton angeschlagen. <strong>Widerstand</strong> undResistenz g<strong>in</strong>gen bisweilen e<strong>in</strong>e Symbiose e<strong>in</strong>, führten zur Immunisierung<strong>gegen</strong> die <strong>NS</strong>-Ideologie, <strong>gegen</strong> die Vere<strong>in</strong>nahmung durch <strong>den</strong> Staat undse<strong>in</strong>e Organisationen. Menschen bewahrten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weltanschaulichenDissens ihren humanistischen Lebensanspruch, behaupteten Anstand undMenschenwürde, stellten sich der Menschenverachtung ent<strong>gegen</strong> und halfenBedrohten sowie Verfolgten. Hieraus entstan<strong>den</strong> Freundschaften und auchKonfliktfelder zum <strong>NS</strong>-Staat und se<strong>in</strong>en Institutionen. 27 Nicht jedes nicht-25He<strong>in</strong>rich Scheel, Vor <strong>den</strong> Schranken des Reichskriegsgerichts. Me<strong>in</strong> Weg <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong>,Berl<strong>in</strong> 1993; Reg<strong>in</strong>a Scheer, Im Schatten der Sterne. E<strong>in</strong>e jüdische <strong>Widerstand</strong>sgruppe. AufbauVerlag, Berl<strong>in</strong> 2004.26Werner Krauss, PLN. Die Passionen der halykonischen Seele, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1946. Sieheauch Elisabeth Fillmann, Realsatire und Lebensbewältigung. Studien zu Entstehung und Leistungvon Werner Krauss’ antifaschistischem Roman »PLN. Die Passionen der halykonischenSeele«, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1996.27Mart<strong>in</strong> Broszat, Resistenz und <strong>Widerstand</strong>. E<strong>in</strong>e Zwischenbilanz des Forschungsprojekts, <strong>in</strong>:Bayern <strong>in</strong> der <strong>NS</strong>-Zeit. Band IV. Herrschaft und Gesellschaft im Konflikt. Teil C, hrsg. vonMart<strong>in</strong> Broszat, Elke Fröhlich und Anton Grossmann, München und Wien 1981.14


konforme Verhalten bzw. nicht jede Form von Selbstbehauptung waren jedochbereits schon e<strong>in</strong>e Form von <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>, konntenjedoch durch die Reaktion des Staates zu e<strong>in</strong>em Anlass der Verfolgung wer<strong>den</strong>.Es bildeten sich <strong>in</strong>formelle Ges<strong>in</strong>nungsgeme<strong>in</strong>schaften <strong>in</strong> Sportorganisationen,<strong>in</strong> Sängerbün<strong>den</strong> und <strong>in</strong> anderen Zusammenhängen. Untersuchungen zum<strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> Magdeburg zeigen, wie Sozialdemokraten e<strong>in</strong>e demokratischeSubkultur eigener Lebensart entwickelten, die e<strong>in</strong>en politischen und kulturellenZusammenhalt ermöglichte. 28 Hier entstand e<strong>in</strong>e der Öffentlichkeit weitgehendverborgene, manchmal als solche nicht wahrgenommene subversive Kulturund gelegentlich e<strong>in</strong>e von Jugendlichen habituell auch öffentlich geäußerteProtestkultur. 29 Unter <strong>den</strong> Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er gleichgeschalteten Presse undÖffentlichkeit wurde der <strong>in</strong>s überschaubare Private zurückgenommene Me<strong>in</strong>ungsaustauschzum entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Kommunikationsmittel. AusländischeSender wur<strong>den</strong> abgehört, illegale Literatur, Flugblätter und Positionspapierezirkulierten. Die <strong>Regime</strong>-Gegner trugen die eigene Unruhe nach außen, durchbrachen<strong>das</strong> Schweigen und machten für e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Öffentlichkeit sichtbar,<strong>das</strong>s die Gegner im Inneren noch da und wieder aktiv s<strong>in</strong>d.Freundeskreise bildeten e<strong>in</strong> Refugium, <strong>in</strong> dem auch Spannungen ausgetragenund selbst persönliche Krisen ausgehalten wer<strong>den</strong> konnten, ohne <strong>den</strong> Zusammenhalt<strong>in</strong> Frage zu stellen. Vertrauen und Verlässlichkeit, Hilfe füre<strong>in</strong>anderund für andere prägten die Zusammenkünfte. Es wurde geredet, gesungen,gelacht, Angst, Alle<strong>in</strong>se<strong>in</strong> und Misstrauen überwun<strong>den</strong>. Geme<strong>in</strong>schafts- undBegegnungsformen aus der Weimarer Republik lebten weiter. Dies alles warennicht nur Formen der Tarnung, sondern auch der Versuch, eigenes Leben<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bedrohten Welt zu gestalten. Frauen gehörten selbstverständlich zudiesen Kreisen dazu. 30Als wir 1994 die Ausstellung über die Rote Kapelle 31 vorbereiteten,konnten wir auf viele Schilderungen und Fotos von Wochenendausflügenzurückgreifen. Vom »Camp<strong>in</strong>g im <strong>Widerstand</strong>« g<strong>in</strong>g Ermutigung aus, auch28Beatrix Herlemann, »Wir s<strong>in</strong>d geblieben, was wir immer waren: Sozialdemokraten«. Sozialdemokratisches<strong>Widerstand</strong>s- und Überlebensverhalten 1932 bis 1945, <strong>in</strong>: Detlef Schmiechen-Ackermann. Siehe Fußnote 25.29Arno Klönne, Jugend im Dritten Reich. Die Hitler-Jugend und ihre Gegner, Düsseldorf 1984.30Frauen <strong>gegen</strong> die Diktatur – <strong>Widerstand</strong> und Verfolgung im nationalsozialistischen Deutschland,hrsg. von Christel Wickert, Berl<strong>in</strong> 1995; Marlis Coburger: Die Frauen der Roten Kapelle,<strong>in</strong>: Rote Kapelle im <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus, hrsg. von Hans Coppi, JürgenDanyel und Johannes Tuchel, Berl<strong>in</strong> 1994; Frauen und <strong>Widerstand</strong>, hrsg. von Jana Leichsenr<strong>in</strong>g,Münster 2003.15


Entspannung, die Lust am Leben und auf Freiheit. Der überwiegend lockereZusammenhalt schloss konspirative Verhaltensweisen e<strong>in</strong>, war offen für neueFreunde. Freundeskreise veränderten, berührten, überlappten und erweitertensich, ohne zu e<strong>in</strong>er hierarchisch gegliederten Organisation zu wer<strong>den</strong>. Überpersönliche Verb<strong>in</strong>dungen ergaben sich Schnittstellen zu anderen Kreisen.E<strong>in</strong> Netzwerk entstand.Am Lankesee bei Liebenberg, Pf<strong>in</strong>gsten 1940, von l<strong>in</strong>ks nach rechts: Kurt Schumacher, ElfriedePaul, Ra<strong>in</strong>er Küchenmeister, Harro Schulze-Boysen und Günther Weisenborn.Wie behauptete sich e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em fe<strong>in</strong>dlich ges<strong>in</strong>nten gesellschaftlichenUmfeld? Wie war ihr Alltag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bedrohten Welt? Gab es e<strong>in</strong>richtiges Leben im falschen und wie konnte es geführt wer<strong>den</strong>?Die Antifaschisten lebten <strong>in</strong>mitten e<strong>in</strong>er Gesellschaft, die sie verachteten. Siehatten <strong>den</strong> Nazi-Terror selbst, <strong>in</strong> ihrer Familie, bei Freun<strong>den</strong> oder bei anderenerlebt. Die ständige Bedrohung hatte sie nicht gebrochen. Im Gegensatz zurMehrheit lehnten sie die Herrschen<strong>den</strong> und ihre verbrecherischen Ziele ab,31»Rote Kapelle. E<strong>in</strong> Portrait der <strong>Widerstand</strong>sgruppe um Arvid Harnack und Harro Schulze-Boysen <strong>in</strong> Fotografien und Selbstzeugnissen«, Hans Coppi, Jürgen Danyel, Wolfgang Olesch<strong>in</strong>skiund Johannes Tuchel (Konzeption und Redaktion), Ausstellung der Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher<strong>Widerstand</strong> Berl<strong>in</strong>. Die Ausstellung wurde im Mai 2005 im Rathaus Rostock gezeigt.16


konnten sie nicht gleichgültig <strong>gegen</strong>über fremdem Leid se<strong>in</strong>, <strong>das</strong> von Deutschenverursacht wor<strong>den</strong> war. Obwohl die meisten von ihnen nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von derÖffentlichkeit weitgehend abgeschirmten Untergrund kämpften, bezeichneteman sie später als »Die Illegalen«. Bis auf wenige lebten sie nicht versteckt oderunter falschem Namen. Sie hatten e<strong>in</strong>en Beruf, stan<strong>den</strong>, wenn sie e<strong>in</strong> Telefonbesaßen, im Telefonbuch, hatten e<strong>in</strong>e Arbeitsstelle, e<strong>in</strong>en Arbeitsvertrag.Die meisten »Illegalen« schienen sich völlig legal zu bewegen, bezahlten ihreSteuern, g<strong>in</strong>gen pünktlich zur Arbeit, sehnten sich nach e<strong>in</strong>em erfüllten Leben.E<strong>in</strong>ige hatten K<strong>in</strong>der, andere stellten diesen Wunsch zurück. Die Sehnsuchtnach Glück, die Lust auf Leben, Liebe und Erotik <strong>in</strong> Zeiten des Terrors, desKrieges, der Lebensbedrohung und des <strong>Widerstand</strong>s war ungebrochen.Die <strong>Regime</strong>-Gegner mussten sich <strong>in</strong> der Öffentlichkeit unerkannt bewegenund zugleich blieben sie erkennbar für Freunde, Verfolgte und auch für vonder <strong>NS</strong>-Politik Enttäuschte. Sie wur<strong>den</strong> Sympathieträger und Katalysatorenfür Veränderungen. Mit ihrem Dase<strong>in</strong>, ihren versteckten und offenen Zeichenbewiesen sie, <strong>das</strong>s e<strong>in</strong> anderes Leben möglich war. Aber nicht nur re<strong>den</strong>,sondern handeln wollten sie. Geme<strong>in</strong>same Aktionen entstan<strong>den</strong> manchmalnach kontroversen Diskussionen.Das Nach<strong>den</strong>ken über <strong>den</strong> deutschen <strong>Widerstand</strong> schließt die Frage nachse<strong>in</strong>em Scheitern mit e<strong>in</strong>. Das Ziel, aus eigener Kraft die Hitler-Diktaturzu stürzen und <strong>den</strong> Krieg zu been<strong>den</strong>, ist nicht erreicht wor<strong>den</strong>. Die Befreiungkam von außen. Aber Tausende, Zehntausende haben es gewagt und<strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> manchmal auswegloser Situation im eigenen fe<strong>in</strong>dlichenLand geleistet, haben sich verweigert, s<strong>in</strong>d übergelaufen oder haben <strong>in</strong> <strong>den</strong>Armeen der Anti-Hitler-Koalition für die Befreiung Europas vom deutschenFaschismus gekämpft. Unter Abwägung aller Gefährdungen schien es vielenDeutschen, die ke<strong>in</strong>e Anhänger des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s gewesen waren, vernünftigergewesen zu se<strong>in</strong>, sich nicht auf <strong>das</strong> Risiko des Widerstehens e<strong>in</strong>zulassen. DieAngst vor der Denunziation und der Macht e<strong>in</strong>es brutalen Geheimdiensteswar zu groß. Viele beriefen sich nach 1945 darauf, <strong>das</strong>s sie die zwölf JahreNazi-Diktatur <strong>in</strong> <strong>in</strong>nerer Emigration überlebt hätten. E<strong>in</strong>ige wenige warenaber bereit gewesen, aus <strong>den</strong> geschützten Räumen der <strong>in</strong>neren Emigrationherauszugehen. Ihre Biografien, ihre Lebensumstände und Beweggründe,Geme<strong>in</strong>samkeiten, Widersprüche, Zweifel, aber auch ihre Hoffnungen undZukunftsvorstellungen zu ergrün<strong>den</strong>, ist e<strong>in</strong> immerwährender Prozess derAnnäherung an die Geschichte und an die Handlungsmöglichkeiten vonMenschen. Dies ist aber nicht nur e<strong>in</strong>e historische, sondern zugleich e<strong>in</strong>esehr aktuelle Fragestellung. Die Beschäftigung mit dem <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong>17


<strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> schärft auch <strong>den</strong> Blick für die notwendige Ause<strong>in</strong>andersetzungmit dem sich ausbreiten<strong>den</strong> Rechtsextremismus und se<strong>in</strong>en Ursachen,<strong>den</strong> Trägern und <strong>den</strong> Ersche<strong>in</strong>ungsformen von Neonazismus, Rassismusund Antisemitismus. Historische Zusammenhänge vermitteln Wissen undemotionale Zugänge zu gelebter Zivilcourage, die auch heute und sicherlichauch morgen benötigt wird. 18


Kyra T. Inach<strong>in</strong>, Greifswald<strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong><strong>Mecklenburg</strong> und Pommern 1933 bis 1945Der Attentatsversuch auf Hitler am 20. Juli 1944 steht stellvertretend für<strong>den</strong> deutschen <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus, für e<strong>in</strong> »anderesDeutschland«. Dieses Datum gilt geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> als deutliches – wenn auch spätes– Zeichen e<strong>in</strong>es aktiven deutschen <strong>Widerstand</strong>s und stellt <strong>den</strong> letzten Versuchdar, im Interesse aller Gegner des Nationalsozialismus und se<strong>in</strong>es <strong>Regime</strong>s <strong>den</strong>Diktator zu töten und die Gewaltherrschaft zu been<strong>den</strong>.Zu <strong>den</strong> überregional bekannten Protagonisten des 20. Juli 1944 gehörenauch e<strong>in</strong>ige <strong>Mecklenburg</strong>er und Pommern, so zum Beispiel Ewald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong>, Julius Leber und Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Wäre<strong>das</strong> Attentat erfolgreich gewesen, hätten sie hohe Ämter <strong>in</strong> Verwaltung undPolitik bekleidet. So war der pommersche Jurist Ewald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong>als »politischer Beauftragter« der neuen Regierung vorgesehen. Der mecklenburgischeSozialdemokrat Julius Leber sollte nach <strong>den</strong> Planungen StauffenbergsInnenm<strong>in</strong>ister wer<strong>den</strong>.Vor allem sollten Verhandlungen mit <strong>den</strong> westlichen Alliierten aufgenommenwer<strong>den</strong>, um <strong>den</strong> Krieg zu been<strong>den</strong>. Wenn sie <strong>den</strong> neuen Staat hättenformen können, wäre jedoch nicht zwangsläufig die Demokratie <strong>das</strong> zuverwirklichende Ziel gewesen, <strong>den</strong>n die meisten der am Attentat Beteiligtenwaren nationalkonservative Männer, die <strong>den</strong> Tyrannenmord als Dienst anDeutschland verstan<strong>den</strong> und <strong>Widerstand</strong> als Staatsdiener leisten wollten.Über die Zeit nach e<strong>in</strong>em geglückten Attentat hatten sie zuvor zwar grundsätzlicheErwägungen angestellt, doch e<strong>in</strong>ig waren sie nur dar<strong>in</strong>, <strong>das</strong>s manke<strong>in</strong>e Massendemokratie nach dem Vorbild der Weimarer Republik anstrebenwollte. Dem Aristokraten und Verwaltungsfachmann Fritz-Dietlof Graf vonder Schulenburg schwebte vielmehr e<strong>in</strong> autoritärer, ständisch gegliederterRechtsstaat auf christlich-humanistischer Grundlage vor. Ewald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong> war e<strong>in</strong> Vertreter e<strong>in</strong>es monarchistisch und christlich geprägtenKonservatismus. Doch der Diktator überlebte <strong>den</strong> Anschlag und der <strong>Regime</strong>-Wechsel blieb aus. Der Krieg g<strong>in</strong>g weiter, obwohl sich die Wehrmacht nahezuüberall <strong>in</strong> Europa auf dem Rückzug befand. Somit bleibt der 20. Juli 1944 e<strong>in</strong>Symbol des Gesamtwiderstands von Anhängern der Arbeiterbewegung, vonChristen, Bürgerlichen ganz unterschiedlicher Tradition, von Demokraten,Liberalen, Konservativen und Adligen.19


H<strong>in</strong>ter <strong>den</strong> Frauen und Männern des 20. Juli 1944 stehen viele Menschen,die dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> widerstan<strong>den</strong> haben, ohne <strong>das</strong>s ihre Namen überregionalbekannt gewor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. Sie haben sich aus politischer Überzeugung, aus religiöserMotivation, aus humanitären Grün<strong>den</strong> bzw. nach konkreten Erfahrungen mitdem nationalsozialistischen Verfolgungsapparat dem menschenverachten<strong>den</strong>Gewaltregime widersetzt und sich <strong>gegen</strong> staatliches Unrecht aufgelehnt. Undsie haben sich nicht erst <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Kriegsjahren gewehrt. E<strong>in</strong>ige von ihnenhaben bereits vor dem 30. Januar 1933 vor der <strong>NS</strong>DAP gewarnt. Andereerkannten erst später die Gefahr, die von dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> ausg<strong>in</strong>g. Allen geme<strong>in</strong>samist jedoch e<strong>in</strong>e Gewissensentscheidung. Diese war die Voraussetzungfür die Bereitschaft, die gelten<strong>den</strong> Gesetze zu überschreiten. Die Bandbreitereicht hier von passiver Gehorsamsverweigerung bis h<strong>in</strong> zum Attentat.Nur e<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit durchlief <strong>den</strong> schwierigen Weg vom <strong>Regime</strong>-Gegnerzum <strong>Widerstand</strong>skämpfer. Nur wenige traten aus der Masse heraus. Der Grundzugder Geschichte der deutschen Gesellschaft <strong>in</strong> der Zeit des Dritten Reichsbleibt die breite Anpassung aus Furcht und Bequemlichkeit, aus Passivitätund Karriere<strong>den</strong>ken, nicht zuletzt aus partieller <strong>in</strong>nerer Übere<strong>in</strong>stimmungmit außen-, <strong>in</strong>nen- oder gar rassenpolitischen Zielen der Nationalsozialisten.Erst vor dem H<strong>in</strong>tergrund dieser breiten Anpassung an <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> wird<strong>Widerstand</strong> zum Zeichen des Mutes aus politischer Gegnerschaft, aus christlicherMitmenschlichkeit oder aus moralischem Anstandsgefühl.Die Geschichte des <strong>Widerstand</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern ist damitke<strong>in</strong>e Hel<strong>den</strong>geschichte, sondern zunächst e<strong>in</strong>e Geschichte der partiellen Resistenz– oft <strong>in</strong> Bereichen, welche <strong>das</strong> <strong>Regime</strong> vergleichsweise als nebensächliche<strong>in</strong>schätzte und die <strong>den</strong>noch im Laufe der folgen<strong>den</strong> Jahre als Startpunkte<strong>in</strong>es zunehmend prägnanter argumentieren<strong>den</strong> und schließlich handeln<strong>den</strong><strong>Widerstand</strong>s wichtig wur<strong>den</strong>. Es gelang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen mecklenburgischen undpommerschen Städten, unentdeckt kle<strong>in</strong>e Gruppen zu bil<strong>den</strong>. Sie taten sichauf der Grundlage geme<strong>in</strong>samer Interessen, persönlicher und verwandtschaftlicherBeziehungen zusammen und organisierten <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong>. Zu betonenist aber: Weder <strong>Mecklenburg</strong> noch Pommern gehören zu <strong>den</strong> Zentren des<strong>Widerstand</strong>s <strong>gegen</strong> die <strong>NS</strong>-Diktatur. Zwischen 1933 und 1945 gab es ke<strong>in</strong>ebreite <strong>Widerstand</strong>sbewegung, deren Geschichte man schreiben könnte. OppositionelleTätigkeit – angefangen vom Kleben regime-fe<strong>in</strong>dlicher Plakateüber die Herstellung von Flugblättern bis h<strong>in</strong> zur Arbeit an Plänen für e<strong>in</strong>enStaatsstreich – war immer nur die Sache von Individuen, die eventuell – imSchutz der städtischen Anonymität – kle<strong>in</strong>e Gruppen bildeten und sich aufder Grundlage geme<strong>in</strong>samer Interessen, persönlicher und verwandtschaftlicher20


Beziehungen zusammentaten und <strong>Widerstand</strong> organisierten.Die Voraussetzungen für e<strong>in</strong>en effektiven <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>waren <strong>in</strong> <strong>den</strong> dünn besiedelten, traditionell konservativen Agrarregionen <strong>Mecklenburg</strong>-Schwer<strong>in</strong>,<strong>Mecklenburg</strong>-Strelitz und Pommern schlecht. 32 Folglichwaren Möglichkeiten und Grenzen des <strong>Widerstand</strong>s <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er von Dörfernund Landstädten geprägten Region anders beschaffen als <strong>in</strong> <strong>in</strong>dustriellenBallungszentren und Großstädten. So ärgerte sich der mecklenburgischeSozialdemokrat Albert Schulz über die naiven Vorstellungen des nach Pragemigrierten SPD-Parteivorstands von der Arbeit <strong>in</strong> der Illegalität: »Bei e<strong>in</strong>erder nachfolgen<strong>den</strong> Besprechungen im kle<strong>in</strong>en Kreis hielten e<strong>in</strong>ige Genossene<strong>in</strong>e illegale Arbeit der Partei, im Gegensatz zu Willi Jesse und mir, für sehrleicht. Wir kamen aus e<strong>in</strong>em Agrarland. In <strong>den</strong> kle<strong>in</strong>en Orten waren nichtnur unsere Genossen der ganzen Bevölkerung bekannt. Jeder Fremde, der <strong>in</strong><strong>den</strong> Ort kam, wurde sofort als Fremder erkannt und, soweit er zu e<strong>in</strong>em Genosseng<strong>in</strong>g, beargwöhnt. Verb<strong>in</strong>dung und Versand durch die Post war nichtmöglich, da fast allen bekannten Genossen die Post beschlagnahmt und überdie Polizei ausgeliefert wurde. Trotzdem stimmten wir zu, uns am Vertriebvon aus Prag kommen<strong>den</strong> Materials <strong>in</strong> <strong>den</strong> wenigen großen Städten unseresLandes zu beteiligen.« 33Und auch wenn sich <strong>Widerstand</strong>s-Gruppen bildeten und zeitweilig untere<strong>in</strong>anderkooperierten, entstand damit noch ke<strong>in</strong>e Kraft, die man als e<strong>in</strong>e breite<strong>Widerstand</strong>sbewegung hätte bezeichnen können. Dies ist vor allem auf <strong>den</strong>von <strong>den</strong> Nationalsozialisten von Anfang an ausgeübten Terror zurückzuführen.Seit dem 30. Januar 1933 schufen die Nationalsozialisten systematisch Organezur Ausübung ihrer Gewaltherrschaft, die außerhalb von Recht und Gesetzagierten und sowohl existierende als auch entstehende Gegenkräfte zerschlugen.Somit war jeder noch unentdeckt gebliebene oppositionelle Zirkel zusolcher Vorsicht gezwungen, <strong>das</strong>s er im Pr<strong>in</strong>zip überhaupt nicht mehr agierenkonnte. E<strong>in</strong> zweiter Grund für <strong>das</strong> Fehlen e<strong>in</strong>es »Volkswiderstands« mag auch<strong>in</strong> der Tatsache zu suchen se<strong>in</strong>, <strong>das</strong>s es Hitler und der <strong>NS</strong>DAP gelungen war,e<strong>in</strong>en beträchtlichen Teil der Deutschen von ihrer Politik zu überzeugen, dieübrigen zum<strong>in</strong>dest partiell zu gew<strong>in</strong>nen und damit politisch zu neutralisie-32Zu diesem Urteil kommt auch Karl He<strong>in</strong>z Jahnke. Jahnke, Karl He<strong>in</strong>z: Gegen Hitler. Gegnerund Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933-1945, 2. überarb. u. erw. Aufl., Rostock2000, S. 18.33Müller, Werner/Mrotzek, Fred/Köllner, Johannes: Die Geschichte der SPD <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>und Vorpommern, Bonn 2002, S. 160.21


en. Immerh<strong>in</strong> war <strong>Mecklenburg</strong>-Schwer<strong>in</strong> 1932 <strong>das</strong> erste Land, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>Nationalsozialist M<strong>in</strong>isterpräsi<strong>den</strong>t wurde. Und auch Pommern war für die<strong>NS</strong>DAP e<strong>in</strong>e Parteihochburg, <strong>in</strong> der vor 1933 weit überdurchschnittlicheWahlergebnisse erzielt wur<strong>den</strong>.Angesichts der zahlreichen <strong>in</strong>nen- und außenpolitische Erfolge, die <strong>das</strong><strong>Regime</strong> nach der »Machtergreifung« vorweisen konnte – angefangen mit derBeseitigung der Arbeitslosigkeit, über die Außenpolitik der 30er Jahre bis h<strong>in</strong>zu <strong>den</strong> militärischen Siegen von Herbst 1939 bis 1942 –, spürten oppositionelleGruppen immer deutlicher ihre Isolierung. Während sie e<strong>in</strong>en handlungsfähigen<strong>Widerstand</strong> aufzubauen versuchten, mussten sie gleichzeitig mit demUnverständnis der Mehrheit der Bevölkerung rechnen. Die Geschichte desDritten Reichs lässt sich ebenso wenig als Geschichte des <strong>Widerstand</strong>s schreibenwie als e<strong>in</strong>e Geschichte ungebrochener Folgebereitschaft.Wenn sich im 60. Jahr nach dem Anschlag Wissenschaftler auf E<strong>in</strong>ladung derFriedrich-Ebert-Stiftung <strong>in</strong> Kooperation mit der Landeszentrale für politischeBildung <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern und Politische Memoriale e.V. <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burgzu e<strong>in</strong>er Tagung versammelt haben, soll dies als Versuch dienen,die seit e<strong>in</strong>igen Jahren <strong>in</strong>tensiver betriebene Erforschung des <strong>Widerstand</strong>s <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er politischen Vielfalt und sozialen Breite am Beispiel e<strong>in</strong>er Region zubilanzieren. Es kommt darauf an, sowohl <strong>das</strong> Attentat als auch die Vorgängejenseits von Berl<strong>in</strong> <strong>in</strong> die Gesamtgeschichte des <strong>Widerstand</strong>s e<strong>in</strong>zufügen. Diesbedeutet, <strong>das</strong> Verhältnis ganz unterschiedlicher Traditionen und gesellschaftlicherGruppen zum <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> als Ausgangspunkt zu nehmen.Inzwischen besitzt die Historiographie des <strong>Widerstand</strong>s <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismuse<strong>in</strong>e eigene Geschichte, welche die jahrzehntelangen wissenschaftlichenKontroversen, ideologisch-politischen Legitimationsbedürfnisseund selektiven Wahrnehmungs- bzw. Ausgrenzungsbestrebungen dokumentiertund <strong>in</strong> Phasen e<strong>in</strong>teilt. 34 Zunächst wurde dieser Aspekt der Zeitgeschichte <strong>in</strong>der deutschen Öffentlichkeit negativ konnotiert bzw. ganz aus dem kollektivenhistorischen Bewusstse<strong>in</strong> ausgeblendet, da er zeigte, <strong>das</strong>s Anhängerschaft undMitläufertum wesentlich mehr verbreitet waren als andere Verhaltensweisen.Dazu kam der Vorwurf des Vaterlandsverrats. Die Literatur zum <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong><strong>Mecklenburg</strong> und Pommern ist ebenfalls von dieser Entwicklung geprägt.Unter dem E<strong>in</strong>druck des Kalten Krieges widmeten sich die Autoren <strong>in</strong>der BRD zunächst nur zögerlich dem ema und beschränkten sich auf <strong>den</strong>34E<strong>in</strong>en Überblick über <strong>den</strong> Forschungsstand gibt beispielsweise Mehr<strong>in</strong>ger, Hartmut: <strong>Widerstand</strong>und Emigration. Das <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> und se<strong>in</strong>e Gegner, München 1997, S. 268ff.22


konservativen und kirchlichen <strong>Widerstand</strong>. Ferner waren die westdeutschenHistoriker, die sich mit dem <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommernbeschäftigten, meist Flüchtl<strong>in</strong>ge aus <strong>den</strong> ehemaligen deutschen Ostprov<strong>in</strong>zenund dementsprechend weniger an Vorpommern, sondern eher an <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong>östlich der Oder <strong>in</strong>teressiert. Für <strong>den</strong> Raum <strong>Mecklenburg</strong>, der kaumAufmerksamkeit westdeutscher Autoren fand, waren die Grenzziehungennach dem Zweiten Weltkrieg entschei<strong>den</strong>d. Folglich wurde <strong>das</strong> politisch bis1945 zum Gebiet <strong>Mecklenburg</strong>s zählende Lübeck ausgeklammert. So nahmWalter Görlitz 1961 noch Abstand von e<strong>in</strong>er Geschichte der »<strong>Widerstand</strong>sbewegung«<strong>in</strong> Pommern und entschloss sich, »von diesem hohen Ziel Abstandzu nehmen und auf die etwas hochtrabende Bezeichnung zu verzichten«. Diewestdeutschen Autoren konzentrierten sich vorläufig auf e<strong>in</strong>zelne Galionsfiguren,Persönlichkeiten aus der »alten Elite« wie Ewald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong>oder Re<strong>in</strong>old von ad<strong>den</strong>-Trieglaff, deren Wirken <strong>in</strong> Biographien moralischgerechtfertigt wurde. Ansonsten wurde betont, <strong>das</strong>s Pommern ke<strong>in</strong> »Hortreaktionärer Verschwörung, e<strong>in</strong>e deutsche Vendée«, gewesen sei. Das Fazitlautete dementsprechend: »Pommern war immer staatstreu gewesen! DieBauern, die Pastoren, die Junker adeligen oder bürgerlichen Standes sahenwohl vieles mit gerunzelter Stirn. Mancher Rittergutsbesitzer, mancher Pastormachte bald mit dem Gefängnis Bekanntschaft.« 35 <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> Form von»echter politischer Willensäußerung oder gar <strong>in</strong> Formen gezielter, konspirativerAktion im Dritten Reich« sei »gar nicht so häufig anzutreffen« gewesen,während »Unzufrie<strong>den</strong>heit, Fronde, allgeme<strong>in</strong>e vaterländische Besorgnisse oderganz e<strong>in</strong>fach <strong>das</strong> Räsonnement, sämtlich als weniger klar umrissene politischeRegungen als vielmehr gefühlsmäßige oder auch konfessionell bestimmte Reaktionen«gerade <strong>in</strong> Pommern »verhältnismäßig häufig« anzutreffen gewesenseien. 36 Die norddeutsche Oberschicht ersche<strong>in</strong>t als e<strong>in</strong>e von der Entwicklungüberforderte Elite, geneigt »<strong>das</strong> Visier vor der Zeit herunterzuklappen«. Daraussei bei dem desorientierten Adel und dem noch am alten Stil orientiertenGroß- und akademischen Bürgertum die Neigung entstan<strong>den</strong>, »reaktiv, ressentimentgela<strong>den</strong>zu agieren <strong>gegen</strong> e<strong>in</strong>e neue, gewiß schwache demokratischeOrdnung mit vielen sichtbaren Mängeln, statt diese mit konservativem Geistanzureichern und mitzuformen«. 3735Görlitz, Walter: <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus <strong>in</strong> Pommern. E<strong>in</strong> Versuch, <strong>in</strong>:Baltische Studien NF 48 (1961), S. 63-74, hier S. 66.36Görlitz, <strong>Widerstand</strong>, S. 63.37Görlitz, Walter: Die norddeutschen Führungsschichten und ihre Umwandlungen nach demErsten Weltkrieg, 1963, S. 22; vgl. ders.: Die Junker, 2. Aufl. o. O. 1957.23


Die <strong>Widerstand</strong>shistoriographie der DDR widmete sich h<strong>in</strong><strong>gegen</strong> vorwiegenddem kommunistischen <strong>Widerstand</strong>. 38 DDR-Historiker erklärten die KPD zuralle<strong>in</strong> maßgeben<strong>den</strong> Repräsentant<strong>in</strong> der antifaschistischen <strong>Widerstand</strong>skraft,wandten sich <strong>gegen</strong> die westdeutsche »Junkerapologetik« und konstatierten,<strong>das</strong>s »<strong>das</strong> ostelbische Junkertum zu <strong>den</strong> reaktionärsten, am meisten chauv<strong>in</strong>istischenKräften des deutschen Imperialismus gehörte und die faschistischeDiktatur unterstützte«. 39 Die Kritik von Walter Görlitz, die Geschichte deskommunistischen <strong>Widerstand</strong>s werde im Osten »bis zum Überdruß strapaziert«,ohne <strong>das</strong>s e<strong>in</strong> pommerscher <strong>Widerstand</strong>skämpfer beim Namen genanntwerde, verärgerte DDR-Historiker. Im Gegenzug glorifizierten sie ihre Protagonistenund versuchten aufzuzeigen, <strong>das</strong>s »die revolutionäre pommerscheArbeiterklasse und mit ihr zahlreiche Antifaschisten aus allen Schichten derBevölkerung die wahren Träger des Kampfes <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Faschismus waren«.Die Veröffentlichung von Tagebüchern und Memoiren diente dabei ebensoder Legen<strong>den</strong>bildung wie im Westen.Die Vorgehensweise von Historikern <strong>in</strong> der BRD und <strong>in</strong> der DDR, diebeide auf der Ebene der Aufarbeitung der Führungsebenen verharrten, dientenicht zuletzt der Vergangenheitsbewältigung. Die Beschränkung auf dieoberen Ebenen diente im Westen der Vermittlung des E<strong>in</strong>drucks, <strong>das</strong>s e<strong>in</strong>egeschlossene, Klassen- und Parteigrenzen übergreifende Gegenbewegung zuHitler existierte, die ausschließlich aus moralisch-ethischen Beweggrün<strong>den</strong>handelte. Durchaus beabsichtigt wurde e<strong>in</strong> »anderes Deutschland« konstruiert.E<strong>in</strong> »Aufstand des Gewissens« kompensierte Vorurteile <strong>gegen</strong>über <strong>Widerstand</strong>skämpfernund zurückgekehrten Emigranten und sollte die Diskussion umLandes- und Hochverrat entkräften. Zwangsläufig kanalisierte dies <strong>den</strong> Blickdes <strong>Widerstand</strong>s <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> auf <strong>den</strong> – moralisch oft überhöhten– <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> Hitler. Der <strong>Widerstand</strong> der Arbeiterbewegung <strong>gegen</strong> <strong>das</strong>Dritte Reich und deren primär politische Motivation blieb daher weitgehendausgeblendet. DDR-Studien waren h<strong>in</strong><strong>gegen</strong> dem staatlichen Legitimations-38Zum Forschungsstand der Geschichte des <strong>Widerstand</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> <strong>in</strong> der Zeit der DDRsiehe: Jahnke, Karl He<strong>in</strong>z: <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933 bis1945 – Bilanz und Aufgaben der Forschung, <strong>in</strong>: Studien zur Geschichte <strong>Mecklenburg</strong>s <strong>in</strong> derersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg. v. Studienkreis für Jugendgeschichte und -forschung.Darstellung und Vermittlung e.V., Rostock 1992, S. 29-39.39Copius, Jürgen: Zur Rolle pommerscher Junker und Großgrundbesitzer bei der Vorbereitungder faschistischen Diktatur und der imperialistischen Aggressionspolitik, <strong>in</strong>: WissenschaftlicheZeitschrift der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald, Gesellschafts- und sprachwissenschaftlicheReihe, Heft 3, XX (1971), S. 113-116.24


<strong>den</strong>ken verpflichtet. Angesichts der schwierigen Quellenlage s<strong>in</strong>d die realen,historisch und <strong>in</strong>dividuell greifbaren Repräsentanten des antifaschistischen<strong>Widerstand</strong>s aus <strong>den</strong> Hel<strong>den</strong>geschichten herauszuschälen.Die Wissenschaft hat <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Jahren die regionalen Schauplätze entdecktund <strong>den</strong> moralischen Aspekt überwun<strong>den</strong> sowie die antifaschistisch-heroisierendeStilisierung der <strong>Widerstand</strong>skämpfer zu h<strong>in</strong>terfragen begonnen. DieForschung ist von dem Bild e<strong>in</strong>es perfekt durchstrukturierten, hierarchischen<strong>NS</strong>-Terrorsystems ebenso abgerückt wie von dem Klischee e<strong>in</strong>es homogenen<strong>Widerstand</strong>s und der Bewertung der <strong>Widerstand</strong>skämpfer als heroische, zielgerichtetagierende, nie zweifelnde, charakterstarke Übermenschen.Die Zahl der Veröffentlichungen zur Geschichte des <strong>Widerstand</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>und Pommern ist bereits beträchtlich. Die Darstellungen von e<strong>in</strong>zelnenRepräsentanten, größeren und kle<strong>in</strong>eren <strong>Widerstand</strong>sgruppen ergänzen e<strong>in</strong>ander.Die komplizierte Bandbreite zwischen Mitmachen und Widerstehen, Zusammenarbeitund Verweigerung, von Loyalität und Opposition wird als solcheerkannt. So ist es ke<strong>in</strong> Tabubruch mehr, darzustellen, <strong>das</strong>s e<strong>in</strong> pommerscherVerschwörer des 20. Juli 1944 zunächst mit dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> sympathisierthat und e<strong>in</strong> mecklenburgischer Pfarrer, der nach dem Krieg se<strong>in</strong>e Hel<strong>den</strong>tatenbeschrieb, diese weitgehend erfun<strong>den</strong> hat. Zweifellos steht die Forschung zum<strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern noch vor großen Aufgaben, dieErarbeitung e<strong>in</strong>es »differenzierten, wissenschaftlich gesicherten Gesamtbildes«steht noch am Anfang. 40Der <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern war ke<strong>in</strong> »<strong>Widerstand</strong>ohne Volk«, <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Elite <strong>gegen</strong> die <strong>NS</strong>-Diktatur aktiv wurde,während die Mehrheit der Bevölkerung dem <strong>Regime</strong> positiv <strong>gegen</strong>überstand.Trotzdem bleibt der <strong>Widerstand</strong>sbegriff auch im regionalhistorischen Bezugschwierig. Handelt es sich bei der Verweigerung des Hitlergrußes, bei demAbhören ausländischer Rundfunksender bereits um Opposition? War jedesnicht regierungskonforme Verhalten <strong>Widerstand</strong>? Verhöhnt dies nicht die<strong>Widerstand</strong>skämpfer, die aus ethischen, politischen, religiösen oder sozialenBeweggrün<strong>den</strong> ihr Leben riskiert haben, um <strong>das</strong> Ende des Terror-<strong>Regime</strong>sherbeizuführen? Die weiterh<strong>in</strong> unbefriedigende Antwort kann lauten, <strong>das</strong>se<strong>in</strong>e gewisse Haltung zum <strong>Regime</strong> Voraussetzung für <strong>Widerstand</strong> war. Diesekulm<strong>in</strong>ierte <strong>in</strong> der Absicht, die Verhältnisse zu ändern. Dabei handelten dieProtagonisten im vollen Bewusstse<strong>in</strong> der Konsequenzen. Sie waren bereit, ihrLeben zu opfern. 40Jahnke, Karl He<strong>in</strong>z: Gegen Hitler. Gegner und Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>1933-1945, 2. überarb. u. erw. Aufl., Rostock 2000, S. 17.25


II. <strong>Widerstand</strong> und Verfolgung <strong>in</strong> <strong>den</strong>ersten Jahren der <strong>NS</strong>-Herrschaft(1933-1939)Kai Langer, Rostock»Panzertruppe der Rechtspflege« – Zur Rolleder mecklenburgischen SondergerichteUnmittelbar nach dem 30. Januar 1933 erließ <strong>das</strong> nationalsozialistische <strong>Regime</strong>e<strong>in</strong>e Reihe gesetzlicher Anordnungen, die neben der Politischen Polizeiauch der Justiz weitreichende Kompetenzen zur Unterdrückung von <strong>Widerstand</strong>shandlungenund Unmutsbekundungen übertrugen. Auf dem Gebiet derStrafgesetzgebung zählte dazu <strong>in</strong>sbesondere die am 21. März 1933 erlassene»Verordnung des Reichspräsi<strong>den</strong>ten zur Abwehr heimtückischer Angriffe <strong>gegen</strong>die Regierung der nationalen Erhebung« 41 , die am 20. Dezember 1934 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>weiter gefasstes »Gesetz zur Abwehr heimtückischer Angriffe auf Staat undPartei und zum Schutz der Parteiuniform« 42 mündete. Danach konnte jeder,der »öffentlich gehässige, hetzerische oder von niedriger Ges<strong>in</strong>nung zeugendeÄußerungen« 43 über die <strong>NS</strong>DAP, <strong>den</strong> <strong>NS</strong>-Staat oder ihre Führer gemachthatte, mit bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft wer<strong>den</strong>.Zeitgleich mit dem Erlass der »Heimtückeverordnung« ordnete die Reichsregierungdie Bildung spezieller Sondergerichte an. 44 Neben der Ahndung vonverbalen Angriffen übertrug sie ihnen auch die <strong>in</strong> der »Reichstagsbrandverordnung«45 vom 28. Februar bezeichneten politischen Vergehen und Verbrechen,bei <strong>den</strong>en es sich im Wesentlichen um Gewaltakte wie bewaffneten Aufruhroder terroristische Anschläge handelte. Die Zuständigkeit der Sondergerichteendete allerd<strong>in</strong>gs dort, wo gleichzeitig Hoch- oder Landesverrat vorlag. Fürdiese Tatbestände waren nach wie vor <strong>das</strong> Reichsgericht <strong>in</strong> Leipzig – später41Siehe Reichsgesetzblatt (RGBl) I, Nr. 24 vom 22. März 1933, S. 135.42Siehe RGBl I, Nr. 137 vom 29. Dezember 1934, S. 1269 ff.43Ebenda, S. 1269.44Siehe Verordnung der Reichsregierung über die Bildung von Sondergerichten. Vom 21. März1933, <strong>in</strong>: RGBl I, Nr. 24 vom 22. März 1933, S. 136 ff.45Siehe Verordnung des Reichspräsi<strong>den</strong>ten zum Schutz von Volk und Staat. Vom 28. Februar1933, <strong>in</strong>: RGBl I, Nr. 17 vom 28. Februar 1933, S. 83 ff.26


der Volksgerichtshof <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> – bzw. <strong>das</strong> jeweilige Oberlandesgericht zuständig.Die Beschleunigung des Sondergerichtsverfahrens beruhte auf e<strong>in</strong>er Beschneidungwesentlicher rechtsstaatlicher Garantien: Um die Strafe »auf demFuße« folgen zu lassen, entfiel sowohl die vorgeschriebene Voruntersuchungals auch der formal notwendige Eröffnungsbeschluss. Die Ladungsfristkonnte auf 24 Stun<strong>den</strong> herabgesetzt wer<strong>den</strong>. Die Richter besaßen <strong>das</strong> Recht,die Beweiserhebung abzulehnen, wenn sie nach ihrer Überzeugung für dieAufklärung der Sache nicht erforderlich war. Ihre Urteile waren sofort rechtskräftigund Rechtsmittel nicht vorgesehen. Lediglich die Wiederaufnahmedes Verfahrens konnte beantragt wer<strong>den</strong>. Die Rechte der Verteidiger warenerheblich beschnitten, weil ihren Mandanten die Klageschrift nicht zugestelltzu wer<strong>den</strong> brauchte.Entsprechend dem Willen der Reichsregierung wurde <strong>in</strong> jedem der <strong>in</strong>sgesamt26 Oberlandesgerichtsbezirke jeweils e<strong>in</strong> aus drei Berufsrichtern – e<strong>in</strong>emVorsitzen<strong>den</strong> und zwei Beisitzern – bestehendes Sondergericht gebildet. Überdessen Sitz befand die zuständige Landesjustizverwaltung.Für die Aufsicht und Leitung der Justizbehör<strong>den</strong> im OberlandesgerichtsbezirkRostock waren <strong>das</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-Schwer<strong>in</strong>sche Justizm<strong>in</strong>isterium und dieJustizabteilung des <strong>Mecklenburg</strong>-Strelitzschen Innenm<strong>in</strong>isteriums geme<strong>in</strong>samverantwortlich. Im E<strong>in</strong>vernehmen zwischen bei<strong>den</strong> Institutionen wurde als Sitzdes mecklenburgischen Sondergerichts <strong>das</strong> Landgericht Schwer<strong>in</strong> bestimmt.In nahezu gleichlauten<strong>den</strong> Ausführungsverordnungen wur<strong>den</strong> die bei <strong>den</strong>Landgerichten <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong>, Rostock, Güstrow und Neustrelitz ansässigenOberstaatsanwaltschaften zu Ermittlungsbehör<strong>den</strong> für Sondergerichtssachenernannt. 46 Als Anklagebehörde sollte ausschließlich die Schwer<strong>in</strong>er Oberstaatsanwaltschaftfungieren. In e<strong>in</strong>er später erlassenen Bestimmung wurdedem Generalstaatsanwalt <strong>das</strong>selbe Recht zugebilligt. 47Besondere Anforderungen h<strong>in</strong>sichtlich der politischen Zuverlässigkeit derSonderrichter wur<strong>den</strong> weder <strong>in</strong> der Reichsverordnung noch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Landesvorschriftengestellt. Da es sich beim Sondergericht de facto um e<strong>in</strong>e Spezialkammer<strong>in</strong>nerhalb des Landgerichts handelte, war auch die sonst bei Ernennungen46Siehe Bekanntmachung vom 27. März 1933 zur Ausführung der Verordnung der Reichsregierungüber die Bildung von Sondergerichten, <strong>in</strong>: Regierungsblatt für <strong>Mecklenburg</strong>-Schwer<strong>in</strong>(RBMS), Nr. 17 vom 30. März 1933, S. 120 f.47Siehe Zweite Bekanntmachung zur Ausführung der Verordnung der Reichsregierung vom21. März 1933 über die Bildung von Sondergerichten. Vom 14. September 1933, <strong>in</strong>: RBMS,Nr. 53 vom 19. September 1933, S. 259.27


und Beförderungen obligatorische Zustimmung der Parteidienststellen nichterforderlich. Das schloss natürlich nicht aus, <strong>das</strong>s möglichst solche Juristen<strong>in</strong> <strong>das</strong> Gericht berufen wur<strong>den</strong>, die durch ihre bisherige Rechtsprechung undihre bejahende Haltung zum <strong>NS</strong>-Staat die Gewähr boten, <strong>den</strong> Erwartungender neuen Führung gerecht zu wer<strong>den</strong>.Da sich unter <strong>den</strong> Schwer<strong>in</strong>er Richtern ke<strong>in</strong> »alter Kämpfer« befand, der vor1933 der <strong>NS</strong>DAP angehört hatte, griff man auf fachlich bewährte Juristen wieKarl Buschmann zurück. In <strong>den</strong> meisten Schwer<strong>in</strong>er Sondergerichtsverfahrenübernahm er <strong>den</strong> Vorsitz. Selbst nach se<strong>in</strong>er Pensionierung 1939 wurde ererneut auf diesen Posten berufen.Buschmanns berufliche Laufbahnhatte bereits im Kaiserreich begonnen.48 Seit 1911 war er am Schwer<strong>in</strong>erLandgericht tätig, ab 1924 <strong>in</strong> derFunktion des Landgerichtsdirektors.Während der Weimarer Republik gehörteer vorübergehend der liberalenDeutschen Demokratischen Partei an.Später sympathisierte er mit der extremenRechten und wurde Mitglied desnationalsozialistischen Opferr<strong>in</strong>gs. Dasbesondere Wohlwollen von Deutschnationalenund Nationalsozialistenerwarb sich Buschmann 1929 mit derumstrittenen Entscheidung, e<strong>in</strong>en dr<strong>in</strong>gendtatverdächtigen Fememörder,<strong>den</strong> ehemaligen ReichswehroffizierRichard Eckermann, auf freien Fußzu setzen. 49 Für se<strong>in</strong>e enthusiastischbejahende Haltung zum Nationalsozialismus50 wurde er 1934 mit dem AmtKarl Buschmann,Schwer<strong>in</strong>er Landgerichtspräsi<strong>den</strong>t.48Siehe Personalakte Buschmann, Karl, <strong>in</strong>: Bundesarchiv/Zwischenarchiv Dahlwitz-Hoppegarten,R 3001 (R22) P/53291.49»Es gibt also doch noch Richter <strong>in</strong> Deutschland. […] Die Femehetze ist als solche erkanntwor<strong>den</strong>, man weiß nur zu gut, daß es <strong>den</strong> Ju<strong>den</strong> und Ju<strong>den</strong>knechten <strong>in</strong> Deutschland, die […]<strong>das</strong> falsche Bild über Person und Taten der Männer wie […] Eckermann u.a. erzeugt haben,letzten Endes darum g<strong>in</strong>g, <strong>den</strong> noch <strong>in</strong> unserem Volke lebendigen Wehrwillen und Wehrgeisttödlich zu treffen.« Niederdeutscher Beobachter (NB), Nr. 40 vom 4. Oktober 1929.28


des Landgerichtspräsi<strong>den</strong>ten belohnt. Allerd<strong>in</strong>gs trat er erst 1937, nach demEnde des Aufnahmestopps für Neumitglieder, formell der <strong>NS</strong>DAP bei.Der erste Verhandlungstag des Schwer<strong>in</strong>er Sondergerichts war der 28. April1933. 51 In dem ersten von zwei Strafverfahren hatte sich Herta Urbach ausGrevesmühlen wegen »Verbreitung von Gräuelmärchen« zu verantworten.Die Hausfrau hatte behauptet, zwei im Bützower Zentralgefängnis <strong>in</strong>haftiertekommunistische Funktionäre seien standrechtlich erschossen wor<strong>den</strong>. Derzweite Prozess richtete sich <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Schlosser Paul Niemann, Betriebsratsvorsitzenderdes Schwer<strong>in</strong>er Elektrizitätswerkes. Anlässlich e<strong>in</strong>es von politischenStellen angeordneten Sonntagsdienstes hatte der Sozialdemokrat <strong>gegen</strong>überKollegen geäußert, Hitler habe die Arbeiter »beschissen«. »Was nun weiterkommt, wer<strong>den</strong> wir ja sehen.« 52In se<strong>in</strong>em Plädoyer zum Fall Niemann erklärte Oberstaatsanwalt WilhelmHenn<strong>in</strong>gs, es sei endlich an der Zeit, »der <strong>in</strong>famen Hetze von gewissenlosenElementen e<strong>in</strong> Ende zu machen und die notwendige Ruhe zur Neugestaltungdes Staatsgefüges zu schaffen« 53 . Während ihm <strong>das</strong> Gericht <strong>in</strong> der Causa Urbachfolgte und auf e<strong>in</strong>e Gefängnisstrafe von sechs Monaten erkannte, bliebes <strong>in</strong> der Sache Niemann mit e<strong>in</strong>er zweiwöchigen Gefängnisstrafe deutlichunter dem geforderten Strafmaß. Als mildernde Gründe machten die Richtergeltend, <strong>das</strong>s der Angeklagte sich zwar e<strong>in</strong>er groben Beleidigung der Regierungschuldig gemacht habe, mit se<strong>in</strong>er Entlassung aus dem Betrieb jedoch bereits»schon schwer gestraft« 54 sei.Abgesehen von der zunächst üblichen, gemessen an <strong>den</strong> späteren Kriegsurteilenjedoch ungewöhnlichen Nachsicht der Richter, zeigte sich hier bereits deutlich,<strong>das</strong>s die vom Sondergericht verhandelten Verstöße <strong>gegen</strong> die gefordertenGes<strong>in</strong>nungs- und Verhaltungsmaximen sehr häufig situationsgebun<strong>den</strong> unddaher spontaner Natur waren. Der Flensburger Politikwissenschaftler GerhardPaul hat für derartige Fälle <strong>das</strong> drastisch-treffende Bild vom »Stuhlgang derSeele« 55 geprägt.50»Ich stehe fest <strong>in</strong> der Weltanschauung des Nationalsozialismus, ohne Vorbehalt und ohneE<strong>in</strong>schränkung. Der Verwirklichung se<strong>in</strong>er re<strong>in</strong>en Ziele auch auf dem Gebiete des Rechts giltmit heißem Herzen me<strong>in</strong>e Kraft und me<strong>in</strong> Streben.« Zit. nach NB, Nr. 155 v. 7. Juli 1934.51Siehe Ostsee-Bote (OB), Nr. 100, vom 30. April 1933.52Ebenda.53Zit. nach NB, Nr. 98 vom 28. April 1933.54Ebenda.55Paul, Gerhard: Dissens und Verweigerung im Alltag, <strong>in</strong>: Benz, Wolfgang/Pehle, Walter H.(Hrsg.), Lexikon des deutschen <strong>Widerstand</strong>es, Frankfurt/M. 1994, S. 198.29


Das Spektrum von Dissens und Verweigerung im Alltag war <strong>den</strong>noch ausgesprochenvielgestaltig. Es erstreckte sich vom Erzählen politischer Witzeüber abfällige Äußerungen über Parteibonzen bis h<strong>in</strong> zu heimlicher Mundzu-Mund-Propaganda.Abgesehen davon, <strong>das</strong>s viele derartige Verhaltensweisenvöllig unpolitisch motiviert waren, entfalteten sie <strong>den</strong>noch e<strong>in</strong>e objektivepolitische Wirkung: 56 Sie setzten dem Hegemonialanspruch der Machthaber<strong>in</strong>sofern Grenzen, als <strong>das</strong>s sie <strong>den</strong> von ihnen angestrebten Typus des <strong>in</strong>nerlichüberzeugten »Volksgenossen« als e<strong>in</strong>e propagandistische Wunschvorstellungentlarvten.Unter <strong>den</strong> zahllosen Fällen <strong>in</strong>dividueller Abweichung und Verweigerung,die auf dem Tisch der Schwer<strong>in</strong>er Sonderrichter landeten, gab es auch bemerkenswerteBelege kollektiven Ungehorsams, die zum<strong>in</strong>dest Ansätze e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>formellenGegenöffentlichkeit erahnen lassen. So berichtete der <strong>in</strong> Kröpel<strong>in</strong>herausgegebene »Ostsee-Bote« am 27. September 1934 über drei Verhandlungenan e<strong>in</strong>em Tag, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en es um die Verbreitung e<strong>in</strong>es nicht näher bezeichnetenGerüchts g<strong>in</strong>g, <strong>das</strong> Robert Ley, <strong>den</strong> vielfach als »Reichstrunkenbold« geschmähtenFührer der Deutschen Arbeitsfront, betraf. 57 In e<strong>in</strong>em Falle stand gleich e<strong>in</strong>halbes Dorf – sechs Männer und zwei Frauen aus e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Ortschaft beiWaren – unter Anklage. Fünf von ihnen wur<strong>den</strong> wegen »Heimtücke« zu sechsWochen, zwei zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt.In e<strong>in</strong>er anderen Prozess-Serie g<strong>in</strong>g es <strong>in</strong>direkt um e<strong>in</strong>en weitaus brisanterenVerhandlungs<strong>gegen</strong>stand: die mögliche Verstrickung des Reichsstatthalters und<strong>NS</strong>DAP-Gauleiters Friedrich Hildebrandt <strong>in</strong> die Ermordung des Gutsbesitzersund ehemaligen SA-Führers Andreas von Flotow. 58 Mehrere Personenim Umfeld der von <strong>den</strong> Deutschnationalen dom<strong>in</strong>ierten mecklenburgischenRitterschaft, darunter e<strong>in</strong> Stahlhelmgeschäftsführer, hatten sich 1933/34unabhängig vone<strong>in</strong>ander dafür zu verantworten, <strong>das</strong>s sie Hildebrandt bezichtigten,persönlich <strong>den</strong> Befehl zur Erschießung Flotows erteilt zu haben.Die e<strong>in</strong>zelnen Gerichtsverfahren endeten mit Freiheitsstrafen zwischen achtund neun Monaten.Da die Gerüchte <strong>den</strong>noch nicht verstummen wollten, sah sich Hildebrandtschließlich genötigt, persönlich vor <strong>den</strong> Kadi zu ziehen. Um se<strong>in</strong>en Gegnern56Siehe Löwenthal, Richard: <strong>Widerstand</strong> im totalen Staat, <strong>in</strong>: Ders. / von zur Mühlen, Patrick(Hrsg.): <strong>Widerstand</strong> und Verweigerung <strong>in</strong> Deutschland 1933 bis 1945, Berl<strong>in</strong> / Bonn 1984, S. 19.57Siehe OB, Nr. 224 vom 27. September 1934.58Siehe Langer, Kai: Der »Fall Flotow« – vom Aufstieg und Fall e<strong>in</strong>es mecklenburgischenSA-Führers, <strong>in</strong>: Zeitgeschichte Regional. Mitteilungen aus <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern, Nr.2/2003, S. 5 ff.30


»endlich <strong>das</strong> Maul zu stopfen« – wie es der »Niederdeutsche Beobachter« 59 , <strong>das</strong>regionale Kampfblatt der <strong>NS</strong>DAP, formulierte – , trat er sowohl als Nebenklägerals auch als Zeuge auf. In e<strong>in</strong>em Schauprozess <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> GutsverwalterWilhelm Nöhr<strong>in</strong>g ließ er sich vom Vorwurf der Anstiftung zum Mord freisprechen,obwohl dies gar nicht Gegenstand der Verhandlung war. Der eigentlicheAngeklagte Nöhr<strong>in</strong>g wanderte da<strong>gegen</strong> wegen der Verbreitung e<strong>in</strong>es »unwahren,volksschädlichen Gerüchts« für anderthalb Jahre <strong>in</strong>s Gefängnis. 60Zu <strong>den</strong> überregional stark beachteten Verfahren gehörte vor allem der sogenannte Schwer<strong>in</strong>er Pastoren-Prozess. 61 Im Juni 1934 hatten sich vor demSondergericht sieben eologen der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche<strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Vorwurf zu verteidigen, die staatlichen Hoheitsorgane angegriffenund deren Autorität untergraben zu haben. 62 Als Mitglieder des Pfarrernotbundes<strong>Mecklenburg</strong> hatten sie die von der <strong>NS</strong>-Glaubensbewegung DeutscheChristen vorangetriebene Gleichschaltungspolitik aktiv bekämpft und sich <strong>in</strong>Wort und Schrift für die Bewahrung der kirchlichen Autonomie e<strong>in</strong>gesetzt.In se<strong>in</strong>em Urteil besche<strong>in</strong>igte <strong>das</strong> Gericht <strong>den</strong> Angeklagten, <strong>das</strong>s sie »ehrenwerteMänner« seien, »an deren Charakter und Ges<strong>in</strong>nung nichts auszusetzenist« 63 . E<strong>in</strong>e harte Bestrafung sei <strong>den</strong>noch geboten, um Angriffe von theologischerSeite »e<strong>in</strong> für allemal zu verh<strong>in</strong>dern«. Die Kirche habe »lediglich <strong>in</strong> Bezug aufLehre und Seelsorge die absolute Freiheit«. »Nicht frei« sei sie jedoch »<strong>in</strong> ihrerVerwaltung«. Hier habe sie die Pflicht, sich <strong>den</strong> »Staatsnotwendigkeiten […]zu fügen und <strong>den</strong> Anordnungen des Staates zu folgen.« 64Der Prozess endete mit Freiheits- und Geldstrafen sowie zwei Freisprüchen.Nach e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong>en Amnestie am 2. August 1934, die Hitler aus Anlassdes Todes des Reichspräsi<strong>den</strong>ten verkündete, erfolgte e<strong>in</strong>e Aufhebung derergangenen Urteile.Anders als die bei<strong>den</strong> großen Kirchen verweigerte sich die kle<strong>in</strong>e Glaubensgeme<strong>in</strong>schaftder Zeugen Jehovas dem <strong>NS</strong>-Staat bed<strong>in</strong>gungslos. Trotz ihresreichsweiten Verbots setzte die Hälfte der <strong>in</strong> Deutschland ca. 25.000 Seelen59Niederdeutscher Beobachter, Nr. 104 vom 8. Mai 1934.60Siehe Urteil vom 9. Mai 1934, <strong>in</strong>: LHAS, 5.12-6/9, o.Bl.61Siehe Beste, Niklot: Der Kirchenkampf <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> von 1933 bis 1945. Geschichte,Dokumente, Er<strong>in</strong>nerungen, Berl<strong>in</strong> (Ost) 1975, S. 83 ff.62Siehe Anklageschrift vom 14. April 1934, <strong>in</strong>: Landeskirchenarchiv Schwer<strong>in</strong>, Nachlass Prof.D. Gottfried Holtz, Der Staatsprozeß vor dem Sondergericht Schwer<strong>in</strong> <strong>gegen</strong> die Meckl. PastorenOhse, Berg, Holtz, Schwartzkopff, Wittrock 1934, o.Bl.63Urteil vom 21. März 1933, ebenda, o.Bl.64Zit. nach OB, Nr. 138 v. 19. Juni 1934.31


zählen<strong>den</strong> Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> ihren Verkündigungsdienst im Untergrund fort. 65 Vonder Verweigerungshaltung der »Ernsten Bibelforscher«, wie sie sich damalsnannten, zeugten auch <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> etliche Sondergerichtsverhandlungen.Bis Januar 1939 fan<strong>den</strong> <strong>in</strong>sgesamt neun Gruppenprozesse statt, die mit 57Verurteilungen endeten. 66 Verhandlungsort war nicht immer zwangsläufig<strong>das</strong> Schwer<strong>in</strong>er Landgerichtsgebäude. Die meisten Prozesse fan<strong>den</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emGerichtssaal <strong>in</strong> der Nähe des Wohnortes der Angeklagten statt. So verhandelte<strong>das</strong> Sondergericht im Februar 1937 <strong>in</strong> Bad Doberan <strong>gegen</strong> zwölf 67 , <strong>in</strong> Wismar<strong>gegen</strong> acht 68 , <strong>in</strong> Parchim <strong>gegen</strong> 14 69 , <strong>in</strong> Waren <strong>gegen</strong> elf 70 und <strong>in</strong> Güstrow<strong>gegen</strong> acht Personen 71 .Sämtlichen Angeklagten wurde vorgeworfen, trotz Verbots e<strong>in</strong>e über <strong>das</strong>ganze Land verteilte feste Organisation aufrecht erhalten sowie Schriften,Bücher und Flugblätter der Internationalen Bibelforschervere<strong>in</strong>igung angenommen,gelesen und weiterverbreitet zu haben. In <strong>den</strong> Urteilsbegründungenberief sich <strong>das</strong> Gericht daher nicht auf die »Heimtücke-«, sondern die zuvorerlassene »Reichstagsbrandverordnung«, auf deren Grundlage wesentliche Beschränkungender persönlichen Freiheit für verb<strong>in</strong>dlich erklärt und Verstöße<strong>gegen</strong> Zuwiderhandlungen behördlicher Anordnungen mit Gefängnisstrafenbedroht wur<strong>den</strong>.Nach der Verbüßung ihrer Freiheitsstrafe erwartete viele der zur Entlassungkommen<strong>den</strong> Zeugen Jehovas häufig <strong>das</strong>selbe Schicksal wie die politischenHäftl<strong>in</strong>ge: Sobald sie die Gefängnismauern verließen, wur<strong>den</strong> sie von derGestapo auf unbestimmte Zeit <strong>in</strong> Schutzhaft genommen und <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konzentrationslagergesteckt.Gerichtsverfahren <strong>gegen</strong> Angehörige der verbotenen Arbeiterparteien, <strong>in</strong>sbesondere<strong>gegen</strong> Mitglieder der KPD, landeten <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> – anders als65Siehe Benz, Wolfgang: Kirchen – Selbstbehauptung und Opposition, <strong>in</strong>: Deutscher <strong>Widerstand</strong>1933-1945 (= Informationen zur politischen Bildung Nr. 243/1994), S. 21.66Siehe Schreiben des Schwer<strong>in</strong>er Landgerichtspräsi<strong>den</strong>ten an <strong>den</strong> Oberlandesgerichtspräsi<strong>den</strong>tenvom 21. Januar 1939, <strong>in</strong>: LHAS 6.12.-6/4/368, Bl. 33. (Laut brieflicher Auskunftvom 28.04.2004 hat Falk Bersch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Untersuchungen für die gesamte <strong>NS</strong>-Zeit zwölfSondergerichtsverfahren mit 83 namentlich Angeklagten ermittelt.)67Siehe Anklage vom 18. Januar 1937, <strong>in</strong>: LHAS, 5.12-6/9P/910: Haftakte Fisch, Franz, o.Bl.68Siehe Urteil vom 3. Februar 1937, ebenda, 5.12-6/9P/2231: Haftakte Ks<strong>in</strong>zyk, Karl, o.Bl.69Siehe Urteil vom 16. Februar 1937, ebenda, 5.12-6/9P/919: Haftakte Fischer, Robert, o.Bl.70Siehe Urteil vom 18. Februar 1937, ebenda, 5.12-6/9P/1405: Haftakte He<strong>in</strong>sius, Bertha,o.Bl.71Siehe Urteil vom 19. Februar 1937, ebenda, 5.12-6/9P/2282: Haftakte Lange, Wilhelm, o.Bl.32


<strong>in</strong> vielen Großstädten 72 – nur <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen vor dem Sondergericht. Soferndie Angeklagten ihren organisierten <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> der Illegalität fortgesetzthatten, wur<strong>den</strong> sie der »Vorbereitung zum Hochverrat« beschuldigt. DieserTatbestand stellte e<strong>in</strong> Kapitalverbrechen dar, <strong>das</strong> vor e<strong>in</strong>er höheren Instanzverhandelt wer<strong>den</strong> musste. Sofern die Täter <strong>Mecklenburg</strong>er waren, erfolgteihre Aburteilung im Regelfall vor dem politischen Strafsenat des HanseatischenOberlandesgerichts Hamburg, der zu diesem Zweck se<strong>in</strong>e Gerichtstage <strong>in</strong> <strong>den</strong>Oberlandesgerichtsbezirk Rostock verlagerte. In <strong>den</strong> meisten Hochverratsprozessenstan<strong>den</strong> ganze <strong>Widerstand</strong>sgruppen vor Gericht.Die Zuständigkeit des Sondergerichts war da<strong>gegen</strong> meist <strong>in</strong> solchen E<strong>in</strong>zelfällengegeben, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en Oppositionelle ihre ablehnende Haltung verbal zumAusdruck gebracht hatten. So hatte sich im November 1933 e<strong>in</strong> ehemaligerSeemann aus Holten wegen Verleumdung der SA zu verantworten. Das frühereKPD-Mitglied hatte während e<strong>in</strong>er polizeilichen Befragung zugegeben, dieRöhm-Truppe für <strong>den</strong> Reichstagsbrand verantwortlich gemacht zu haben.H<strong>in</strong>zufügend hatte er erklärt, noch immer Kommunist zu se<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>eGes<strong>in</strong>nung auch künftig beizubehalten. Dieses Bekenntnis büßte er mit dreiMonaten Haft. 73 Ähnlich mutig bekannten sich auch andere Angeklagte, dienicht dem l<strong>in</strong>ken Spektrum entstammten, zu ihren politischen und weltanschaulichenGrundüberzeugungen.In die Hoheit der Sondergerichtsbarkeit fielen auch Fälle von Selbstbehauptungund Gegenwehr der verfolgten Ju<strong>den</strong>. Bereits im Mai 1933 stand die Lehrer<strong>in</strong>Luise Bauer aus Vipperow vor Gericht. 74 Der so genannten »Halbjüd<strong>in</strong>«wurde zur Last gelegt, »kommunistische Gräuellügen« verbreitet zu haben.Die Angeklagte hatte als Augenzeug<strong>in</strong> über gewaltsame Übergriffe <strong>gegen</strong> Ju<strong>den</strong>berichtet, die sie während e<strong>in</strong>es Besuchs <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> erlebt hatte. Da dieStaatsanwaltschaft ihre Schilderungen als »Märchen« abtat, durch die »ke<strong>in</strong>größerer Scha<strong>den</strong>« entstan<strong>den</strong> sei, verwarnte sie <strong>das</strong> Gericht nur mit e<strong>in</strong>erGeldstrafe von 30 Reichsmark aushilflich sechs Tagen Haft.Über die skizzierten Fallgruppen h<strong>in</strong>aus s<strong>in</strong>d aus der Schwer<strong>in</strong>er Sondergerichtspraxisnicht wenige Beispiele bekannt, die von der juristischen Bekämpfungabtrünniger <strong>NS</strong>-Gefolgsleute zeugen. Im Ergebnis e<strong>in</strong>es derartigen Verfahrenswur<strong>den</strong> 1936 der <strong>in</strong> Rostock niedergelassene Arzt Dr. eodor Ruhnstruck72Vgl. Bästle<strong>in</strong>, Klaus: Sondergerichte <strong>in</strong> Norddeutschland als Verfolgungs<strong>in</strong>stanz, <strong>in</strong>: Bajohr,Frank (Hrsg.): Norddeutschland im Nationalsozialismus, Hamburg 1993, S. 212.73Siehe OB, nr. 272 vom 21. November 1933.74Siehe NB, Nr. 119 vom 23. Mai 1933.33


und se<strong>in</strong>e Frau Paula zu jeweils zwei Jahren und sechs Monaten Gefängnisverurteilt. 75 Im Kern warf <strong>das</strong> Gericht <strong>den</strong> Eheleuten vor, ihren Familien<strong>in</strong>teressengrößere Bedeutung beigemessen zu haben als <strong>den</strong> politischen Forderungender <strong>NS</strong>DAP. Beide waren bereits 1931 der Partei beigetreten, obwohl<strong>in</strong> ihrem Haushalt vier »halbjüdische« K<strong>in</strong>der aus e<strong>in</strong>er früheren Ehe vonPaula Ruhnstruck lebten. Schien dieser Umstand bislang nicht weiter <strong>in</strong>sGewicht zu fallen, wurde er nach 1933 mehr und mehr zu e<strong>in</strong>em Politikum.Auf die persönliche Anweisung des Reichsstatthalters verfügte <strong>das</strong> zuständigeGaugericht 1934 die Nichtigkeit der Parteimitgliedschaft und hob damitsogar e<strong>in</strong>e Entscheidung des Obersten Parteigerichts zugunsten der FamilieRuhnstruck auf.Durch diese e<strong>in</strong>schnei<strong>den</strong>de Erfahrung <strong>in</strong> Gegnerschaft zur <strong>NS</strong>DAP getrieben,machten die Eheleute ihrem Ärger wiederholt <strong>in</strong> regimefe<strong>in</strong>dlichenÄußerungen Luft. So plädierte die Ehefrau u.a. dafür, <strong>das</strong>s man Hitler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>enKäfig sperren und von Ort zu Ort fahren müsse, wo er von jedermann so langegeschlagen wer<strong>den</strong> dürfe, bis ke<strong>in</strong> Fleisch mehr auf se<strong>in</strong>en Knochen sei. IhrMann fragte wiederum e<strong>in</strong>e adlige Bekannte im Scherz, ob sie wisse, <strong>das</strong>s derReichsstatthalter e<strong>in</strong>en neuen Namen bekommen habe, »nämlich FriedrichBl<strong>in</strong>ddarm, <strong>den</strong>n er sei immer so gereizt und völlig überflüssig«. 76Zur Begründung für die überhöhten Freiheitsstrafen heißt es <strong>in</strong> dem Schwer<strong>in</strong>erUrteil, <strong>das</strong>s die Äußerung mit dem Käfig »so aus dem Rahmen dergewöhnlichen staatsfe<strong>in</strong>dlichen Äußerungen« falle, <strong>das</strong>s alle<strong>in</strong> dafür bereitszwei Jahre Gefängnis verhängt wer<strong>den</strong> mussten.Das seit der »Verreichlichung der Justiz« 1935 alle<strong>in</strong> zuständige Reichsjustizm<strong>in</strong>isteriumsah auch nach der Beendigung der »nationalsozialistischenRevolution« ke<strong>in</strong>e Veranlassung, die Ausnahmegerichte abzuschaffen. Stattdessenerweiterte es laufend ihre Kompetenz.Ab 1938 wur<strong>den</strong> die Sondergerichte auch zur Bekämpfung unpolitischerVerbrechen e<strong>in</strong>gesetzt. Auf dem Wege e<strong>in</strong>er neuerlichen Verordnung wur<strong>den</strong>die Staatsanwaltschaften ermächtigt, bei Verbrechen, die zur Zuständigkeit derLand- und Amtsgerichte gehörten, Anklage vor dem Sondergericht zu erheben,wenn »mit Rücksicht auf die Schwere oder die Verwerflichkeit der Tat oderdie <strong>in</strong> der Öffentlichkeit hervorgerufene Erregung die sofortige Aburteilungdurch <strong>das</strong> Sondergericht geboten ist«. 7775Urteil vom 16. Juni 1936, <strong>in</strong>: LHAS, 5.12.-6/4/62, Bl. 95 ff.76Ebenda, Bl. 107.77Siehe Verordnung über die Erweiterung der Zuständigkeit der Sondergerichte. Vom 20. November1938, <strong>in</strong>: RGBl I, Nr. 195 vom 21. November 1938, S. 1632.34


E<strong>in</strong>er der bemerkenswertesten Prozesse dieser Art ereignete sich <strong>in</strong> Güstrow. 781941 – im dritten Kriegsjahr – wur<strong>den</strong> Franz Szezutkowski und Anton Urbanski<strong>in</strong> Anwesenheit Friedrich Hildebrandts zum Tode verurteilt. Das Sondergerichtsah <strong>in</strong> ihnen die Mörder des Gendarmerieoffiziers Hildebrandt, e<strong>in</strong>esOnkels des Reichsstatthalters. Die bei<strong>den</strong> Polen sollten ihn bereits 1923,also 18 Jahre zuvor, auf offener Straße erschossen haben. Danach wären sieüber die »grüne Grenze« geflüchtet, um sich dem Zugriff durch die deutscheJustiz zu entziehen.Wie gerade dieses Beispiel deutlich macht, hatte der Kriegsausbruch zue<strong>in</strong>er beträchtlichen Ausdehnung des sondergerichtlichen Tätigkeitsbereichesgeführt. Die bis dah<strong>in</strong> bestehende Grenze zwischen or<strong>den</strong>tlicher und Sondergerichtsbarkeitwar endgültig aufgehoben. 79 Seit 1939 konnten auch ger<strong>in</strong>geVergehen als Sondergerichtssachen behandelt wer<strong>den</strong>, sofern der zuständigeStaatsanwalt der Me<strong>in</strong>ung war, »daß durch die Tat die öffentliche Ordnungund Sicherheit besonders schwer gefährdet wurde«. 80 Um der erwartetenAnklage-Law<strong>in</strong>e Herr zu wer<strong>den</strong>, schuf <strong>das</strong> Reichsjustizm<strong>in</strong>isterium dieVoraussetzungen zur Bildung zusätzlicher Sondergerichte. 81 Mit der E<strong>in</strong>richtunge<strong>in</strong>es weiteren Sondergerichts am Landgericht Rostock verfügte dermecklenburgische Oberlandesgerichtsbezirk zeitweilig über zwei derartigeStrafkammern. 1944 wur<strong>den</strong> beide Kammern zusammengelegt – vermutlichwegen akuten Personalmangels. Als alle<strong>in</strong>iger Sondergerichtssitz diente erneut<strong>das</strong> Schwer<strong>in</strong>er Landgericht. 82In <strong>den</strong> ersten Kriegstagen traten acht Verordnungen <strong>in</strong> Kraft, die <strong>den</strong>Grundstock für <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-Kriegsrecht bildeten, darunter die »Verordnung <strong>gegen</strong>Volksschädl<strong>in</strong>ge« vom 5. September 1939. 83 Zum Schutz der »<strong>in</strong>neren Front«vor »Sabotage« und »Zersetzung« führte sie vier neue Straftatbestände e<strong>in</strong>:»Plünderungen« <strong>in</strong> »freigemachten Gebieten«, »Verbrechen bei Fliegergefahr«,die <strong>Widerstand</strong>skraft des deutschen Volkes schädigende »geme<strong>in</strong>gefährliche«Verbrechen sowie »sonstige« Vergehen, die unter Ausnutzung des Kriegszu-78Siehe NB, Nr. 161 vom 13. Juni 1941.79Vgl. Gruchmann, Lothar: Justiz im Dritten Reich 1933-1940. Anpassung und Unterwerfung<strong>in</strong> der Ära Gürtner, 3., verbesserte Auflage, München 2001, S. 946.80Siehe Verordnung über Maßnahmen auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung und der Rechtspflege.Vom 1. September 1939, <strong>in</strong>: RGBl I, Nr. 167 vom 6. September 1939, S. 1658 ff.81Siehe ebenda.82Vgl. Schreiben des Oberlandesgerichtspräsi<strong>den</strong>ten an <strong>den</strong> Schwer<strong>in</strong>er Landgerichtspräsi<strong>den</strong>tenSarkander vom 21. August 1943, <strong>in</strong>: LHAS, 5.12.-6/4/521, o.Bl.83Siehe Verordnung <strong>gegen</strong> Volksschädl<strong>in</strong>ge. Vom 6. September 1939, <strong>in</strong>: RGBl I, Nr. 168 vom6. September 1939, S. 1679.35


standes begangen wor<strong>den</strong> waren. Wie diese im E<strong>in</strong>zelnen zu def<strong>in</strong>ieren undzu ahn<strong>den</strong> waren, blieb dem »gesun<strong>den</strong> Volksempf<strong>in</strong><strong>den</strong>« vorbehalten. Dergesetzliche Strafrahmen erstreckte sich je<strong>den</strong>falls von Zuchthaus bis zu 15Jahren über lebenslängliche Haft bis h<strong>in</strong> zur Todesstrafe.Der Ausweitung der politischen Straftatbestände folgte e<strong>in</strong>e weitereRadikalisierung der Rechtsprechung. Nach dem Willen des berüchtigten<strong>NS</strong>-Juristen Roland Freisler sollten die Sondergerichte künftig die »Panzertruppeder Rechtspflege« 84 bil<strong>den</strong> und noch schneller und härter urteilen alsbisher. Dabei sollte »e<strong>in</strong>e Härte erreicht wer<strong>den</strong> […], die vor dem Härtestennicht zurückschreckt«. Jede Anerkennung mildernder Umstände – so Freisler– müsse unterbleiben. Wo immer es möglich sei, müsse bereits der Versuchder vollendeten Tat gleichgesetzt und der Strafrahmen bis zur obersten Grenzeausgeschöpft wer<strong>den</strong>. Danach konnten selbst ger<strong>in</strong>ge Vergehen mit horren<strong>den</strong>Strafen belegt wer<strong>den</strong>.Kannte <strong>das</strong> deutsche Strafrecht zu Jahresbeg<strong>in</strong>n 1933 nur drei Verbrechen,die mit dem Tode geahndet wur<strong>den</strong>, waren es 1943/44 bereits 46. 85 Besondersexzessiv machte <strong>das</strong> mit relativ jungen Juristen besetzte Rostocker Sondergerichtvon der Todesstrafe Gebrauch. So verurteilte es beispielsweise 1942e<strong>in</strong>e Neunzehnjährige wegen Entwendung von 70 Reichsmark aus e<strong>in</strong>emLuftschutzbunker, 86 1944 e<strong>in</strong>en Koch wegen homosexueller Handlungen mitKriegsgefangenen 87 sowie e<strong>in</strong>e Mitarbeiter<strong>in</strong> des Gepäckdienstes der DeutschenReichsbahn wegen Diebstahls von Wert<strong>gegen</strong>stän<strong>den</strong> und Genussmitteln <strong>in</strong>Verb<strong>in</strong>dung mit verbotenem Umgang mit Kriegsgefangenen. 88Nach dem Zusammenbruch der Naziherrschaft kamen fast alle mecklenburgischenSonderrichter und -staatsanwälte ungeschoren davon. Etlichen von ihnengelang es, ihre Karriere <strong>in</strong> der Bundesrepublik fortzusetzen. Kurt Nebee 89 ,e<strong>in</strong>st Rostocker Landgerichtsdirektor und Vorsitzender des dortigen Sondergerichtsarbeitete als Amtsgerichtsrat <strong>in</strong> Hagen. Se<strong>in</strong> ehemaliger Kollege vonder Staatsanwaltschaft Hans-Jürgen Lundquist 90 wirkte weiter als Ankläger84Zit. nach Gruchmann 2000, S. 1103.85Siehe Angermund, Ralph: Deutsche Richterschaft 1919-1945, Frankfurt am Ma<strong>in</strong> 1990, S.204.86Siehe LHAS, 5.12.-6/9P/500, o.Bl.87Siehe Urteil vom 26. Oktober 1944, <strong>in</strong>: Bundesarchiv (BArch), 3001/IV g 2/4893/44, o.Bl.88Siehe Urteil vom 21. August 1944, <strong>in</strong>: BArchR 3001/IV g 2/4296/44, Bl. 8 ff.89Siehe Koppel, Wolfgang (Hrsg.): Justiz im Zwielicht. Dokumentation. <strong>NS</strong>-Urteile – Personalakten– Katalog beschuldigter Juristen, Karlsruhe o.J. [1963] (Selbstverlag), S. 110.90Ebenda, S. 101.36


<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> (West). Der Schwer<strong>in</strong>er Sonderrichter Karl Brumm 91 stieg beruflichsogar auf und wurde Direktor des Landgerichts <strong>in</strong> Stade.Der Weg zu der E<strong>in</strong>sicht, <strong>das</strong>s die Richterschaft dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> widerspruchslosund oft mit Übereifer gedient hatte, war für die bundesdeutsche Justizlang und schwierig. Erst am 16. November 1995 räumte der Bundesgerichtshofselbstkritisch e<strong>in</strong>, <strong>das</strong>s e<strong>in</strong>e Vielzahl ehemaliger Juristen wegen Rechtsbeugungund anderer Kapitalverbrechen hätte verurteilt wer<strong>den</strong> müssen. »Dar<strong>in</strong>, daßdies nicht geschehen ist« – so der BGH wörtlich – »liegt e<strong>in</strong> folgenschweresVersagen bundesdeutscher Straustiz«. 92 91Ebenda, S. 52.92Siehe Weber, Jürgen / Piazolo, Michael (Hrsg.): Justiz im Zwielicht. Ihre Rolle <strong>in</strong> Diktaturenund die Antwort des Rechtsstaates (Akademiebeiträge zur politischen Bildung/Akademie fürpolitische Bildung Tutz<strong>in</strong>g, Bd. 32), München 1998, S. 94.37


Georg Diederich, Schwer<strong>in</strong><strong>Widerstand</strong> der katholischen Kirche<strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933-1945 931. Allgeme<strong>in</strong>e Ausgangslage <strong>in</strong> Deutschland und die Situation <strong>in</strong><strong>Mecklenburg</strong> 1933In der Zeit des Nationalsozialismus hatte die katholische Kirche überall imDeutschen Reich Verfolgung zu erlei<strong>den</strong>. Die umfangreiche Dokumentationvon <strong>NS</strong>-Repressionen <strong>gegen</strong> die katholische Kirche <strong>in</strong> Deutschland, die Ulrichvon Hehl unter dem Titel »Priester unter Hitlers Terror« herausgegeben hat,belegt fast 7.500 gerichtliche Strafmaßnahmen und über 14.000 staatspolizeilicheMaßnahmen <strong>gegen</strong> katholische Geistliche. 94Sicher kann – mit e<strong>in</strong>igen E<strong>in</strong>schränkungen – auch von e<strong>in</strong>em <strong>Widerstand</strong>der Kirche <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> gesprochen wer<strong>den</strong>. 95 Der Totalitätsanspruchder Nationalsozialisten hatte <strong>Widerstand</strong> auf ganz unterschiedlichen Ebenenzur Folge. Die katholische Kirche <strong>in</strong> Deutschland widersetzte sich von Anfangan der nationalsozialistischen Ideologie und verurteilte diese schon 1932 <strong>in</strong>bischöflichen Hirtenworten und Verlautbarungen der Fuldaer Bischofskonferenzals Irrlehre. 96Nach der Machtübernahme und Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzesjedoch rief die Bischofskonferenz – bei beibehaltener Verurteilung dernationalsozialistischen Weltanschauung – am 28. März 1933 zu Treue undGehorsam <strong>gegen</strong>über der neuen Regierung auf. Viele Katholiken, die wegenihrer religiösen Überzeugungen oder auch politischer Gegnerschaft verfolgtwur<strong>den</strong>, reagierten damals mit Unverständnis und Protest. Andere begrüßten93Zum <strong>Widerstand</strong> der kath. Kirche <strong>in</strong> Pommern wird verwiesen auf: Helmut Moll (Hrsg.),Zeugen für Christus. Das deutsche Martyrologium des 20. Jahrhunderts, Paderborn 2000,Band 1, S. 91-135.94Ulrich von Hehl / Christoph Kösters (Bearb.), Priester unter Hitlers Terror. E<strong>in</strong>e biographischeund statistische Erhebung, Paderborn 1996, Band 1, S. 74-112.95Ebd. S. 113-115.96Karl-Josef Hummel, Deutsche Geschichte 1933-1945, München 1998, S. 29. In diesemZusammenhang ist <strong>das</strong> unterschiedliche Wahlverhalten der Konfessionen erwähnenswert. Sowählten im Juli 1932 von allen wahlberechtigten Katholiken <strong>in</strong> Deutschland nur 15% die <strong>NS</strong>-DAP, während es auf Seiten der Protestanten fast 40% waren. Im Frühjahr 1933 war der Anteilder protestantischen <strong>NS</strong>DAP-Wähler noch doppelt so hoch wie der katholische Anteil.38


diese Erklärung als Signal zum Mittun bei der <strong>in</strong> Aussicht gestellten nationalenErhebung und Erneuerung. 97Bereits Anfang Juli 1933 hatten sich die Parteien des politischen Katholizismusunter dem Druck des totalitären Staates selbst aufgelöst. Doch bot <strong>das</strong> am20. Juli abgeschlossene Reichskonkordat <strong>den</strong> aktiven katholischen Verbän<strong>den</strong>zunächst noch völkerrechtlichen Schutz. Die Kirche verstand <strong>das</strong> Konkordatstets als vertragsrechtliche Form ihrer Nichtanpassung und Nichtgleichschaltung.Entsprechend war die nun folgende Geschichte von Repression undVerfolgung von Katholiken und kirchlichen E<strong>in</strong>richtungen im Dritten Reichauch e<strong>in</strong>e Geschichte fortlaufen<strong>den</strong> Konkordatsbruchs. 98Die Forschung zum <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> der <strong>NS</strong>-Diktatur konnte nach der deutschenWiedervere<strong>in</strong>igung e<strong>in</strong>ige Fortschritte verzeichnen, da bisher unzugänglicheQuellen verfügbar wur<strong>den</strong>. In e<strong>in</strong>igen Fällen war es so möglich, Selbstdarstellungenvon Zeitzeugen zu korrigieren oder zu ergänzen. Aus <strong>Mecklenburg</strong>muss hier auf katholischer Seite Karl Fischer erwähnt wer<strong>den</strong>, der seit 1939als Pfarrer <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burg wirkte, 1943 plötzlich wegen angeblich bevorstehenderVerhaftung verschwand und erst nach Ende des Krieges wiederauftauchte. Er wurde nach 1945 Mitglied <strong>in</strong> der Vere<strong>in</strong>igung der Verfolgtendes Nazi-<strong>Regime</strong>s und war von 1950 bis 1958 Mitglied der Volkskammer derDDR. In deren Handbuch steht zu se<strong>in</strong>er Biographie: »1933-1945: Gründerund Leiter illegaler <strong>Widerstand</strong>sgruppen.« Nach heutiger Kenntnis der Aktenlages<strong>in</strong>d diese und weitere Angaben, die e<strong>in</strong>e antifaschistische Karriere <strong>in</strong>der DDR begründeten, alle erfun<strong>den</strong>. 99Da<strong>gegen</strong> erweist sich <strong>das</strong> Nachkriegstagebuch des Schwer<strong>in</strong>er Pfarrers undspäteren Weihebischofs Dr. Bernhard Schräder als glaubwürdiges Zeitzeugnis.Deutliche H<strong>in</strong>weise auf Verfolgung und <strong>Widerstand</strong> mecklenburgischerKatholiken im Dritten Reich gibt rückblickend der E<strong>in</strong>trag vom Freitag,11. Mai 1945:»Oh Wende des Schicksals! Soll ich Genugtuung empf<strong>in</strong><strong>den</strong>? Ich kannnicht recht, obwohl ich fast 10 Jahre auf diesen Tag gewartet habe: der97Ebd., S. 48; vgl. auch: Klemens-August Recker, »Wem wollt ihr glauben?« Bischof Bern<strong>in</strong>g imDritten Reich, Paderborn 1998, S. 49 ff.98Karl-Josef Hummel (vgl. Anm. 100), S.48 f. Die Kirche hatte schon Jahre vor dem Machtantrittder Nationalsozialisten Verhandlungen über e<strong>in</strong> Reichskonkordat angestrebt.99Bernd Schäfer, Priester <strong>in</strong> zwei deutschen Diktaturen. Die antifaschistische Legende des KarlFischer (1900-1972), <strong>in</strong>: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern,Heft 1/2002, S. 69-80.39


amerikanische Divisionsgeistliche holte mich und <strong>den</strong> ev. Pastor Rohrdantzab zu dem Gerichtsgefängnis, wo 80 politische Häftl<strong>in</strong>ge sitzen, angefangenvon Staatsm<strong>in</strong>ister Dr. Scharf bis zu dem Gestapobeamten Lange, der derSchrecken der mecklenburgischen Geistlichen war und wohl an dem Toddes Pastors Dr. Schwentner, Neustrelitz, auch Schuld hat. […] Viele, auchOberstaatsanwalt Beusch, der mich <strong>in</strong> Sachen unseres Vikars Leo Wiemker,als dieser 1939 im Gefängnis saß, unqualifizierbar anbrüllte und vor allemdie verflossenen Ortsgruppenleiter und die Gestapoleute verweigerten <strong>den</strong>Geistlichen […].« 100Gerade die katholischen Pfarrer waren im <strong>NS</strong>-Staat Zielscheiben der Bespitzelungund Unterdrückung. Besonders beargwöhnt wur<strong>den</strong> sie wegen ihres E<strong>in</strong>flussesauf die kirchliche Jugend. Als Verantwortliche für die katholischen Schulen,K<strong>in</strong>dergärten und Heime traten sie dem beanspruchten Erziehungsmonopoldes Staates ent<strong>gegen</strong>. Neben der pastoralen und organisatorischen Leitung ihrerGeme<strong>in</strong>de waren sie noch <strong>in</strong> drei anderen Bereichen seelsorglich tätig. Bis zumAusbruch des Krieges zählte hierzu die Seelsorge an ausländischen Saison- undWanderarbeitern. Die Geistlichen mussten <strong>in</strong> polnischer Sprache predigenkönnen und auch auf Polnisch die Beichte hören. Nach Kriegsausbruch kamdann die Seelsorge an Zwangsarbeitern und Kriegsgefangenen h<strong>in</strong>zu, die vonPartei und Staat mit allen möglichen Mitteln erschwert und später verbotenwurde. Bis zum Kriegsende waren e<strong>in</strong>ige Geistliche auch Standortpfarrer <strong>in</strong>der Heeres-Seelsorge. Als solche waren sie immer hoch geachtet – oft auchdann, wenn sie gleichzeitig im zivilen Bereich verfolgt wur<strong>den</strong>. 101<strong>Widerstand</strong> und Verfolgung der katholischen Kirche <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> ereignetensich vor dem H<strong>in</strong>tergrund jahrhundertealter <strong>in</strong>terkonfessioneller Spannungen.So wur<strong>den</strong> die kle<strong>in</strong>en, aber wachsen<strong>den</strong> katholischen Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> noch zu100He<strong>in</strong>rich-eiss<strong>in</strong>g-Institut (Hrsg.), Chronik des Bischöflichen Kommissariates Schwer<strong>in</strong>1946 bis 1973, Schwer<strong>in</strong> 2003, S. 82.101Vgl. auch Pfarrarchiv (PA) St. Anna Schwer<strong>in</strong>, Aktenbestand Militärseelsorge. Zu Ause<strong>in</strong>andersetzungenmit dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> kam es auch auf dem Gebiet der Gefangenenseelsorge.Hier ist besonders erwähnenswert <strong>das</strong> Beispiel von Pastor Philipp Koll, der von 1941 bis 1946als Pfarrer von Bützow gleichzeitig für die Gefangenenseelsorge <strong>in</strong> der Strafanstalt Bützow-Dreibergen zuständig war. In der Pfarrchronik der Bützower kath. Geme<strong>in</strong>de f<strong>in</strong>det sich am07.10.1942 folgender Vermerk: »Die Seelsorge <strong>in</strong> <strong>den</strong> Strafanstalten wird dem Pastor entzogenwegen e<strong>in</strong>es Briefes an die Angehörigen des h<strong>in</strong>gerichteten Plünderers Claes […].« Tatsächlichführte der Brief des Bützower Pastors zu e<strong>in</strong>em reichsweiten Verbot, zum Tode verurteiltenStrafgefangenen vor der H<strong>in</strong>richtung noch seelischen Beistand zukommen zu lassen. Vgl. Briefdes Reichsjustizm<strong>in</strong>isters ierack an Reichsleiter Mart<strong>in</strong> Bormann vom 10. Okt. 1942.40


Beg<strong>in</strong>n der 1930er Jahre von der evangelischen Landeskirche mit Argwohn,teilweise auch mit Abneigung betrachtet. Der 1930 verstorbene Landesbischofder evangelisch-lutherischen Landeskirche <strong>Mecklenburg</strong>s, He<strong>in</strong>rich Behm,stellte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Schrift »Das katholische und <strong>das</strong> evangelische Lebensideal«beschwörend fest, »daß die Herrschaft des heutigen Katholizismus über <strong>den</strong>Geist des Volkes <strong>den</strong> moralischen Ru<strong>in</strong> der Nation unfehlbar nach sich ziehenmüsse.« 102Die Katholiken <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> galten vielen Landsleuten nicht nur als antilutherisch,sondern im <strong>NS</strong>-Parteijargon auch als undeutsch, kommunisten- undju<strong>den</strong>hörig. Dazu kam, <strong>das</strong>s <strong>in</strong> der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung katholisch meistmit polnisch gleich gesetzt wurde. Katholische Priester wur<strong>den</strong> von der nichtkatholischen Bevölkerung mit dem Be<strong>in</strong>amen »Polenpaster« betitelt. Noch nachdem Zweiten Weltkrieg bekam e<strong>in</strong> Priester, der <strong>in</strong> Rostock Polenabkömml<strong>in</strong>gebesucht hatte, auf se<strong>in</strong>e Frage, ob hier <strong>den</strong>n noch mehr Katholiken im Hauswohnen, die Antwort: »Ne<strong>in</strong>, die anderen s<strong>in</strong>d alle deutsch.« 103E<strong>in</strong> besonders erbitterter Fe<strong>in</strong>d der katholischen Kirche war FriedrichHildebrandt, der Reichsstatthalter des Führers <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>, ehemalsPferdeknecht <strong>in</strong> Kiek<strong>in</strong>demark bei Parchim. Die katholische Pfarrchronik<strong>in</strong> Parchim hält e<strong>in</strong>e Äußerung von ihm fest, nach der er schon vor derMachtübernahme gesagt haben soll: »Wenn ich erst e<strong>in</strong>mal am Ruder b<strong>in</strong>,werde ich dafür sorgen, daß <strong>in</strong>nerhalb von zwei Jahren ke<strong>in</strong> Katholik mehr<strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> ist.« Viele Repressionen <strong>gegen</strong> Katholiken im Lande wer<strong>den</strong><strong>den</strong> persönlichen Bestrebungen Hildebrandts zugeschrieben. 1041934 bekannten sich <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> nach offiziellen statistischen Angabenca. 32.000 Landsleute zur katholischen Kirche, also weniger als 4% derBevölkerung. Nicht mitgerechnet waren dabei etwa 20.000 ausländische Saisonarbeiter.Während der Weimarer Zeit hatten sich die kirchlichen Strukturender kle<strong>in</strong>en katholischen M<strong>in</strong>derheit im Lande gefestigt. E<strong>in</strong> Jahr nachAbschluss des Preußenkonkordates 1929 kam <strong>Mecklenburg</strong> kirchenrechtlichan <strong>das</strong> Bistum Osnabrück und wurde vom Osnabrücker Bischof 1931 alsDekanat errichtet. Erster Dechant war der Schwer<strong>in</strong>er Pfarrer Josef Brüx. DaBrüx als Heeres-Seelsorger auch Standortpfarrer von Schwer<strong>in</strong> war, wurde102Zitiert nach: Werner Schnoor, Die Vergangenheit geht mit. E<strong>in</strong>ige Notizen zum Weg derKirche <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> von eodor Klieforth bis He<strong>in</strong>rich Rathke, Schwer<strong>in</strong> 1984, S. 37.103Vgl. He<strong>in</strong>rich-eiss<strong>in</strong>g-Institut (Hrsg.), Chronik des Bischöflichen Kommissariates Schwer<strong>in</strong>1946 bis 1973, Schwer<strong>in</strong> 2003, S. 58-64, S. 69.104Vgl. Chronik der kath. Pfarrgeme<strong>in</strong>de St. Josef Parchim.41


se<strong>in</strong> Leichnam im Dezember 1935 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em öffentlichen Trauerzug durchdie Stadt zum katholischen Friedhof geführt und unter militärischen Ehrenvon Bischof Wilhelm Bern<strong>in</strong>g, der gleichzeitig <strong>den</strong> Rang e<strong>in</strong>es preußischenStaatsrates bekleidete, beerdigt. 105Der Prozess <strong>gegen</strong> Prälat Wilhelm Leffers 1935 106Am 5. März des gleichen Jahres hatte man <strong>den</strong> katholischen Pfarrer von Rostock,Prälat Wilhelm Leffers, verhaftet. Nach 14 Tagen Untersuchungshaftim Gefängnis am Schwaanschen Tor kam der schon 64-jährige Geistlicheauf E<strong>in</strong>spruch von Bischof Bern<strong>in</strong>g bis zum Beg<strong>in</strong>n se<strong>in</strong>es Prozesses vorläufigfrei. 107Vom 09.-12. April 1935 führte <strong>das</strong> Schwer<strong>in</strong>er Sondergericht unter Vorsitzvon Landgerichtspräsi<strong>den</strong>t Buschmann e<strong>in</strong>en Prozess <strong>gegen</strong> Prälat Leffers.Dieser war im S<strong>in</strong>ne des Heimtückegesetzes angeklagt wor<strong>den</strong>, »<strong>in</strong> Rostockvorsätzlich unwahre und gröblich entstellte Behauptungen tatsächlicher Artangestellt zu haben, die geeignet s<strong>in</strong>d, <strong>das</strong> Wohl des Reiches oder <strong>das</strong> Ansehender <strong>NS</strong>DAP schwer zu schädigen […]«. 108Bei se<strong>in</strong>er Anklage bezog sich Generalstaatsanwalt Puffpaff auf e<strong>in</strong> Gespräch,<strong>das</strong> Prälat Leffers am 15. Januar 1935 mit drei Stu<strong>den</strong>ten der UniversitätRostock geführt hatte. Diese hatten ihn unter dem Vorwand aufgesucht,wegen des Buches »Mythus des XX. Jahrhunderts« von Alfred Rosenberg <strong>in</strong>Glaubenskonflikte geraten zu se<strong>in</strong>. Das Buch war von der Kirche auf <strong>den</strong>Index der verbotenen Bücher gesetzt wor<strong>den</strong> mit der Begründung, <strong>das</strong>s es»vollständig […] die Grundlagen der christlichen Religionen« verwerfe unddafür verkündige, »es entstehe heute […] der mythische Glauben des Blutes«.Wiederholt hatte Prälat Leffers als zuständiger Heeres-Seelsorger <strong>in</strong> Bildungsaben<strong>den</strong>die rassistischen eorien Rosenbergs scharf kritisiert. 109Wortführer beim Gespräch am 15. Januar, <strong>das</strong> <strong>den</strong> Anlass für die Verhaftungdes Rostocker Pfarrers gab, war der exkommunizierte Stu<strong>den</strong>t Sch<strong>in</strong>ke, zu105Vgl. PA Schwer<strong>in</strong>, 1.130, Zur Ernennung von Bischof Bern<strong>in</strong>g zum Preußischen Staatsrat:Klemens-August Recker (vgl. Anm. 101), S. 55 ff.106Gerhard Schlegel, Prälat Leffers (1871 - 1952). Pastor – Bauherr – Nazigegner, <strong>in</strong>: omas-Morus-Bildungswerk (Hrsg.), Türme am Horizont, Schriftenreihe Bd. 1, Schwer<strong>in</strong> 1997, S.29-33.107Ebd. S. 29.108Katholisches Kirchenblatt, 21. April 1935, Nr. 16, S. 17.109Gerhard Schlegel, Prälat Leffers (1871 - 1952). Pastor – Bauherr – Nazigegner, <strong>in</strong>: omas-Morus-Bildungswerk (Hrsg.), Türme am Horizont, Schriftenreihe Bd. 1, Schwer<strong>in</strong> 1997.42


dieser Zeit auch Schulungsleiter des <strong>NS</strong>-Stu<strong>den</strong>tenbundes an der UniversitätRostock. Mit ihm zusammen kamen die katholische Stu<strong>den</strong>t<strong>in</strong> Frisch und dieaus der evangelischen Kirche ausgetretene Stu<strong>den</strong>t<strong>in</strong> Nax, die sich im Prozesszur »artgermanischen Weltfrömmigkeit« bekannte. Nax arbeitete ebenfalls alsLeiter<strong>in</strong> der Schulungskurse für die Stu<strong>den</strong>t<strong>in</strong>nen des <strong>NS</strong>-Stu<strong>den</strong>tenbundes. 110Nach kurzer Diskussion zum Buch Rosenbergs drehte sich <strong>das</strong> Gesprächdann hauptsächlich um <strong>den</strong> »Röhmputsch« vom 30. Juni 1934, <strong>den</strong> Hitlerzum Anlass genommen hatte, nicht nur leidige Konkurrenten <strong>in</strong> der SA zubeseitigen, sondern auch e<strong>in</strong>flussreiche Oppositionelle wie <strong>den</strong> Vorsitzen<strong>den</strong>der katholischen Aktion <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>, Dr. Klausener. 111 Die Stu<strong>den</strong>ten fertigtenanschließend Gesprächsprotokolle an und übergaben diese der Gestapo.Der Prozess fand e<strong>in</strong> enormes Echo <strong>in</strong> der Presse. Hier sollte offensichtlichan e<strong>in</strong>em prom<strong>in</strong>enten Vertreter der katholischen Kirche <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> e<strong>in</strong>Exempel statuiert wer<strong>den</strong>. Zudem machte e<strong>in</strong> späterer mehrseitiger Artikel imNiederdeutschen Beobachter unter der Überschrift »Der Fall Leffers und se<strong>in</strong>eH<strong>in</strong>tergründe« deutlich, <strong>das</strong>s man mit diesem Prozess die »Bekenntnisfront«ganz allgeme<strong>in</strong> treffen wollte, die sich <strong>in</strong> evangelischer wie katholischer Kirchedem Totalitätsanspruch des Staates widersetzte. 112Die politische Bedeutung des Prozesses <strong>gegen</strong> Leffers wurde durch die Anwesenheitdes <strong>NS</strong>-Kreisleiters Dettmann, des Rostocker OberbürgermeistersVolgmann sowie weiterer Funktionäre aus Land und Reich unterstrichen.Gleich zu Beg<strong>in</strong>n der Verhandlungen, als die Befragungen über <strong>den</strong> »Röhm-Putsch« erfolgten, legte Leffers’ Verteidiger Dr. We<strong>in</strong>rebe <strong>das</strong> Mandat nieder.Zu diesem Vorgang schreibt Leffers 1948: »Als ich bei me<strong>in</strong>er Vernehmungdurch <strong>den</strong> Präsi<strong>den</strong>ten Buschmann dessen Behauptung, daß alle am 30. Juni1934 Getöteten »Meuterer« gewesen seien, entschie<strong>den</strong> zurückwies, und dieseTötung durch Hitler als Mord bezeichnete, wurde <strong>in</strong> <strong>den</strong> Reihen der vielenParteigenossen, welche aus ganz Deutschland zu dieser Gerichtsverhandlunggela<strong>den</strong> waren, laute Entrüstungsrufe vernehmbar. Me<strong>in</strong> Anwalt wurde dadurchderart e<strong>in</strong>geschüchtert, daß er se<strong>in</strong> Mandat niederlegte[…]«. 113 Kurzfristigmusste e<strong>in</strong> Pflichtverteidiger e<strong>in</strong>spr<strong>in</strong>gen, bis der neue Wahlverteidiger Dr.Müller aus Plauen die Verteidigung übernehmen konnte. 114110Archiv für Christlich-Demokratische Politik (ACDP), Bestand 4-11, Brief von Prälat Leffersvom 24. Mai 1948 an die Forschungsstelle der <strong>Widerstand</strong>sbewegung der VVN <strong>in</strong> Rostock.111Helmut Moll (vgl. Anm. 97), S. 128ff.112Beiblatt des Niederdeutschen Beobachters Nr. 9 vom 12.5.1935 und Nr. 111 vom15.5.1935.113ACDP (vgl. Anm. 110).114Gerhard Schlegel (vgl. Anm. 106), S. 30.43


Im Prozessverlauf wur<strong>den</strong> die belasten<strong>den</strong> Aussagen der drei Stu<strong>den</strong>ten deutlichhöher bewertet als die Aussagen der 42 Leumundszeugen für <strong>den</strong> Geistlichen.Insgesamt hatten sich für Prälat Leffers etwa 300 Leumundszeugen bei Gerichtgemeldet. Trotz aller Entlastung für <strong>den</strong> Rostocker Pfarrer wurde dieser »aufGrund des Gesetzes <strong>gegen</strong> heimtückische Angriffe auf Staat und Partei undzum Schutze der Parteiuniform zu e<strong>in</strong>er Gefängnisstrafe von e<strong>in</strong>em Jahr undsechs Monaten verurteilt«. Strafverschärfend sei gewesen, <strong>das</strong>s er <strong>in</strong> Ausübungder Seelsorge gehandelt habe. »Denn er mußte sich sagen, <strong>das</strong>s e<strong>in</strong> Seelsorger,der solche Behauptungen aufstellt, e<strong>in</strong>en besonders tiefen E<strong>in</strong>druck auf dieihm anvertrauten Seelen macht«. 115 Prälat Leffers wurde nach sechs MonatenHaftverbüßung <strong>in</strong> Bützow-Dreibergen aus gesundheitlichen Grün<strong>den</strong> unterder Auflage von zwei Jahren Bewährung aus der Haft entlassen und kehrte<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Pfarrei zurück. 116Beispiele von Verfolgung und <strong>Widerstand</strong> aus der Zeit 1935-1939:Der Kampf <strong>gegen</strong> die katholischen Schulen <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>Von allen seelsorglichen und sozialen Kontakten waren <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie dieE<strong>in</strong>flussmöglichkeiten der katholischen Geistlichen auf die Jugend <strong>den</strong>Nazis e<strong>in</strong> Dorn im Auge. Ab 1935 suchten Staat und Partei, wie überall imReich, auch <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> nach Möglichkeiten, die katholischen Schulen<strong>in</strong> Schwierigkeiten zu br<strong>in</strong>gen. Zwar waren <strong>in</strong> <strong>den</strong> Artikeln 19 bis 22 desReichskonkordates vom 20. Juli 1933 alle Rechte der Kirche bezüglich Beibehaltungund Neue<strong>in</strong>richtung von katholischen Schulen ausdrücklich bestätigt.Doch fand man bald Mittel und Wege, die katholischen Bekenntnisschulenim Reich <strong>in</strong> nationalsozialistische Geme<strong>in</strong>schaftsschulen zu überführen unddie katholischen Privatschulen zu schließen. 117In <strong>Mecklenburg</strong> gab es vier katholische Privatschulen <strong>in</strong> <strong>den</strong> Städten Schwer<strong>in</strong>,Rostock, Neustrelitz und Ludwigslust. Hier kritisierten die Schulbehör<strong>den</strong>zunächst angebliche Pflichtverletzungen der Schulleitungen <strong>gegen</strong>über <strong>den</strong>Forderungen des Staates. Die katholische Schule <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> wurde im August1935 angemahnt, die Überweisung hilfsschulbedürftiger K<strong>in</strong>der konsequent115Rostocker Anzeiger Nr. 89 vom 14. April 1935, 1. Beiblatt.116Gerhard Schlegel (vgl. Anm. 106), S. 33.117Birgit Mitzscherlich, Unter Diktaturen. Die Stellung der katholischen Schulen im DrittenReich, <strong>in</strong> der Sowjetischen Besatzungszone und <strong>in</strong> <strong>den</strong> Anfangsjahren der DDR, <strong>in</strong>: GeorgM. Diederich, Renate Krüger (Hrs.), Geduldet, verboten, anerkannt. Katholische Schulen <strong>in</strong><strong>Mecklenburg</strong>, Rostock 2000, S. 340 - 364.44


durchzuführen. Der Schulleitung wurde »e<strong>in</strong>e Verkennung der Ziele des nationalsozialistischenStaates auf rassischem Gebiet« vorgeworfen. 1936 musstendie katholischen Schulen »ju<strong>den</strong>frei« gemacht wer<strong>den</strong>. 118Inzwischen waren auch die Schüler an der katholischen Schule <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong>zu knapp 50% Mitglieder <strong>in</strong> <strong>NS</strong>-Jugendorganisationen gewor<strong>den</strong>. 119 Ab1. Oktober 1936 mussten für alle Lehrer neue Anstellungsverträge ausgefertigtwer<strong>den</strong>, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en die Verpflichtung enthalten war, <strong>den</strong> gesamten Unterricht»im S<strong>in</strong>ne des nationalsozialistischen Staates und der nationalsozialistischenWeltanschauung zu erteilen.« In Neustrelitz kritisierte der Schulrat, e<strong>in</strong>e Lehrer<strong>in</strong>würde <strong>den</strong> deutschen Gruß außerhalb des Dienstes nicht gebrauchen.Es sei dieses die letzte Verwarnung vor weiteren Konsequenzen. 120Die Lehrkräfte an <strong>den</strong> katholischen Schulen stan<strong>den</strong> nachweislich seit 1936unter Beobachtung durch Gestapo und Parteidienststellen. Das <strong>Mecklenburg</strong>ischeUnterrichtsm<strong>in</strong>isterium fragte ab 1937 grundsätzlich die örtlichenParteizentralen an, ob sie die jeweiligen Lehrer für politisch unbe<strong>den</strong>klichfür die Ausübung ihres Amtes hielten. Ende 1936 g<strong>in</strong>g es dann darum, diePfarrgeistlichen aus dem Religionsunterricht an <strong>den</strong> Schulen zu entfernen.So erhielten die bei<strong>den</strong> Rostocker Kapläne Fuhler und Schmitz vernichtendeUrteile durch <strong>den</strong> Rostocker <strong>NS</strong>DAP-Kreisleiter, ebenso der nachfolgenddurch Bischof Bern<strong>in</strong>g beantragte Vikar Hans Frense. Hier e<strong>in</strong>ige Sätze ausder Beurteilung von Kaplan Fuhler durch die <strong>NS</strong>DAP-Kreisleitung:»Fuhler ist e<strong>in</strong> fanatischer und verbissener Katholik, der sich ständig Gewaltantun muß, um <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Predigten nicht <strong>in</strong> Wutausbrüche <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> DritteReich zu verfallen. […] Er übt hier e<strong>in</strong>en nicht zu verkennen<strong>den</strong> gegnerischenE<strong>in</strong>fluß aus […] Auf je<strong>den</strong> Fall müssen wir Fuhler als im höchsten Maßefür politisch unzuverlässig erklären und halten ihn für <strong>den</strong> vorgesehenenkatholischen Religionsunterricht nicht geeignet.« 121Daraufh<strong>in</strong> wies <strong>das</strong> mecklenburgische Staatsm<strong>in</strong>isterium die Anträge auf E<strong>in</strong>satz118Renate Krüger, Das L<strong>in</strong>zer Vorsem<strong>in</strong>ar und die Schwer<strong>in</strong>er Bürgerschule, <strong>in</strong>: Ebd., S. 86f.119Ebd. Wegen des hohen Anteils an Schülern aus polnischen Elternhäusern wur<strong>den</strong> es nie100%, da Nichtarier, Ausländer und körperlich stark Beh<strong>in</strong>derte von e<strong>in</strong>er Mitgliedschaft <strong>in</strong>der HJ ausgeschlossen waren.120Georg M. Diederich, Stütze der Diasporageme<strong>in</strong>de. Die katholische Schule <strong>in</strong> Neustrelitz,<strong>in</strong>: Georg M. Diederich, Renate Krüger (vgl. Anm. 117), S. 204-207.121Bodo Keipke, Katholische Schule <strong>in</strong> der Hansestadt. Die private katholische Volksschule <strong>in</strong>Rostock, <strong>in</strong>: Georg M. Diederich, Renate Krüger, (wie Anm. 117), S. 230ff.45


der Geistlichen an <strong>den</strong> Schulen zurück. 122 Um <strong>den</strong> E<strong>in</strong>fluss der katholischenSchulen weiter zurückzudrängen, wurde allen Beamten ab November 1937untersagt, ihre K<strong>in</strong>der weiter dorth<strong>in</strong> zu schicken. 123In die größten Schwierigkeiten gerieten die katholischen Schulen im Lande,als die nationalsozialistischen Schulbehör<strong>den</strong> 1936 damit begannen, auf Druckder Gestapo die Or<strong>den</strong>sschwestern aus dem Schuldienst zu entfernen. 124 Ab1938 schaltete sich auch der Sicherheitsdienst des Reichsführers <strong>in</strong> <strong>den</strong> Kampf<strong>gegen</strong> die Schulen e<strong>in</strong>. 125Den Ausschlag für die Schließung der katholischen Schule <strong>in</strong> Rostock gabe<strong>in</strong> Schreiben des dortigen Schulrates Witte vom 21. September 1938 an <strong>das</strong><strong>Mecklenburg</strong>ische M<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem es heißt: »Für <strong>das</strong> Vorhan<strong>den</strong>se<strong>in</strong>der hiesigen katholischen Schule besteht m.E. ke<strong>in</strong> Bedürfnis. Fürdie Volkswerdung s<strong>in</strong>d konfessionelle Schulen stets e<strong>in</strong>e Gefahr, da sie nicht<strong>das</strong> E<strong>in</strong>igende betonen, sondern <strong>den</strong> Gegensatz zu <strong>den</strong> anderen Blutsbrüdern[…] Im nationalsozialistischen Staat s<strong>in</strong>d konfessionelle Schulen Überbleibsele<strong>in</strong>er vergangenen Zeit und müssen beseitigt wer<strong>den</strong>. Zwischen der katholischenGeistlichkeit und dem nationalsozialistischen Staat wird es niemalsFrie<strong>den</strong> geben, und die Schule wird von Rom immer als Kampfmittel <strong>gegen</strong>die Bewegung mißbraucht wer<strong>den</strong>.« 126 Daraufh<strong>in</strong> wurde die Schule am 6.Oktober 1938 per Erlass des M<strong>in</strong>isteriums geschlossen. Die Schließung deranderen katholischen Schulen im Lande folgte bis März 1939.Überlebenskampf der katholischen Kirche 1939-1945Doch die Aktionen des <strong>NS</strong>-Staates richteten sich nicht nur <strong>gegen</strong> die katholischenSchulen. Überall sollte die Kirche aus dem gesellschaftlichen Leben verschw<strong>in</strong><strong>den</strong>.Ab 1937 waren alle öffentlichen Veranstaltungen und Kundgebungenkirchlich-konfessionellen Charakters außerhalb der Kirchenräume verboten.Dies betraf die Fronleichnamsprozessionen und auch gesellige Zusammenkünftewie z.B. Weihnachtsfeiern. Beg<strong>in</strong>nend im Jahre 1939 wur<strong>den</strong> die karitativenE<strong>in</strong>richtungen der Kirche beschlagnahmt und der <strong>NS</strong>V (Nationalsozialistische122Ebd., S. 238.123Ebd., S. 232.124Georg M. Diederich, Verdrängt und Verboten. Zum H<strong>in</strong>tergrund der Schulschließungenunter <strong>den</strong> Nationalsozialisten, <strong>in</strong>: Georg M. Diederich, Renate Krüger, (wie Anm. 117), S. 261.125Ebd. S. 263.126Bodo Keipke (vgl. Anm. 121), S. 242.46


Volkswohlfahrt) unterstellt, katholische Vere<strong>in</strong>e und Verbände wie z.B. derKatholische Gesellenvere<strong>in</strong> e.V. (Kolp<strong>in</strong>g-Vere<strong>in</strong>) aufgelöst. Auf die Schließungder Schulen folgte die Schließung der katholischen K<strong>in</strong>dergärten. 127Im Februar 1939 wurde der Schwer<strong>in</strong>er Vikar Leopold Wiemker – wie schone<strong>in</strong>gangs erwähnt – aufgrund e<strong>in</strong>er Denunziation durch <strong>das</strong> Ehepaar Mokwaaus Crivitz verhaftet. Trotz aller Bemühungen konnte Pfarrer Dr. Schrädernicht verh<strong>in</strong>dern, <strong>das</strong>s se<strong>in</strong> Vikar viele Monate <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> und Bützow <strong>in</strong>-haftiert war und schließlich bis1945 <strong>in</strong>s KZ Dachau kam. 128Das gleiche Schicksal ereilte<strong>den</strong> Wismarer Kaplan JakobSchmitt. Dieser wurde wegenunerlaubter Seelsorge an polnischenZwangsarbeitern <strong>in</strong> Klütz am5. Juli 1941 verhaftet, kam dannnache<strong>in</strong>ander <strong>in</strong>s Gefängnis nachSchwer<strong>in</strong>, nach Alt-Strelitz undWismar. Am 22.09.1941 wurdeer <strong>in</strong>s KZ Neuengamme überführtund war vom Mai 1942bis zum Ende des Krieges imKZ Dachau. 129Im Jahre 1940 verhafteteman erneut <strong>den</strong> RostockerPfarrer Wilhelm Leffers undLeopold Wiemker (1909-1976)verurteilte ihn zu zweie<strong>in</strong>halbJahren Gefängnis. Er wurde im Dezember des Jahres schwerkrank aus demGefängnis entlassen und nach Feststellung der Haftunfähigkeit wegen Herz<strong>in</strong>farktsaus <strong>Mecklenburg</strong> verbannt. 130Wegen »Beleidigung des mecklenburgischen Landvolkes« wurde im Oktober1943 der katholische Pfarrer von Parchim, Alfons Jünemann, zu sechs127He<strong>in</strong>rich-eiss<strong>in</strong>g-Institut (Hrsg.), Chronik (Vgl. Anm. 100), S.73 - 74. Vgl. auch: ACDP(Anm. 110). Der katholische Gesellenvere<strong>in</strong> <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> löste sich (unter Druck) 1940 selbstauf, vgl. Pfarrarchiv St. Anna Schwer<strong>in</strong>, 14.046.128PA St. Anna Schwer<strong>in</strong>, 1.135/1 und /2129BAOS 04-62-32130Gerhard Schlegel, (wie Anm. 106), S. 36.47


Monaten Gefängnis verurteilt. Er verbüßte se<strong>in</strong>e Strafe von Mai bis November1944. 131 Auch der widerständige Pfarrer von Wittenburg, Albert Groß, wurdeim Oktober 1944 unter fa<strong>den</strong>sche<strong>in</strong>igem Vorwand für e<strong>in</strong>ige Tage <strong>in</strong> »Schutzhaft«genommen. Ihm warf man die Verweigerung von »Schanzarbeiten <strong>in</strong>Schleswig-Holste<strong>in</strong>« vor. 132Behör<strong>den</strong>, Gestapo und eifrige <strong>NS</strong>-Genossen versuchten ab Kriegsbeg<strong>in</strong>ndie Seelsorge an <strong>den</strong> ausländischen Katholiken zu verh<strong>in</strong>dern. 137 Mit derPolizeiverordnung vom 8. April 1940 war »polnischen Zivilarbeitern undZivilarbeiter<strong>in</strong>nen« <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> die »Teilnahme an deutschen kirchlichenVeranstaltungen« untersagt wor<strong>den</strong>. 138 E<strong>in</strong> Jahr später verbot auch <strong>das</strong>Reichskirchenm<strong>in</strong>isterium mit Erlass vom 15. Juli 1941 »die Teilnahme vonArbeitern polnischen Volkstums an <strong>den</strong> Gottesdiensten der örtlichen Pfarrgeme<strong>in</strong>de«.139 E<strong>in</strong>e besondere Schikane bestand dar<strong>in</strong>, <strong>das</strong>s im Gottesdienstnur deutsch gesprochen und auch ke<strong>in</strong>e polnischen Lieder gesungen wer<strong>den</strong>durften. In <strong>den</strong> Jahren vor Kriegsausbruch hatte Pfarrer Dr. Schräder nochöffentlich polnisch-sprachige Gottesdienste für die damals schon zahlreichenpolnischen Katholiken <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> <strong>in</strong> der katholischen Pfarrkirche haltenlassen. 140 In <strong>den</strong> lückenlos geführten Aufzeichnungen Schräders über die »Polengottesdienste«f<strong>in</strong>det man ab 1941 immer häufiger Vermerke wie »nichtgenehmigt«, »ausgefallen, da angeblich ke<strong>in</strong> Raum«, »ausgefallen wegen Arbeit«oder »verboten durch die Polizei«. 141Schräder ließ nie e<strong>in</strong>en Zweifel daran, <strong>das</strong>s er <strong>den</strong> Krieg nicht gutheißenkonnte. Seit September 1939 wurde je<strong>den</strong> Abend <strong>in</strong> der Schwer<strong>in</strong>er Pfarrkircheder Rosenkranz für <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong> gebetet. 142131Ulrich von Hehl / Christoph Kösters (Bearb.), (wie Anm. 94), Band 2, S. 1124.132Ebd., S. 1122.137Heribert Rosal (Hrsg), Die Seelsorge an <strong>den</strong> polnischen Wanderarbeitern <strong>in</strong> der Zeit von1850 bis 1945, Kirchengeschichtliche Handreichungen Nr. 4, Berl<strong>in</strong> 1976, siehe auch PA St.Anna Schwer<strong>in</strong>, 2.049.138PA St. Anna Schwer<strong>in</strong>, 2.058. Brief des Bischofs von Osnabrück an Pfarrer Dr. BernhardSchräder vom 20. April 1940.139Ebd., siehe auch: Peter Sieve, Die katholische Kirche und die Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiterwährend des zweiten Weltkrieges im Ol<strong>den</strong>burger Land, Vechta 2000, S. 15 ff.140PA St. Anna Schwer<strong>in</strong>, 2.142.141PA St. Anna Schwer<strong>in</strong>, 2.056.142PA St. Anna Schwer<strong>in</strong>, 2.142.48


Zeuge für <strong>den</strong> Glauben: Dr. Bernhard Schwentner, Pfarrer vonNeustrelitz 143Am 21. Oktober 1943 wurde völlig überraschend der katholische Pfarrer vonNeustrelitz, Dr. Bernhard Schwentner, verhaftet. Auf der Polizeiwache erfuhr erdurch vernehmende Gestapo-Leute, <strong>das</strong>s e<strong>in</strong> Zeuge ihn beschuldigt habe, »ihm<strong>gegen</strong>über unglaubliche, gehässigepolitische Äußerungen gemacht«zu haben. Bei dem Zeugen namensAha handelte es sich um e<strong>in</strong>katholisches Geme<strong>in</strong>deglied, <strong>das</strong><strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Rechl<strong>in</strong>er Rüstungsbetriebarbeitete. Ähnlich wie im FallLeffers hatte hier der Zeuge Aha<strong>den</strong> Pfarrer unter dem Vorwandvon seelsorglichen Nöten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>politisches Gespräch verwickelt.Er nahm danach die deutlichenAussagen von Dr. Schwentnerzum uns<strong>in</strong>nigen Krieg, zur Behandlungder Ju<strong>den</strong> und zumverantwortungslosen Handelnder <strong>NS</strong>-Führung zu Protokollund gab sie an die Gestapo. DerNeustrelitzer Kaplan He<strong>in</strong>richKottmann hat <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Tagebuchauf die parallel erfolgen<strong>den</strong>Prof. Dr. Bernhard Schwenter (1891-1944).Verhaftungen der evangelischen Pastoren Michaelis (Neustrelitz) und Re<strong>in</strong>hold(Alt-Strelitz) verwiesen, die auf Denunziation von Kollegen des Zeugen Ahah<strong>in</strong> erfolgten. 144Pfarrer Dr. Schwentner wurde bereits am 22. Oktober 1943 <strong>in</strong>s Gefängnisnach Alt-Strelitz überführt, wo man ihn bis zum 8. Mai 1944 <strong>in</strong> Untersuchungshafthielt. Danach wurde er nach Berl<strong>in</strong>-Moabit überführt. Damit war143Helmut Moll (wie Anm. 93), S. 257-259, vgl. auch Karl He<strong>in</strong>z Jahnke, Gegen Hitler. Gegnerund Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933-1945, Rostock 2000, S. 123-131.144He<strong>in</strong>rich-eiss<strong>in</strong>g-Institut (Hrsg.), Kirche unter Diktaturen. Katholische Kirche <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>1933-1989, Band 2 (<strong>in</strong> Vorbereitung).49


klar, <strong>das</strong>s se<strong>in</strong> Fall vor dem Volksgerichtshof verhandelt wer<strong>den</strong> würde. DerProzess wurde am 20. Juni 1944 eröffnet.Vernichtend war <strong>das</strong> Fazit, <strong>das</strong> am Schluss der Anklageschrift über <strong>den</strong>Pfarrer gezogen wurde:»Der Angeklagte, der <strong>den</strong> vorstehen<strong>den</strong> Sachverhalt leugnet, wird durchdie glaubwürdigen Bekundungen des genannten Zeugen überführt wer<strong>den</strong>.Der Angeschuldigte gehört offenbar zu jenen falschen Priestern, dieke<strong>in</strong> Vaterland kennen und unter dem Vorwand, der Nationalsozialismusbedrohe <strong>das</strong> Christentum, e<strong>in</strong>e verschlagene Zersetzungspropaganda <strong>gegen</strong><strong>das</strong> nationalsozialistische Großdeutschland entfalten. In Wirklichkeit gehtes diesen Kreisen um die Durchsetzung ihres eigenen machtpolitischenStrebens. Ihr Ziel ist der Sturz der nationalsozialistischen Staatsführung. Aufihrem Weg dah<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d sie bereit, <strong>den</strong> Preis e<strong>in</strong>er Niederlage Deutschlands<strong>in</strong> Kauf zu nehmen, wobei sie <strong>in</strong> ihrem bl<strong>in</strong><strong>den</strong> Eifer vor dem Gedankene<strong>in</strong>er Ermordung des Führers nicht zurückschrecken.«Der Angeklagte bestritt diese Vorwürfe und versuchte, die Angaben des nichtzur Verhandlung erschienenen Zeugen Aha zu widerlegen. Die Verhandlungwurde zunächst ergebnislos vertagt und Pfarrer Schwentner <strong>in</strong>s PotsdamerGefängnis zurückgeführt. Der zweite Verhandlungstag war dann der 15.September 1944, fast zwei Monate nach <strong>den</strong> Ereignissen des 20. Juli 1944.Der Reichsanwalt beantragte die Todesstrafe. Er warf Schwentner vor, e<strong>in</strong>»unversöhnliche(r) Fe<strong>in</strong>d des Nationalsozialismus« zu se<strong>in</strong> und unter »Mißbrauchse<strong>in</strong>er Vertrauensstellung als Seelenhirte der katholischen Bevölkerung«andere »Volksgenossen […] im Glauben an <strong>den</strong> Führer und an die nationalsozialistischeWeltanschauung irre [..] zu machen«. 145Pfarrer Dr. Bernhard Schwentner wurde »wegen Heimtücke und Fe<strong>in</strong>dbegünstigung«zum Tode verurteilt. Er kam am 18. September 1944 <strong>in</strong> <strong>das</strong>Zuchthaus Bran<strong>den</strong>burg-Gör<strong>den</strong>. Dort blieb er bis zu se<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>richtung am30. Oktober 1944. In <strong>den</strong> letzten Wochen se<strong>in</strong>es Lebens war er sehr gefasst undarbeitete noch <strong>in</strong> der Todeszelle an e<strong>in</strong>em Buch über <strong>den</strong> Apostel Paulus. Inse<strong>in</strong>em Abschiedsbrief, <strong>den</strong> er schon am 13.06.1944 angesichts der Nachrichtvom Prozess vor dem Volksgerichtshof schrieb und der erst nach se<strong>in</strong>em Todegeöffnet wer<strong>den</strong> durfte, ist zu lesen:145Ebd.50


»Gestern erhielt ich die Vorladung zur Hauptverhandlung am 20.VI.Den Verteidiger habe ich bisher noch nicht gesprochen. Wenn seitens desDenunzianten ke<strong>in</strong>e Schurkerei vorliegt, dann liegt die Schuld <strong>in</strong> demGegensatz der Welten. […] Wenn Sie diesen Brief erhalten, b<strong>in</strong> ich nichtmehr auf Er<strong>den</strong>. Man möge mich nicht bewe<strong>in</strong>en, ich betrachte me<strong>in</strong>enTod als Martyrium, und so möge es auch Haus, Heim und Pfarre auffassen.Bed<strong>in</strong>gungslos habe ich me<strong>in</strong>en Willen dem Göttlichen untergeordnet. DerGeme<strong>in</strong>de me<strong>in</strong>e letzten Grüße und Wünsche: sie möge stark im Glaubenbleiben, sie möge für mich beten und gut von mir <strong>den</strong>ken, ich habe nichtsUnrechtes getan.Auf Wiedersehen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen, besseren Welt.« 146 146Ebd. Tagebuch He<strong>in</strong>rich Kottmann.51


Irmfried Garbe, GreifswaldEvangelischer »Kirchenkampf« und »<strong>Widerstand</strong>«<strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern währenddes Nationalsozialismus. E<strong>in</strong>e Problemskizze.1. ProblemanzeigeE<strong>in</strong> evangelischer Häftl<strong>in</strong>g des »Dritten Reiches« formulierte im Rückblickauf die Jahre bis 1944 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Berl<strong>in</strong>er Zuchthaus die Frage: »Was steckteigentlich h<strong>in</strong>ter der Klage über die mangelnde Civilcourage?« Er problematisiertediese Frage selbstkritisch: »Wir haben <strong>in</strong> diesen Jahren viel Tapferkeitund Aufopferung, aber fast nirgends Civilcourage gefun<strong>den</strong>, auch bei unsselbst nicht.« Mit diesem »auch bei uns selbst nicht« me<strong>in</strong>te er die Mitgliederder Bekennen<strong>den</strong> Kirche, über die er zum Urteil kam: »Wir s<strong>in</strong>d stummeZeugen böser Taten gewesen, wir s<strong>in</strong>d mit vielen Wassern gewaschen, wirhaben die Künste der Verstellung und der mehrdeutigen Rede gelernt, wirs<strong>in</strong>d durch Erfahrung mißtrauisch <strong>gegen</strong> die Menschen gewor<strong>den</strong> und mußtenihnen die Wahrheit und <strong>das</strong> freie Wort oft schuldig bleiben, wir s<strong>in</strong>d durchunerträgliche Konflikte mürbe oder vielleicht sogar zynisch gewor<strong>den</strong> – s<strong>in</strong>dwir noch brauchbar? […] Wird unsere <strong>in</strong>nere <strong>Widerstand</strong>skraft <strong>gegen</strong> <strong>das</strong>uns Aufgezwungene stark genug und unsere Aufrichtigkeit <strong>gegen</strong> uns selbstschonungslos genug geblieben se<strong>in</strong>, daß wir <strong>den</strong> Weg zur Schlichtheit undGeradheit wiederf<strong>in</strong><strong>den</strong>?« 146 Die Antwort ließ der Autor offen.Gewiss, Dietrich Bonhoeffers Gedanken s<strong>in</strong>d nicht repräsentativ, aber siezeigen Vertiefungsmöglichkeiten e<strong>in</strong>es emas, <strong>das</strong> e<strong>in</strong>fache Schemata nichtverträgt. Für die Frage e<strong>in</strong>es kirchlichen <strong>Widerstand</strong>es <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>Regionen</strong> <strong>Mecklenburg</strong>und Pommern 1933-1945 warnt Bonhoeffers offene Selbstkritik vorüberzogenen Erwartungen. In Bonhoeffers Rückblick s<strong>in</strong>d natürlich auch se<strong>in</strong>eErfahrungen mit der pommerschen Prov<strong>in</strong>zialkirche <strong>in</strong> Greifswald, Z<strong>in</strong>gst,F<strong>in</strong>kenwalde, Kösl<strong>in</strong> und Schlawe e<strong>in</strong>geschlossen.146Dietrich Bonhoeffer, <strong>Widerstand</strong> und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft,hg. v. Eberhard Bethge, München/Hamburg 1964, 12 u. 25.52


2. LebenswegeSpurlos g<strong>in</strong>gen die zwölf Jahre im Nationalsozialismus an niemandem vorüber,von welchen Ausgangspunkten er immer sie erlebte. Dazu e<strong>in</strong> anderes prom<strong>in</strong>entesBeispiel: Der Schwer<strong>in</strong>er Bischof und vormalige eologieprofessorHe<strong>in</strong>rich Rendtorff war der erste deutsche Bischof, der sich bereits 1931 mitdem Nationalsozialismus öffentlich ause<strong>in</strong>andersetzte. Ihn bestimmte damalsdie Hoffnung auf e<strong>in</strong>e kirchliche E<strong>in</strong>b<strong>in</strong>dung der gern als »Freiheitsbewegung«gedeuteten <strong>NS</strong>DAP. 147 Bald nach dem Machtwechsel von 1933 wurde RendtorffParteianwärter. Er begleitete <strong>den</strong> »nationalen Aufbruch« mit euphorischenRe<strong>den</strong> und war bestrebt, im politischen <strong>Regime</strong>wechsel auch die Chancezu e<strong>in</strong>em kirchlichen Neuaufbruch zu sehen. Anfangs stand er der deutschchristlichenBewegung sehr nahe. Rendtorff unterstützte nach Vermögen dieReichsbischofskandidatur des Wehrkreispfarrers Ludwig Müller, der im April1933 von Hitler überraschend zum kirchlichen Vertrauensmann erklärt wurde.Für Rendtorff irritierend, wur<strong>den</strong> die ersten E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> die landeskirchlicheAutonomie ausgerechnet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Landeskirche statuiert. Mit Unterstützungdes mecklenburgischen Gauleiters wurde er bereits im Sommer 1933 isoliertund <strong>in</strong> <strong>den</strong> Folgemonaten aus dem Bischofsamt gedrängt. Für ihn war bereits<strong>das</strong> Jahr 1933 e<strong>in</strong> Jahr der Ernüchterung. Rendtorff wechselte 1934 als Pfarrernach Stett<strong>in</strong> an die Wartburggeme<strong>in</strong>de und entwickelte sich zu e<strong>in</strong>er derLeitgestalten beim Aufbau e<strong>in</strong>er Bekennen<strong>den</strong> Kirche <strong>in</strong> Pommern.Die wechselvolle Biographie Rendtorffs steht für viele evangelische Christen,deren E<strong>in</strong>schätzungen und Illusionen während des »Dritten Reiches« e<strong>in</strong>erstarken Wandlung unterworfen waren. Deshalb ist es von wesentlicher Bedeutung,darauf zu achten, zu welchem Zeitpunkt welche Wahrnehmungen<strong>in</strong> <strong>den</strong> H<strong>in</strong>terlassenschaften anzutreffen s<strong>in</strong>d.3. ParteilichkeitGrundsätzlich ause<strong>in</strong>anderzuhalten ist bei <strong>den</strong> Beteiligten des »Kirchenkampfes«die staatspolitische Me<strong>in</strong>ung von der kirchenpolitischen Stellungnahme.147Vgl. Kundgebung e<strong>in</strong>es evangelischen Landesbischofs über <strong>den</strong> Nationalsozialismus, <strong>in</strong>:Allgeme<strong>in</strong>e Ev.-Lutherische Kirchenzeitung, 64. Jg. 1931, Sp. 424-426. Über H. Rendtorff:Werner Schnoor, He<strong>in</strong>rich Rendtorff, <strong>in</strong>: Studienhefte zur mecklenburg. Kirchengeschichte, 1.Jg. 1988, Heft 2, S. 24-31 u. Heft 4, S. 22-33.53


Da viele evangelische Christen zur Demokratie der Weimarer Republikke<strong>in</strong>e starke B<strong>in</strong>dung aufgebaut hatten, stieß der autoritäre Verfassungswandelzunächst auf breiten Konsens und bestimmte strukturell auch die 1933e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Wahrungsversuche der kirchlichen Autonomie. Die Distanzzum parlamentarischen Parteienstaat war bei der jüngeren Generation amstärksten ausgeprägt. Politisch überwog unter Protestanten e<strong>in</strong>e konservativdeutschnationaleOrientierung, deren Zielbild die relativ stabilen Zuständedes zurückliegen<strong>den</strong> Kaiserreiches bestimmten. Beipielsweise waren die sechsProfessoren der Greifswalder eologischen Fakultät, deren Unterricht etwadie Hälfte aller pommerschen eologiestu<strong>den</strong>ten durchlief, bis zur Auflösungder Parteien mit zwei Ausnahmen auch Mitglieder der DNVP. 148Dass die krisenanfällige Weimarer Republik ke<strong>in</strong> politisches Staatsideal darstellenkönne, sondern überführt wer<strong>den</strong> müsse <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Staatsform, die öffentlicheRuhe garantiere, überzeugte angesichts des fast täglichen Straßenkrieges deranderthalb Jahre vor dem 30. Januar 1933 sehr viele. E<strong>in</strong>e übergangsweiseDiktatur als Stabilisierungsmaßnahme wurde nicht ausgeschlossen. In e<strong>in</strong>erHochschullehrererklärung von November 1932 hieß es repräsentativ für dieWahrnehmung nach dem so genannten »Preußenschlag«: »Die immer mehrsich verstärkende Entwicklung zum politischen Radikalismus betrachten wirmit Sorge. Deutschland muß bewahrt wer<strong>den</strong> vor sozialistischen Experimentenund befreit von der Vorherrschaft der Parlamente. Es kann nur gesun<strong>den</strong>durch e<strong>in</strong>e unabhängige, verantwortungsbewußte Staatsführung.« 149 PolitischeGruppen, die sich <strong>in</strong> dieser Ziell<strong>in</strong>ie <strong>das</strong> Stichwort »Bewegung« auf die Fahnenschrieben, konnten als seriös und wählbar ersche<strong>in</strong>en. Die <strong>NS</strong>DAP punktetebesonders stark <strong>in</strong> norddeutsch-evangelischen Wahlbezirken. 150 Allerd<strong>in</strong>gshielten die meisten kirchlichen Amtsträger auch <strong>in</strong> <strong>den</strong> Wahljahren 1932 und1933 an ihrer DNVP-Option fest. Für die kirchlich tonangebende Schichtschienen die Deutschnationalen Garantien für e<strong>in</strong>e wertkonservative, konfessionellprotestantische und anti-sozialdemokratische Haltung zu bieten. Dieschleichende Demontage der Weimarer Republik wurde h<strong>in</strong>genommen. Dasspätere Ergebnis des Führerstaates konnte sich kaum jemand vorstellen.148Über die eologische Fakultät dieser Jahre vgl. Irmfried Garbe, eologe zwischen Weltkriegen:Hermann Wolfgang Beyer, (GF; 9) Frankfurt/M. 2004, S. 327ff.149Zitiert bei Garbe (wie Anm. 148), S. 465f.150Vgl. die Beobachtungen H.W. Beyers <strong>in</strong> der Greifswalder Zeitung v. 30.4.1932 (wie Anm.148, S. 461f).54


4. Kirchenbewusstse<strong>in</strong>Für die komplexe Entwicklung dieser Jahre ist weiterh<strong>in</strong> von Bedeutung, <strong>das</strong>ssich die evangelischen Landeskirchen seit e<strong>in</strong>igen Jahrzehnten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Krisestehend begriffen. Das hatte zwei Ursachen: 1. Die Wahrnehmung e<strong>in</strong>er imWachsen begriffenen Entkirchlichung breiter sozialer Schichten und 2. e<strong>in</strong>etheologische Verunsicherung seit etwa 1880 im Zusammenhang mit der historisch-kritischenBibelforschung. Seitdem <strong>das</strong> Grunddokument der Christenheitakademisch entmythologisiert war, schien traditional empf<strong>in</strong><strong>den</strong><strong>den</strong> Christendie Absicherung zentraler Glaubensaussagen gefährdet. Das offenbarte WortGottes schien sich <strong>in</strong> beliebige Menschenworte aufzulösen. Daraus ergaben sichzwei theologisch <strong>gegen</strong>e<strong>in</strong>anderstehende Bewältigungskonzepte, für die jeweiligeTrägermilieus sich bildeten: e<strong>in</strong>erseits e<strong>in</strong> konservatives, <strong>das</strong> strikt auf die Bibelorientiert blieb, an zentralen Glaubenstexten <strong>in</strong>terpretationsscheu festhielt unddie Popularisierung von Bibelkreisen und theologischer Laienarbeit betrieb,und andererseits e<strong>in</strong> liberales, <strong>das</strong> mehr auf sozialpolitisches Engagement undkontextuelle Weltförmigkeit setzte und die evangelische Kirche gleichsam alsordnungspolitischen Kulturfaktor verteidigte. Gruppen beider Richtungensahen sich aus jeweils eigenem Interesse zu volksmissionarischen Aktivitätenherausgefordert. Die »Konservativen« (e<strong>in</strong> natürlich grober, idealtypischerBegriff) waren <strong>in</strong> aller Regel prädest<strong>in</strong>iert für die »Bekennende Kirche« (BK),die »Liberalen« da<strong>gegen</strong> <strong>in</strong> der Regel für die »Deutschen Christen« (DC).Wichtig ist aber die Feststellung: Für Anhänger der »Deutschen Christen«, diedie Nationalität zum entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Bewusstse<strong>in</strong>sgrund machten und sichmit Führerpr<strong>in</strong>zip, Arierparagraphen und Nationalkirchenbildung weitgehendarrangieren konnten, war <strong>das</strong> Kirchese<strong>in</strong> und -bleiben <strong>in</strong> der Regel ebensowichtig, wie <strong>den</strong> Anhängern der 1934 entstehen<strong>den</strong> »Bekennen<strong>den</strong> Kirche«.Der aus diesen Optionen resultierende so genannte »Kirchenkampf« war imKern also e<strong>in</strong>e kirchen<strong>in</strong>terne Ause<strong>in</strong>andersetzung, die im Zuge des organisiertenTotalitätsanspruches des nationalsozialistischen Weltanschauungsstaateszwangsläufig auch zu politischen Verwicklungen führte. Die relative Staatsnäheder »Deutschen Christen« – anfangs noch von der konfessionspolitisch wenigprofilierten <strong>NS</strong>DAP unterstützt – konnte daher nicht unbed<strong>in</strong>gt vor Konfliktenschützen, jedoch war <strong>das</strong> Konfliktpotenzial <strong>gegen</strong>über <strong>den</strong> Gruppender »Bekennen<strong>den</strong> Kirche« ungleich größer. In <strong>den</strong> Klärungsjahren 1933/34kam es zu zahlreichen Wechseln von <strong>den</strong> DC weg h<strong>in</strong> zur BK. Ganz generellwaren seit 1935 die Konflikte mit der Bekennen<strong>den</strong> Kirche immer stärkerpolitisch konnotiert. Etwa ab 1937 kann die staatliche Kirchenpolitik par-55


tiell als repressive Verfolgung charakterisiert wer<strong>den</strong>. Inwiefern dabei aberwirklicher »<strong>Widerstand</strong>« <strong>den</strong> Ausschlag gab, kann nur fallweise entschie<strong>den</strong>wer<strong>den</strong>. Viele politisch angegriffene Kirchenmitglieder verstan<strong>den</strong> sich subjektivals unpolitisch Handelnde. Erst allmählich schälte sich heraus, <strong>das</strong>s dieKirche(n) aufgrund ihrer bloßen Existenz mit <strong>den</strong> Totalitätsansprüchen dernationalsozialistischen Ideologie und Politik kollidierte(n).5. Skizze des mecklenburgischen und des pommerschen»Kirchenkampfes«Die Kirchengebiete <strong>Mecklenburg</strong>s und Pommerns hatten unterschiedlicheVoraussetzungen: auf <strong>den</strong> mecklenburgischen Territorien bestan<strong>den</strong> bis1933 zwei eigenständige lutherische Kirchengebiete mit zusammen ca. 470Pfarrern. Pommern mit ca. 780 Pfarrern bildete da<strong>gegen</strong> e<strong>in</strong>e der großenProv<strong>in</strong>zialkirchen <strong>in</strong>nerhalb der altpreußischen Union. Kirchenereignisse <strong>in</strong>Preußen schlugen sich stets auch <strong>in</strong> der pommerschen Kirche nieder, währenddie bei<strong>den</strong> mecklenburgischen Landeskirchen bis 1933 relativ auf sichkonzentriert bleiben konnten.Für die Stabilität der kirchlichen Situation bedeutete <strong>das</strong> für die <strong>Mecklenburg</strong>er<strong>den</strong>noch ke<strong>in</strong>en Vorteil. Denn gerade <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong>, wo Bischof He<strong>in</strong>richRendtorff zunächst relative Sympathie <strong>gegen</strong>über dem politischen Wechsel zuerkennen gab (»Kampfbund für Kirche und Volk«), wurde bereits im April1933 der Versuch unternommen, die verfassungsrechtlich geschützte kirchlicheAutonomie durch e<strong>in</strong> oktroyiertes Staatskommissariat (Walther Bohm ausHamburg) zu ersetzen: »zum Zwecke der Gleichschaltung des Kirchenregiments«,wie es ganz offiziell hieß. 151 Dieses Experiment der mecklenburgischenStaatsregierung provozierte e<strong>in</strong>e Gegenbewegung, die weit über <strong>Mecklenburg</strong>h<strong>in</strong>ausstrahlte und <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> selber zur Konkurrenz <strong>gegen</strong>überstehenderKirchengruppen führte: der nationalsozialistische Pfarrerbund, dessen LeiterWalther Schultz im September zum Landeskirchenführer avancierte, wurdeam 26.4.1933 gegründet. Um die Pastoren Lic. Gottfried Holtz, Dr. NiklotBeste, Henn<strong>in</strong>g Fahrenheim, Johannes Schwartzkopff, Hermann Timm mit<strong>den</strong> Rostocker Professoren Helmuth Schre<strong>in</strong>er und Friedrich Brunstäd, umnur die wichtigsten Personen zu nennen, bildete sich e<strong>in</strong> Kreis, der <strong>den</strong> Kernder späteren Bekennen<strong>den</strong> Kirche <strong>Mecklenburg</strong>s darstellte.151Grundlegend Niklot Beste, Der Kirchenkampf <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> von 1933 bis 1945. Geschichte,Dokumente, Er<strong>in</strong>nerungen, Berl<strong>in</strong> 1975.56


Die zentrale Phase des »Kirchenkampfes«, die sich als Organisationsverdichtungbeschreiben lässt und bis zum Jahreswechsel 1934/35 erstreckte,war <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern gleichermaßen durch e<strong>in</strong>e Eroberung derlandeskirchlichen Gremien durch Deutsche Christen geprägt. E<strong>in</strong>e Vielzahlvon Geme<strong>in</strong>dekirchenräten, vor allem aber die Landessyno<strong>den</strong> waren seit <strong>den</strong>Kirchenwahlen vom Sommer 1933 deutschchristlich dom<strong>in</strong>iert. In Reaktionauf <strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Landeskirchen <strong>Mecklenburg</strong>s und Preußens e<strong>in</strong>geführten Arierparagraphenentstand dann e<strong>in</strong> Pfarrernotbund, der sich aus theologischenGrün<strong>den</strong> <strong>gegen</strong> die Übernahme nationalsozialistischer Verfassungspr<strong>in</strong>zipienRespekt verschaffte und schützend vor solche Pfarrer stellte, die derSuspendierung und Diszipl<strong>in</strong>ierung durch die deutschchristlich besetztenKonsistorien (<strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> »Oberkirchenrat« genannt) ausgesetzt waren.In Pommern wie <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> entstan<strong>den</strong> kollegial verfasste Bruderräte,die sich aus eologen und Nichttheologen zusammensetzten und <strong>gegen</strong>über<strong>den</strong> etablierten Konsistorien e<strong>in</strong> konkurrierendes Kirchenregiment aufbauten.eologische Grundlage der 1934 <strong>in</strong> Pommern und 1935 <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>entstan<strong>den</strong>en »Bekennende Kirche« war die Barmer eologische Erklärungvom 22. Mai 1934. 152 Allerd<strong>in</strong>gs wurde die damit <strong>in</strong>tendierte Scheidung von<strong>den</strong> deutschchristlichen Konsistorien zu ke<strong>in</strong>em Zeitpunkt wirklich vollständigvollzogen. Das hatte nicht zuletzt f<strong>in</strong>anztechnische Gründe. E<strong>in</strong> besonderesProblem bildeten seit 1935 die Nachwuchspfarrer, die sich nach dem Aufbauder bruderrätlichen Kirchenstruktur spätestens bis zu ihrem Examen entschei<strong>den</strong>mussten, ob sie sich dem deutschchristlichen Kirchenregiment oder demBK-Bruderrat unterstellen wollten. Die BK sprach zunächst sämtlichen Verfügungender offiziellen Konsistorien die Legitimität ab. Im Reichsbruderratund der Vorläufigen Kirchenleitung wur<strong>den</strong> die e<strong>in</strong>zelnen landeskirchlichenEntwicklungen zusammengeführt und <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>in</strong>sgesamt vier BK-Gesamtsyno<strong>den</strong>e<strong>in</strong>er möglichst e<strong>in</strong>heitlichen Regelung unterwofen. Die BK war alsoe<strong>in</strong>e Selbstschutzorganisation der auf Bibel und Bekenntnis rekurrieren<strong>den</strong>152Carsten Nicolaisen, Der Weg nach Barmen. Die Entstehungsgeschichte der eologischenErklärung von 1934, Neukirchen-Vluyn 1985. Walter Kähler, der Generalsuper<strong>in</strong>ten<strong>den</strong>t deswestlichen Teil der Kirchenprov<strong>in</strong>z Pommern hatte bereits am 14. Februar 1933 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er GreifswalderKirchenveranstaltung <strong>das</strong> künftige Schlüsselwort ankl<strong>in</strong>gen lassen: »Die erziehendeKirche bildet sich um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e bekennende Kirche!« Vgl. Walter Kähler, Die bekennende Kirche,<strong>in</strong>: Aus der kirchlichen Arbeit Pommerns. Nichtamtliche Beilage zum Kirchlichen Amtsblattder Kirchenprov<strong>in</strong>z Pommern für die kirchlichen Körperschaften und Geme<strong>in</strong><strong>den</strong>, Nr. 4 April1933, S. 57-65, Zitat S. 59.57


Protestanten und stützte <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie <strong>den</strong> Zusammenhalt von Pfarrern undGeme<strong>in</strong>dekirchenräten.Die zentrale Gestalt der mecklenburgischen BK wurde Niklot Beste. Derwichtige Mitstreiter Gottfried Holtz emigrierte wie Rendtorff bereits 1934nach Pommern. Zu e<strong>in</strong>em relativ frühen Zeitpunkt hatte sich für ihn undsechs weitere Pastoren der ideologisch-rechtsbeugende Charakter der nationalsozialistischenStaats- und Kirchenpolitik im Schwer<strong>in</strong>er Pastorenprozeßabgezeichnet. 153Der nationalsozialistische Landeskirchenführer Walther Schultz bestimmtemit se<strong>in</strong>em Schwer<strong>in</strong>er Oberkirchenrat die am 13. Oktober 1933 neugebildete – oder deutlicher gesagt: zwangsvere<strong>in</strong>igte – Evangelisch-LutherischeLandeskirche <strong>Mecklenburg</strong>s durch e<strong>in</strong>en äußerst rigi<strong>den</strong> Kurs,der sich <strong>in</strong> harten Konflikten mit e<strong>in</strong>zelnen BK-Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> und ihrenPfarrern auswirkte. Der relative Mangel an geeigneten Führungskräftendes nationalsozialistischen Pfarrerbundes <strong>Mecklenburg</strong>s (seit 1938 »<strong>Mecklenburg</strong>ischePfarrkameradschaft«) bed<strong>in</strong>gte allerd<strong>in</strong>gs, <strong>das</strong>s – wie auch <strong>in</strong>Pommern – nicht alle Landessuper<strong>in</strong>ten<strong>den</strong>ten und Pröpste ausgetauschtwer<strong>den</strong> konnten. Die pommersche Kirchenführung unter Bischof Karl om(† 1935) und Propst He<strong>in</strong>rich Laag zeichnete sich durch sehr viel größereFlexibilität und Konzil<strong>in</strong>az aus.E<strong>in</strong>e wichtige Basis fand die Bekennende Kirche <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Territorien imPatronatswesen. Vielfach halfen Kirchenpratrone (Gutsbesitzer), <strong>das</strong>s <strong>in</strong> ihrenPfarrsprengeln Männer der Bekennen<strong>den</strong> Kirche e<strong>in</strong> Unterkommen fan<strong>den</strong>,da <strong>das</strong> Pfarrbesetzungsrecht mit dem Patronat verbun<strong>den</strong> war. Nicht seltenschlossen sich Geme<strong>in</strong>dekirchenräte und ganze Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> der BK an. Baldwurde e<strong>in</strong>e eigene Laienbewegung organisiert. Führende Gestalten dieser fürdie Bewusstse<strong>in</strong>sbildung wichtigen Arbeit waren <strong>in</strong> Pommern der TrieglafferGutsbesitzer und frühere Synodalpräses Re<strong>in</strong>old von ad<strong>den</strong> sowie der Kösl<strong>in</strong>erKl<strong>in</strong>ikdirektor Dr. August Knorr. Im Bruderrat der pommerschen BK warenaußer ihnen besonders Stephanie von Mackensen-Astfeld, He<strong>in</strong>rich Rendtorff,Eberhard Baumann, Friedrich Schauer, Friedrich Onnasch, Walter Sprondelund Mart<strong>in</strong> Burgwitz von Bedeutung. 154 Die Nachwuchsausbildung prägteentschei<strong>den</strong>d Dietrich Bonhoeffer. In bei<strong>den</strong> Landeskirchen konnte die BK153Nikot Beste, Der Schwer<strong>in</strong>er Prozeß im Juni 1934, <strong>in</strong>: He<strong>in</strong>rich Benckert (Hg), Kirche– eologie – Frömmigkeit. Festgabe für Gottfried Holtz zum 65. Geburtstag, Berl<strong>in</strong> 1965,S. 32-46.154Grundlegend: Werner Klän, Die Evangelische Kirche Pommerns <strong>in</strong> Republik und Diktatur1914-1945, Köln/Weimar/Wien 1995.58


zeitweilig m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong> Drittel der Pastorenschaft h<strong>in</strong>ter sich versammeln.Auf BK-Geme<strong>in</strong>deebene kann für Pommern zu Anfang 1935 von m<strong>in</strong>destens50.000 e<strong>in</strong>getragenen Mitgliedern ausgegangen wer<strong>den</strong>.Die eologischen Landesfakultäten <strong>in</strong> Rostock und Greifswald positioniertensich mehrheitlich im S<strong>in</strong>ne der BK. Aus ihrer Zwitterstellung zwischen Kircheund Staat bildeten die beamteten Professoren aber bald e<strong>in</strong>e Mitursache dafür,daß die BK 1935 <strong>in</strong> zwei Lager zerbrach. Seit <strong>den</strong> BK-Syno<strong>den</strong> von Augsburgund Bad Oeynhausen teilten sich die BK-Mitglieder <strong>in</strong> zwei »Wege«: e<strong>in</strong>enharten »Weg A«, der Kompromisse mit der offiziellen Kirchenführung undihren Konsistorien nicht zulassen wollte, und e<strong>in</strong> kompromissbereiter »WegB«, <strong>den</strong> die große BK-Mehrheit favorisierte. Die deutschchristliche LandeskirchenführungPommerns, die sehr viel stärker als die mecklenburgische ume<strong>in</strong>en Ausgleich bemüht war, versuchte durch teilweise Zugeständnisse dieWiderspenstigkeit zu brechen. So führten <strong>in</strong> Pommern bereits die staatlich<strong>in</strong>itiierten Kirchenausschüsse unter geschickter Leitung des Greifswalder Stadtsuper<strong>in</strong>ten<strong>den</strong>tenKarl von Scheven zu e<strong>in</strong>em erheblichen Abbau der Konfliktbereitschaft.Ermüdung erzeugten auch die gesetzlichen Zwangsregelungen.Die seit 1937 def<strong>in</strong>tiv gespaltene BK schrumpfte bis zum Kriegsbeg<strong>in</strong>n bis aufetwa 1/10 des Gesamtbestandes der Pfarrerschaft zusammen. Die pommerscheBK hatte und behielt ihr Schwergewicht e<strong>in</strong>deutig <strong>in</strong> H<strong>in</strong>terpommern. Diegroße Mehrheit sich nicht entschei<strong>den</strong>der Pfarrer g<strong>in</strong>g <strong>den</strong> Weg des Kompromissesbzw. der Passivität. Sukzessive wurde die Bewegungsfreiheit der evangelischenKirche durch gesetzliche Mittel des Staates beschränkt. Gegenüberder BK-Kerngruppe mündete diese Kirchenpolitik während des Krieges <strong>in</strong>e<strong>in</strong>e Situation latenter, teilweise offener Verfolgung. Gestapo-Vernehmungen,Inhaftierungen und Hausdurchsuchungen prägen zahlreiche Er<strong>in</strong>nerungen.Obwohl also die BK-Treue <strong>in</strong>sgesamt rapide nachließ, blieb der BK-Anteilunter dem Pfarrernachwuchs relativ stabil und umfasste auch während derspäten Jahre des »Dritten Reiches« m<strong>in</strong>destens 1/3 der Kandidaten. Viele derjungen BK-Pfarrer wur<strong>den</strong> wehrdienstverpflichtet und überlebten Krieg undGefangenschaft nicht, was für die Nachkriegssituation e<strong>in</strong> mitbestimmenderFaktor wurde.6. Wie ist die Frage e<strong>in</strong>es kirchlichen <strong>Widerstand</strong>es e<strong>in</strong>zuschätzen?Bonhoeffer h<strong>in</strong>terließ als letztes Buch e<strong>in</strong>e theologische »Ethik«, die er verfasste,als er schon für <strong>den</strong> politisch organisierten <strong>Widerstand</strong> konspirativ tätig war.Dar<strong>in</strong> taucht der Begriff »<strong>Widerstand</strong>« ebensowenig auf wie der Begriff »Zivil-59


courage«. Vielleicht ist diese Lücke zufällig. Doch spricht <strong>gegen</strong> e<strong>in</strong>en bloßenZufall, <strong>das</strong>s die Kategorie »<strong>Widerstand</strong>« <strong>in</strong> der ethischen eorie damaligereologen, wenn er überhaupt auftaucht, dann sofort negativ konnotiertwird. E<strong>in</strong>e betontes Vertreten von »<strong>Widerstand</strong>« oder »Resistance« lag offenbarjenseits üblicher Denkmöglichkeiten. Das kann erstaunen, weil zahlreicheHandlungsakte stattfan<strong>den</strong>, die staatsanwaltlich als »<strong>Widerstand</strong>« aufgefasstund strafrechtlich verfolgt wur<strong>den</strong>. Zu diesen riskanten Akten gehörte z.B.<strong>das</strong> Verstecken untergetauchter jüdischer Personen, wofür auch <strong>in</strong> Pommerne<strong>in</strong>ige Fälle bekannt gewor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. 155Solche Akte waren <strong>in</strong> der Regel Anstandsbeweise e<strong>in</strong>zelner Christen,die <strong>in</strong> bestimmten Situationen Risiken <strong>in</strong> Kauf zu nehmen gewillt waren.Ger<strong>in</strong>gzuschätzen s<strong>in</strong>d diese zumeist dem Gebot christlicher Nächstenliebeentspr<strong>in</strong>gen<strong>den</strong> Anstandsakte ke<strong>in</strong>eswegs. Schon <strong>das</strong> Begrüßen e<strong>in</strong>es jüdischenBekannten auf offener Straße, war wie Victor Klemperer notierte, e<strong>in</strong>esozialhygienisch starke Geste und konnte subjektiv als untrügliches Signal derSolidarität von erheblicher Bedeutung wer<strong>den</strong>. Als »<strong>Widerstand</strong>« s<strong>in</strong>d diesezumeist kle<strong>in</strong>eren Humanitätsakte nur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em abgeleiteten S<strong>in</strong>n zu verstehen.E<strong>in</strong>er der wenigen Fälle, die m.E. als echter <strong>Widerstand</strong> aus protestantischerÜberzeugung zu verbuchen s<strong>in</strong>d, ist die 1943/44 erfolgte Gründung e<strong>in</strong>eskonspirativen Gesprächskreises um Gottfried Holtz und Ernst Lohmeyer <strong>in</strong>Wieck bei Greifswald, der auch Mitglieder des nichtkirchlichen Untergrundsversammelte. In diesem aktiven S<strong>in</strong>n war »<strong>Widerstand</strong>« aus evangelischerÜberzeugung aber ke<strong>in</strong>e häufige Ersche<strong>in</strong>ung.Dennoch muss mit Richard Löwenthal festgehalten wer<strong>den</strong>: »Auch dann,wenn die Kirche ke<strong>in</strong> Faktor des gewollten <strong>Widerstand</strong>es <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismuswar, blieb sie überwiegend e<strong>in</strong> Faktor der Entfremdung von se<strong>in</strong>emGeist.« E<strong>in</strong> katholischer Forscher hat aus diesem Grund davor gewarnt, dietatsächliche Breite des sozusagen unbeabsichtigten »<strong>Widerstand</strong>es« nicht zuunterschätzen: »Kirchlicher <strong>Widerstand</strong> ersche<strong>in</strong>t nur zu schnell reduziert auf<strong>Widerstand</strong> der kirchlichen Leitungsorgane […] oder auf Verteidigung kirchlicherPartikular<strong>in</strong>teressen.« 156 Ebenso sprach Mart<strong>in</strong> Broszat von e<strong>in</strong>er latenten»Resistenz« der Christen. Der Umschlag <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tatsächlich offene Resistenz155Vgl. Irmfried Garbe, Evangelische Hilfe für jüdische Mitbürger während des Nationalsozialismus<strong>in</strong> H<strong>in</strong>terpommern. E<strong>in</strong>e Spurensuche, <strong>in</strong>: Norbert Buske / Kazimierz Kozlowski (Hg),Protestanten und Katholiken <strong>in</strong> Pommern <strong>in</strong> der Zeit des Nationalsozialismus und Stal<strong>in</strong>ismus,Szczec<strong>in</strong> 2003, 81-96.156He<strong>in</strong>z Hürten, Zehn esen e<strong>in</strong>es profanen Historikers zur Diskussion um <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong>der Kirchen <strong>in</strong> der nationalsozialistischen Zeit, <strong>in</strong>: KZG 1. Jg. 1989, 116-117, hier 117 (ese 5).60


war aber stets e<strong>in</strong> Akt persönlicher Entscheidung und h<strong>in</strong>g von zahlreichen<strong>in</strong>dividuellen Faktoren ab. De facto stieß sich der Totalitätsanspruch des Nationalsozialismusam Anspruch evangelischer Selbstbehauptung <strong>in</strong> ungezähltenE<strong>in</strong>zelakten. Die Redeverbote für zahlreiche BK-Pfarrer – exemplarisch nenneich <strong>den</strong> Kösl<strong>in</strong>er Sup. Friedrich Onnasch, dem 1940 Reichsredeverbot auferlegtwurde – s<strong>in</strong>d symptomatische Signale. Schon die Möglichkeit zur öffentlichenRede hatte, selbst wenn sie die kirchlichen Räume nicht überschritt, e<strong>in</strong>edurchaus gesellschaftliche Funktion und sozialhygienische Wirkungen, diedie nationalsozialistischen Beobachtungsapparate zurecht befürchteten.Das überwiegend fehlende Bekenntnismoment zum politischem <strong>Widerstand</strong>hat andererseits plausible Ursachen. Bonhoeffer beantwortete se<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gangszitierte Frage: »Was steckt eigentlich h<strong>in</strong>ter der Klage über die mangelndeCivilcourage«, mit folgender Beobachtung: »Es ist e<strong>in</strong> Stück berechtigtenMißtrauens <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> eigene Herz, aus dem die Bereitwilligkeit entsteht,lieber dem Befehl von »oben« als dem eigenen Gutdünken zu folgen.« DerTegeler Häftl<strong>in</strong>g war sich also bewusst, <strong>das</strong>s es ethische Gründe se<strong>in</strong> können,die <strong>Widerstand</strong> verh<strong>in</strong>dern. 157 Der Häftl<strong>in</strong>g wollte diesen Grün<strong>den</strong> die Legitimationnicht absprechen. Er kannte ja jene neutestamentlichen Bibelstellen,die <strong>das</strong> Vermögen zum bewussten Lei<strong>den</strong> und Mitlei<strong>den</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Vordergrundrücken. Bonhoeffer rang aber um ihre Begrenzung. Se<strong>in</strong> Gefängnisseelsorgerund Gesprächpartner Harald Poelchau notierte rückblickend kritisch: »DieNachfolge <strong>in</strong> der passio wurde reflektiert und darüber die <strong>in</strong> der actio zurückgestellt.«158 Bonhoeffer selber trifft diese Kritik nur bed<strong>in</strong>gt. Se<strong>in</strong> Nach<strong>den</strong>kenüber Zivilcourage endete <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en pr<strong>in</strong>zipiellen Schluss, der theologischbegründet ist: »Civilvourage kann nur aus der freien Verantwortlichkeit desfreien Mannes erwachsen. […] Sie beruht auf e<strong>in</strong>em Gott, der <strong>das</strong> freie Glaubenswagnisverantwortlicher Tat fordert und der dem, der darüber zum Sünderwird, Vergebung und Trost spendet.« 159 Im Übrigen hielt er die begrenzteWirkung auch des fehlerhaftesten Tuns für sicher: »Ich glaube, daß Gott ausallem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür157Bonhoeffer (wie Anm. 146), S. 12. Er sagt dort auch: »Es wäre e<strong>in</strong>e zu naive Psychologie,diesen Mangel e<strong>in</strong>fach auf persönliche Feigheit zurückzuführen. Die H<strong>in</strong>tergründe s<strong>in</strong>d ganzandere. Wir Deutschen haben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er langen Geschichte die Notwendigkeit und die Kraft desGehorsams lernen müssen. In der Unterordnung aller persönlichen Wünsche und Gedankenunter <strong>den</strong> uns gewor<strong>den</strong>en Auftrag sahen wir S<strong>in</strong>n und Größe unseres Lebens.«158Harald Poelchau, Die Ordnung der Bedrängten. Autobiographisches und Zeitgeschichtlichesseit <strong>den</strong> Zwanziger Jahren, Teetz 2004 [1. Aufl. Berl<strong>in</strong> 1963], 19.159Bonhoeffer (wie Anm. 146), S. 13.61


aucht er Menschen, die sich alle D<strong>in</strong>ge zum Besten dienen lassen. Ich glaube,daß Gott uns <strong>in</strong> jeder Notlage soviel <strong>Widerstand</strong>skraft geben will, wie wirbrauchen.« 160 Die Nachrichten aus dem Kirchenkampf und der Bekennen<strong>den</strong>Kirche <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern sprechen dafür, <strong>das</strong>s diese Freiheit <strong>in</strong>zahlreichen Fällen ke<strong>in</strong> Gedankenspiel war und zu wenigstens punktuellerResistenz führten. Trotzdem bleibt <strong>in</strong> alledem die Feststellung richtig: »Esbesteht ke<strong>in</strong>e feste Relation zwischen <strong>Widerstand</strong> und Verfolgung. Opferdes Nationalsozialismus gewor<strong>den</strong> zu se<strong>in</strong>, bedeutet nicht <strong>in</strong> jedem Falle,<strong>Widerstand</strong> geleistet zu haben.« 161 160Ebd. S. 18.161Hürten (wie Anm. 156), S. 117 (ese 9).62


Falk Bersch, GägelowSkizzen zu Verfolgung und <strong>Widerstand</strong> derZeugen Jehovas <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommernunter dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>Güstrower Geme<strong>in</strong>de der Bibelforscher 1922.Die <strong>Mecklenburg</strong>ische Zeitung berichtete am 14. Mai 1935 über e<strong>in</strong>en Prozess<strong>gegen</strong> neun Zeugen Jehovas. Der Artikel begann mit <strong>den</strong> Worten: »Diegestern vor dem Sondergericht Schwer<strong>in</strong> stehen<strong>den</strong> Angeklagten verweigertenbei Beg<strong>in</strong>n der Verhandlung die Erwiderung des Hitlergrußes. Wie sie aufVorhalt später ausführten, stehe <strong>das</strong> ›Heil‹ nur Gott zu und sie beriefen sichdabei auf Stellen <strong>in</strong> der Bibel.« Die Zeugen Jehovas verweigerten nicht nur<strong>den</strong> Hitlergruß. Ihr Glauben stand im völligen Gegensatz zur Nazi-Ideologie.Obwohl sie ke<strong>in</strong>en politischen <strong>Widerstand</strong> leisteten, haben sie sich von <strong>den</strong>Nationalsozialisten nicht gleichschalten lassen. Die Zeugen Jehovas habenfür ihre freie Religionsausübung gekämpft und die Bevölkerung <strong>in</strong> großangelegtenAktionen über <strong>den</strong> verbrecherischen Charakter des Nazi-<strong>Regime</strong>saufgeklärt. 162Wie viele Zeugen Jehovas es zu Beg<strong>in</strong>n der Naziherrschaft <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>und Pommern gab, kann nicht genau ermittelt wer<strong>den</strong>. Deutschlandweit63


wur<strong>den</strong> am 9. April 1933 anlässlich der Gedächtnis- oder Abendmahlsfeier,dem e<strong>in</strong>zigen religiösen Feiertag der Zeugen Jehovas, 24.843 Besucher gezählt.Für <strong>das</strong> Jahr 1927 s<strong>in</strong>d die Besucherzahlen der e<strong>in</strong>zelnen Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> veröffentlichtwor<strong>den</strong>, woraus man für <strong>Mecklenburg</strong> 296 Anwesende errechnenkann. Besonders aktive Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> gab es <strong>in</strong> Güstrow, Schwer<strong>in</strong> und Wismar.In Pommern wur<strong>den</strong> 872 Besucher gezählt, davon alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Stett<strong>in</strong> 303. Daes <strong>in</strong> jenem Jahr 24 138 Teilnehmer der Feier gab, mögen die Zahlen <strong>in</strong> etwa<strong>den</strong>en von 1933 geglichen haben. 163Am 10. April 1933 wurde <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-Schwer<strong>in</strong> als erstem deutschenLand die Internationale Bibelforscher-Vere<strong>in</strong>igung [I.B.V., d. A.] verboten. InPommern unterlagen die Gläubigen dem Verbot des Preußischen M<strong>in</strong>istersdes Innern vom 24. Juni 1933. 164Zur Verfolgung der Zeugen Jehovas <strong>in</strong> Pommern gibt es bisher wenig Erkenntnis.Der Stett<strong>in</strong>er Generalstaatsanwalt Staecker erwähnte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Besprechungim Reichsjustizm<strong>in</strong>isterium am 18. Juni 1937, <strong>das</strong>s »<strong>in</strong> Pommern[…] seit der Aktion <strong>gegen</strong> die Bibelforscher etwa 500 bis 600 Verhaftungen«vorgenommen wor<strong>den</strong> s<strong>in</strong>d. Er erklärte: »Da wir ke<strong>in</strong> Konzentrationslagerhaben, s<strong>in</strong>d die Verhafteten <strong>in</strong> die Gefängnisse gebracht wor<strong>den</strong>, so daß jenevöllig überfüllt wur<strong>den</strong>.« 165 Hier besteht noch großer Forschungsbedarf. In<strong>Mecklenburg</strong> h<strong>in</strong><strong>gegen</strong> ergibt sich langsam e<strong>in</strong> – wenn auch noch sehr unvollständiges– Bild.Die Verfolgung begann 1933 mit Hausdurchsuchungen und Beschlagnahmevon christlicher Literatur. Erste Verhaftungen erfolgten. So hielt man FranzFisch vom 24. bis 27. April 1934 <strong>in</strong> Kühlungsborn <strong>in</strong>haftiert. 166 Die ZeugenJehovas lehnten neben Hitlergruß und Führerkult auch die Beteiligung anWahlen ab. Sie verweigerten <strong>in</strong> der Regel die Mitgliedschaft <strong>in</strong> <strong>NS</strong>-Massenorganisationen.Dass <strong>das</strong> nicht ohne Konsequenzen blieb, zeigt die Aussageder Malchower Zeug<strong>in</strong> Jehovas Lucie Schramm: »Wegen Nichtbeteiligung anWahlen, am Luftschutz u. wegen Verweigerung des deutschen Grußes b<strong>in</strong> ich162Zur Verfolgung der Zeugen Jehovas im Nationalsozialismus vgl. Garbe, Detlef, Zwischen<strong>Widerstand</strong> und Martyrium. Die Zeugen Jehovas im »Dritten Reich«, München 3 1997. Besier,Gerhard/Vollnhals, Clemens, Repression und Selbstbehauptung. Die Zeugen Jehovas unter der<strong>NS</strong>- und SED-Diktatur, Berl<strong>in</strong> 2003.163Angaben vom Geschichtsarchiv der Wachtturm-Gesellschaft (im Folgendem WTA).164Garbe (wie Anm. 162), S. 90, 98ff., 133ff. Zur besonderen Lage <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-Strelitzsiehe Landeshauptarchiv Schwer<strong>in</strong> (im Folgen<strong>den</strong> LHAS), 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen4327.165Bundesarchiv Berl<strong>in</strong>, R 3.001 (alt R 22), Nr. 4.277, Bl. 186.166Archiv der Hansestadt Rostock (im Folgendem AHRO), 2.1.0/1275, Bl. 86-89.64


seit 1933 ständig bespitzelt u. verfolgt.« 167 Über Albert Hausdörfer, ebenfallsaus Malchow, berichtete se<strong>in</strong>e Tochter: »1938 wurde er verhaftet, weil er sichan ke<strong>in</strong>er Wahl beteiligte, <strong>den</strong> deutschen Gruß nicht erwiderte und besondersnicht <strong>in</strong> der Arbeitsfront war. Aus <strong>in</strong>nerster Glaubensüberzeugung lehnte erdiese D<strong>in</strong>ge alle ab.« 168 Auch die Rassenlehre der Nationalsozialisten widersprach<strong>den</strong> Glaubensansichten der Zeugen und wurde abgelehnt. In Güstrowpflegte die Zeug<strong>in</strong> Jehovas Luise Lange e<strong>in</strong>e enge Freundschaft mit der Jüd<strong>in</strong>Henia Schubert, die <strong>das</strong> Dritte Reich überlebte. Beide Familien waren derÜberwachung durch die Gestapo ausgesetzt. Die K<strong>in</strong>der der bei<strong>den</strong> Frauenbesuchen sich heute noch <strong>gegen</strong>seitig. 169E<strong>in</strong>e wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Organisationsstrukturender Religionsgeme<strong>in</strong>schaft spielten die »Bezirksdienstleiter« oder reisen<strong>den</strong>Prediger, die jetzt meist unter der Tarnung e<strong>in</strong>es Handelsreisen<strong>den</strong> die e<strong>in</strong>zelnenGruppen besuchten. In <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern wirkte u. a. derBerl<strong>in</strong>er Emil Zellmann, der schon <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren 1918/19 die ersten Male<strong>in</strong> <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Ländern biblische Vorträge hielt. Nach dem Verbot verbreiteteer zunächst die illegale Literatur der Zeugen Jehovas. Ab 1934 reiste er alsKommissionsvertreter e<strong>in</strong>er Berl<strong>in</strong>er Ölfirma. Er brachte Literatur <strong>in</strong> Umlauf,leitete Spen<strong>den</strong> weiter und ermunterte die e<strong>in</strong>zelnen Gruppen. Die »Bezirksdienstleiter«organisierten auch landesweite Aktionen.E<strong>in</strong>e davon war die Protestaktion vom 7. Oktober 1934, die sich 2004zum 70. Mal jährte. An diesem Tag versammelten sich <strong>in</strong> Deutschland alleVersammlungen der Zeugen Jehovas, um <strong>gegen</strong> ihre Unterdrückung zu protestierenund ihrer Entschlossenheit, dem Glauben treu zu bleiben, Ausdruckzu verleihen. Während der Zusammenkunft wurde e<strong>in</strong> vorbereitetes Schreibenverlesen, <strong>das</strong> anschließend von jeder Gruppe an die Reichsregierung geschicktwer<strong>den</strong> sollte. Dar<strong>in</strong> hieß es u. a.: »Es besteht e<strong>in</strong> direkter Widerspruch zwischenihrem Gesetz und Gottes Gesetz. Wir folgen dem Rat der treuen Apostel und›müssen Gott mehr gehorchen als <strong>den</strong> Menschen‹, und <strong>das</strong> wer<strong>den</strong> wir auchtun (Apg. 5:29). Daher teilen wir Ihnen mit, daß wir um je<strong>den</strong> Preis GottesGebote befolgen, und ihm dienen wer<strong>den</strong>, wie er geboten hat.«Zur selben Zeit versammelten sich Jehovas Zeugen auch im Ausland, umihre deutschen Glaubensbrüder zu unterstützen. Die ausländischen Versamm-167LHAS, 7.21-1 VdN-Neubran<strong>den</strong>burg 2015.168LHAS, 7.21-1 VdN-Neubran<strong>den</strong>burg 1909.169Brief von Karola Carlson vom 15.10.2004 an <strong>den</strong> Verfasser. Vgl. Schmiegelow Powell, Angelika(Hrsg.), Güstrow im Umbruch. Band 2 der Stadtgeschichte Güstrow im 20. Jahrhundert.60 Zeitzeugenberichte, Bremen 2003, S. 92-95.65


lungen schickten Telegramme an die Hitlerregierung, die folgende Warnungenthielten: »Ihre schlechte Behandlung der Zeugen Jehovas empört alle gutenMenschen und entehrt Gottes Namen. Hören Sie auf, Jehovas Zeugen weiterh<strong>in</strong>zu verfolgen, sonst wird Gott Sie und Ihre nationale Partei vernichten.« 170Etwa 20 000 Telegramme aus aller Welt sollen die Reichsregierung erreichtund Hitler zum Toben gebracht haben.Erich Mundt berichtet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Lebenser<strong>in</strong>nerungen, <strong>das</strong>s sich <strong>in</strong> Altdammetwa acht Brüder am 7. Oktober zu diesem Anlass versammelten. 171 E<strong>in</strong>e dieserZusammenkünfte fand auch im Haus der Familie Ebell <strong>in</strong> Grevesmühlen statt.Von Anna Ebell wird berichtet, <strong>das</strong>s sie <strong>das</strong> Schreiben an die Hitlerregierungauf dem Postamt aufgegeben hat. 172 In Brunshaupten (Kühlungsborn) wares Franz Fisch, der die Protestzusammenkunft organisierte. Se<strong>in</strong>e TochterCharlotte Fisch schrieb <strong>den</strong> Entwurf des Schreibens ab und sandte es an dieReichsregierung. Im nahegelegenen Bad Doberan haben Else und Richard Sparrdiese Zusammenkunft durchgeführt. Auch Else Schröder aus Bad Doberan<strong>in</strong>formierte auf e<strong>in</strong>er weiteren Zusammenkunft dort über <strong>das</strong> Protestschreiben.In Wismar ergriff He<strong>in</strong>rich Woest die Initiative und führte mit acht weiterenZeugen Jehovas <strong>das</strong> verbotene Treffen durch. Am Ende der Zusammenkunftsandten sie <strong>das</strong> mit »Jehovas Zeugen, Ortsgruppe Wismar« unterzeichneteSchreiben an die Hitlerregierung. In Güstrow fan<strong>den</strong> die Zusammenkünfteam 7. Oktober gleich an vier verschie<strong>den</strong>en Orten statt, wobei jede Gruppeaus ca. fünf Personen bestand. Die vier Leiter, Joseph Mayer, Friedrich Ahrens,Wilhelm Lange und Helmuth Quooß, lasen zunächst e<strong>in</strong>en Brief des Präsi<strong>den</strong>tender Wachtturm-Gesellschaft Joseph F. Rutherford an alle Versammlungen<strong>in</strong> Deutschland vor und besprachen dann <strong>in</strong> <strong>den</strong> meisten Fällen <strong>den</strong> Inhaltdes Protestschreibens.Insgesamt soll es nach dem 7. Oktober 1934 bis <strong>in</strong> <strong>das</strong> Jahr 1935 70 Verhaftungengegeben haben, wovon neun Zeugen Jehovas im Februar 1935festgenommen und am 13. Mai 1935 vor dem Sondergericht Schwer<strong>in</strong>170Zitiert nach Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1974, hg. von der Wachtturm Bibel- und Traktat-Gesellschaft, Wiesba<strong>den</strong>: 1974, S. 133ff. Zürcher, Franz, Kreuzzug <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> Christentum.Moderne Christenverfolgung, E<strong>in</strong>e Dokumentensammlung, Zürich/New York 1938, S. 189.171WTA (Selters/Taunus), Lebensbericht Erich Mundt.172Bersch, Falk, Karl und Anna Ebell und der religiöse <strong>Widerstand</strong> der Zeugen Jehovas <strong>in</strong>Grevesmühlen unter dem <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>, <strong>in</strong>: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern,6. Jg., 2002, H. 1, S. 22f. Aller Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit nach gab Anna Ebellnicht, wie <strong>in</strong> dieser Quelle erwähnt, e<strong>in</strong> Telegramm auf dem Postamt auf, sondern versandtee<strong>in</strong> Schreiben.66


angeklagt wur<strong>den</strong>. Vor Gericht konnte nicht nachgewiesen wer<strong>den</strong>, <strong>das</strong>s dieProtestschreiben auch <strong>in</strong> jedem Fall zur Absendung gekommen waren, deshalbwur<strong>den</strong> nur Franz Fisch, He<strong>in</strong>rich Woest, Joseph Mayer, Friedrich Ahrens,Wilhelm Lange und Helmuth Quooß zu jeweils vier Monaten Gefängnisverurteilt. 173 Diese Strafe schreckte sie jedoch nicht vor weiterer Tätigkeit ab.Alle sechs stellte man später erneut vor e<strong>in</strong> Sondergericht.Am 31. August 1936 startete <strong>das</strong> Geheime Staatspolizeiamt e<strong>in</strong>e reichsweiteVerhaftungswelle. 174 Ziel war es, die gesamte »Zentralleitung der I.B.V.«auszuheben, was aber nicht gelang. Trotzdem konnte e<strong>in</strong>e ganze Reihe derverantwortlichen Glaubensbrüder an diesem Tag festgenommen wer<strong>den</strong>. In<strong>Mecklenburg</strong> betraf dies u.a. Wilhelm Wohler, der die Leitung der WismarerVersammlung <strong>in</strong>nehatte, und Franz Fisch. 175 In Pommern verhaftete man am31. August 1936 z. B. <strong>den</strong> Torgelower Max Dräger <strong>in</strong> Alt-Damm. 176 WeitereVerhaftungen erfolgten im September 1936. Trotz dieses empf<strong>in</strong>dlichen Schlagesgelang es <strong>den</strong> Zeugen Jehovas, weitere Großaktionen durchzuführen. Soverteilten sie am 12. Dezember 1936 reichsweit ca. 100.000 Exemplare e<strong>in</strong>er»Resolution«, die auf e<strong>in</strong>em Kongress <strong>in</strong> Luzern im September desselbenJahres verabschiedet wor<strong>den</strong> war. Dar<strong>in</strong> hieß es unter anderem: »Wir rufenalle gutges<strong>in</strong>nten Menschen auf, davon Kenntnis zu nehmen, <strong>das</strong>s JehovasZeugen <strong>in</strong> Deutschland, Österreich und anderswo grausam verfolgt, mitGefängnis bestraft, und auf teuflische Weise misshandelt und manche vonihnen getötet wer<strong>den</strong>.«Am 30. Juni 1937 wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er weiteren reichsweiten Aktion e<strong>in</strong> »OffenerBrief« verteilt, der detailliert über die Verbrechen der Nationalsozialisten berichteteund auch Namen brutaler Gestapobeamter veröffentlichte. 177 Für dieVerbreitung des »Offenen Briefes« lassen sich für <strong>Mecklenburg</strong> und Pommernnoch ke<strong>in</strong>e konkreten Fälle nachweisen. Von der Verhaftungswelle, die durchdiese Aktion ausgelöst wurde, waren aber auch hier Zeugen Jehovas betroffen,z. B. Martha Knie aus Leopoldshagen. 178 Die Verbreitung der »Resolution«173Az: K. Ms. 31/35. (Unterlagen aus Privatbesitz Karl-He<strong>in</strong>z Lange. Kopie im Besitz desVerfassers.)174Garbe (wie Anm. 162), S. 245ff.175LHAS, 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen 4363. AHRO, 2.1.0.1275, Bl. 86-89.176LHAS, 7.21-1 VdN-Neubran<strong>den</strong>burg 562.177Garbe (wie Anm. 162), S. 249ff. Die bei<strong>den</strong> Dokumente s<strong>in</strong>d abgedruckt <strong>in</strong>: Hesse, Hans/Harder, Jürgen, »Und wenn ich lebenslang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em KZ bleiben müsste …« Die Zeug<strong>in</strong>nenJehovas <strong>in</strong> <strong>den</strong> Frauenkonzentrationslagern Mor<strong>in</strong>gen, Lichtenburg und Ravensbrück. Essen2001, S. 419, 428-436.67


am 12. Dezember 1936 ist h<strong>in</strong><strong>gegen</strong> belegbar. So verteilte Gustav Magdanzaus Stett<strong>in</strong> die Flugblätter, obwohl sich se<strong>in</strong>e Frau während dieser Zeit schonim Gefängnis befand. 179 Lucie Schramm wurde bei der Verteilung der »Resolution«<strong>in</strong> Neustrelitz angezeigt und wenige Tage später von der Gestapo<strong>in</strong> Malchow verhaftet. 180 Andere Zeugen Jehovas verhaftete man ebenfalls imDezember 1936, so zum Beispiel Franz Wendt <strong>in</strong> Kösl<strong>in</strong>. 181 Die Historiker<strong>in</strong>Elke Imberger bezeichnet die »Verbreitung der ›Resolution‹ und des ›OffenenBriefs‹ [als] reichsweite Aktionen, die so gut koord<strong>in</strong>iert waren, <strong>das</strong>s sie <strong>in</strong> ganzDeutschland am selben Tag zur selben Zeit stattf<strong>in</strong><strong>den</strong> konnten. […] Währendder ganzen <strong>NS</strong>-Zeit gab es <strong>in</strong> Deutschland ke<strong>in</strong>e andere <strong>Widerstand</strong>sorganisation,die e<strong>in</strong>e vergleichbare Initiative durchführte.« 182Durch Verhaftungen und Hausdurchsuchungen gelang es der Gestapo,umfangreiches Material zu sammeln, <strong>das</strong> sie <strong>in</strong> der nun folgen<strong>den</strong> Serie vonSondergerichtsprozessen verwen<strong>den</strong> konnte. In Pommern wur<strong>den</strong> die Zeugenvor allem durch <strong>das</strong> Sondergericht Stett<strong>in</strong> verurteilt, so auch Martha Knieam 19. April 1937. 183 In <strong>Mecklenburg</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> der Zeit vom 2. Februar biszum 1. März 1937 vom Sondergericht Schwer<strong>in</strong> m<strong>in</strong>destens sieben Prozessedurchgeführt wor<strong>den</strong>. 184 Am 2. Februar tagte <strong>das</strong> Sondergericht <strong>in</strong> Bad Doberanund verurteilte u. a. Franz Fisch zu e<strong>in</strong>er Gefängnisstrafe von anderthalbJahren. Charlotte Fisch, ebenfalls angeklagt, lag zu dieser Zeit <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Berl<strong>in</strong>erKrankenhaus, so <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Verfahren <strong>gegen</strong> sie verschoben wer<strong>den</strong> musste. 185Am folgen<strong>den</strong> Tag fand e<strong>in</strong>e Verhandlung <strong>in</strong> Wismar statt, bei der die zweiHauptangeklagten He<strong>in</strong>rich Woest und Wilhelm Wohler zu je zwei JahrenGefängnis verurteilt wur<strong>den</strong>. 186 In Parchim tagte <strong>das</strong> Sondergericht am 16. Februar<strong>gegen</strong> 14 Angeklagte. 187 In Waren gab es am 18. und 19. Februar gleich178Dirksen, Hans-Hermann, Martha Knie – Das Zeugnis e<strong>in</strong>er Frau aus Vorpommern (1900-1953) <strong>in</strong>: Zeitgeschichte regional. Mitteilungen aus <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern, 7. Jg., 2003,H. 2, S. 64.179LHAS, 7.21-1 VdN-Neubran<strong>den</strong>burg 1401.180LHAS, 7.21-1 VdN-Neubran<strong>den</strong>burg 2015.181LHAS, 7.21-1 VdN-Neubran<strong>den</strong>burg 1934.182Imberger, Elke, <strong>Widerstand</strong> »von unten«. <strong>Widerstand</strong> und Dissens aus <strong>den</strong> Reihen derArbeiterbewegung und der Zeugen Jehovas <strong>in</strong> Lübeck und Schleswig-Holste<strong>in</strong> 1933-1945,Neumünster 1991, S. 345.183Dirksen (wie Anm. 178), S. 64.184LHAS, Generalstaatsanwalt des Oberlandesgerichts Rostock 5.12-6/4.62.185<strong>Mecklenburg</strong>ische Zeitung vom 3.2.1937.186<strong>Mecklenburg</strong>er Tageblatt, Wismarer Zeitung vom 4.2.1937, S. 6.187LHAS, 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen 919.68


zwei Verhandlungen, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en auch Zeugen Jehovas aus Neubran<strong>den</strong>burg undWesenberg angeklagt waren. Bei Otto Erdmann aus Waren hatte die Gestapodrei Zentner illegaler Literatur gefun<strong>den</strong>, die allerd<strong>in</strong>gs noch aus der Zeit vordem Verbot der Glaubensgeme<strong>in</strong>schaft stammte. 188 Am 19. Februar wur<strong>den</strong> <strong>in</strong>Güstrow u. a. Wilhelm Lange und Josef Mayer angeklagt. Wie oben erwähnt,mussten sich beide schon 1935 vor dem Schwer<strong>in</strong>er Sondergericht verantworten.Schließlich gab es am 1. März <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong>e Verhandlung,mit der die Prozessserie offensichtlich beendet wurde. Der HauptangeklagteKarl Sass wurde zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, die höchste Strafe, die <strong>in</strong>der Prozessserie verhängt wurde. 189Insgesamt hat man <strong>in</strong> <strong>den</strong> sieben Prozessen 68 Zeugen Jehovas (35 Männerund 33 Frauen) angeklagt. Gegen fünf Personen wurde <strong>das</strong> Verfahren e<strong>in</strong>gestellt,fünf weitere sprach man frei. Bei e<strong>in</strong>er Person wurde <strong>das</strong> Verfahrenabgetrennt und auf e<strong>in</strong>en anderen Zeitpunkt verschoben. Bei vier weiterenist der Ausgang des Verfahrens noch unbekannt. Die übrigen Angeklagtenverurteilte <strong>das</strong> Gericht zu Gefängnisstrafen von vier Monaten bis vier Jahren.Nicht alle Verurteilten mussten ihre Haftstrafe auch antreten bzw. bis zumEnde verbüßen. Andererseits s<strong>in</strong>d bisher auch 25 Fälle bekannt, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en dieGestapo die Verurteilten nach dem Ende ihrer Haftstrafe erneut <strong>in</strong> Schutzhaftnahm und <strong>in</strong> <strong>das</strong> Gefängnis Neustrelitz-Strelitz überstellte. Manche wur<strong>den</strong>nach e<strong>in</strong>igen Wochen wieder freigelassen. Von 13 Zeugen (acht Männer undfünf Frauen) weiß man, <strong>das</strong>s sie von dort <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konzentrationslager (Sachsenhausenoder Lichtenburg) kamen. He<strong>in</strong>rich Woest und Wilhelm Wöhleraus Wismar sowie Richard Sparr aus Bad Doberan überlebten die Haft <strong>in</strong><strong>den</strong> Konzentrationslagern nicht. Andere verstarben <strong>in</strong> <strong>den</strong> Haftanstalten wiez.B. <strong>in</strong> Dreibergen-Bützow oder an <strong>den</strong> während der Haftzeit zugezogenengesundheitlichen Schä<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>e Zeug<strong>in</strong> Jehovas aus Wismar wurde im Juli1941 im Rahmen der Euthanasieaktion <strong>in</strong> Bernburg ermordet. 190 Besonderstragisch ist, <strong>das</strong>s von <strong>den</strong> 68 Angeklagten <strong>in</strong> der DDR neun erneut wegenihres Glaubens mit Gefängnis bestraft wur<strong>den</strong>. Bei weiteren betraf dies dieunmittelbaren Angehörigen.Das Sondergericht Schwer<strong>in</strong> verhandelte <strong>in</strong> der Folge noch e<strong>in</strong>ige Male<strong>gegen</strong> Angehörige der Glaubensgeme<strong>in</strong>schaft. Andere Zeugen wur<strong>den</strong> ohne188LHAS, 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen 2232 u. 4327.189LHAS, 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen 3422 u. 7.11-1 VdN-Schwer<strong>in</strong> 1501.190LHAS, 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen 1405. Vgl. Schubert, Helga, Die Welt da dr<strong>in</strong>nen.E<strong>in</strong>e deutsche Nervenkl<strong>in</strong>ik und der Wahn vom »unwerten Leben«, Frankfurt/Ma<strong>in</strong> 2003,S. 47,99-101,197.69


Gerichtsverfahren <strong>in</strong> Schutzhaft genommen und <strong>in</strong> die Konzentrationslagere<strong>in</strong>geliefert. Weitere Todesopfer s<strong>in</strong>d zu beklagen. 191Die Organisationsstrukturen der Glaubensgeme<strong>in</strong>schaft waren <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>und Pommern nach <strong>den</strong> Sondergerichtsverfahren im Jahr 1937 zum großenTeil zerschlagen wor<strong>den</strong>. Führende Angehörige der Glaubensgeme<strong>in</strong>schaftwaren <strong>in</strong>haftiert und mussten oft während der gesamten Naziherrschaft <strong>in</strong> <strong>den</strong>Konzentrationslagern verbleiben. Die <strong>in</strong> die Freiheit zurückgekehrten oderverbliebenen Gläubigen versuchten oft nicht aufzufallen und ihren Glaubenfür sich bzw. im engsten Familienkreis auszuüben. Andere versuchten selbstauf die Gefahr e<strong>in</strong>er erneuten Verhaftung h<strong>in</strong>, im größeren Umfang für ihrenGlauben zu wirken. So schrieb Johanna Suhrbier aus Schwer<strong>in</strong> über die Zeitnach ihrer Haft: »Bei der Entlassung [30. Dezember 1937, d. A.] wurde mir[…] drohend gesagt: ›Noch e<strong>in</strong> Vergehen <strong>in</strong> dieser Sache und Sie kommen niewieder frei.‹ Trotzdem habe ich mich weiter illegal betätigt und die Botschaftvom Königreiche Gottes verkündigt und auch nach Möglichkeit unsererOrganisation mit <strong>den</strong> Nachbargruppen aufrecht zu erhalten mich bemüht.«Außerdem berichtete sie: »Von 1933 bis 1945 stand ich unter ständiger Aufsichtder Gestapo, wurde wiederholt zur Gestapo beordert und verhört. Trotzdemhabe ich mich stets illegal weiter betätigt. U. a. haben wir jedes Jahr mit e<strong>in</strong>igenunserer Glaubensgenossen <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er Wohnung h<strong>in</strong>ter verschlossenen Türen<strong>das</strong> Gedächtnismahl (Abendmahl) gefeiert. Da diese Feier auf der ganzen Erdean e<strong>in</strong> und demselben Tag von allen Glaubensgenossen begangen wird, wardie Gestapo von allem wohl unterichtet.« 192Auch <strong>in</strong> Pommern hielten die Gläubigen ihre Geme<strong>in</strong>schaft aufrecht. In e<strong>in</strong>erVerhandlung des Stett<strong>in</strong>er Sondergerichts am 27. September 1943 wur<strong>den</strong>fünf Zeugen Jehovas aus Ueckermünde, von <strong>den</strong>en drei bereits 1937 bestraftwor<strong>den</strong> waren, zu Gefängnisstrafen bis zu zwei Jahren verurteilt, weil sie, wiedie Urteilsschrift wiedergibt, »ihrer Lehre treu geblieben« und »<strong>den</strong> Bund mitGott nicht brechen« konnten. Besonders <strong>das</strong> Durchführen von Bibelbesprechungenwurde ihnen zur Last gelegt, »obwohl sie wussten, <strong>das</strong>s ihr Verhaltenstrafbar war, haben sie […] nach Gottes Wort zusammenkommen sollen undwollen, <strong>den</strong>n dieses besage, ›<strong>das</strong>s sie Gott mehr gehorchen sollten als <strong>den</strong>Menschen‹«. Die Verweigerung des Dienstes <strong>in</strong> der »Technischen Nothilfe«bzw. <strong>in</strong> Rüstungs- und Munitionsbetrieben und des Hitlergrußes sowie die191So Albert Hausdörfer, der am 28.10.1938 <strong>in</strong> Schutzhaft genommen und am 16.2.1941 imKZ Dachau umgebracht wurde. (LHAS, 7.21-1 VdN-Neubran<strong>den</strong>burg 1909.)192LHAS, 7.11-1 VdN-Schwer<strong>in</strong> 1775.70


f<strong>in</strong>anzielle Unterstützung e<strong>in</strong>er im KZ bef<strong>in</strong>dlichen Glaubensschwester warenfür <strong>das</strong> Urteil ebenfalls ausschlaggebend. 193Jehovas Zeugen verweigerten auch <strong>den</strong> Kriegsdienst. Nicht selten bezahltensie die Befolgung des biblischen Gebotes »Du sollst nicht töten« selbstmit dem Leben. In <strong>den</strong> Urteilen der Sondergerichtsprozessserie Anfang desJahres 1937 wurde <strong>den</strong> Angeklagten immer wieder zur Last gelegt, <strong>das</strong>s sie»unter Berufung auf Bibelstellen Leistung des Kriegsdienstes verweigern«. 194Als Herbert Jahn aus Bad Polz<strong>in</strong> im Oktober 1936 e<strong>in</strong>en Stellungsbefehl erhielt,verweigerte er Fahneneid und Waffendienst. Damit begann für ihn e<strong>in</strong>ebis 1945 fast ununterbrochene Haftzeit, <strong>in</strong> der er u. a. <strong>in</strong> Kolberg, Torgau,Berl<strong>in</strong>-Plötzensee, Rodgau bei Dieburg, Sw<strong>in</strong>emünde, Dreibergen-Bützowund schließlich <strong>in</strong> Sachsenhausen <strong>in</strong>haftiert war, von wo er im Mai 1945 aufdem Todesmarsch nach Schwer<strong>in</strong> gelangte. 195 Mit Beg<strong>in</strong>n des Zweiten Weltkriegesdrohte Kriegsdienstverweigerern die Todesstrafe. Der GlasermeisterKurt Kle<strong>in</strong> aus Boizenburg, der im September 1939 se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>berufung zurWehrmacht nicht nachkam, wurde daraufh<strong>in</strong> verhaftet und am 13. Oktober1939 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Plötzensee h<strong>in</strong>gerichtet. 196Die angeführten Beispiele haben deutlich gemacht, warum es <strong>den</strong> ZeugenJehovas als Gruppe gelang, sich dem Hitlerregime zu verweigern. Die Glaubensgeboteder Bibel hatten für sie <strong>den</strong> höchsten Stellenwert. Da sie »Gottmehr gehorchen [wollten] als Menschen«, konnten sie <strong>das</strong> verbrecherischeNaziregime nicht unterstützen. Sie bewahrten sich <strong>in</strong> der schweren Zeit derVerfolgung unter großen Opfern ihren Glauben. Dadurch konnte die Religionsgeme<strong>in</strong>schaftnach dem Zusammenbruch der Hitlerdiktatur moralischgestärkt an <strong>den</strong> Wiederaufbau ihrer Geme<strong>in</strong><strong>den</strong> gehen. 193LHAS, 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen 2771.194LHAS, 5.12-6/9P LSA Bützow-Dreibergen 919, S. 13.195LHAS, 7.11-1 VdN-Schwer<strong>in</strong> 746.196Jahnke, Karl He<strong>in</strong>z, Gegen Hitler. Gegner und Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>1933-1945, Rostock 2000, S. 37-43.71


III. <strong>Widerstand</strong> und Dissens im 2. WeltkriegAndreas Wagner, Schwer<strong>in</strong>Opposition und Verweigerung von Soldaten imZweiten Weltkrieg:E<strong>in</strong>e regionalhistorische Bestandsaufnahme für<strong>Mecklenburg</strong> und PommernDie Nationalsozialisten haben von Anfang an <strong>den</strong> Schulterschluss mit dermilitärischen Elite gesucht und der Armee bei der Verwirklichung ihreraggressiven außenpolitischen Ziele e<strong>in</strong>e zentrale Stellung zugemessen. Dazubenötigte man e<strong>in</strong>e schlagkräftige und abschreckende Militärjustiz, die abJanuar 1934 neu entstand. Gefängnisse für <strong>den</strong> Militärstrafvollzug wur<strong>den</strong>e<strong>in</strong>gerichtet - bis Kriegsbeg<strong>in</strong>n drei Wehrmachtgefängisse: Torgau - Fort Z<strong>in</strong>na,Germersheim und Glatz. Das Wehrmachtgefängnis Anklam <strong>in</strong> Pommernentstand als Neubau 1938-1940. 197 Ähnlich der zivilen Justiz ist auch bei<strong>den</strong> Militärgerichten im Kriegsverlauf e<strong>in</strong>e zunehmende Ideologisierung undBrutalisierung der Spruchpraxis zu beobachten. Nach seriösen Schätzungenbestan<strong>den</strong> im Zweiten Weltkrieg 1000 bis 1200 Kriegsgerichte, die ca. 30.000Todesurteile verhängten, von <strong>den</strong>en ungefähr 20.000 vollstreckt wur<strong>den</strong>. ZumVergleich: Während des Ersten Weltkrieges ließ die deutsche Militärjustiz 48Todesurteile vollstrecken! 198Zwischen 1939 und 1940/41 ließ die <strong>NS</strong>-Militärjustiz Gefängnisstrafen <strong>in</strong><strong>den</strong> Wehrmachtgefängnissen vollstrecken oder setzte die Strafe zur Bewährungbei regulären Truppenteilen aus. Zu Zuchthausstrafen Verurteilte übergab mander Reichsjustizverwaltung. Sie kamen <strong>in</strong> die Emslandlager oder vere<strong>in</strong>zelt<strong>in</strong> Zuchthäuser, z. B. Dreibergen-Bützow und Gollnow. Ab 1941/42 erhieltder verschärfte E<strong>in</strong>satz im Frontbereich die höchste Priorität. Strafen wur<strong>den</strong>überwiegend <strong>in</strong> <strong>den</strong> Feldstrafgefangenenabteilungen (FGA) abgegolten. DieWehrmachtgefängnisse entwickelten sich zu Knotenpunkten <strong>in</strong> diesem Geflechtvon Vollzugs- und Bewährungse<strong>in</strong>heiten.197Vgl. Wagner, Andreas, »In Anklam aber empfängt mich die Hölle…« Dokumentation zurGeschichte des Wehrmachtgefängnisses Anklam 1940-1945, Schwer<strong>in</strong> 2000.198Vgl. Haase, Norbert/ Paul, Gerhard (Hrsg.), Die anderen Soldaten, Frankfurt/M. 1995.72


Wehrmachtsgefängnis Anklam (Aufnahme aus dem Jahr 1997)Das Wehrmachtgefängnis Anklam war Zielort für Verurteilte aus <strong>den</strong>Wehrkreisen I, II und XX, <strong>den</strong> Luftgauen I und XI, dem Ostseebereich derMar<strong>in</strong>e, der Heeresgruppe Nord und dem Befehlshaber Ost-Ostland sowie ausNordeuropa (Norwegen und Dänemark). Entwürdigende Haftbed<strong>in</strong>gungen,Schikanen der krim<strong>in</strong>ellen Mithäftl<strong>in</strong>ge und militärischer Drill prägten <strong>den</strong>Haftalltag für Tausende von Häftl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Anklam. Für <strong>den</strong> E<strong>in</strong>satz an derOstfront wur<strong>den</strong> im WG Anklam 1942 und 1943 mehrere FGA aufgestelltund wahrsche<strong>in</strong>lich kont<strong>in</strong>uierlich aufgefüllt. Nach dem Attentatsversuchvom 20. Juli 1944 kamen im August und September geschätzte e<strong>in</strong>tausendwehrmachtgerichtlich Verurteilte aus dem WG Anklam auch <strong>in</strong> die SS-SonderformationDirlewanger. 199 Im Anklamer Gefängnis ließ die Militärjustizebenfalls Todesurteile vollstrecken; nach bisherigen Kenntnissen starben hierm<strong>in</strong>destens 134 Wehrmachtangehörige, die Mehrheit wegen Fahnenflucht.Nicht annähernd bekannt ist die Zahl der <strong>in</strong> <strong>den</strong> letzten Kriegswochen durchmilitärische Standgerichte ermordeten Soldaten. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Friedland er<strong>in</strong>nerte<strong>in</strong>e Ge<strong>den</strong>ktafel an e<strong>in</strong>en solchen Fall. 200199Klausch, Hans-Peter, Antifaschisten <strong>in</strong> SS-Uniform. Schicksal und <strong>Widerstand</strong> der deutschenpolitischen KZ-Häftl<strong>in</strong>ge, Zuchthaus- und Wehrmachtgefangenen <strong>in</strong> der SS-SonderformationDirlewanger, Bremen 1993, S. 120 ff.73


1. KriegsdienstverweigerungUnter der sehr ger<strong>in</strong>gen Zahl von Kriegsdienstverweigerern während desZweiten Weltkrieges lassen sich bisher drei Fälle für <strong>Mecklenburg</strong> undPommern nachweisen. E<strong>in</strong>er der ersten nach Kriegsbeg<strong>in</strong>n h<strong>in</strong>gerichtetenKriegsdienstverweigerer überhaupt war Kurt Kle<strong>in</strong> aus Boizenburg. Kurt Kle<strong>in</strong>arbeitete als Glaser <strong>in</strong> Boizenburg und hatte nach dem Ersten Weltkrieg zurGlaubensgeme<strong>in</strong>schaft der Bibelforscher (Zeugen Jehovas) gefun<strong>den</strong>. Als er <strong>in</strong><strong>den</strong> ersten Kriegstagen die E<strong>in</strong>berufung zur Wehrmacht erhielt, verweigerteer nach se<strong>in</strong>en religiösen Grundsätzen <strong>den</strong> Kriegsdienst. Wenige Tage nachse<strong>in</strong>er Verhaftung <strong>in</strong> Boizenburg verurteilte ihn <strong>das</strong> Reichskriegsgericht aufse<strong>in</strong>er Verhandlung <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> zum Tode. Das Urteil wurde am 13. Oktober1939 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Plötzensee vollstreckt. 201 Kurt Kle<strong>in</strong> gehört zu <strong>den</strong> ungefähr300 Zeugen Jehovas, die – überwiegend wegen Kriegsdienstverweigerung– während des Zweiten Weltkrieges h<strong>in</strong>gerichtet wur<strong>den</strong>.Der Staatswissenschaftler und Pazifist Dr. Hermann Stöhr aus Stett<strong>in</strong> warder e<strong>in</strong>zige evangelische Christ, <strong>den</strong> <strong>das</strong> Reichskriegsgericht wegen se<strong>in</strong>er religiösmotivierten Kriegsdienstverweigerung zum Tode verurteilte. 202 Er wurde1898 <strong>in</strong> Stett<strong>in</strong> geboren und engagierte sich <strong>in</strong> der Weimarer Republik für diechristliche Ökumene und die Frie<strong>den</strong>sbewegung. Im Frühjahr 1939 verweigerteer <strong>den</strong> Waffendienst <strong>gegen</strong>über dem Wehrbezirkskommando Stett<strong>in</strong> I.Monate später verurteilte ihn <strong>das</strong> Gericht des 2. Admirals der Ostseestation<strong>in</strong> Kiel nach »frie<strong>den</strong>srechtlichen Bestimmungen« am 1. November 1939 zue<strong>in</strong>em Jahr Gefängnis. Da Stöhr im Torgauer Militärgefängnis <strong>den</strong> Fahneneidverweigerte, kam er wegen »Wehrkraftzersetzung« vor <strong>das</strong> Reichskriegsgericht,<strong>das</strong> die Todesstrafe verhängte. Hermann Stöhr starb am 21. Juni 1940 <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong>-Plötzensee. 203E<strong>in</strong>zelne Kriegsdienstverweigerer f<strong>in</strong><strong>den</strong> sich zur Strafvollstreckung <strong>in</strong> <strong>den</strong>Zuchthäusern wieder. E<strong>in</strong>er von ihnen ist der <strong>in</strong> Breslau geborenen OfensetzerWerner S., der 1941 <strong>in</strong> die Strafanstalten Dreibergen-Bützow kam. Bereits200Bestandsaufnahme politischer Memoriale des Landes <strong>Mecklenburg</strong>-Vorpommern, Schwer<strong>in</strong>1998, S. 307.201Jahnke, Karl He<strong>in</strong>z, Gegen Hitler. Gegner und Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>1933-1945, Rostock 2000, S. 37-45.202Röhm, Eberhard, Sterben für <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong>. Spurensicherung: Hermann Stöhr (1898-1940)und die Ökumenische Frie<strong>den</strong>sbewegung, Stuttgart 1985, S. 167.203Garbe, Detlef, »Du sollst nicht töten« Kriegsdienstverweigerer 1939-1945, <strong>in</strong>: Haase, Norbert/Paul, Gerhard (Hrsg.), Die anderen Soldaten, Frankfurt/M. 1995, S. 95.74


1938 war er zu <strong>den</strong> Bo<strong>den</strong>truppen der Luftwaffe e<strong>in</strong>berufen wor<strong>den</strong>. E<strong>in</strong>enFluchtversuch ahndete <strong>das</strong> Gericht mit sechs Monaten Gefängnis und Versetzung<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Sonderabteilung, wo er <strong>den</strong> Ausmarsch mit Waffe und Rucksackverweigerte. Das Luftwaffengericht Hannover entschied am 25. August 1939(vor Kriegsbeg<strong>in</strong>n!) auf Dienstentlassung und e<strong>in</strong>e Gefängnisstrafe von vierJahren. Werner S. berief sich auf Glaubensgrundsätze der Zeugen Jehovas,ohne wohl ihr Mitglied zu se<strong>in</strong>. Als se<strong>in</strong>e Strafe im September 1943 <strong>in</strong> Bützowendete und er <strong>den</strong> Militärdienst weiterh<strong>in</strong> verweigerte, deportierte ihn dieGestapo <strong>in</strong> <strong>das</strong> KZ Mauthausen, wo ihn amerikanische Truppen am 5. Mai1945 befreiten. 2042. FahnenfluchtDie Mehrheit der von deutschen Kriegsgerichten im Zweiten Weltkrieg vollstrecktenTodesstrafen richtete sich <strong>gegen</strong> fahnenflüchtige Soldaten. NachSchätzungen wur<strong>den</strong> von <strong>den</strong> 20.000 vollstreckten militärgerichtlichenTodesurteilen alle<strong>in</strong> 15.000 wegen Fahnenflucht verhängt. Zweifellos bil<strong>den</strong>die aus politischen oder religiösen Grün<strong>den</strong> handeln<strong>den</strong> Fahnenflüchtigene<strong>in</strong>e M<strong>in</strong>derheit unter <strong>den</strong> Deserteuren. Häufiger verban<strong>den</strong> sich durch<strong>das</strong> Herkunftsmilieu vermittelte Distanz zum Nationalsozialismus, familiäreGründe und Kriegsmüdigkeit zu e<strong>in</strong>em Motivbündel. E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e ZahlFahnenflüchtiger waren Soldaten, die sich immer tiefer <strong>in</strong> <strong>den</strong> Strudel militärgerichtlicherVerfolgung verstrickten. Sie reagierten mit ihrer Flucht aufe<strong>in</strong>e drakonische Strafandrohung und handelten nicht aus e<strong>in</strong>er Gegnerschaft<strong>gegen</strong> <strong>NS</strong>-Herrschaft und Krieg.Dazu zählen wohl auch die drei wegen Diszipl<strong>in</strong>arvergehen verurteiltenSoldaten, die im November 1940 aus der <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> stationierten Wehrmachtgefangenenabteilungdes WG Anklam flohen. 14 Tage später von der Polizeiverhaftet, wur<strong>den</strong> sie nach Schwer<strong>in</strong> zurückgeschickt. Aus Angst vor e<strong>in</strong>erdrohen<strong>den</strong> Todesstrafe entwichen zwei Angeklagte wenige Tage später erneut,führten mehrere Diebstähle aus, um sich Zivilkleidung und Nahrungsmittel zuverschaffen. Doch auch diese Flucht scheiterte. Das Gericht der Division 192,Zweigstelle Schwer<strong>in</strong>, verurteilte zwei Angeklagte zu lebenslangem Zuchthaus,weil sie als »asoziale und m<strong>in</strong>derwertige Persönlichkeiten« galten. Der dritteAngeklagte erhielt e<strong>in</strong>e Zuchthausstrafe von e<strong>in</strong>em Jahr und drei Monaten.204Landeshauptarchiv Schwer<strong>in</strong>, 5.12 - 6/9 P, Nr. 3902.75


E<strong>in</strong>e pauschalisierende Bezeichnung von Fahnenflüchtigen als »krim<strong>in</strong>elleElemente« geht bis auf wenige Ausnahmen fehl. Richtig ist, <strong>das</strong>s viele zurAbsicherung ihrer Flucht Diebstähle beg<strong>in</strong>gen oder Urkun<strong>den</strong> fälschten. Dochwie hätten sie e<strong>in</strong>e Flucht anders bewerkstelligen sollen? E<strong>in</strong>e Beurteilungdes Handelns dieser Soldaten muss die situativen Bed<strong>in</strong>gungen der Fluchte<strong>in</strong>beziehen.Das folgende Fallbeispiel aus dem Wehrmachtgefängnis Anklam veranschaulichtdie sich verändernde Spruchpraxis im Kriegsverlauf. Der Mar<strong>in</strong>e-Artillerie Gefreite He<strong>in</strong>rich A., Schiffbauer aus Kiel, leistete seit Sommer 1940Militärdienst. Im Frühjahr 1941 versuchte er, dem weiteren Kriegsdienst zuentfliehen. E<strong>in</strong> Feldgericht verurteilte ihn wegen unerlaubter Entfernung zusechs Jahren Gefängnis. Vom WG Anklam wurde er <strong>in</strong> die FGA 3 an die Ostfrontkommandiert. Während e<strong>in</strong>es Lazarettaufenthalts im Juli 1942 gelang esihm, se<strong>in</strong>e I<strong>den</strong>tität als Strafgefangener zu verheimlichen und sich wieder zurnormalen Truppe versetzen zu lassen. Über e<strong>in</strong> Jahr später flog der Schw<strong>in</strong>delauf. E<strong>in</strong>e Militärstreife verhaftete He<strong>in</strong>rich A. während se<strong>in</strong>es Urlaubs <strong>in</strong>Kiel. Das Gericht des Küstenbefehlshabers westliche Ostsee <strong>in</strong> Sw<strong>in</strong>emündeverurteilte ihn wegen Fahnenflucht zum Tode. Am 15. Februar 1944 wurdeHe<strong>in</strong>rich A. <strong>in</strong> Anklam erschossen. 205In <strong>den</strong> Augen der <strong>NS</strong>-Militärjuristen stellte <strong>das</strong> Überlaufen zum Fe<strong>in</strong>de<strong>in</strong>en besonders schweren Fall von Fahnenflucht dar. Unter <strong>den</strong> Überläufernf<strong>in</strong><strong>den</strong> sich überwiegend politisch motiviert handelnde Soldaten. Viele vonihnen reihten sich <strong>in</strong> die Partisanenbewegung oder die Rote Armee e<strong>in</strong>, um<strong>gegen</strong> die deutschen Besatzungstruppen zu kämpfen. Ihr Beispiel diente imDDR-Geschichtskanon zur Begründung der Kampfe<strong>in</strong>heit zwischen deutschenAntifaschisten und sowjetischer Armee. Stellvertretend sei Bruno Erdmannerwähnt. Am 9. September 1942 lief der aus Pasewalk stammende Jungkommunistvon der 129. Infanteriedivision zur Roten Armee über. Im Juli 1943gehörte er zu <strong>den</strong> Gründungsmitgliedern des NKFD. Später versuchte er ander Front mit Worten, deutsche Soldaten zum Aufgeben zu bewegen. In <strong>den</strong>letzten Kriegstagen kam Bruno Erdmann im Raum Güstrow zum Aufklärungse<strong>in</strong>satzh<strong>in</strong>ter der Front. 206Auch an der Westfront gab es Überläufer aus <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern.Der aus Crivitz stammende Ernst Krull lief zur französischen Partisanenbewe-205Bundesarchiv-Z<strong>NS</strong>, Nr. 9356.206Der antifaschistische <strong>Widerstand</strong>skampf unter Führung der KPD <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933 bis1945, Berl<strong>in</strong> 1985, S. 277.76


gung über. Er nahm als Mitglied im Maquis von St. Anto<strong>in</strong>e an Sabotageakten<strong>gegen</strong> Eisenbahnl<strong>in</strong>ien und Stromleitungen sowie an Befreiungsaktionenteil. 207 Viele Überläufer hatte die Bewährungstruppe 999 zu verzeichnen. 208In der SS-Sonderformation Dirlewanger sollten der geme<strong>in</strong>same E<strong>in</strong>satz vonwehrunwürdigen Krim<strong>in</strong>ellen und Nazi-Gegnern sowie e<strong>in</strong> scharfes Überwachungs-und Strafreglement <strong>das</strong> Überlaufen verh<strong>in</strong>dern. Der <strong>in</strong> Plüschow beiGrevesmühlen geborene Kommunist Karl Wandschneider meldete sich nachjahrelanger Gefängnis- und KZ-Haft zur SS-Sonderformation im November1944. An der Front <strong>in</strong> Ungarn wurde er nicht beim Überlaufen von Faschistenerschossen, wie <strong>in</strong> der DDR-Historiographie zu lesen war, sondern verlor se<strong>in</strong>Leben während e<strong>in</strong>es sowjetischen Angriffs. 2093. Zersetzung der WehrkraftDie Versuche, sich dem weiteren Kriegse<strong>in</strong>satz zu entziehen, begrenzten sichnicht auf Fahnenflucht. Viele Soldaten täuschten Krankheiten vor oder fügtensich vorsätzlich Verletzungen zu. Konnten diese Taten nachgewiesen wer<strong>den</strong>,folgte e<strong>in</strong>e Anklage wegen Zersetzung der Wehrkraft. 210 Auch hier drohte dieTodesstrafe, wie <strong>das</strong> Beispiel des 20-jährigen Horst M. aus Lübeck zeigt. DerGefreite hatte sich 1942 freiwillig zur Flak gemeldet. Während e<strong>in</strong>es fluchtartigenRückzugs <strong>in</strong> Lettland im Juli 1944 fügte er sich e<strong>in</strong>en Schuss <strong>in</strong> die l<strong>in</strong>keHand zu. Die Selbstverstümmelung kam vor <strong>das</strong> Kriegsgericht und wurde am9. September 1944 mit dem Todesurteil geahndet. Im WG Anklam stellte erse<strong>in</strong> Gna<strong>den</strong>gesuch. Zwar wurde <strong>das</strong> Todesurteil bestätigt, doch die Entscheidungüber die Vollstreckung ausgesetzt. Er kam am 2. Oktober 1944 an dieOstfront <strong>in</strong> e<strong>in</strong> 500er Bewährungs-Bataillon. Mit dem drohen<strong>den</strong> Todesurteilim Nacken sollte er buchstäblich um se<strong>in</strong> Leben kämpfen. 211Auch zahlreiche Äußerungen von Kriegsmüdigkeit wur<strong>den</strong> als Zersetzungder Wehrkraft verfolgt. Der Masch<strong>in</strong>engefreite der Mar<strong>in</strong>e Otto H., geboren1911 <strong>in</strong> Bremen, hatte im angetrunkenen Zustand »unter Kamera<strong>den</strong> geäußert,207Pech, Karlhe<strong>in</strong>z, An der Seite der Résistance, Berl<strong>in</strong> 1987 2 , S. 152,169.208Der antifaschistische <strong>Widerstand</strong>skampf unter Führung der KPD <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933 bis1945, Berl<strong>in</strong> 1985, S. 246 ff.209Klausch, Hans-Peter, Antifaschisten <strong>in</strong> SS-Uniform. Schicksal und <strong>Widerstand</strong> der deutschenpolitischen KZ-Häftl<strong>in</strong>ge, Zuchthaus- und Wehrmachtgefangenen <strong>in</strong> der SS-SonderformationDirlewanger, Bremen 1993, S. 259.210Reichsgesetzblatt, Teil I, Nr. 147 vom 26.8.1939, S. 1456.211Bundesarchiv-Z<strong>NS</strong>, SV 165.77


er wolle wieder e<strong>in</strong>mal nach Haus. Er hätte ke<strong>in</strong> Interesse mehr am Krieg unddie, welche ihn begonnen hätten, sollten ihn auch zu Ende führen«. Zu e<strong>in</strong>erGefängnisstrafe von sechs Monaten verurteilt, traf er am 19. Juni 1944 im WGAnklam e<strong>in</strong>. Die Strafe wurde am 28. August 1944 zur Frontbewährung beider SS-Sonderformation Dirlewanger ausgesetzt. Über se<strong>in</strong> weiteres Schicksalist nichts bekannt. 212Auch der 1922 <strong>in</strong> Kassel geborene Soldat Karl-He<strong>in</strong>z K. wurde wegen se<strong>in</strong>erÄußerungen <strong>den</strong>unziert. Im Arbeitermilieu aufgewachsen, lehnte er <strong>den</strong>Nationalsozialismus und <strong>das</strong> streng reglementierte militärische Leben ab. Se<strong>in</strong>widersetzliches Verhalten brachte ihn <strong>in</strong> e<strong>in</strong> 500er Bewährungs-Bataillon andie Ostfront. Nach dem Krieg er<strong>in</strong>nerte er sich: »So war ich fast zwei Jahre beidieser E<strong>in</strong>heit. Oft gesehen, wie unser Häufle<strong>in</strong> zusammengeschmolzen ist,meistens alle tot. Ich habe me<strong>in</strong>en Kamera<strong>den</strong> oft genug gesagt: ›Ihr seid jawahns<strong>in</strong>nig, noch zu kämpfen!‹ Dann musste ich immer hören: ›He<strong>in</strong>z, unsereStrafen müssen wir doch verbüßen.‹ Wenn ich dies immer hörte, dann schwollmir die Galle, ich f<strong>in</strong>g dann an zu re<strong>den</strong>, als ob ich auf e<strong>in</strong>em Rednerpultstünde.« Von der Gestapo verhaftet, kam er über verschie<strong>den</strong>e Stationen <strong>in</strong> <strong>das</strong>WG Anklam, wo ihn <strong>das</strong> Gericht der Division 402 im Dezember 1944 zumTode verurteilte. Gna<strong>den</strong>gesuche zögerten die Vollstreckung bis zur Befreiungdurch die Rote Armee h<strong>in</strong>aus. 213Die letzten bei<strong>den</strong> Fälle zeigen die unterschiedlichen Begleitumständeund Motive für Äußerungen <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Krieg. Während Otto H. unter demE<strong>in</strong>druck der katastrophalen militärischen Lage während e<strong>in</strong>es Umtrunksse<strong>in</strong>er Empörung freien Lauf ließ, war <strong>das</strong> Re<strong>den</strong> unter <strong>den</strong> Kamera<strong>den</strong> fürKarl-He<strong>in</strong>z K. eher Ausdruck e<strong>in</strong>er grundsätzlich kritischen Haltung <strong>gegen</strong>überNationalsozialismus und Krieg. Er wollte nicht nur Empörung und Wutausdrücken, sondern Kamera<strong>den</strong> überzeugen, die Waffen niederzulegen, sichzu ergeben.4. Fe<strong>in</strong>dbegünstigung und KriegsverratDie Entscheidung, <strong>in</strong>nerhalb der Wehrmacht <strong>gegen</strong> die Weiterführung desKrieges oder <strong>den</strong> deutschen Sieg zu kämpfen, ahndeten die Militärgerichteals Fe<strong>in</strong>dbegünstigung, Kriegsverrat oder gegebenenfalls als Vorbereitung212Bundesarchiv-Z<strong>NS</strong>, Fr. 3208.213Kammler, Jörg, »Ich habe die Metzelei satt und laufe über…« Kasseler Soldaten zwischenVerweigerung und <strong>Widerstand</strong> (1939-1945), Fuldabrück 1997, S. 119 ff.78


zum Hochverrat. Für diese Straftatbestände drohte ebenfalls die Todesstrafe.Unter <strong>den</strong> Mannschaftssoldaten fan<strong>den</strong> sich vere<strong>in</strong>zelt Kommunisten, die<strong>in</strong>nerhalb der Wehrmacht mit dem Fe<strong>in</strong>d zusammenarbeiteten. Zwei bereitszu DDR-Zeiten veröffentlichte Beispiele gehören <strong>in</strong> diesen Kontext: DerKommunist Fritz Behn unterhielt während se<strong>in</strong>es Militärdienstes Kontaktzu sowjetischen Partisanen. Er wurde 1904 <strong>in</strong> Benz auf Usedom geborene underlernte <strong>den</strong> Beruf des Zimmermanns. 1933 kurzzeitig <strong>in</strong> Schutzhaft genommen,verhielt er sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Jahren unauffällig. Mit Kriegsbeg<strong>in</strong>nerhielt er se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>berufung zu e<strong>in</strong>em Mar<strong>in</strong>ebaubataillon. Auf besetztemsowjetischen Territorium gelang es ihm, geme<strong>in</strong>sam mit anderen Kommunistense<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit, Kontakt mit Partisanen aufzunehmen und kriegswichtigeNachrichten weiterzuleiten. Im Herbst 1943 wur<strong>den</strong> sie verraten. Der PionierobergefreiteFritz Behn und zwei se<strong>in</strong>er Mitangeklagten wur<strong>den</strong> durche<strong>in</strong> Militärgericht wegen Kriegsverrat zum Tode verurteilt und am 6. Januar1944 <strong>in</strong> Tall<strong>in</strong>n h<strong>in</strong>gerichtet. 214Ebenfalls wegen Kontakten zur Partisanenbewegung wurde der ParchimerKommunist Paul Sasnowski am 25. Februar 1944 <strong>in</strong> der weißrussischen StadtMogiljow h<strong>in</strong>gerichtet. Er war im Herbst 1941 zum Arbeitsdienst <strong>in</strong> derOrganisation Todt zwangsverpflichtet wor<strong>den</strong>. Beim Straßenbau <strong>in</strong> Weißrusslandbekam er Kontakt zur Partisanenbewegung, die er über deutsche Truppenbewegungensowie Waffen- und Benz<strong>in</strong>lager <strong>in</strong>formierte. Auch er wurdeverraten. Das Gericht der Feldkommandantur 813 <strong>in</strong> Mogiljew verurteiltePaul Sasnowski wegen Kriegsverrat am 27. Januar 1944 zum Tode. 2155. Gehorsamsverweigerung von OffizierenNeben Mannschaftssoldaten haben auch e<strong>in</strong>zelne Wehrmachtsoffiziere Befehleaus unterschiedlichen Grün<strong>den</strong> und <strong>in</strong> sehr verschie<strong>den</strong>en Situationenverweigert, s<strong>in</strong>d ihrem Gewissen gefolgt. Die wohl bekannteste Aktion desmilitärischen <strong>Widerstand</strong>es, <strong>das</strong> Attentat vom 20. Juli 1944, gehört hierher. 216Wehrmachtsoffiziere brachen ihren auf Adolf Hitler geleisteten Eid, um <strong>den</strong>verbrecherischen Krieg zu been<strong>den</strong>. Dass Befehlsverweigerung nicht unbed<strong>in</strong>gtstrafrechtliche Konsequenzen nach sich zog, zeigt <strong>das</strong> Beispiel von Major Max214Lamprecht, Werner, Fritz Behn, <strong>in</strong>: Wolgast Buch (2) 1984, S. 15-20.215Jahnke, Karl He<strong>in</strong>z, Gegen Hitler. Gegner und Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>1933-1945, Rostock 2000, S. 77-84.216Siehe <strong>den</strong> Beitrag von Mario Niemann <strong>in</strong> diesem Band.79


Liedtke: Der 1894 <strong>in</strong> Ostpreußen geborene Liedtke leitete als Chefredakteurund Verlagsdirektor zwischen 1929 und 1937 die Greifswalder Zeitung. Ab1939 stand er <strong>in</strong> <strong>den</strong> besetzten Territorien verschie<strong>den</strong>en Ortskommandanturenvor. Im Sommer 1942 widersetzte er sich als Ortskommandant von Przemysl(Westgalizien) auf Initiative se<strong>in</strong>es Adjutanten Dr. Battel der Deportation ihmunterstehender jüdischer Arbeitskräfte. E<strong>in</strong>e Bestrafung folgte nicht. Allerd<strong>in</strong>gsfällt e<strong>in</strong>e Gesamtwürdigung der Person schwer, da er an verschie<strong>den</strong>en Ortenauch an der Umsetzung verbrecherischer Befehle beteiligt war. 1994 wurdese<strong>in</strong>e Rettungstat <strong>in</strong> Yad Vashem geehrt. 217E<strong>in</strong>zelne Offiziere verweigerten sich militärisch uns<strong>in</strong>nigen Durchhalteparolender <strong>NS</strong>-Führung. In e<strong>in</strong>er ausweglosen Situation <strong>den</strong> Befehl zum Rückzug zugeben, um s<strong>in</strong>nlose Menschenverluste zu verh<strong>in</strong>dern, konnte strafrechtlicheKonsequenzen haben. In Neustrelitz er<strong>in</strong>nert e<strong>in</strong>e Ge<strong>den</strong>ktafel an Hans Grafvon Sponeck, der hier zeitweilig stationiert war. Nach dem Überfall auf dieSowjetunion kommandierte er <strong>das</strong> XIII. Armee-Korps. Während der Kämpfeauf der Halb<strong>in</strong>sel Kertsch 1941 erteilte er se<strong>in</strong>en Truppen <strong>in</strong> aussichtsloserLage <strong>den</strong> Rückzugsbefehl. Se<strong>in</strong>er Abberufung folgte <strong>das</strong> Todesurteil durch e<strong>in</strong>Militärgericht. Hitler begnadigte ihn zu sechs Jahren Festungshaft. Ohne <strong>das</strong>se<strong>in</strong> Zusammenhang mit dem Hitler-Attentat bestand, ließ Himmler Graf vonSponeck am 23. Juli 1944 <strong>in</strong> Germersheim erschießen. 218Dem jungen Leutnant Matthias Kaiser wurde e<strong>in</strong> Rückzugsbefehl zumtödlichen Verhängnis, zumal er nicht durch Prom<strong>in</strong>enz und Rang geschütztwar. Er diente seit 1941 <strong>in</strong> der Wehrmacht. 1943 zum Leutnant befördert,kam er nach mehreren Verwundungen im Sommer 1944 zur HeeresgruppeNord. Während der Kämpfe im Juli 1944 südlich von Ostrow musste LeutnantKaiser mitten im Gefecht e<strong>in</strong>e Kompanie übernehmen und befahl <strong>den</strong>Rückzug, verlor außerdem noch zeitweise <strong>den</strong> Kontakt zu se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>heit. ImAugust reichte se<strong>in</strong> Bataillonskommandeur <strong>den</strong> Rückzugsbefehl zur Strafverfolgunge<strong>in</strong>. Das Kriegsgericht der 21. Luftwaffenfelddivision verurteilteMatthias Kaiser am 21. September 1944 nach 10 M<strong>in</strong>uten Beratung wegen»Feigheit vor dem Fe<strong>in</strong>d« zum Tode. Im WG Anklam wartete er anderthalbMonate auf die endgültige Entscheidung und wurde 24-jährig am 29. November1944 h<strong>in</strong>gerichtet. 219217Haase, Norbert, Oberleutnant Dr. Kurt Battel und Major Max Liedtke, <strong>in</strong>: Wette, Wolfram(Hrsg.), Retter <strong>in</strong> Uniform, Frankfurt/M. 2002, S. 181-208.218E<strong>in</strong>beck, Eberhard, Das Exempel Graf Sponeck, Bremen 1970.219Haas, Johannes/ Löckmann, He<strong>in</strong>z-Josef, »Licht und Leben«. Matthias Kaiser (1921-1944),Ingolstadt 1994.80


Auf e<strong>in</strong>en weiteren Handlungszusammenhang sei am Beispiel der kampflosenÜbergabe von Greifswald abschließend verwiesen: Am Kriegsende lag eshäufig <strong>in</strong> der Verantwortung der Militärs, ob e<strong>in</strong>e Stadt unzerstört übergebenwurde oder die Zivilbevölkerung unter heftigen Kampfhandlungen zu lei<strong>den</strong>hatte. Die kampflose Übergabe der zur Festung erklärten Stadt Greifswaldist überregional bekannt gewor<strong>den</strong>. Der Stadtkommandant Oberst RudolfPetershagen widersetzte sich dem Befehl, die Stadt bis zum letzten Mann undSte<strong>in</strong> zu verteidigen. Die Kapitulation der Stadt am 30. April 1945 rettete dieStadt und zahlreiche Menschenleben. Auch wenn die historische Forschungnach 1990 vor allem <strong>den</strong> Personenkreis um Oberst Petershagen deutlicherhervorgehoben und <strong>den</strong> zu DDR-Zeiten aufgebauten Mythos h<strong>in</strong>terfragt hat,bleibt <strong>das</strong> verantwortungsbewusste Handeln von Oberst Rudolf Petershagenbestehen. 220 Aber auch <strong>in</strong> anderen Orten gelang es, häufig durch couragiertesAuftreten e<strong>in</strong>zelner E<strong>in</strong>wohner, Militärs zur kampflosen Übergabe zu bewegen,so <strong>in</strong> Neukalen, Tess<strong>in</strong> und Güstrow. 221ZusammenfassungDie regionalhistorische Bestandsaufnahme offenbart e<strong>in</strong> breites Spektrummilitärischer Gehorsamsverweigerung im Zweiten Weltkrieg. Die Motivefür Opposition und Verweigerung wurzelten <strong>in</strong> politischen oder religiösenAnschauungen, waren aber auch Ausdruck von Kriegsmüdigkeit, Angst undspontanem Protest. Ohne e<strong>in</strong>e genaue Beachtung der Begleitumstände bleibte<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>schätzung des Verhaltens der deutschen Soldaten und Offiziere jedochunvollständig. Dazu gehört, die Verfolgung von Gehorsamsverweigerung durchdie <strong>NS</strong>-Militärjustiz mitzu<strong>den</strong>ken. Auch sche<strong>in</strong>bar unpolitische Gründe füre<strong>in</strong>e Verweigerung verdienen Würdigung und Beachtung. Trotz der genanntenBeispiele fand nur e<strong>in</strong>e verschw<strong>in</strong><strong>den</strong>de M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> der Wehrmacht <strong>den</strong>Mut zu <strong>Widerstand</strong> und Verweigerung. Sie blieben Außenseiter <strong>in</strong> der Truppe,aber auch <strong>in</strong> der Zivilbevölkerung, <strong>in</strong> die sie häufig genug flüchteten. 220Matthiesen, Helge, Das Kriegsende 1945 und der Mythos von der kampflosen Übergabe,<strong>in</strong>: Wernicke, Horst (Hrsg.), Greifswald. Geschichte der Stadt, Schwer<strong>in</strong> 2000, S. 135-140.221Schultz-Naumann, Joachim, <strong>Mecklenburg</strong> 1945, Frankfurt/M. 1991, S. 198, 214 und 228ff.81


IV. E<strong>in</strong>zelschicksale aus demregionalen <strong>Widerstand</strong>Achim von Borries, BremenDas Ehepaar LachmundEs ist im H<strong>in</strong>blick auf dieses ema zunächst von e<strong>in</strong>er »Entdeckung« zusprechen; e<strong>in</strong>er »Entdeckung« nicht allerneuesten Datums, aber doch kaummehr als e<strong>in</strong> Jahrzehnt alt. 1993 erschien <strong>in</strong> Hamburg e<strong>in</strong>e umfangreicheStudie »Liberale im <strong>Widerstand</strong> – Die Rob<strong>in</strong>sohn-Strassmann-Gruppe 1934-1942«. Auf der Grundlage mehrjähriger Quellenforschung und zahlreicherpersönlicher Gespräche konnte der Autor, Horst Sass<strong>in</strong>, erstmals e<strong>in</strong> umfassendesBild e<strong>in</strong>er liberalen <strong>Widerstand</strong>sgruppe geben, die bis dah<strong>in</strong> so gut wieunbekannt geblieben war, mit Ausnahme e<strong>in</strong>es Beitrags von Wolfgang Benz<strong>in</strong> <strong>den</strong> »Vierteljahresheften für Zeitgeschichte« 1981. 222 Die »Entdeckung«dieser Gruppe schloss e<strong>in</strong>e Lücke im breiten Spektrum der <strong>Widerstand</strong>sforschung.Man hatte sich seit langem mit sozialistischem, kommunistischem,konservativem, christlichem <strong>Widerstand</strong> beschäftigt. Die Arbeit von Sass<strong>in</strong>rückte nun auch <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong> liberaler Demokraten <strong>in</strong>s Blickfeld. Die»Rob<strong>in</strong>sohn-Strassmann-Gruppe« war »die e<strong>in</strong>zige reichsweit angelegte liberaldemokratische<strong>Widerstand</strong>sgruppe von Dauer.« 223Das genannte Buch gibt auch wichtige Aufschlüsse über <strong>das</strong> Ehepaar Lachmund,<strong>das</strong> dieser Gruppe seit 1934 angehörte, ohne <strong>das</strong>s sich se<strong>in</strong> Engagementim <strong>Widerstand</strong> darauf beschränkt hätte. »Das Ehepaar Lachmund«: Das warenHans und Margarethe Lachmund, zwei starke eigenständige Persönlichkeiten,seit 1921 über e<strong>in</strong> halbes Jahrhundert <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ges<strong>in</strong>nungs- und Vertrauensgeme<strong>in</strong>schaftverbun<strong>den</strong>, die sich vor allem <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren des Hitlerreiches,aber auch, unter ganz neuen Umstän<strong>den</strong>, im ersten Nachkriegsjahrzehntbewähren sollte.Hans Lachmund (1892-1972), Sohn e<strong>in</strong>es Schwer<strong>in</strong>er Gymnasialprofessors,im Ersten Weltkrieg schwer verwundet, hatte sich nach dem Jurastudium <strong>in</strong>222Siehe Wolfgang Benz, E<strong>in</strong>e liberale <strong>Widerstand</strong>sgruppe und ihre Ziele. Hans Rob<strong>in</strong>sohnsDenkschrift aus dem Jahre 1939. In: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, Heft 3, 1981, S.437ff.223Horst R. Sass<strong>in</strong>, <strong>in</strong>: Lexikon des deutschen <strong>Widerstand</strong>s. Herausgegeben von Wolfgang Benzund Walter H. Pehle, Frankfurt a.M. 1994, S. 306.82


se<strong>in</strong>er Geburtsstadt als Rechtsanwalt niedergelassen. Der überzeugte Republikanerwurde bereits 1919 Mitglied der Deutschen Demokratischen Partei,deren Vorsitzender <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> er von 1925 bis 1929 war, und bald darauf auchder Deutschen Frie<strong>den</strong>sgesellschaft. Mit se<strong>in</strong>er Aktivität als Freimaurer warenzahlreiche Auslandskontakte, vor allem nach Frankreich, verbun<strong>den</strong>, die ihnnach 1933 <strong>den</strong> Nazis besonders »verdächtig« machten. 1929 als Oberjustizrat<strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>Mecklenburg</strong>ische Justizm<strong>in</strong>isterium berufen, trat Lachmund zwei Jahrespäter aus Enttäuschung über die Halbherzigkeit der Demokratischen Partei(jetzt: Deutsche Staatspartei) <strong>gegen</strong>über der allgeme<strong>in</strong>en Rechtsentwicklungzur SPD über.Margarethe Lachmund (1896-1985), <strong>in</strong> Wanzka, nahe Neustrelitz, geboren,e<strong>in</strong>er Pastorenfamilie entstammend, war nach dem Kriege zunächst Hauslehrer<strong>in</strong>auf dem Bernstorffschen Gute We<strong>den</strong>dorf gewesen. Nach kurzerMitgliedschaft <strong>in</strong> der Deutschnationalen Volkspartei, auf deren christlichsozialemFlügel, trat sie noch vor ihrem Mann <strong>in</strong> die SPD e<strong>in</strong>. Sie hat diesen<strong>in</strong> <strong>den</strong> 20er Jahren »l<strong>in</strong>ks überholt« und nach l<strong>in</strong>ks mitgezogen, berichtetihr Sohn Peter Lachmund. Wegweisend für ihr weiteres Leben wurde dieBegegnung mit englischen Quäkern, deren dogmenloses, tätiges, konsequentgewaltfreies Christentum sie tief bee<strong>in</strong>druckte und Mitglied der »ReligiösenGesellschaft der Freunde« wer<strong>den</strong> ließ. Dieser Zugehörigkeit zur <strong>in</strong>ternationalenQuäkergeme<strong>in</strong>schaft verdankte sie e<strong>in</strong>e Weltoffenheit, die <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren des<strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s besonders wichtig wurde.So hatten Hans und Margarethe Lachmund frühzeitig feste moralische undpolitische Überzeugungen. Ihnen blieben sie auch nach der nationalsozialistischen»Machtergreifung« treu, immun <strong>gegen</strong> die nationalen Suggestionen undIllusionen, die Selbsttäuschungen und Anpassungen <strong>in</strong> ihrem bürgerlichenUmfeld seit 1933.Solche Ges<strong>in</strong>nungsgegnerschaft der ersten Stunde war freilich noch nicht<strong>Widerstand</strong>. Margarethe Lachmund berichtete, sie hätten sich damals immerwieder gefragt: »Was bedeutet es, jetzt als Christ zu leben?« Den Gedanken anEmigration verwarfen sie, weil ihnen e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>nere Opposition <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> notwendig erschien. Doch es gab auch die Versuchung des Rückzugs<strong>in</strong> e<strong>in</strong> mehr oder weniger risikoloses ges<strong>in</strong>nungstreues Privatchristentum. AlsMargarethe Lachmund 1937 an der Weltkonferenz der Quäker <strong>in</strong> <strong>den</strong> USAteilnahm, wurde ihr diese »<strong>in</strong>nere Gefahr« klar, <strong>in</strong> der die deutschen Quäker»wie viele andere Anti-Nazis <strong>in</strong> Deutschland damals stan<strong>den</strong>, wenn wir unsdanach sehnten und immer wieder der Versuchung erlagen, Zuflucht <strong>in</strong> <strong>in</strong>nererEmigration zu suchen, um uns selber durch dies Zurückziehen aus allem83


normalen Leben zu retten. Würde e<strong>in</strong>e solche Haltung nicht <strong>in</strong> Wirklichkeitbedeuten, auf die Notwendigkeit zu verzichten, zugunsten aller ewigen Werte<strong>gegen</strong> <strong>das</strong> Übel, <strong>das</strong> geschah, Zeugnis abzulegen?« 224 Nur aktiver <strong>Widerstand</strong>konnte »Zeugnis« se<strong>in</strong>. <strong>Widerstand</strong> aber war nicht Sache e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>maligenEntschlusses, sondern verlangte immer neue Entscheidungen, e<strong>in</strong>e immererneuerte Bereitschaft zum Wagnis im Alltag des Hitlerreiches.Diesen Alltag hatten die Lachmunds <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> schnell kennen gelernt.Hans Lachmund wurde im April 1933 aus dem Justizdienst entlassen undzudem der Unterschlagung von Geldern der Frie<strong>den</strong>sgesellschaft beschuldigt.Das Ehepaar Lachmund nahm die rechtswidrige Entlassung nicht h<strong>in</strong>, und ihrE<strong>in</strong>spruch hatte zur Folge, <strong>das</strong>s sie aufgehoben, Hans Lachmund aber an <strong>das</strong>Amtsgericht War<strong>in</strong> strafversetzt wurde. Se<strong>in</strong>e Frau sah sich <strong>in</strong> der Schwer<strong>in</strong>erNazizeitung (»Niederdeutscher Beobachter«) an <strong>den</strong> Pranger gestellt, weil siee<strong>in</strong>em jungen Mann auf der Straße e<strong>in</strong>e noch nicht verbotene sozialistischeZeitung abgekauft hatte. Bespitzelung, Vernehmung, Hausdurchsuchunggehörten <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Jahren zu ihren Alltagserfahrungen.Schon 1934 schlossen sich Hans und Margarethe Lachmund der im selbenJahr von dem Hamburger Kaufmann Hans Rob<strong>in</strong>sohn (1897-1981) und demBerl<strong>in</strong>er Juristen Ernst Strassmann (1897-1958) gegründeten liberalen <strong>Widerstand</strong>sgruppean. Deren Keimzelle war der 1924 von Hans Rob<strong>in</strong>sohn unde<strong>in</strong>igen jungliberalen Ges<strong>in</strong>nungsfreun<strong>den</strong> <strong>in</strong> Hamburg <strong>in</strong>s Leben gerufene»Klub vom 3. Oktober«, e<strong>in</strong> Zusammenschluss junger, parteikritischer liberalerDemokraten, zu <strong>den</strong>en sich e<strong>in</strong>e Reihe gleichges<strong>in</strong>nter Sozialdemokraten gesellthatte. Hans Lachmund gehörte diesem Kreis bereits seit 1927 an.Die Rob<strong>in</strong>sohn-Strassmann-Gruppe bemühte sich seit 1934 um <strong>den</strong> Aufbaue<strong>in</strong>es Netzwerks von vertrauenswürdigen demokratischen Gegnern des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s, die nach dem erhofften Sturz des <strong>Regime</strong>s (durch die Wehrmacht)bereitstehen sollten, politische Verantwortung zu übernehmen. Es g<strong>in</strong>g um e<strong>in</strong>e»Kaderbildung« für <strong>den</strong> »Tag danach«. 225 Die Gruppe arbeitete strikt konspira-224Ansprache aus Anlass der Verleihung der Ehrendoktorwürde des Haverford College,Haverford/Pennsylvania, 15. 05. 1973. In: Margarethe Lachmund zum 80. Geburtstag. Wien1976, S. 38.225»Bis 1937 umfasste <strong>das</strong> illegale Verb<strong>in</strong>dungsnetz weite Teile Deutschlands. Stark ausgebauteGruppen entstan<strong>den</strong> bald <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und Hamburg; weitere Zentren gab es <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>(Lachmund), Mitteldeutschland (Hoernigk) und Nordbayern (Dehler) … Die Tätigkeit derGruppe bestand im Sammeln von Nachrichten, um <strong>das</strong> Informationsmonopol der Regierungzu brechen, im organisatorischen Ausbau, <strong>in</strong> der Hilfe für Verfolgte und <strong>in</strong> der Herstellung undPflege von Verb<strong>in</strong>dungen mit anderen <strong>Widerstand</strong>sgruppen, mit Personen im Regierungsapparatund mit Emigranten im Ausland.« Sass<strong>in</strong>, a.a.O., Anm. 223.84


tiv, verzichtete bewusst auf spektakuläre Aktionen, suchte aber auch Kontaktzu anderen <strong>Widerstand</strong>skreisen. Das politische Ziel sollte e<strong>in</strong>e demokratischeNeuordnung auf parlamentarischer Grundlage mit e<strong>in</strong>er <strong>gegen</strong>über »Weimar«gestärkten Exekutive und e<strong>in</strong>er starken sozialen Komponente se<strong>in</strong>. 226Hans Lachmund war e<strong>in</strong>e Führungsfigur der Gruppe <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> undVorpommern. Se<strong>in</strong>e zahlreichen persönlichen Verb<strong>in</strong>dungen halfen ihm beise<strong>in</strong>en Bemühungen um vorsichtige Ausweitung des Netzwerks im norddeutschenRaum. Kontaktpersonen gab es außerdem <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong>, Rostock,Wismar und Anklam. 227Margarethe Lachmund war 1934/1935 Hausmutter im Erholungsheim derenglischen Quäker <strong>in</strong> Bad Pyrmont, <strong>in</strong> dem auch Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s,unabhängig von ihrer politischen Ges<strong>in</strong>nung, Aufnahme und Hilfe fan<strong>den</strong>. Dortlernte Greta Lorke, die spätere Frau des kommunistischen <strong>Widerstand</strong>skämpfersAdam Kuckhoff (»Rote Kapelle«), sie kennen. In ihren Lebenser<strong>in</strong>nerungenberichtet sie, Margarethe Lachmunds Art sei von »sanfter Bestimmtheit« gewesen:»Sie verstand zu organisieren, ohne <strong>das</strong>s jemand es ständig bewundernund danke schön sagen musste… Sie tat für Verfolgte viel Gutes und immerauf e<strong>in</strong>e besonders vernünftige, die Zweckmäßigkeit prüfende Weise.« 228An dieser Stelle möchte ich ergänzend zum Begriff des »<strong>Widerstand</strong>es«<strong>den</strong> des »Anstands« e<strong>in</strong>führen, und zwar des »aktiven Anstands«, von demder amerikanische Historiker Fritz Stern <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Rede zum Ge<strong>den</strong>ken an dieGeschwister Scholl (München 1988) gesprochen hat: »Hat man <strong>das</strong> Erbe des<strong>Widerstand</strong>s <strong>gegen</strong> zwei deutsche Diktaturen genügend gepflegt? Dabei sollteman nicht nur an <strong>Widerstand</strong> <strong>den</strong>ken – im Leben der bedrückten Menschen hatder aktive Anstand von Mitbürgern bereits e<strong>in</strong>en großen Unterschied gemacht.Gerade die Menschen, die, weil sie nicht anders konnten, spontan aktivenAnstand bewiesen haben, die die Verfolgten und Verstoßenen besuchten undihnen geholfen haben – ihrer sollte man ge<strong>den</strong>ken.« 229 Anstand und <strong>Widerstand</strong>– beides bestimmte die Haltung Hans und Margarethe Lachmunds <strong>in</strong> <strong>den</strong>Jahren 1933-1945. »Alle vom Nazi-<strong>Regime</strong> Verfolgten durften sicher se<strong>in</strong>,jederzeit bei der Familie Lachmund Hilfe durch Rat und Tat zu f<strong>in</strong><strong>den</strong>, ohne226Siehe dazu die Denkschrift von Hans Rob<strong>in</strong>sohn. Vgl. Anm. 222.227E<strong>in</strong>e Liste der Mitglieder <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern bei Sass<strong>in</strong>, Liberale im <strong>Widerstand</strong>,Hamburg 1993, S. 393 u. S. 399/400.228Greta Kuckhoff: Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle. E<strong>in</strong> Lebensbericht. Berl<strong>in</strong> (Ost) 1972,S. 248. Greta Lorke heiratete 1937 Adam Kuckhoff, der 1943 h<strong>in</strong>gerichtet wurde.229Fritz Stern: Das fe<strong>in</strong>e Schweigen und se<strong>in</strong>e Folgen. In: Das fe<strong>in</strong>e Schweigen. HistorischeEssays. München 1999, S. 170.85


Rücksicht auf die Gefährdung ihrer eigenen und ihres K<strong>in</strong>des persönlicherSicherheit.« (Gertrud Luckner, 1949 230 )Nach der Pogromnacht vom 9. November 1938 war Margarethe Lachmundals Beauftragte des »Büros Grüber« für Pommern tätig, <strong>in</strong> engem Kontakt mitdem Internationalen Quäkerbüro <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und der (seit Juli 1939) »Reichsvere<strong>in</strong>igungder Ju<strong>den</strong> <strong>in</strong> Deutschland«. Es g<strong>in</strong>g dabei vor allem um Hilfefür »nichtarische Christen« und konfessionslose Ju<strong>den</strong>, die nun verzweifelte<strong>in</strong>e Auswanderungsmöglichkeit suchten. Gertrud Luckner sagt, MargaretheLachmund habe »<strong>den</strong> <strong>NS</strong>-Verfolgten schon vor der Deportation <strong>in</strong>tensiv undständig geholfen.« 2311934 war Hans Lachmund von War<strong>in</strong> an <strong>das</strong> Amtsgericht Anklam versetztwor<strong>den</strong>, und <strong>in</strong> Anklam lebten die Lachmunds bis Ende 1940. In der Nachtvom 12. auf <strong>den</strong> 13. Februar 1940 wur<strong>den</strong> mehrere hundert Ju<strong>den</strong> aus Stett<strong>in</strong>und Vorpommern aus ihren Wohnungen geholt, <strong>in</strong> Stett<strong>in</strong> zusammengeführtund mit e<strong>in</strong>em Sammeltransport nach Ostpolen, <strong>in</strong> <strong>den</strong> Distrikt Lubl<strong>in</strong>, deportiert.Dort fan<strong>den</strong> sie unter primitivsten Umstän<strong>den</strong> bei polnisch-jüdischenFamilien, die selbst <strong>in</strong> großer Armut lebten, Unterkunft. Es handelte sich umdie erste Ju<strong>den</strong>deportation aus dem Reichsgebiet <strong>in</strong> <strong>den</strong> Osten, anderthalbJahre vor Beg<strong>in</strong>n der systematischen Deportationen <strong>in</strong> die Vernichtungslager.Unter <strong>den</strong> Deportierten waren auch e<strong>in</strong>ige Anklamer, die die Lachmundsgut kannten.Nachdem Margarethe Lachmund am anderen Morgen von der Aktion erfahrenhatte, machte sie sich sofort auf <strong>den</strong> Weg nach Stett<strong>in</strong>, doch der Transportzugwar bereits abgefahren. Als nach e<strong>in</strong>igen Wochen die ersten Nachrichten ausOstpolen e<strong>in</strong>trafen, <strong>in</strong>formierte sie umgehend die jüdische Hilfsorganisation<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> und organisierte, mit anderen, e<strong>in</strong>e Hilfsaktion: Briefe, Päckchen,e<strong>in</strong>e Zeitlang auch kle<strong>in</strong>e Geldsendungen g<strong>in</strong>gen an die Deportierten, brachtenihnen praktische wie seelische Hilfe. 232 Im Herbst 1942 brach der Kontakt ab.»E<strong>in</strong>e letzte verzweifelte Karte« von Frau Cläre Silbermann, früher Anklam,meldete Margarethe Lachmund, im Frühsommer 1943, »<strong>das</strong>s sie ke<strong>in</strong>e Postvon mir mehr bekommen habe, von ihrem Mann getrennt wor<strong>den</strong> wäre – es230Nachlass Hans und Margarethe Lachmund im Landeshauptarchiv Schwer<strong>in</strong>.231Siehe: Lebenszeichen aus Piaski. Briefe Deportierter aus dem Distrikt Lubl<strong>in</strong> 1940-1943.Herausgegeben von Else Rosenfeld und Gertrud Luckner. München 1968, S. 14.232Siehe dazu <strong>den</strong> Brief von Anna Grüneberg an Margarethe Lachmund aus Piaski, 18.10.1941:»Ich sage es immer wieder, es lebt e<strong>in</strong> Gott, der uns Sie als schützender Engel gesandt hat. Wiehätten wir sonst wohl leben sollen, ohne Sie, liebe treue Hilfe…« (Nachlass LandeshauptarchivSchwer<strong>in</strong>)86


war <strong>das</strong> letzte Lebenszeichen aus dem Arbeitslager Trawniki, Kr. Lubl<strong>in</strong>.« Der1968 erschienene Band »Lebenszeichen aus Piaski« enthält auch e<strong>in</strong>e größereZahl von Briefen an Margarethe Lachmund. 233Hans Rob<strong>in</strong>sohn war Ende 1938 von Hamburg nach Dänemark emigriertund konnte sich 1943 von dort nach Schwe<strong>den</strong> retten. Er setzte vomskand<strong>in</strong>avischen Exil aus se<strong>in</strong>e <strong>Widerstand</strong>sarbeit fort, unter anderem durchBemühungen, <strong>in</strong> England Verständnis und Unterstützung für die deutscheOpposition zu gew<strong>in</strong>nen. Ernst Strassmann wurde 1942 verhaftet, und damit»endete die zentral organisierte Gruppenarbeit. Er blieb bis 1945 <strong>in</strong> Haft …E<strong>in</strong>zelpersonen und angeschlossene Lokalgruppen arbeiteten bis 1945 weiter.« 234Hans und Margarethe Lachmund suchten nun Kontakt zu anderen <strong>Widerstand</strong>skreisen,so zu der kommunistischen Anton Saefkow-Gruppe. Sie bliebenauch <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit dem Ehepaar Kuckhoff bis zu dessen Verhaftungim September 1942, nach der sie sich sofort bemühten, »me<strong>in</strong>en Eltern undunserm damals vierjährigen Jungen Hilfe zu leisten, obwohl unser Prozeß sostreng aufgefaßt wurde, <strong>das</strong>s bereits <strong>das</strong> Wissen darum als strafbare Handlunggalt.« (Greta Kuckhoff, 17.10.1949 235 )Seit Ende 1940 <strong>in</strong> Greifswald, erlebten die Lachmunds dort die weiterenKriegsjahre und <strong>den</strong> Zusammenbruch des Hitlerreiches. Nach der militärischenKatastrophe von Stal<strong>in</strong>grad 1943 bildete sich <strong>in</strong> Greifswald e<strong>in</strong> »NationalkomiteeFreies Deutschland«, <strong>das</strong> <strong>in</strong> Verb<strong>in</strong>dung mit der gleichnamigen, kommunistischgeleiteten Geheimorganisation <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> stand. Die Initiatoren warender Kommunist Hugo Pfeiffer und der Pastor Lic. Gottfried Holtz (Wieck-El<strong>den</strong>a). »Holtz gewann <strong>den</strong> Amtsgerichtsrat Hans Lachmund aus Greifswaldfür die Gruppe. Beide warben dann im Freundes- und Bekanntenkreis für dieIdeen des Nationalkomitees.« (Ernst-Joachim Krüger 236 ) In ihm fan<strong>den</strong> sich233Vgl. Anmerkung 231.234Sass<strong>in</strong>, Lexikon des <strong>Widerstand</strong>es, (wie Anm. 223), S. 308.235E<strong>in</strong>gabe von Greta Kuckhoff vom 17.10.1949, Nachlass Lachmund, LandeshauptarchivSchwer<strong>in</strong>. In ihren Er<strong>in</strong>nerungen schreibt Greta Kuckhoff: »Me<strong>in</strong> Mann hat sich mit ihm (HansLachmund) gründlich unterhalten… Was me<strong>in</strong> Mann besonders an Hans Lachmund schätzte,war se<strong>in</strong>e ruhige sachliche Art, Menschen und Gruppen zu beurteilen. Er wog nicht nur ihrePersönlichkeit und ihren E<strong>in</strong>fluß, er wog auch ihre Ziele und bedachte dabei <strong>in</strong>sbesondere dieBereitschaft, mit der Arbeiterklasse zusammenzugehen.« Kuckhoff, Rosenkranz, (wie Anm.228), S. 250/51.236Ernst-Joachim Krüger: Zum Kampf Greifswalder Antifaschisten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe des Nationalkomitees»Freies Deutschland« 1944/1945. In: Greifswald-Stralsunder Jahrbuch 1966, Bd.6, Rostock 1966, S. 67-78. »Zusammenkünfte der leiten<strong>den</strong> Mitglieder fan<strong>den</strong> bei Pastor Holtz<strong>in</strong> Wieck und während se<strong>in</strong>er Abwesenheit meist bei Lachmund oder bei Familie Pfeiffer statt.«S. 69. Margarethe Lachmung war <strong>in</strong> diese Aktivität e<strong>in</strong>bezogen.87


Persönlichkeiten verschie<strong>den</strong>er politischer Richtung und Weltanschauungzusammen, die von der Notwendigkeit überzeugt waren, <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> sobald wie möglich zu beseitigen und <strong>den</strong> Krieg zu been<strong>den</strong>. In e<strong>in</strong>em nach derÜbergabe der Stadt von Hans Lachmund mitverfassten Bericht wer<strong>den</strong> vierzigMitglieder <strong>in</strong> der Stadt Greifswald und zwölf e<strong>in</strong>er so genannten »Landgruppe«genannt. 237 Hans Lachmund gehörte zur Führungsgruppe. Der ihr ebenfallsangehörende Rechtsanwalt Graul schrieb 1946 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>gabe zugunstendes <strong>in</strong>zwischen Verhafteten: »Herr Lachmund war der geistige Führer und derMotor unser politischen Arbeit. Er hat unermüdlich <strong>in</strong> der Bekämpfung desNationalsozialismus gewirkt.« 238Diesem lokalen »Nationalkomitee Freies Deutschland« kommt <strong>das</strong> großeVerdienst zu, Greifswald <strong>das</strong> furchtbare Schicksal se<strong>in</strong>er Nachbarstadt Anklamerspart zu haben, die von der heranrücken<strong>den</strong> Roten Armee erst nach schwerenKämpfen e<strong>in</strong>genommen und dabei fast völlig zerstört wor<strong>den</strong> war. E<strong>in</strong>igeführende Mitglieder des »Nationalkomitees«, unter ihnen maßgeblich HansLachmund, und e<strong>in</strong>e Reihe anderer Persönlichkeiten aus der Stadt brachten<strong>den</strong> Kampfkommandanten, Oberst Rudolf Petershagen, dazu, <strong>in</strong> die kampfloseÜbergabe Greifswalds e<strong>in</strong>zuwilligen. Am 30. April 1945 zogen sowjetischeE<strong>in</strong>heiten <strong>in</strong> die Stadt e<strong>in</strong>, ohne <strong>das</strong>s es zu irgendwelchen Kampfhandlungenkam. Der Kommunist Hugo Pfeiffer schrieb 1949 über se<strong>in</strong>e Zusammenarbeitmit Hans Lachmund: »Er war mit mir <strong>in</strong> der Spitzengruppe (des NK) und (es)ist besonders se<strong>in</strong>er illegalen propagandistischen Arbeit zu danken gewesen,<strong>das</strong>s speziell die <strong>in</strong>tellektuellen Kreise sich vom Nazismus abwandten undallmählich zu kapitulieren bereit waren. An <strong>den</strong> (der) kampflosen Übergang(Übergabe) der Stadt an die Rote Armee und deren begeisterten Empfanghat er nicht nur <strong>den</strong> wesentlichen Anteil, sondern auch <strong>den</strong> gefährlichstenPosten, durch se<strong>in</strong>e Verhandlungen mit <strong>den</strong> militaristischen und nazistischenBehör<strong>den</strong>.« 239Der deutschjüdische Schriftsteller Hermann Broch hat als Emigrant <strong>in</strong><strong>den</strong> USA nach dem Ende des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s die deutschen Hitlergegner diewahren Hel<strong>den</strong> Deutschlands genannt und im H<strong>in</strong>blick auf <strong>den</strong> deutschen<strong>Widerstand</strong> 1933-1945 von e<strong>in</strong>em »Geheimbund der anständigen Leute«gesprochen. Von Hans und Margarethe Lachmund kann nichts Ehrenvolleresgesagt wer<strong>den</strong>, als <strong>das</strong>s auch sie diesem »Geheimbund der anständigen Leute«237Nachlass Lachmund Landeshauptarchiv Schwer<strong>in</strong>.238Ebenda.239Ebenda.88


angehört haben, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Jahrzwölft, <strong>in</strong> dem <strong>Widerstand</strong> und Anstand wederselbstverständlich noch gefahrlos waren.NachbemerkungHans Lachmund wurde am 8. Mai 1945 im E<strong>in</strong>verständnis mit dem sowjetischenOrtskommandanten zum ehrenamtlichen Beigeordneten der Stadt Greifswald ernannt.Nur drei Wochen später, <strong>in</strong> der Nacht vom 27. auf <strong>den</strong> 28. Mai 1945, nahmenihn Angehörige des sowjetischen Geheimdienstes ohne Angabe von Grün<strong>den</strong> <strong>in</strong>se<strong>in</strong>er Wohnung fest. Nach längerer Inhaftierung im Internierungslager Fünfeichenund <strong>in</strong> Buchenwald der DDR-Justiz übergeben, kam er 1950 <strong>in</strong> <strong>das</strong> berüchtigteZuchthaus Waldheim, noch immer ohne Anklage und Prozess. Zahlreiche E<strong>in</strong>gabenvon Hitlergegnern aus <strong>den</strong> Jahren 1933-1945 bezeugten se<strong>in</strong> Engagement im<strong>Widerstand</strong> und se<strong>in</strong>e Integrität. Ungeachtet dessen verurteilte ihn die 8. GroßeStrafkammer des Landgerichts Chemnitz am 9. Mai 1950 zu 25 Jahren Zuchthaus– wegen angeblicher Spitzeltätigkeit für die Gestapo auf Reisen zu französischenFreimaurern. 1952 wurde die Strafe auf 10 Jahre herabgesetzt, und 1954 begnadigteihn der damalige Präsi<strong>den</strong>t der DDR, Wilhelm Pieck. Nach se<strong>in</strong>er Entlassung ausWaldheim lebte Hans Lachmund bis zu se<strong>in</strong>em Tode 1972 <strong>in</strong> Westberl<strong>in</strong>, wiederals Jurist tätig wie auch als Freimaurer aktiv.Margarethe Lachmund war von Sommer 1945 bis Ende 1947 unter schwierigstenNachkriegsbed<strong>in</strong>gungen für die Sozialfürsorge der Stadt Greifswald verantwortlich.Von 1948 bis 1954 leitete sie <strong>das</strong> zentrale Büro der deutschen Quäker <strong>in</strong>Ostberl<strong>in</strong>, danach bis 1962 <strong>den</strong> Frie<strong>den</strong>sausschuss der »Religiösen Gesellschaft derFreunde«(Quäker). Neben ihrer täglichen, im buchstäblichen S<strong>in</strong>ne »grenzüberschreiten<strong>den</strong>«Frie<strong>den</strong>sarbeit im geteilten Berl<strong>in</strong> des Kalten Krieges setzte sie sich vor allemfür e<strong>in</strong>e deutsche Entspannungs- und Frie<strong>den</strong>spolitik und e<strong>in</strong>e deutsch-polnischeAussöhnung e<strong>in</strong>. Sie starb 1985 <strong>in</strong> Köln. Ihre Urne wurde, wie die ihres Mannes,auf dem alten Quäkerfriedhof <strong>in</strong> Bad Pyrmont beigesetzt. 89


Mario Niemann, RostockDer 20. Juli 1944 <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und PommernAls am 20. Juli 1944 mittags zwischen 12.30 Uhr und 12.40 Uhr <strong>in</strong> HitlersHauptquartier, der »Wolfsschanze« bei Rastenburg <strong>in</strong> Ostpreußen, die vonClaus Schenk Graf von Stauffenberg platzierte Bombe explodierte, war, wieder Mitverschwörer Henn<strong>in</strong>g von Tresckow es formuliert hat, der »entschei<strong>den</strong>deWurf gewagt«. 240Im Wehrkreis II, der Pommern und <strong>Mecklenburg</strong> umfasste und dessenKommando <strong>in</strong> Stett<strong>in</strong> stationiert war, blieb es an diesem Tag ruhig. 241 DerBefehlshaber dieses Wehrkreises, General der Infanterie Werner Kienitz, befandsich auf e<strong>in</strong>er Feier des pommerschen Gauleiters Franz Schwede-Coburg, derse<strong>in</strong> 10-jähriges Amtsjubiläum beg<strong>in</strong>g. Hier erfuhr er von dem Attentat undverließ kurz nach 20 Uhr die Festversammlung im Gauhaus. General Kienitzwurde kurz nache<strong>in</strong>ander von Generalfeldmarschall Keitel aus der »Wolfsschanze«und von Generaloberst Hoepner und General Olbricht aus dem Bendlerblock,dem Zentrum der Verschwörer, angerufen. Obwohl Hoepner und Olbricht aufder Ausführung der mittlerweile herausgegebenen Umsturzbefehle bestan<strong>den</strong>,hielt sich Kienitz an die ent<strong>gegen</strong>lauten<strong>den</strong> Befehle Keitels, des wesentlichhöheren Vorgesetzten. Diese Entscheidung erläuterte er <strong>den</strong> <strong>in</strong>zwischen imWehrkreiskommando versammelten Generalen und Kommandeuren, die diesakzeptierten. So konnten die Verschwörer mit ke<strong>in</strong>er Unterstützung durchdie Armee im Wehrkreis II rechnen.In <strong>Mecklenburg</strong> war es der Gauleiter Friedrich Hildebrandt, der sichwährend e<strong>in</strong>er Zusammenkunft der Politischen Leiter der <strong>NS</strong>DAP und ihrerGliederungen am 24. Juli 1944 <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong> zu versichern beeilte, »daß <strong>in</strong><strong>Mecklenburg</strong> <strong>in</strong> dieser ernsten Stunde nicht e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Fall zweifelhafterHaltung zu verzeichnen« gewesen sei. 242 Dies war e<strong>in</strong>e <strong>in</strong> willfährigem Gehorsamaufgestellte Behauptung wider besseres Wissen. Auch die relative Ruhe<strong>in</strong> Pommern war nur kurzzeitig. Es gab sowohl <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> als auch <strong>in</strong>Pommern Personen, die als Gegner des Nationalsozialismus und als direktam Staatsstreich Beteiligte <strong>in</strong> Ersche<strong>in</strong>ung getreten s<strong>in</strong>d.240Schlabrendorff, Fabian von, Offiziere <strong>gegen</strong> Hitler, Zürich/Frankfurt (M.) 1946, S. 138.241Das Folgende nach: Hoffmann, Peter, <strong>Widerstand</strong> – Staatsstreich – Attentat. Der Kampf derOpposition <strong>gegen</strong> Hitler, München 1969, S. 523-526.242Zitiert nach: Urbschat, Kerst<strong>in</strong>, Persönlichkeiten des 20. Juli 1944 <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> undPommern, <strong>in</strong>: Buchste<strong>in</strong>er, Ilona (Hrsg.), Der 20. Juli 1944. Er<strong>in</strong>nerung und Mahnung, Rostock1995, S. 45.90


An führender Stelle ist, nebenUlrich-Wilhelm Graf Schwer<strong>in</strong> vonSchwanenfeld, zweifelsohne Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburgzu nennen. 243 Fritz-Dietlof Graf vonder Schulenburg entstammte e<strong>in</strong>erbegüterten, streng konservativenAdelsfamilie; ihr gehörte der rund2.700 ha umfassende GutskomplexTressow im Kreis Grevesmühlen.Nach dem Jurastudium schlugSchulenburg e<strong>in</strong>e Laufbahn <strong>in</strong> derVerwaltung e<strong>in</strong> und wurde im Jahre1933 Regierungsrat. Er galt als bedeutenderVerwaltungsfachmann. BereitsAnfang 1932 wurde Schulenburg,wie nahezu se<strong>in</strong>e gesamte Familie,Mitglied der <strong>NS</strong>DAP und überzeugterNationalsozialist. Se<strong>in</strong> beruflicherFritz-Dietlof Graf von der Schulenburg(1902-1944).Aufstieg (1937 Polizeivizepräsi<strong>den</strong>t von Berl<strong>in</strong>, 1941 Regierungspräsi<strong>den</strong>t)war begleitet von e<strong>in</strong>er zunehmen<strong>den</strong> Desillusionierung über Charakter undZiele des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s.Die sich verstärkende Ablehnung des totalitären Staates und se<strong>in</strong>er Politik ließenihn schon früh zu <strong>den</strong> Kreisen der Verschwörer stoßen. Bereits vom Frühjahr 1939ist folgender Ausspruch von ihm überliefert: »Narren und Verbrecher regierenuns!« 244 Nachdem sich Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg zum Schritt andie Seite der Verschwörer entschlossen hatte, leistete er hier Wesentliches un<strong>den</strong>twickelte sich zu e<strong>in</strong>em der exponiertesten Akteure. Schulenburg war »Motorund Psychologe des 20. Juli, der, wie wohl ke<strong>in</strong> anderer, durch Vermittlung,Verb<strong>in</strong>dung und Kompromiss die Bildung des <strong>Widerstand</strong>szentrums und Ko-243Zu se<strong>in</strong>er Person vgl. etwa He<strong>in</strong>emann, Ulrich, E<strong>in</strong> konservativer Rebell. Fritz-Dietlof Grafvon der Schulenburg und der 20. Juli, Berl<strong>in</strong> 1994; Liebchen, Norbert, Fritz-Dietlof Graf vonder Schulenburg und se<strong>in</strong> Weg zum 20. Juli 1944 – Über Erbe und Schuld zu nationalsozialistischmotiviertem <strong>Widerstand</strong>, phil. Diss., Rostock 1993; Schwer<strong>in</strong>, Detlef Graf von, »Danns<strong>in</strong>d’s die besten Köpfe, die man henkt«. Die junge Generation im deutschen <strong>Widerstand</strong>,München/Zürich 1991.244Krebs, Albert, Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg. Zwischen Staatsraison und Hochverrat,Hamburg 1964, S. 175.91


ord<strong>in</strong>ierung der Vorbereitungen erst möglich machte«. 245 Es war »SchulenburgsRolle als Organisator der Zusammenarbeit zwischen militärischem Zentrumund zivilen Kreisen des <strong>Widerstand</strong>es, die Stauffenberg <strong>in</strong> <strong>den</strong> bereits ausgearbeitetenStaatsstreichplänen zur Schlüsselfigur der Aktion wer<strong>den</strong> ließ.« 246Nach dem Scheitern des Attentates noch am Abend des 20. Juli verhaftet,konnte er mit ke<strong>in</strong>em Pardon rechnen. Im Prozess vor dem Volksgerichtshof am10. August brachte er <strong>den</strong> Mut auf, se<strong>in</strong>en Richtern ent<strong>gegen</strong>zusetzen: »Wirhaben diese Tat auf uns genommen, um Deutschland vor e<strong>in</strong>em namenlosenElend zu bewahren. Ich b<strong>in</strong> mir klar, daß ich daraufh<strong>in</strong> gehenkt werde, bereueme<strong>in</strong>e Tat aber nicht und hoffe, daß sie e<strong>in</strong> anderer, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em glücklicherenAugenblick, durchführen wird.« 247 Fritz-Dietlof Graf von der Schulenburg wur<strong>den</strong>och am Abend des 10. August 1944 <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Plötzensee h<strong>in</strong>gerichtet.E<strong>in</strong>e zentrale Figur gerade für <strong>Mecklenburg</strong> stellte OberlandforstmeisterAchim Freiherr von Willisen dar. 248 Im Jahre 1900 auf dem elterlichen GutBärenwalde <strong>in</strong> Westpreußen geboren,schlug er e<strong>in</strong>e forstwissenschaftlicheLaufbahn e<strong>in</strong> und avancierte nachdem Studium 1925 zum preußischenForstassessor. Bereits relativ früh setztebei ihm die Erkenntnis e<strong>in</strong>, <strong>das</strong>sDeutschland zu e<strong>in</strong>em Unrechtsstaatverkommen war. Die Aversion <strong>gegen</strong><strong>den</strong> <strong>NS</strong>-Staat hatte auch persönlicheGründe. In Zusammenhang mit <strong>den</strong>Ereignissen des »Röhm-Putsches«am 30. Juni 1934 war e<strong>in</strong> von ihmsehr geschätzter Verwandter, Oberregierungsratvon Bose, von der SSermordet wor<strong>den</strong>. Willisen zog sichzurück und übernahm e<strong>in</strong> Forstamt<strong>in</strong> der Uckermark. Für ihn selbstvöllig überraschend wurde er zum 1. Achim Freiherr von Willisen (1900-1983).245Liebchen, S. 254.246Ebenda, S. 223.247Zitiert nach Jahnke, Karl He<strong>in</strong>z, Gegen Hitler. Gegner und Verfolgte des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s <strong>in</strong><strong>Mecklenburg</strong> 1933-1945, Rostock 1994, S. 24.248Das Folgende nach: Maltzan, Albrecht Freiherr von, Oberlandforstmeister Achim Freiherrvon Willisen 1900-1983, <strong>in</strong>: Stier und Greif, Schwer<strong>in</strong> 1995, S. 47-50.92


April 1939 <strong>in</strong> <strong>das</strong> Reichswirtschaftsm<strong>in</strong>isterium versetzt und übernahm dortals Oberforstmeister <strong>den</strong> Bereich Holzwirtschaft. Hier traf er mit dem Regierungspräsi<strong>den</strong>tenFritz-Dietlof Graf von der Schulenburg zusammen, mit demer bald vertraut wurde. Am 1. Juli 1943 zum Oberlandforstmeister ernannt,übernahm er die Leitung der mecklenburgischen Landesforstverwaltung <strong>in</strong>Schwer<strong>in</strong>. Hier traf sich Freiherr von Willisen des Öfteren mit Schulenburg.Dieser »bat Willisen um se<strong>in</strong>e Mitarbeit mit dem Vorbehalt, daß noch Goerdelerund Beck se<strong>in</strong>em Vorschlag zustimmen müßten. (…) Von Berl<strong>in</strong> austeilte Schulenburg dann Willisen (…) telegraphisch mit, daß Beck/Goerdelermit ihm als Politischen Beauftragten e<strong>in</strong>verstan<strong>den</strong> seien.« 249Den Politischen Beauftragten war als Berater der Verb<strong>in</strong>dungsoffiziere undder Befehlshaber <strong>in</strong> <strong>den</strong> Wehrkreisen für <strong>den</strong> Tag des Staatsstreiches und danache<strong>in</strong>e ganz entschei<strong>den</strong>de Rolle zugedacht. Weiterh<strong>in</strong> traf sich Willisen mit deme<strong>in</strong>stigen Gewerkschaftsführer und Sozialdemokraten Wilhelm Leuschner,der als Vizekanzler und Reichs<strong>in</strong>nenm<strong>in</strong>ister vorgesehen war und für diesenFall Willisen als Oberpräsi<strong>den</strong>ten <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> haben wollte. Freiherr vonWillisen erklärte sich zur Mitarbeit bereit. Willisen wurde noch <strong>in</strong> der Nachtvom 20. zum 21. Juli 1944 zum Gauleiter Hildebrandt beordert und amTag darauf verhaftet. Da der Gestapo die Liste der Verb<strong>in</strong>dungsoffiziere undPolitischen Beauftragten <strong>in</strong> die Hände gefallen war, musste sich Willisen <strong>in</strong>Schwer<strong>in</strong> wochenlangen Verhören durch <strong>den</strong> dortigen Gestapo-Chef Oldachunterziehen. Ihm war aber nicht nachzuweisen, <strong>das</strong>s er von se<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>setzungals Politischer Beauftragter unterrichtet gewesen ist, und so musste er nache<strong>in</strong>igen Wochen wieder freigesetzt wer<strong>den</strong>. Schulenburg selbst hatte bei se<strong>in</strong>erVernehmung zu Protokoll gegeben, daß die Politischen Beauftragten »nur zumTeil über die ihnen zugedachte Rolle unterrichtet waren.« 250 Diese Aussageund die Zurückhaltung der anderen Beteiligten retteten Achim Freiherr vonWillisen vermutlich <strong>das</strong> Leben. 251Hans-Jürgen Graf von Blumenthal, e<strong>in</strong> weiterer Verschwörer, war Major imGeneralstab. 252 Er hatte vor se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> die Wehrmacht mit <strong>den</strong> Zielendes Nationalsozialismus sympathisiert und ist sogar Sturmbannführer der SA249Schwer<strong>in</strong>, Dann s<strong>in</strong>d´s die besten Köpfe (wie Anm. 243), S. 340.250Ebd.251Achim Freiherr von Willisen übernahm nach dem Krieg <strong>das</strong> niedersächsische Forstamt Re<strong>in</strong>hausenbei Gött<strong>in</strong>gen und wurde hier 1964 pensioniert. Er starb am 5. April 1983 <strong>in</strong> München.Vgl. Maltzan, (wie Anm. 248), S. 49 f.252Das folgende nach: Ste<strong>in</strong>bach, Peter/Tuchel, Johannes (Hrsg.), Lexikon des <strong>Widerstand</strong>es1933-1945, München 1994, S. 26 f.93


gewesen. 1938 zählte er jedoch bereitszu e<strong>in</strong>er militärischen Verschwörergruppe,die auf Betreiben von HansOster und Erw<strong>in</strong> von Witzleben imFalle e<strong>in</strong>es Staatsstreichs Hitler verhaftensollte. Blumenthal blieb <strong>in</strong> <strong>den</strong>folgen<strong>den</strong> Jahren weiterh<strong>in</strong> mit <strong>den</strong><strong>Widerstand</strong>skreisen <strong>in</strong> der Abwehrunter Admiral Wilhelm Canaris undmit der militärischen Opposition <strong>in</strong>Kontakt. Im Jahre 1943 war er, nach<strong>den</strong> schweren Angriffen auf Berl<strong>in</strong>,mit se<strong>in</strong>er Familie nach Kl<strong>in</strong>k beiNeustrelitz, auf <strong>das</strong> Gut se<strong>in</strong>er Frau,übergesiedelt. Nach e<strong>in</strong>er schwerenVerwundung stellte er sich 1944als Gruppenleiter Ersatzwesen undAllgeme<strong>in</strong>e Truppenangelegenheitenim Allgeme<strong>in</strong>en Heeresamt für dieVerschwörer als Verb<strong>in</strong>dungsoffizier im Wehrkreis II zur Verfügung. Am 23.Juli 1944 von der Gestapo verhaftet und gefoltert, verurteilte ihn der Volksgerichtshofam 13. Oktober 1944 zum Tode. Das Urteil ist noch am selbenTag <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Plötzensee vollstreckt wor<strong>den</strong>.Mit se<strong>in</strong>em Leben büßen musste auch Adolf Friedrich Graf von Schack,e<strong>in</strong> wenig bekannter Beteiligter am 20. Juli 1944 aus <strong>Mecklenburg</strong>. Graf vonSchack besaß e<strong>in</strong> Gut <strong>in</strong> Zülow bei Schwer<strong>in</strong>, wo er auch se<strong>in</strong>en Wohnsitzhatte. Im Jahre 1939 zur Wehrmacht e<strong>in</strong>gezogen, folgte 1943 die Versetzungan die Stadtkommandantur Berl<strong>in</strong>. Dort gehörte der mittlerweile zum Majorbeförderte Graf von Schack zum Stab des Stadtkommandanten GeneralleutnantPaul von Hase und war hier Leiter der Organisationsabteilung. Über diekonkrete Beteiligung Graf von Schacks an <strong>den</strong> Ereignissen des 20. Juli 1944ist wenig bekannt. »Ob er erst durch se<strong>in</strong>e Versetzung nach Berl<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stabdes Stadtkommandanten von Hase, der schon 1938 an <strong>den</strong> Vorbereitungenzur Festnahme Hitlers beteiligt war, mit dem <strong>Widerstand</strong> <strong>in</strong> Berührungkam, oder schon vorher <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er der zahlreichen oppositionellen Gruppenaktiv war, ist nicht überliefert. Die von Hase unterstellten Truppen sollten <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong> <strong>das</strong> Funkhaus besetzen und Goebbels verhaften, was beides scheiterte.E<strong>in</strong>em überlieferten Bericht zufolge war Schack bei der Besprechung <strong>in</strong> der94Hans-Jürgen Graf von Blumenthal(1907-1944).


Stadtkommandantur dabei, als dieBefehle zur Operation ›Walküre‹ausgegeben wur<strong>den</strong>.« 253Er arbeitete am Tag des Attentateseng mit dem Verschwörer Generalleutnantvon Hase zusammen. Alsdeutlich wurde, <strong>das</strong>s der Umsturzversuchscheitert, gelang es von Schack,belastende Papiere zu vernichten. 254Noch <strong>in</strong> der Nacht vom 20. zum21. Juli wurde Generalleutnant vonHase verhaftet, am Tag darauf auchGraf von Schack. Er wurde vor demberüchtigten Volksgerichtshof wegenHoch- und Landesverrats angeklagtund am 10. Oktober 1944 zum Todeverurteilt. Am 15. Januar 1945 wurdeAdolf Friedrich Graf von Schackim Zuchthaus Bran<strong>den</strong>burg-Gör<strong>den</strong>erschossen.Adolf-Friedrich Graf von Schack(1888-1945).Ewald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong>, <strong>in</strong> Groß-Dubberow im äußersten Südosten desBelgarder Kreises geboren, war e<strong>in</strong>er der kompromisslosesten Hitlergegner vonAnfang an und soll hier stellvertretend für <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong> aus Pommern genanntwer<strong>den</strong>. 255 Als e<strong>in</strong>er von wenigen befasste er sich <strong>in</strong>tensiv mit <strong>den</strong> Schriftenführender Nationalsozialisten, nachdem diese durch die Reichstagswahlen vom14. September 1930 e<strong>in</strong>en enormen Aufschwung erlebt hatten. Diese Studienzerstörten jede Illusion und trieben Kleist zu vorbehaltlosem <strong>Widerstand</strong>. ImJahre 1932 brachte Kleist se<strong>in</strong>e Broschüre »Der Nationalsozialismus – e<strong>in</strong>eGefahr« heraus, die auch vom persönlichen Mut dieses konservativen Mon-25320. Juli 1944. E<strong>in</strong>e Ausstellung im Historischen Museum Schwer<strong>in</strong> 19. Juli - 28. August1994, Schwer<strong>in</strong> 1994, S. 10. Durch die Operation »Walküre« versuchten die Verschwörer,die faktische Macht <strong>in</strong> Deutschland zu übernehmen, <strong>in</strong>dem wichtige nationalsozialistischeDienststellen und Verbände der SS ausgeschaltet wer<strong>den</strong> sollten. General Paul von Hase (1885-1944) wurde wegen se<strong>in</strong>er Beteiligung am 20. Juli zum Tode verurteilt und am 9. August 1944h<strong>in</strong>gerichtet.254Hoffmann, (wie Anm. 241), S. 608.255Das Folgende nach: Scheurig, Bodo, Ewald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Konservativer <strong>gegen</strong>Hitler, Berl<strong>in</strong> u. a. 1994.95


archisten und Gegners der WeimarerDemokratie zeugt. Die Nationalsozialistenhatten ihn natürlich längstim Blick. In der Nacht vom 9. zum10. April 1933 erfolgte die erste vonmehreren Hausdurchsuchungen aufse<strong>in</strong>em Gut; e<strong>in</strong>e Schutzhaft schlosssich an. Mit knapper Not konnte erder Verhaftung am 30. Juni 1934im Zuge des »Röhm-Putsches«entkommen.In der Folgezeit knüpfte Kleist-Schmenz<strong>in</strong> wichtige Kontakte zuverschie<strong>den</strong>en <strong>Regime</strong>gegnern.Er war auch weiterh<strong>in</strong> bereit, sichpersönlich und aktiv am <strong>Widerstand</strong>zu beteiligen. So reiste er im August1938 als Emissär im Auftrage Becksnach England und e<strong>in</strong> Jahr späterEwald von Kleist-Schmenz<strong>in</strong>(1890-1945).nach Stockholm. Se<strong>in</strong>e Bemühungen, <strong>den</strong> Ausbruch des Krieges zu verh<strong>in</strong>dern,schlugen jedoch fehl. Kleist-Schmenz<strong>in</strong> knüpfte Kontakte zum engerenKreis der Verschwörer, so zu Carl Goerdeler und General Friedrich Olbricht.Goerdeler selbst wollte Kleist nach dem Umsturz als Politischen Beauftragtenfür Pommern e<strong>in</strong>setzen.Am Tage nach dem Attentat wurde Kleist-Schmenz<strong>in</strong>, der nicht <strong>in</strong> die unmittelbarenVorbereitungen des Staatsstreichs e<strong>in</strong>geweiht war, verhaftet undverhört. Am 3. Februar 1945 fand se<strong>in</strong>e Verhandlung vor dem Volksgerichtshofunter der Anklage des Hoch- und Landesverrats statt. Er brachte <strong>den</strong> Mutauf, dem Präsi<strong>den</strong>ten des Volksgerichthofes Roland Freisler ent<strong>gegen</strong>zusetzen:»Jawohl, ich habe Hochverrat getrieben seit dem 30. Januar 1933, immerund mit allen Mitteln. Ich habe aus me<strong>in</strong>em Kampf <strong>gegen</strong> Hitler und <strong>den</strong>Nationalsozialismus nie e<strong>in</strong> Hehl gemacht. Ich halte diesen Kampf für e<strong>in</strong>von Gott verordnetes Gebot. Gott alle<strong>in</strong> wird me<strong>in</strong> Richter se<strong>in</strong>.« 256 Am 15.März 1945 zum Tode verurteilt, wurde er noch am 9. April 1945 <strong>in</strong> Plötzenseeh<strong>in</strong>gerichtet.256Ebd., S. 192.96


Se<strong>in</strong> Sohn, der Oberleutnant Ewald-He<strong>in</strong>rich von Kleist-Schmenz<strong>in</strong>, wurdevon Schulenburg persönlich <strong>in</strong> die Attentatspläne e<strong>in</strong>geweiht und mit Stauffenbergzusammengebracht. 257 Schulenburg und Schwer<strong>in</strong> kannten ihn seitlängerem aus dem Potsdamer Infanterie-<strong>Regime</strong>nt Nr. 9, er galt als Protegévon Schulenburg. Ewald-He<strong>in</strong>rich von Kleist-Schmenz<strong>in</strong> war zeitweise alspotenzieller Attentäter vorgesehen und fand se<strong>in</strong>en Platz im militärischen<strong>Widerstand</strong> im Umfeld Schulenburgs. Anfang Februar 1944 war e<strong>in</strong>e Uniformvorführunggeplant, auf der Kleist-Schmenz<strong>in</strong> sich mit Hitler zusammen<strong>in</strong> die Luft sprengen sollte. Stauffenberg trat an Kleist mit der Frage heran,ob er dazu bereit wäre. Dieser beriet sich mit se<strong>in</strong>em Vater, der ihm sagte, erdürfe sich ke<strong>in</strong>esfalls die Gelegenheit zur Erfüllung e<strong>in</strong>er solchen entschei<strong>den</strong><strong>den</strong>Aufgabe entgehen lassen. Kleist sagte daraufh<strong>in</strong> zu, jedoch kam es zudieser Vorführung nicht. Am 20. Juli 1944 hielt sich Kleist-Schmenz<strong>in</strong> alsOrdonnanzoffizier im Bendlerblock bei <strong>den</strong> Verschwörern auf. Hier stander Schulenburg bei und half, <strong>den</strong> widerspenstigen Generalobersten Frommfestzusetzen und e<strong>in</strong>en SS-Oberführer, der Stauffenberg verhaften sollte, zuentwaffnen. Er besetzte auch <strong>den</strong> Ausgang des Bendlerblockes und konnte soe<strong>in</strong>en General festhalten, der sich e<strong>in</strong>er Teilnahme am Staatsstreich verweigerteund die Bendlerstraße eilig verlassen wollte. Nach dem endgültigen Scheiterndes Attentates unternahm Kleist-Schmenz<strong>in</strong> zwei Fluchtversuche, wurde abernoch im Bendlerblock verhaftet. Er konnte <strong>in</strong> <strong>den</strong> folgen<strong>den</strong> Wochen se<strong>in</strong>eAktivität im <strong>Widerstand</strong> vertuschen. Das Ermittlungsverfahren <strong>gegen</strong> ihnwurde am 12. Dezember 1944 e<strong>in</strong>gestellt. Bis zum Kriegsende an der Fronte<strong>in</strong>gesetzt, hat er im Gegensatz zu se<strong>in</strong>em Vater <strong>das</strong> Dritte Reich überlebt.Nicht nur Militärs, sondern auch Zivilisten waren <strong>in</strong> die Attentatsplänee<strong>in</strong>geweiht. Hier ist <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie Willy Jesse, seit 1932 Bezirkssekretär undBezirksvorsitzender der SPD <strong>Mecklenburg</strong>-Lübeck, zu nennen. 258 Jesse wurdeum die Jahreswende 1942/43 von Julius Leber und Gustav Dahrendorf, beideTeilnehmer des Kreisauer Kreises, <strong>in</strong> die Pläne des Staatsstreiches e<strong>in</strong>geweiht.Wie weit er jedoch von <strong>den</strong> konkreten Planungen und Vorbereitungen wusste,ist nicht genau bekannt. Jesse zog im Frühsommer 1944 se<strong>in</strong>e ParteifreundeAlbert Schulz, Karl Schröder und He<strong>in</strong>rich Beese <strong>in</strong>s Vertrauen und unterrichtetesie darüber, <strong>das</strong>s bald e<strong>in</strong>e Aktion <strong>gegen</strong> Hitler unternommen würde.257Das Folgende nach: Hoffmann, (wie Anm. 241), passim.258Das Folgende nach: Müller, Werner, Opposition und Verfolgung, <strong>in</strong>: Müller, Werner/Mrotzek, Fred/Köllner, Johannes (Hrsg.), Die Geschichte der SPD <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Vorpommern,Bonn 2002, S. 153-174, hier S. 169-173.97


Die Genannten verstan<strong>den</strong> sich alsUntergliederung des <strong>Widerstand</strong>skreisesum Julius Leber, zu dem Jesse<strong>den</strong> Kontakt hielt. Im Falle desGel<strong>in</strong>gens des Staatsstreiches wäreWilli Jesse Zivilbevollmächtigter für<strong>Mecklenburg</strong> gewor<strong>den</strong>.Die Reaktion des nationalsozialistischenStaates auf <strong>das</strong> Attentat vom20. Juli 1944 erfolgte umgehend.Noch <strong>in</strong> der Nacht des 20. Juli1944 wandte sich Hitler <strong>in</strong> e<strong>in</strong>erRundfunkansprache mit folgen<strong>den</strong>Worten an <strong>das</strong> deutsche Volk:»E<strong>in</strong>e ganz kle<strong>in</strong>e Clique ehrgeiziger,gewissenloser und zugleichverbrecherischer, dummer Offiziere Willi Jesse (1897-1971).hat e<strong>in</strong> Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir<strong>den</strong> Stab praktisch der deutschen Wehrmachtführung auszurotten. (…) Eshat sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Stunde, <strong>in</strong> der die deutschen Armeen <strong>in</strong> schwerstem R<strong>in</strong>genstehen, ähnlich wie <strong>in</strong> Italien, nun auch <strong>in</strong> Deutschland e<strong>in</strong>e ganz kle<strong>in</strong>eGruppe gefun<strong>den</strong>, die nun glaubte, wie im Jahre 1918 <strong>den</strong> Dolchstoß <strong>in</strong> <strong>den</strong>Rücken führen zu können. (…) Der Kreis, <strong>den</strong> diese Usurpatoren darstellen,ist e<strong>in</strong> <strong>den</strong>kbar kle<strong>in</strong>er. (…) Es ist e<strong>in</strong> ganz kle<strong>in</strong>er Klüngel verbrecherischerElemente, die jetzt unbarmherzig ausgerottet wer<strong>den</strong>. (…) Diesmal wirdnun so abgerechnet, wie wir <strong>das</strong> als Nationalsozialisten gewohnt s<strong>in</strong>d.« 259Der mehrmalige Verweis auf die ger<strong>in</strong>ge Anzahl der Verschwörer entsprachdem Wunsch<strong>den</strong>ken Hitlers und g<strong>in</strong>g an der Realität vorbei. Tatsächlich warder Kreis der Verschwörer um e<strong>in</strong>iges größer als zunächst angenommen. Erkam jedoch <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise der Zahl der später Verhafteten gleich. Zwar ließHitlers Ankündigung, als Nationalsozialisten <strong>in</strong> gewohnter Weise abzurechnen,schon Schlimmes ahnen; <strong>das</strong> enorme Ausmaß der Verhaftungen <strong>in</strong>deswar kaum vorherzusehen.259Zitiert nach: Domarus, Max, Hitler. Re<strong>den</strong> und Proklamationen 1932-1945, Bd. 2/2, München1965, S. 2128.98


Zunächst hatten die Angehörigen der Hauptbeteiligten unter der so genanntenSippenhaft zu lei<strong>den</strong> und wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> Gefängnisse und Konzentrationslagergesperrt. Dabei g<strong>in</strong>g es für die Angehörigen Schulenburgs noch vergleichsweiseglimpflich ab. Se<strong>in</strong>e Ehefrau Charlotte konnte <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em mehrstündigen Verhöram 6. August 1944 <strong>den</strong> Verdacht der Mitwisserschaft zerstreuen. Dennochbeeilte sich der Schulenburgsche Familienverband, sie aus der Vere<strong>in</strong>igungauszuschließen. Se<strong>in</strong>e Schwester, Tisa Gräf<strong>in</strong> von der Schulenburg, suchte<strong>das</strong> Gespräch mit dem Gauleiter Hildebrandt, der ihr zu helfen versprachund se<strong>in</strong>en Schutz zusagte. Dieses Versprechen hielt der Gauleiter. Auf e<strong>in</strong>erTagung <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> erfuhr Hildebrandt, <strong>das</strong>s die Familie Schulenburg <strong>in</strong> <strong>das</strong> KZFlossenbürg gebracht wer<strong>den</strong> sollte. Er erhob E<strong>in</strong>spruch und versicherte, <strong>das</strong>ssie <strong>in</strong> Trebbow unter se<strong>in</strong>er Aufsicht stünde. So konnte er die Inhaftierungverh<strong>in</strong>dern. Die Motive für Hildebrandts Engagement im Falle Schulenburgübermittelt Tisa nach e<strong>in</strong>em Gespräch mit dem Gauleiter: »Hildebrandt hatteme<strong>in</strong>en Vater sehr verehrt und sehr an ihm gehangen.« 260Nachdem <strong>das</strong> Ausmaß der Verschwörung des 20. Juli <strong>den</strong> nationalsozialistischenMachthabern bekannt gewor<strong>den</strong> war, setzten auch <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>umfangreiche Untersuchungen, Verfolgungen und Verhaftungen e<strong>in</strong>. AlsVorläufer dieser Entwicklung ist, nachdem die Mehrzahl der unmittelbar amStaatsstreich beteiligten Personen <strong>in</strong> Haft genommen war, die von Mart<strong>in</strong>Bormann, Stabsleiter der <strong>NS</strong>DAP und Leiter der Parteikanzlei, unterzeichneteAnordnung 178/44 vom 12. August 1944 anzusehen. Sie betrifft die »Ausmerzungaller Verräter, Defätisten und ähnlicher Handlanger des Fe<strong>in</strong>des«und fordert die »beschleunigte Namhaftmachung aller sonstigen Personen,die <strong>in</strong> Vergangenheit oder Gegenwart durch ihr Verhalten Anlaß zu Zweifelnan ihrer nationalsozialistischen Haltung und weltanschaulichen Festigkeitgegeben haben.« 261Am 14. August 1944 beschlossen Hitler und Himmler auf e<strong>in</strong>er Zusammenkunft,e<strong>in</strong>e großangelegte Verhaftungswelle im gesamten Reichsgebietdurchzuführen. Drei Tage darauf, am 17. August, heißt es <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em von SS-Gruppenführer Müller unterzeichneten Fernschreiben an alle Stapo-Leitstellen:»Betr: Aktion ›Gitter‹ -- RFSS hat befohlen, alle frueheren Reichs- undLandtagsabgeordneten sowie Stadtverordneten der KPD und SPD im Reichfestzunehmen. Gleichgueltig ist, ob diesen im Augenblick etwas nachgewiesen260Schulenburg, Tisa von der, Ich hab’s gewagt. Bildhauer<strong>in</strong> und Or<strong>den</strong>sfrau – e<strong>in</strong> unkonventionellesLeben, Freiburg im Breisgau u. a. 1997, S. 167.261Bundesarchiv Berl<strong>in</strong>, <strong>NS</strong> 6/347.99


ist oder nicht. Ich erweitere diese Festnahme-Aktion auf die ehemaligen ParteiundGewerkschaftssekretaere der SPD. Die Festnahmeaktion muss gleichzeitigam 22.8.44 <strong>in</strong> <strong>den</strong> fruehen Morgenstun<strong>den</strong> beg<strong>in</strong>nen. Die Festgenommenens<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Schutzhaft zu nehmen und umgehend dem naechsten KL Stufe Ie<strong>in</strong>zuweisen. Schutzhaftantrag unter Kennwort Aktion ›Gewitter‹.« 262 DiesesFernschreiben stellt quasi die »Geburtsurkunde« der »Aktion Gewitter« dar. Eserfuhr am 21. August 1944 noch durch die Forderung, auch die ehemaligenAbgeordneten der Zentrumspartei <strong>in</strong> Haft zu nehmen, e<strong>in</strong>e Ausweitung.Am 22. August 1944 wurde <strong>in</strong> allen Teilen Deutschlands die »AktionGewitter« schlagartig durchgeführt. Im gesamten Reichsgebiet kamen mehrals 5.000 Personen, <strong>in</strong> der Mehrzahl Kommunisten und Sozialdemokraten,<strong>in</strong> Haft. Auch <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> ist diese Terrormaßnahme im S<strong>in</strong>ne des <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong>s effektiv ausgeführt wor<strong>den</strong>. Die Anzahl der verhafteten Menschensoll hier 288 betragen haben. 263 Zu <strong>den</strong> Inhaftierten gehörten die früherenMitglieder der KPD-Bezirksleitung Gustav Hase, Hans Mahncke, Josef Scharresund Hans Warnke. Aus <strong>den</strong> Reihen der <strong>Mecklenburg</strong>er Sozialdemokratenwur<strong>den</strong> u. a. die ehemaligen Reichstagsabgeordneten Albert Schulz und CarlMoltmann und der frühere Landtagspräsi<strong>den</strong>t <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>-Schwer<strong>in</strong>,Wilhelm Höcker, e<strong>in</strong>gekerkert. 264 Willy Jesse gelang am Tage se<strong>in</strong>er Verhaftungunter dramatischen Umstän<strong>den</strong> die Flucht nach Dänemark und weiternach Schwe<strong>den</strong>.In der Kartei der Strafanstalt Bützow-Dreibergen spiegelt sich die »AktionGewitter« durch Inhaftierungen unter diesem Begriff wider. 265 Die Verhaftungenwaren ausnahmslos vom 22. bis zum 24. und am 31. August erfolgt. Eswur<strong>den</strong> <strong>in</strong> dieser Strafanstalt m<strong>in</strong>destens 48 Personen im Zuge dieser Aktion<strong>in</strong>haftiert. 266 Die Dauer der Haft war dabei sehr unterschiedlich. Es gab Personen,die lediglich wenige Stun<strong>den</strong> <strong>in</strong> Bützow festgehalten wur<strong>den</strong>, e<strong>in</strong>igekamen am Tag nach der Festnahme wieder auf freien Fuß. Die Mehrzahl derInhaftierten konnte am 4. September, nach e<strong>in</strong> bis zwei Wochen, Bützow-262Ebenda, R 58/775.263Diese Zahl f<strong>in</strong>det sich bei Mühlstädt, Herbert, Hans Warnke. E<strong>in</strong> Kommunist, Rostock1972, S. 136.264Vgl. Der antifaschistische <strong>Widerstand</strong>skampf unter Führung der KPD <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> 1933bis 1945, Autorenkollektiv unter Leitung von Karl He<strong>in</strong>z Jahnke, Berl<strong>in</strong> 1985, S. 262.265Das Folgende nach: Landeshauptarchiv Schwer<strong>in</strong>, Kartei Bützow-Dreibergen.266Vgl. ebenda. Zwar steht nicht bei allen Personen explizit »Aktion Gewitter« <strong>in</strong> der Kartei,doch lassen Zeitpunkt und Dauer der Inhaftierung <strong>den</strong> Schluss zu, <strong>das</strong>s sie <strong>in</strong> diesem Zusammenhangerfolgt war.100


Dreibergen verlassen. Die letzten Entlassungen erfolgten Ende Septemberund <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Fall erst Anfang Oktober. Etliche der bei der »Aktion Gewitter«Festgenommenen wur<strong>den</strong> auch im Schloss <strong>in</strong> Güstrow <strong>in</strong>haftiert. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong>Rostock, der größten Stadt <strong>Mecklenburg</strong>s, wur<strong>den</strong> 96 Personen festgenommen.267 In der Landeshauptstadt Schwer<strong>in</strong> waren es gleich am 22. August 1944zwölf Bürger. 268 Auf Anordnung der Gestapo Schwer<strong>in</strong> s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Parchim amgleichen Tag 13 Personen festgenommen und <strong>in</strong> <strong>das</strong> Amtsgerichtsgefängnise<strong>in</strong>geliefert wor<strong>den</strong>. Weitere Verhaftungen mehrerer Personen s<strong>in</strong>d u. a. ausRibnitz, Malch<strong>in</strong>, Teterow, Neukalen, Gnoien, Dargun und Schwaan bekannt.Das Durchschnittsalter der im Zuge der »Aktion Gewitter« <strong>in</strong> Bützow-DreibergenInhaftierten lag bei knapp 55 Jahren.Die »Aktion Gewitter«, rücksichtslos und tiefgreifend durchgeführt, machteschon vom Ansatz her ke<strong>in</strong>en Unterschied zwischen Personen, <strong>den</strong>en etwasvorgeworfen wer<strong>den</strong> konnte, und solchen, die sich nichts hatten zuschul<strong>den</strong>kommen lassen. E<strong>in</strong>ziges Zugriffskriterium war <strong>das</strong> e<strong>in</strong>er früheren Mitgliedschaft<strong>in</strong> KPD, SPD oder Zentrumspartei. Die übergroße Mehrheit der Verfolgtenhatte mit <strong>den</strong> Ereignissen des 20. Juli, <strong>in</strong> deren Folge die Aktion gestartetwurde, nichts zu tun. Sie stellte e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e Terrormaßnahme zur weiterenE<strong>in</strong>schüchterung dar und forderte auch <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> Opfer.Zu <strong>den</strong> Verhafteten gehörte der Sozialdemokrat Albert Schmidt. Über se<strong>in</strong>Schicksal berichtet Albert Schulz: »Als der Rostocker GewerkschaftssekretärSchmidt dem Arzt sagte, er falle um, wenn er körperlich arbeiten müsse,sagte der Nazi-Mediz<strong>in</strong>mann: ›Das sollen Sie ja auch‹. Drei Tage später warSchmidt tot.« 269E<strong>in</strong>ige im Zuge der »Aktion Gewitter« Verhafteten wur<strong>den</strong> nicht wiederfreigelassen, sondern zur weiteren Verwahrung <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Konzentrationslagerüberstellt. Aus <strong>Mecklenburg</strong> betraf dies u. a. die Funktionäre der KPD WilliFründt, Ernst Koch und Otto von Zschock sowie <strong>den</strong> Sozialdemokraten ErnstKarl Dressel aus Malch<strong>in</strong>. Sie alle wur<strong>den</strong> im KZ Neuengamme <strong>in</strong>terniert, woam 22. Dezember 1944 Willi Fründt aus Grabow verstarb. 270 Die drei anderen<strong>Mecklenburg</strong>er erlebten die Evakuierung des KZ Neuengamme und wur<strong>den</strong>Mitte/Ende April <strong>in</strong> die Lübecker Bucht gebracht. Hier auf Schiffe verla<strong>den</strong>,267So bei Sieber, Horst, Persönlichkeiten der Stadtgeschichte. Josef Scharres, <strong>in</strong>: Beiträge zurGeschichte der Stadt Rostock. Neue Folge, H. 7, Rostock 1987, S. 49.268Schwer<strong>in</strong>. Geschichte der Stadt <strong>in</strong> Wort und Bild, Berl<strong>in</strong> 1985, S. 146.269Archiv der sozialen Demokratie Bonn-Bad Godesberg, Er<strong>in</strong>nerungen Albert Schulz, S. 69.270Vgl. <strong>Widerstand</strong>skampf <strong>gegen</strong> Faschismus und Krieg im Kreis Ludwigslust, Ludwigslust1965, S. 42.101


kamen sie noch kurz vor Kriegsende, am 3. Mai 1945, durch Volltreffer e<strong>in</strong>esbritischen Luftangriffs ums Leben. 271 Stellvertretend für die Opfer aus Pommernsoll August Streufert genannt wer<strong>den</strong>. Er war bis zur Machtübernahme derNationalsozialisten Abteilungsleiter der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlungund Arbeitslosenversicherung <strong>in</strong> Stralsund und von 1930 bis 1932 Mitglieddes Reichstages für die SPD. Nach 1933 wurde August Streufert mehrfachverhaftet, am 22. August 1944 letztmalig im Rahmen der »Aktion Gewitter«.Er wurde nicht wieder freigelassen, sondern <strong>in</strong> <strong>das</strong> KZ Neuengamme überführt,wo Streufert 57jährig am 27. Dezember 1944 verstarb. 272Sicher haben <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern, was Ausmaß und Intensität der<strong>Widerstand</strong>shandlungen <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren von1933 bis 1945 und auch die Rolle während des Staatsstreichs vom 20. Juli 1944angehen, an der Peripherie im Deutschen Reich gestan<strong>den</strong>. Zudem wurde <strong>in</strong>bei<strong>den</strong> Gebieten schon vor 1933 mehrheitlich und überdurchschnittlich starknationalsozialistisch gewählt. Dies darf aber nicht <strong>den</strong> Blick dafür verstellen,<strong>das</strong>s es auch <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong> und Pommern Personen gegeben hat, die mutigund konsequent <strong>gegen</strong> die nationalsozialistische Herrschaft auftraten und dieauch bereit waren, ihr Leben dafür h<strong>in</strong>zugeben. Es ist notwendig, sich ihrerund der zahlreichen Opfer der nach dem Attentat e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Verfolgungswellezu er<strong>in</strong>nern. 271Vgl. Der antifaschistische <strong>Widerstand</strong>skampf, (wie Anm. 262), sowie Dem Vergessen entrissen.Rostocker Antifaschisten und Opfer des Nazi-Terrors, Rostock 1986, S. 52-55 und S. 58-61.272Schwabe, Klaus, Wurzeln, Traditionen und I<strong>den</strong>tität der Sozialdemokratie <strong>in</strong> <strong>Mecklenburg</strong>und Pommern, Schwer<strong>in</strong> 1999, S. 53.102


Detlef Graf v. Schwer<strong>in</strong>, BülowsiegeUlrich-Wilhelm Graf v. Schwer<strong>in</strong>v. Schwanenfeld 1902-1944»Für e<strong>in</strong> Deutschland des Rechts undder Gerechtigkeit« 273Wenige Tage nach dem fehlgeschlagenen Staatsstreichversuch vom 20. Juli1944 stellten die vernehmen<strong>den</strong> Gestapo-Beamten der Sonderkommission fest,<strong>das</strong>s »der Verschwörerkreis durch vielfältige sippenmäßige, verwandtschaftliche,dienstliche, berufliche, gesellschaftliche B<strong>in</strong>dungen und Beziehungenoft langjähriger Art, z.T. von <strong>den</strong> Vätern her Tradition gewor<strong>den</strong>, verknüpftwar«. 274 Diese Beobachtung der Gestapo-Vernehmer, die sich unverzüglichaufdrängt, sobald man sich mit dem langen Weg des deutschen <strong>Widerstand</strong>esbeschäftigt, war richtig und veranlasste mich, bei der Darstellung des Lebensme<strong>in</strong>es Vaters immer se<strong>in</strong>e Freundeund Weggefährten im <strong>Widerstand</strong>sehr stark mit e<strong>in</strong>zubeziehen. Nur<strong>in</strong> der Interaktion der Freunde istdie Tätigkeit me<strong>in</strong>es Vaters im <strong>Widerstand</strong>s<strong>in</strong>nvoll zu erläutern.So vernünftig mir dieser Ansatzimmer noch ersche<strong>in</strong>t, kann er dochbei dieser aus Platzgrün<strong>den</strong> gedrängtenÜbersicht über <strong>das</strong> Leben me<strong>in</strong>esVaters nicht e<strong>in</strong>gelöst wer<strong>den</strong>. Ichbeschränke mich daher ganz konventionellnur auf me<strong>in</strong>en Vater undverweise <strong>den</strong> <strong>in</strong>teressierten Leser aufme<strong>in</strong> breiter angelegtes Buch. 275Me<strong>in</strong> Vater, Ulrich-Wilhelm Grafv. Schwer<strong>in</strong> v. Schwanenfeld, wurde Ulrich-Wilhelm Graf von Schwer<strong>in</strong>273Inschrift auf der Ge<strong>den</strong>kplatte <strong>in</strong> der Kirche zu Göhren, Landkreis <strong>Mecklenburg</strong>-Strelitz.274Jacobsen, Hans-Adolf, Spiegelbild e<strong>in</strong>er Verschwörung, Stuttgart 1984, Bd.1, S. 96 (Berichtv. 29.7.1944).275Schwer<strong>in</strong>, Detlef Graf v., »dann s<strong>in</strong>d’s die besten Köpfe, die man henkt…« Die junge Generation imdeutschen <strong>Widerstand</strong>, München (2.Auflg.)1994; ders., Die Jungen des 20. Juli 1944, Berl<strong>in</strong> 1991.103


1902 als e<strong>in</strong>ziger Sohn e<strong>in</strong>es kaiserlich-königlichen preußischen Diplomaten<strong>in</strong> Kopenhagen geboren. Se<strong>in</strong>e Mutter, e<strong>in</strong>e geborene Bethmann-Hollweg,war e<strong>in</strong>e direkte Cous<strong>in</strong>e des langjährigen Reichkanzlers. Se<strong>in</strong> Elternhaus wardaher auf Grund des väterlichen Berufes und des familiären Umfeldes politischstark <strong>in</strong>teressiert. Durch die Auslandsposten des Vaters <strong>in</strong> Wien, Guatemalaund Luxemburg erhielt Schwer<strong>in</strong> schon während se<strong>in</strong>er K<strong>in</strong>dheit E<strong>in</strong>drücke,die ihn über <strong>den</strong> ostelbischen Tellerrand h<strong>in</strong>ausblicken ließen. Mit 12 Jahren,als se<strong>in</strong> Vater nach Dres<strong>den</strong> versetzt wurde, kam Schwer<strong>in</strong> zum ersten Mal aufe<strong>in</strong>e öffentliche Schule. Bis dah<strong>in</strong> war er, wie es üblich war, von Hauslehrernunterrichtet wor<strong>den</strong>. Prägend für se<strong>in</strong> Leben sollte jedoch se<strong>in</strong> Besuch derKlosterschule Rossleben wer<strong>den</strong>. Die besorgten Eltern hatten Schwer<strong>in</strong> 1919aus <strong>den</strong> Revolutionswirren Dres<strong>den</strong>s <strong>in</strong> die Sicherheit des Internats an derUnstrut gebracht. Das für unsere heutigen Begriffe extrem spartanische Leben<strong>in</strong> diesem Jungen<strong>in</strong>ternat für <strong>den</strong> ostdeutschen Landadel brachte Schwer<strong>in</strong>,der mit fünf Schwestern ohne Brüder aufgewachsen war, doch e<strong>in</strong>e reicheErnte an Freundschaften, die für se<strong>in</strong>e politische Tätigkeit nach 1933 ganzentschei<strong>den</strong>d wer<strong>den</strong> sollten. Nach e<strong>in</strong>em sehr guten Abitur 1921 stand auchSchwer<strong>in</strong> vor der Studien- oder Berufswahl. Tatsächlich jedoch hatte er ke<strong>in</strong>eechte Alternative. Se<strong>in</strong> weiterer Berufsweg war für ihn durch die familiärenUmstände vorgezeichnet wor<strong>den</strong>.Se<strong>in</strong>e engere Familie war seit 1670 <strong>in</strong> der nördlichen Uckermark, seit 1839im Großherzogtum <strong>Mecklenburg</strong>-Strelitz und seit 1906 <strong>in</strong> der preußischenProv<strong>in</strong>z Westpreußen begütert. Schwer<strong>in</strong>s Vater hatte als jüngster Sohn nichtgeerbt und war ganz traditionell nach e<strong>in</strong>em Jurastudium <strong>in</strong> <strong>den</strong> Staatsdienstausgewichen. Schwer<strong>in</strong>s Großmutter hatte darauf bestan<strong>den</strong>, <strong>das</strong>s der sehrgroße Landbesitz von knapp 8000 ha ungeteilt dem ältesten Sohn zufiele.Umso beglückender war es für <strong>den</strong> Vater, <strong>das</strong>s se<strong>in</strong> k<strong>in</strong>derlos gebliebener Bruderse<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Sohn als Erben vorgesehen und ihn 1924 auch adoptierthatte. Schwer<strong>in</strong> war daher ent<strong>gegen</strong> se<strong>in</strong>en eigentlichen politischen Interessengezwungen, sich auf <strong>das</strong> große Erbe e<strong>in</strong>zustellen und e<strong>in</strong> Studium der Land- undForstwirtschaft aufzunehmen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich ke<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>erVorbesitzer auf se<strong>in</strong>e landwirtschaftliche Tätigkeit im Hauptberuf vorbereitet.Sie waren entweder Juristen oder seit vier Generationen Offiziere gewesen.Landwirtschaft betrieb man <strong>in</strong> großer Abhängigkeit von mehr oder wenigervertrauenswürdigen und kompetenten Verwaltern.Schwer<strong>in</strong> erhielt also e<strong>in</strong>e von der Pike auf qualifizierte landwirtschaftlicheAusbildung, zunächst während e<strong>in</strong>er zweijährigen praktischen Lehre unddann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em dreijährigen Studium <strong>in</strong> München, Berl<strong>in</strong> und Breslau. In104


München wurde er 1923 Augenzeuge des Marsches auf die Feldherrenhalle.Dieser aberwitzige eaterputsch h<strong>in</strong>terließ 19 Tote und bei Schwer<strong>in</strong> e<strong>in</strong>enegative Sicht auf <strong>den</strong> Urheber und die ihn tragende Bewegung. Alle Vorstellungenüber Promotion und geplante Auslandsaufenthalte wur<strong>den</strong> durch<strong>den</strong> Tod des Erbonkels im Oktober 1926 h<strong>in</strong>fällig. Schwer<strong>in</strong> musste, nochnicht 24 Jahre alt, <strong>das</strong> durch Schul<strong>den</strong>, Erbschaftssteuern, Abf<strong>in</strong>dungen undpolitische Umstände stark belastete Erbe antreten.Neben <strong>den</strong> f<strong>in</strong>anziellen Belastungen war e<strong>in</strong> großer Teil des Erbes durch<strong>das</strong> Wiederentstehen des polnischen Staates nach 1919 gefährdet. Das GutSartowitz, zuvor im preußischen Westpreußen direkt an der Weichsel gelegen,fand sich durch Versailles im polnischen Pommerellen im so genanntenKorridor wieder. Der neue Staat versuchte, <strong>das</strong> deutsche Grundeigentum unddamit die Stellung der deutschen M<strong>in</strong>derheit mit Hilfe der »Liquidation« zureduzieren. Die Versailler Verträge ermöglichten <strong>den</strong> Kriegsgegnern, deutschesAuslandsvermögen im Vorgriff auf Reparationen zu liquidieren, d.h. zu enteignen.Als zweites Kampfmittel verwandten die Polen die nun anlaufendeAgrar-Reform, die sich nicht alle<strong>in</strong>, aber doch vor allem <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> deutschenlandwirtschaftlichen Grundbesitz richtete. Im Ergebnis e<strong>in</strong>er mehrjährigenh<strong>in</strong>halten<strong>den</strong> Verteidigung konnte Schwer<strong>in</strong> zwar die Liquidation abwehren,musste aber erhebliche Flächenabtretungen im Rahmen der Agrar-Reformh<strong>in</strong>nehmen. Unter dem Strich rettete jedoch der noch nicht 27-jährigeSchwer<strong>in</strong> <strong>den</strong> überwiegen<strong>den</strong> Teil des Gutes Sartowitz vor der Enteignung,e<strong>in</strong> Ergebnis, <strong>das</strong> ke<strong>in</strong>er der damaligen polnischen oder deutschen Beobachterfür möglich gehalten hätte.Auf Grund dieser unerwarteten Leistung des sehr jungen Mannes wurdedie Führung der deutschen M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Polen auf Schwer<strong>in</strong> aufmerksam.Schwer<strong>in</strong> hatte außerdem <strong>den</strong> damals unschätzbaren Vorteil, <strong>das</strong>s er als»Reichsdeutscher«, im Gegensatz zu <strong>den</strong> Deutschen mit polnischer Staatsangehörigkeitunbeh<strong>in</strong>dert und legal zwischen <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> Ländern h<strong>in</strong> undher pendeln konnte. Verschie<strong>den</strong>e Maßnahmen des jungen polnischen Staateshatten dazu geführt, <strong>das</strong>s der deutsche Bevölkerungsanteil im so genanntenKorridor von 37% (1910) auf 9% (1931) sank. Schwer<strong>in</strong> wurde daher <strong>in</strong> <strong>den</strong>»Abwehrkampf« der deutschen M<strong>in</strong>derheit <strong>in</strong> Polen e<strong>in</strong>bezogen und war <strong>das</strong>Sprachrohr der Führung der »Deutschen Vere<strong>in</strong>igung« <strong>in</strong> <strong>den</strong> Berl<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>isterien.Dies war se<strong>in</strong>e eigenständige politische Erfahrung, die er wenig später<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e <strong>Widerstand</strong>sarbeit mit e<strong>in</strong>br<strong>in</strong>gen konnte. Nach der MachtergreifungHitlers im Januar 1933 kam es zu Spannungen, ja blutigen Ause<strong>in</strong>andersetzungenzwischen Anhängern der Deutschen Vere<strong>in</strong>igung und der so genannten105


»Jungdeutschen Partei für Polen«, die von der <strong>NS</strong>DAP-Auslandsorganisationunterstützt wurde. Auf Seiten der Deutschen Vere<strong>in</strong>igung führte dies zu e<strong>in</strong>emUnvere<strong>in</strong>barkeitsbeschluss e<strong>in</strong>er Doppelmitgliedschaft <strong>in</strong> bei<strong>den</strong> Organisationen.Trotz Schwer<strong>in</strong>s e<strong>in</strong>deutig ablehnender Haltung <strong>gegen</strong>über der <strong>NS</strong>DAPund ihrer Politik hielt er es im H<strong>in</strong>blick auf se<strong>in</strong>e Tätigkeit als Emissär der»Deutschen Vere<strong>in</strong>igung« <strong>in</strong> <strong>den</strong> M<strong>in</strong>isterien Berl<strong>in</strong>s für notwendig, über dieBromberger Landesgruppe der <strong>NS</strong>DAP-Auslandsorganisation im Juni 1935der Partei beizutreten, damit er sich <strong>in</strong> <strong>den</strong> <strong>in</strong>zwischen gleichgeschaltetenBerl<strong>in</strong>er M<strong>in</strong>isterien durch <strong>das</strong> Parteiabzeichen legitimieren konnte.Schwer<strong>in</strong>s politische Haltung wich von der anderer Vertreter se<strong>in</strong>er sozialenSchicht ab. Er selbst sah sich als <strong>das</strong> schwarze Schaf im Kreis se<strong>in</strong>er Gutsnachbarn.Se<strong>in</strong>e Stärke war e<strong>in</strong> unabhängiges Urteil, auch wenn er die äußerenKonventionen wahrte. Während diese die Deutschnationale Volkspartei(DNVP) e<strong>in</strong>schließlich der Harzburger Front unterstützten, wählten Schwer<strong>in</strong>und e<strong>in</strong>ige se<strong>in</strong>er Freunde aus Rossleben die liberalere Deutsche Volksparteides Außenm<strong>in</strong>isters Stresemann, 1930 auch die Konservative Volkspartei zurUnterstützung der Brün<strong>in</strong>gschen Sanierungsmaßnahmen. Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>eFreunde erhofften sich von Brün<strong>in</strong>g e<strong>in</strong>e Abwehr und Überw<strong>in</strong>dung der Folgender Weltwirtschaftskrise. Schwer<strong>in</strong> sprang nicht auf <strong>den</strong> Wagen der seit 1930von Wahl zu Wahl immer stärker wer<strong>den</strong><strong>den</strong> Nationalsozialisten. Da<strong>gegen</strong>stan<strong>den</strong> se<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerung an <strong>den</strong> Marsch auf die Feldherrnhalle und Erfahrungense<strong>in</strong>es Schwiegervaters <strong>in</strong> Danzig. 1932 unterstützte er die WiederwahlH<strong>in</strong><strong>den</strong>burgs, um die Wahl Hitlers zum Reichspräsi<strong>den</strong>ten zu verh<strong>in</strong>dern.Für Schwer<strong>in</strong> war »Potempa«, e<strong>in</strong>er der vielen politischen Morde des blutigenSommers 1932, e<strong>in</strong> noch wegweisenderes Ereignis als der eaterputsch vonNovember 1923. Am 9. August 1932 schlugen fünf SA-Leute im oberschlesischenDorf Potempa e<strong>in</strong>en polnischen kommunistischen Arbeiter tot. Als dieMörder noch im gleichen Monat von e<strong>in</strong>em Sonderdezernat des Reichsgerichts<strong>in</strong> Beuthen zu Todes- und langjährigen Zuchthausstrafen verurteilt wur<strong>den</strong>,sandte Hitler se<strong>in</strong> schamloses Telegramm, <strong>in</strong> dem es hieß: »Eure Freiheit ist vondiesem Augenblick an e<strong>in</strong>e Frage unserer Ehre.« Damit schlug der Führer der<strong>in</strong>zwischen größten Fraktion des Reichstages der Rechtsstaatlichkeit mitten <strong>in</strong><strong>das</strong> Gesicht. Er und se<strong>in</strong>e Partei waren für Schwer<strong>in</strong> vollkommen unakzeptabelgewor<strong>den</strong>. Se<strong>in</strong>e Mitarbeiter versuchte er dem Werben der SA zu entziehen,<strong>in</strong>dem er ihnen als Ausweg <strong>den</strong> E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stahlhelm empfahl, wobei dieseMöglichkeit durch Gleichschaltung bald nach der Machtergreifung entfiel.Die <strong>in</strong>nen- wie außenpolitischen Maßnahmen nach der Machtergreifung wiez.B. <strong>den</strong> beg<strong>in</strong>nen<strong>den</strong> Kirchenkampf, <strong>den</strong> Austritt aus dem Völkerbund und106


<strong>den</strong> Vertrag mit Polen begleitete Schwer<strong>in</strong> mit Ablehnung. Für ihn waren die85 Morde des sog. Röhmputsches am 30.6.1934 nur e<strong>in</strong>e weitere, weith<strong>in</strong>sichtbare Enthüllung des wahren Charakters des <strong>Regime</strong>s. Er kommentiertedie Mordorgie mit <strong>den</strong> Worten »Wer es jetzt noch nicht kapiert…!!«Historiker leben ganz wesentlich von schriftlichen Zeugnissen und Überlieferungen.Dabei wird ihnen von Beg<strong>in</strong>n an beigebracht, Dokumente imKontext der Entstehungszeit und im Abgleich mit anderen Zeugnissen zuanalysieren und zu <strong>in</strong>terpretieren. Dies ist <strong>in</strong>sbesondere notwendig, wennman Schrifttum aus <strong>den</strong> bei<strong>den</strong> deutschen Diktaturen zu bearbeiten hat.Jede Art von Repression führt zu Schutzverhalten der Betroffenen. Vor demH<strong>in</strong>tergrund der belegbaren politischen Haltung Schwer<strong>in</strong>s vor und nachder Machtergreifung war se<strong>in</strong> Parteibeitritt im Juni 1935 unzweifelhaft e<strong>in</strong>eSchutzmaßnahme und ke<strong>in</strong> Zeugnis se<strong>in</strong>er politischen Ges<strong>in</strong>nung. 276 AlsBotho v. Wussow, e<strong>in</strong>er se<strong>in</strong>er alten Internatsfreunde, Ende Mai 1935 nachelähriger Abwesenheit <strong>in</strong> Chile nach Berl<strong>in</strong> zurückkehrte, fand er Schwer<strong>in</strong>und se<strong>in</strong>e Freunde <strong>in</strong> der Ablehnung des <strong>Regime</strong>s vere<strong>in</strong>t vor.In diesen privat wie politisch turbulenten Jahren heiratete Schwer<strong>in</strong> 1928Marianne Sahm. Se<strong>in</strong>e bürgerliche Heirat war e<strong>in</strong> weiterer Schritt, der ihnvon se<strong>in</strong>en Gutsnachbarn trennte. Die Verb<strong>in</strong>dung hatte e<strong>in</strong>en von der Pressekommentierten politischen Aspekt, weil der Schwiegervater als Präsi<strong>den</strong>t deskle<strong>in</strong>en Freistaates Danzig <strong>den</strong> deutschen Charakter der Stadt <strong>gegen</strong> polnischeÜbergriffe zu verteidigen suchte. Schwer<strong>in</strong> fand <strong>in</strong> dem Präsi<strong>den</strong>ten e<strong>in</strong>enerfahrenen Begleiter <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er eigenen Ause<strong>in</strong>andersetzung um <strong>das</strong> Gut Sartowitzim jetzt polnischen Pommerellen. Das Ehepaar hatte fünf Söhne, von<strong>den</strong>en jedoch zwei bereits als Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>der starben. Schwer<strong>in</strong>s glückliche Eheund harmonisches Familienleben waren jedoch zunehmend gefährdet durchse<strong>in</strong> politisches Engagement <strong>gegen</strong> <strong>das</strong> <strong>Regime</strong>.Natürlich war es e<strong>in</strong> gewichtiger Unterschied, ob man <strong>das</strong> nationalsozialistische<strong>Regime</strong> im Freundeskreis verbal ablehnte, wie Wussow es bei Schwer<strong>in</strong>nach se<strong>in</strong>er Rückkehr aus Südamerika feststellte, oder ob man aktiv <strong>gegen</strong>die Reichsregierung arbeitete. Als Landwirt fernab vom Ort des Geschehens276Es ersche<strong>in</strong>t mir notwendig, diese offenkundigen Zusammenhänge zu erklären, da Historikerimmer mal wieder Schwer<strong>in</strong>s Parteibeitritt als Beweis se<strong>in</strong>er politischen Überzeugung fehl<strong>in</strong>terpretierenund versuchen, ihn <strong>in</strong> die Kategorie der gewendeten Nationalsozialisten e<strong>in</strong>zuordnen.Das ist <strong>in</strong> Schwer<strong>in</strong>s speziellem Fall e<strong>in</strong>deutig falsch, wobei die Abkehr von dem Nationalsozialismus<strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren nach 1933 nicht ehrenrührig wäre, ganz im Gegenteil. Leider kanne<strong>in</strong>e derartige Abwendung bei der Mehrheit der Deutschen und ihrer Eliten nicht festgestelltwer<strong>den</strong>.107


<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> hatte Schwer<strong>in</strong> so gut wie ke<strong>in</strong>e »vorgegebenen« Möglichkeiten. Erschuf sie sich aus eigener Initiative durch <strong>das</strong> Beziehungsnetz se<strong>in</strong>er Freunde.Zunächst wurde es ihnen sehr bald deutlich, <strong>das</strong>s Hitlers Außenpolitik <strong>in</strong> <strong>den</strong>nächsten Krieg führen würde. Die Kommunisten hatten schon immer gesagt,<strong>das</strong>s Hitler Krieg bedeute, aber nun sahen auch Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Freunde,woh<strong>in</strong> die Reise offensichtlich g<strong>in</strong>g. Als Hitler die allgeme<strong>in</strong>e Wehrpflicht1934 wieder e<strong>in</strong>führte, begannen Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Freunde Schulenburgund Yorck mit Wehrübungen. Schwer<strong>in</strong> übte mit dem ausgesprochenen Ziel,im Kriegsfall Reserveoffizier zu se<strong>in</strong>, um durch <strong>den</strong> alten FamilienfreundHans Oster e<strong>in</strong>gesetzt wer<strong>den</strong> zu können. Oster arbeitete seit Oktober 1933<strong>in</strong> der Abwehrabteilung des Reichswehrm<strong>in</strong>isteriums und führte Schwer<strong>in</strong>bei dem für Berl<strong>in</strong> zuständigen Kommandeur des Wehrkreises III, GeneralErw<strong>in</strong> v. Witzleben, e<strong>in</strong>. Mit dem General hatte Schwer<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige geme<strong>in</strong>sameBerührungspunkte, da er bereits mit Witzleben-Liszkowo im Korridor politischzusammenarbeitete und die Witzlebens seit dem 16. Jahrhundert dieErbadm<strong>in</strong>istratoren der Klosterschule Rossleben stellten.Als Hitler 1938 im Verlauf der Sudetenkrise bewusst e<strong>in</strong>en Krieg mit <strong>den</strong>Westmächten <strong>in</strong> Kauf nahm, führte Schwer<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Vetter Albrecht v. Kesselbei Witzleben e<strong>in</strong>. Kessel, auch Rosslebener und Diplomat, arbeitete <strong>in</strong>diesen Monaten im Vorzimmer des neuen Staatssekretärs des AuswärtigenAmtes Ernst v. Weizsäcker. Kessel und Schwer<strong>in</strong> <strong>in</strong>formierten Witzleben überdie sich zuspitzende außenpolitische Lage. Beide jungen Männer waren gut<strong>in</strong>formiert, Kessel durch se<strong>in</strong>e Arbeit, beide aber auch durch ihre Freunde.So war e<strong>in</strong> weiterer geme<strong>in</strong>samer Freund, Eduard Brücklmeier, genannt Colombo,im Vorzimmer des neuen Außenm<strong>in</strong>isters Ribbentrop tätig, Wussowim sog. »Büro Ribbentrop«, e<strong>in</strong>em Amt der <strong>NS</strong>DAP, Fritz-Dietlof Graf v.d.Schulenburg, genannt Fritzi, im Polizeipräsidium Berl<strong>in</strong>.Zwanzig Jahre nach der verheeren<strong>den</strong> Niederlage im 1. Weltkrieg war <strong>den</strong>Deutschen e<strong>in</strong>schließlich e<strong>in</strong>iger ihrer Spitzenmilitärs die Furcht vor e<strong>in</strong>emneuen Waffengang immer noch tief e<strong>in</strong>gebrannt. Nach <strong>den</strong> enormen <strong>in</strong>nen- wieaußenpolitischen Erfolgen Hitlers bot sich jetzt erstmalig e<strong>in</strong>e psychologischeKonstellation, die e<strong>in</strong>en Sturz Hitlers, der auch für die Öffentlichkeit erkennbarauf e<strong>in</strong>en neuen Krieg h<strong>in</strong>steuerte, <strong>den</strong>kbar ersche<strong>in</strong>en ließ. Getriebendurch Oster, unterstützt durch <strong>den</strong> wegen der Kriegsgefahr zurückgetretenenGeneralstabschef des Heeres, Ludwig Beck, bereiteten Witzleben und derneue Generalstabschef Franz Halder e<strong>in</strong>en Staatsstreich vor, der Hitler zudem Zeitpunkt festnehmen sollte, zu dem er <strong>den</strong> Mobilisierungsbefehl gab.Schwer<strong>in</strong> war mit se<strong>in</strong>en Freun<strong>den</strong> direkt <strong>in</strong> die Vorbereitungen des Staats-108


streichs e<strong>in</strong>gebun<strong>den</strong>, operativ am direktesten Schulenburg auf Grund se<strong>in</strong>erFunktion <strong>in</strong> der Berl<strong>in</strong>er Polizei. Der britische Premier Neville Chamberla<strong>in</strong>und die Münchener Konferenz bannten die Kriegsgefahr buchstäblich <strong>in</strong> letzterM<strong>in</strong>ute. Dem geplanten Staatsstreich war damit der Bo<strong>den</strong> entzogen.Trotz dieses erneuten triumphalen Erfolges befahl Hitler, getrieben vonse<strong>in</strong>er pathologischen Kriegssehnsucht, wenige Tage nach dem MünchenerAbkommen die Vorbereitung zum E<strong>in</strong>marsch <strong>in</strong> die »Rest-Tschechei« unddamit <strong>den</strong> Bruch des neuen Vertrages. Bereits fünf Monate später im März1939 zog Hitler <strong>in</strong> Prag e<strong>in</strong>. Se<strong>in</strong>e Expansionsgelüste wandten sich nun Polenzu. Schwer<strong>in</strong> kommentierte diese Entwicklung: »Erst Österreich, dann dieTschechoslowakei, wenn dann Polen dran ist, kommt es zum Krieg. Noche<strong>in</strong>mal wird sich die Welt solch e<strong>in</strong> Schauspiel nicht gefallen lassen.« Er sollteRecht behalten.E<strong>in</strong>er der profiliertesten <strong>in</strong>nerdeutschen Kriegsgegner <strong>in</strong> diesen Monaten warStaatssekretär Ernst v. Weizsäcker, der immer wieder versuchte, die kriegslüsternePolitik Hitlers und se<strong>in</strong>es Außenm<strong>in</strong>isters zu h<strong>in</strong>tertreiben. Da die SituationDanzigs Hitler e<strong>in</strong>en Kriegsvorwand <strong>gegen</strong> Polen bieten konnte, verwandteder Staatssekretär auf Anraten von Kessel gelegentlich Schwer<strong>in</strong> als Emissärzu dem Hohen Kommissar des Völkerbundes <strong>in</strong> Danzig, Carl Burckhardt.Schwer<strong>in</strong> <strong>in</strong>formierte Burckhardt am 22.8.1939 über <strong>den</strong> <strong>in</strong> drei Tagen geplantenAngriff auf Polen und forderte e<strong>in</strong>e kräftige englische Demarche beiHitler. Vergeblich! Am 25.8. gab Hitler <strong>den</strong> Angriffsbefehl, zog ihn nach dreiStun<strong>den</strong> zurück, nur um ihn sechs Tage später endgültig auszufertigen. Canaris,der Chef Osters <strong>in</strong> der Abwehr, sah <strong>das</strong> »f<strong>in</strong>is Germaniae« kommen.Der große Krieg, <strong>den</strong> Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Freunde seit Jahren vorhergesehenund befürchtet hatten, aber nicht verh<strong>in</strong>dern konnten, war da. Schwer<strong>in</strong> unde<strong>in</strong> weiterer Rosslebener Freund, Peter Graf Yorck v. Wartenburg, wur<strong>den</strong> alsLeutnants der Reserve zu ihren <strong>Regime</strong>ntern e<strong>in</strong>gezogen. Sie machten <strong>den</strong>»Blitz« <strong>gegen</strong> Polen mit. Während Yorck im Oktober jedoch u.k. gestellt wurde,wurde Schwer<strong>in</strong>, der »Leutnant mit <strong>den</strong> unmilitärischen Formen«, mit HilfeOsters <strong>in</strong> <strong>den</strong> Stab der 1. Armee zu Witzleben nach Bad Kreuznach versetzt.Auf Grund se<strong>in</strong>er <strong>in</strong> der Su<strong>den</strong>tenkrise bewiesenen aktiven oppositionellenHaltung und se<strong>in</strong>er Kommandos spielte Witzleben im militärischen <strong>Widerstand</strong>seit 1938 e<strong>in</strong>e Schlüsselrolle. Schwer<strong>in</strong> wurde ihm als Vertrauensmannder Berl<strong>in</strong>er Verschwörer beigegeben. In Berl<strong>in</strong> wurde zur Verh<strong>in</strong>derung derdrohen<strong>den</strong> Westoffensive erneut versucht, Hitler mit e<strong>in</strong>em Staatsstreich zubeseitigen. Dieser Versuch scheiterte am 5.11.1939 auf Grund e<strong>in</strong>er Nervenkrisedes Generalstabschefs Halder.109


In diesen Herbstwochen erfuhr Schwer<strong>in</strong> unmittelbar – vermutlich nicht alsAugenzeuge – von der e<strong>in</strong>setzen<strong>den</strong> Mordwelle <strong>in</strong> Polen. In e<strong>in</strong>er Kiesgrubese<strong>in</strong>es Sartowitzer Forstes wur<strong>den</strong> Ju<strong>den</strong> aus Grau<strong>den</strong>z und die Patientender Heil- und Pflegeanstalt Schwetz umgebracht. In e<strong>in</strong>em Testamentzusatzvon 1942 bestimmte Schwer<strong>in</strong>, <strong>das</strong>s, »sobald die Zeitumstände« es erlauben,auf der Mordstätte e<strong>in</strong> hohes Eichenkreuz mit der Inschrift errichtet werde:»Hier ruhen 1 400-1 500 Christen und Ju<strong>den</strong>. Gott sei ihrer Seele und ihrenMördern gnädig.« Heute weiß man, <strong>das</strong>s dort bis April 1940 10 000-12 000Menschen umgebracht wur<strong>den</strong>. 277Die ungewohnte Mordorgie der ersten Wochen und Monate beunruhigte die<strong>in</strong> Polen verantwortlichen deutschen Militärs, die der deutschen Sicherheitspolizei,<strong>den</strong> E<strong>in</strong>satzgruppen, e<strong>in</strong>en »Blutrausch«, ja »Vertierung« vorwarfen.Der Oberbefehlshaber Ost, Johannes Blaskowitz, wurde wiederholt schriftlichbei Walther v. Brauchitsch, dem Oberbefehlshaber des Heeres, vorstellig,vergeblich. Schwer<strong>in</strong> erfuhr von <strong>den</strong> Denkschriften durch <strong>den</strong> Besuch desGeneralstabsoffiziers Helmuth Groscurth bei Witzleben. Groscurth hatte sicheigenmächtig nach Westen begeben, um die Kommandeure an der Westfrontzu <strong>in</strong>formieren und »aufzuputschen«, nach e<strong>in</strong>em Anfangserfolg allerd<strong>in</strong>gsvergeblich. Groscurth wurde strafversetzt.Schwer<strong>in</strong>s Ablehnung Hitlers und se<strong>in</strong>er Politik nach der Machtergreifunggründete sich vor allem auf zwei Aspekte, der Zerstörung des Rechtsstaats,z.B. <strong>in</strong> der Behandlung der <strong>in</strong>nenpolitischen Gegner (Potempa, Röhmputsch)wie der Ju<strong>den</strong> und se<strong>in</strong>er zum Krieg führen<strong>den</strong> Außenpolitik. Von RolandFreisler vor dem Volksgerichtshof zu se<strong>in</strong>er Motivation befragt und zu äußersterKürze genötigt, führte Schwer<strong>in</strong>, bevor er von Freisler niedergebrüllt wurde,als Kernbereich se<strong>in</strong>er Ablehnung »die vielen Morde im In- und Ausland«an. Es waren die Morde an <strong>den</strong> <strong>in</strong>nenpolitischen Gegnern, die Morde an <strong>den</strong>Ju<strong>den</strong> Europas und an <strong>den</strong> vielfältigen Opfergruppen im besetzten Europa,die Schwer<strong>in</strong>s Rechtsempf<strong>in</strong><strong>den</strong>, ja moralisches Empf<strong>in</strong><strong>den</strong> zutiefst empörten.Diese moralische Empörung trug ihn durch die jahrelangen Gefahren se<strong>in</strong>er<strong>Widerstand</strong>stätigkeit im Schatten der Gestapo. Schwer<strong>in</strong>, dessen B<strong>in</strong>dung an<strong>das</strong> Christentum wie bei vielen se<strong>in</strong>er Freunde <strong>in</strong> dieser Zeit der Prüfungenstetig wuchs, sagte oft, die Menschen sängen Luthers Zeilen: »Nehmen sie <strong>den</strong>Leib, Gut, Ehr, K<strong>in</strong>d und Weib lass fahren dah<strong>in</strong>, sie haben`s ke<strong>in</strong> Gew<strong>in</strong>n,277Die polnische Regierung gestaltete nach dem Krieg die Mordstätte zu e<strong>in</strong>er großen Ge<strong>den</strong>kstätteum. In der Mitte ragt e<strong>in</strong> hohes ste<strong>in</strong>ernes Kreuz, s. a.: Jansen, Christian u. Weckbecker,Arno, Der Volksdeutsche Selbstschutz <strong>in</strong> Polen 1939/40, München 1992, S. 215 Nr. 51.110


<strong>das</strong> Reich muss uns doch bleiben«, 278 handelten aber nicht danach. Er selbstwar ganz bewusst zum letzten Opfer bereit.Zunächst jedoch siegte weiter die Infamie. Nachdem Hitler 28 (!) Mal <strong>den</strong>Angriffsterm<strong>in</strong> <strong>gegen</strong> Frankreich verschoben hatte, begann der Krieg im Westenam 10. Mai 1940. Schwer<strong>in</strong> machte im Stab der 1. Armee <strong>den</strong> Westfeldzugmit. Nach dem Fall von Paris ernannte ihn Witzleben zu se<strong>in</strong>em persönlichenOrdonnanz-Offizier. Schwer<strong>in</strong> blieb <strong>in</strong> dieser Stellung auch, nachdemWitzleben zum Feldmarschall und Oberbefehlshaber West befördert wor<strong>den</strong>war. Ihre Wege trennten sich vorläufig, als der Marschall im März 1942 <strong>in</strong>die sog. Führerreserve versetzt wurde.Helmut Graf v. Moltke sprach nach dem Sieg im Westen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Brief anPeter Yorck von e<strong>in</strong>em »Triumph des Bösen« und forderte, e<strong>in</strong> Voltaire-Wortbenützend, »écrasez l’<strong>in</strong>fame«. Dies war der Beg<strong>in</strong>n der Zusammenarbeitzwischen Moltke und Yorck, die zur Bildung des Kreisauer Kreises führte.Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Freunde Schulenburg und Kessel gehörten zum Umfelddes Kreisauer Kreises. Schwer<strong>in</strong>s Kontakt lief nahezu ausschließlich über PeterYorck, während Kessel vor allem 1940/41 und Schulenburg neben ihremalten Freund Yorck auch mit Moltke direkten Gesprächskontakt hatten. FürSchwer<strong>in</strong> war die Nähe und der Zugang zum Kreisauer Gedankengut wichtig,da es von Männern se<strong>in</strong>er Generation und se<strong>in</strong>es Vertrauens erarbeitetwor<strong>den</strong> war. Es s<strong>in</strong>d von Schwer<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e schriftlichen Ausarbeitungen zupolitischen emen überliefert und es hat sie vermutlich auch nie gegeben.Er war, wenn auch politisch/historisch belesen, nicht der Mann theoretischerErörterungen, sondern praktischer, zielgerichteter Aktionen. Se<strong>in</strong> Ziel warder Sturz des <strong>Regime</strong>s.Zu diesem Zweck suchte er E<strong>in</strong>fluss auf Witzleben zu nehmen und <strong>den</strong>Marschall, vor allem nach dessen Versetzung <strong>in</strong> die Führerreserve, bei der»Stange« zu halten. Lange Zeit waren er wie auch Witzleben offenbar überzeugt,<strong>das</strong>s man die Rückkehr zur Legalität nicht mit e<strong>in</strong>em Mord beg<strong>in</strong>nenund Hitler nicht durch e<strong>in</strong> Attentat zu e<strong>in</strong>em Märtyrer machen dürfe. Se<strong>in</strong>eFreunde waren <strong>in</strong> dieser Frage offensichtlich seit langem unterschiedlicherAuffassung. 279 Vor dem H<strong>in</strong>tergrund der militärischen Lage hatten Witzlebenund Schwer<strong>in</strong> <strong>in</strong> dieser Frage offenbar umgedacht. Se<strong>in</strong>en Gestapo-Vernehmernerklärte Schwer<strong>in</strong> später, <strong>das</strong> Attentat »sei nicht Mord, sondern e<strong>in</strong> Gericht…278»E<strong>in</strong>e feste Burg ist unser Gott«, Strophe 4.279Schwer<strong>in</strong> 1994, (wie Anm. 275), S. 185 f.111


Se<strong>in</strong> Tod sei die e<strong>in</strong>zige Chance, dem deutschen Volk wieder Befreiung zuverschaffen.« 280Der deutsche Siegeszug war im Dezember 1941 vor <strong>den</strong> Toren Moskausdurch die Rote Armee gestoppt wor<strong>den</strong>. Hitler hatte v. Brauchitsch entlassenund zusätzlich <strong>den</strong> Oberbefehl über die Armee übernommen. Witzleben warunter <strong>den</strong> ca. 3 000 deutschen Generälen e<strong>in</strong> »weißer Rabe«. 281 Aus diesemGrund sagte ihm e<strong>in</strong> Mitarbeiter nach dem Sturz Brauchitschs: »Es ist Zeit!Alle Augen blicken auf Herrn Generalfeldmarschall!« 282 Wie realistisch e<strong>in</strong>»isolierter« Umsturzversuch von Westen her war, war natürlich stark umstritten.Das Drängen der Berl<strong>in</strong>er Verschwörer war vielleicht auch e<strong>in</strong> Zeichenihrer Ratlosigkeit. Witzleben wollte nun angeblich <strong>den</strong> Staatsstreich wagen,wenn zum<strong>in</strong>dest der Generalstabschef Halder mitmache. Hitler sollte nachParis e<strong>in</strong>gela<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>. Schwer<strong>in</strong> hatte sich zu dem Attentat bereit erklärt. 283Halder lehnte ab. Witzleben wurde zeitgleich krank und danach abgelöst– vielleicht auch wegen dieses Ans<strong>in</strong>nens an Halder?Moltke berichtet von Mutlosigkeit und Willenslähmung bei <strong>den</strong> Berl<strong>in</strong>erVerschwörern nach diesem erneuten Fehlschlag. Zu viele Hoffnungen hattensich an Witzleben geknüpft. Die Berl<strong>in</strong>er beschlossen <strong>in</strong> dieser Situation, beiBeck alle Fä<strong>den</strong> zusammenlaufen zu lassen. In Paris wurde Schwer<strong>in</strong> durchse<strong>in</strong>en <strong>in</strong>zwischen neuen Chef des Stabes beim OB West, dem NationalsozialistenKurt Zeitzler, nach Utrecht versetzt. Schwer<strong>in</strong> trat dort <strong>in</strong> Kontaktmit dem niederländischen <strong>Widerstand</strong>, um über diesen e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung nachEngland zu knüpfen. Der deutsche <strong>Widerstand</strong> hoffte seit <strong>den</strong> Krisen von1938, <strong>in</strong> der englischen Regierung e<strong>in</strong>en Bündnispartner <strong>gegen</strong> Hitler zuf<strong>in</strong><strong>den</strong>. Vergeblich auch diesmal! Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Freunde konnten nichtwissen, <strong>das</strong>s Churchill als Premier 1940 je<strong>den</strong> Gesprächskontakt mit dem<strong>Widerstand</strong> für <strong>in</strong>opportun erklärt hatte.Sieben Monate blieb Schwer<strong>in</strong> <strong>in</strong> Utrecht. Se<strong>in</strong>e Versetzung zum Stab derDivision Bran<strong>den</strong>burg nach Berl<strong>in</strong> Mitte Februar 1943 war wieder von Ostermit Hilfe General Friedrich Olbrichts <strong>in</strong> die Wege geleitet wor<strong>den</strong>. Die DivisionBran<strong>den</strong>burg war der Abwehr unter Canaris unterstellt und von <strong>den</strong>Planern des Staatsstreiches um Olbricht und Oster für <strong>den</strong> Staatsstreich als280Aufzeichnungen des SS-Obersturmbannführers Dr. Georg Kiesel, <strong>in</strong>: NordwestdeutscheHefte,H.2, 1947, S.19.281Nur 21 weitere deutsche Offiziere im Generalsrang, die allermeisten ohne Truppenkommandos,arbeiteten im <strong>Widerstand</strong> mit oder stan<strong>den</strong> ihm doch nahe.282Schwer<strong>in</strong> 1994, (wie Anm. 275), S. 231.283Dito, S. 233.112


E<strong>in</strong>satztruppe vorgesehen. Oster versuchte, sie mit zuverlässigen Offizieren zubesetzen. Nach der Tragödie der 6. Armee <strong>in</strong> Stal<strong>in</strong>grad schien <strong>in</strong>nenpolitischund psychologisch der Zeitpunkt endgültig reif für <strong>den</strong> Staatsstreich. Schwer<strong>in</strong>saß zum ersten Mal seit 1938 örtlich wie organisatorisch im Zentrum derVerschwörung.Die zwei Attentatsversuche, die im März 1943 von Henn<strong>in</strong>g v. Tresckowaus dem Stab der Heeresgruppe Mitte heraus organisiert wor<strong>den</strong> waren,schlugen fehl. In <strong>den</strong> gleichen Tagen erkrankte Beck, die »Zentrale« des<strong>Widerstand</strong>es, an Krebs und musste <strong>in</strong> <strong>den</strong> nächsten vier Monaten fünf Malvon Sauerbruch operiert wer<strong>den</strong>. Anfang April wur<strong>den</strong> Dohnanyi, se<strong>in</strong>eFrau und se<strong>in</strong> Schwager Dietrich Bonhoeffer von der Gestapo verhaftet. IhrVorgesetzter Oster bekam Hausarrest und wurde <strong>in</strong> die Führerreserve versetztund kaltgestellt. Es war der erste erfolgreiche Schlag der Gestapo <strong>in</strong> <strong>das</strong> Herzdes <strong>Widerstand</strong>s. Es bleibt bemerkenswert, <strong>das</strong>s dieser Teil des deutschen<strong>Widerstand</strong>s im Gegensatz zu dem kommunistischen weitgehend <strong>gegen</strong> Denunziationenimmun war. Hier unterban<strong>den</strong> militärischer Corpsgeist undsoziale Kohäsion offenbar diese, <strong>in</strong> der Bevölkerung weiterverbreitete, Seuche.Die Niedergeschlagenheit nach dem Fehlschlag der Märzattentate wichnach dem Scheitern der Ostoffensive »Zitadelle« und dem Sturz Mussol<strong>in</strong>isam 25. Juli 1943 neuer Hoffnung. Sechs Tage später wurde der von Olbrichtund Tresckow überarbeitete Plan »Walküre«, mit dessen Hilfe Truppen desErsatzheeres für <strong>den</strong> Staatsstreich mobilisiert wer<strong>den</strong> konnten, an die 18Wehrkreiskommandos mit Sonderkurier geschickt. Heute wissen wir, <strong>das</strong>sder Plan Walküre erst zwölf Monate später e<strong>in</strong>gesetzt wer<strong>den</strong> konnte. Wederim August, noch im November oder Dezember 1943 erfolgte der so bitternotwendige Schlag. Die Gründe s<strong>in</strong>d vielschichtig und nur zum Teil bekanntgewor<strong>den</strong>. In Berl<strong>in</strong> beschleunigte sich durch die Rückkehr Becks vom Krankenlagerund durch <strong>das</strong> Kommen Claus Stauffenbergs Mitte September 1943<strong>das</strong> Tempo der <strong>Widerstand</strong>saktivitäten.Schwer<strong>in</strong> fand sich <strong>in</strong> diese vielschichtigen Aktivitäten e<strong>in</strong>gebun<strong>den</strong>. Aufder e<strong>in</strong>en Seite Schulenburg mit Sondierungen <strong>in</strong> Frankreich und Dänemark,dann Brücklmeier mit Vermittlungen zwischen Goerdeler und <strong>den</strong>Botschaftern Hassell sowie Schulenburg, Verb<strong>in</strong>dungen zu Leuschner undOlbricht, auf der anderen Seite Yorck mit dem Kreisauer Kreis. Die Kreisauerverabschiedeten bei ihrem dritten Treffen im schlesischen Kreisau (Pf<strong>in</strong>gsten1943) ihre Gesprächsergebnisse <strong>in</strong> fünf Dokumenten. Am 9. August schickteYorck mit e<strong>in</strong>em Kurier die »Erste Weisung und die Sonderweisung an dieLandesverweser« zu <strong>den</strong> jesuitischen Freun<strong>den</strong> nach München. Die Kreisauer113


wollten für <strong>den</strong> Mitte August geplanten Staatsstreich gerüstet se<strong>in</strong>. DurchYorck oder Schulenburg lernte Schwer<strong>in</strong> auch bald nach dessen Ankunft <strong>in</strong>Berl<strong>in</strong> Stauffenberg kennen.Der Zugang zu der ihm bis dah<strong>in</strong> frem<strong>den</strong> Welt des deutschen <strong>Widerstand</strong>swurde Stauffenberg durch se<strong>in</strong>en Onkel Nikolaus Graf v. Üxküll-Gyllenbandund se<strong>in</strong>en Bruder Berthold, sowie durch die Männer se<strong>in</strong>er Generation, Yorck,Schulenburg, Schwer<strong>in</strong> und Brücklmeier, erschlossen. Zu Brücklmeier warStauffenbergs Kontakt offenbar bald so eng, <strong>das</strong>s er se<strong>in</strong>en 36. Geburtstagim November 1943 <strong>in</strong> dessen Wohnung feierte. Stauffenberg und Schwer<strong>in</strong>duzten sich von Anfang an und gaben sich, um ihren engen und regen Kontaktzu begrün<strong>den</strong>, als alte Jugendfreunde aus, was nicht der Fall war. Schwer<strong>in</strong>wurde bald zu e<strong>in</strong>em der häufigsten Besucher <strong>in</strong> Stauffenbergs Büro <strong>in</strong> derBendlerstraße, Stauffenberg wiederum besuchte Schwer<strong>in</strong> und Brücklmeier, die<strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> ausgebombt seit Ende November zusammen wohnten, wöchentlichmehrmals <strong>in</strong> ihrer Potsdamer Wohnung.Schwer<strong>in</strong>s Stellung <strong>in</strong> diesem Beziehungsgeflecht ab Herbst 1943 wirddadurch deutlich, <strong>das</strong>s ihn Beck, die anerkannte »Zentrale« des <strong>Widerstand</strong>sund <strong>in</strong> der <strong>Widerstand</strong>shierarchie dann designiertes Staatsoberhaupt, zu se<strong>in</strong>errechten Hand machte. Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>e Freunde waren eng <strong>in</strong> die schwierigeund gefährliche Personalplanung des Staatsstreiches e<strong>in</strong>gebun<strong>den</strong>: <strong>das</strong> F<strong>in</strong><strong>den</strong>der Attentäter, der sog. politischen Beauftragten für die 18 Wehrkreise, derVerb<strong>in</strong>dungsoffiziere, der Spitzenbeamten und schließlich des Kab<strong>in</strong>etts. Ende1943 wurde Schwer<strong>in</strong> <strong>in</strong> Gegenwart von Jakob Kaiser, Wilhelm Leuschnerund Josef Wirmer die Liste der politischen Beauftragten für Beck übergeben.Speziell die Zusammenstellung der Kab<strong>in</strong>ettsliste war e<strong>in</strong> konfliktreicherProzess im Stil von Koalitionsverhandlungen, der, im wesentlichen von CarlGoerdeler betrieben, sich über Monate h<strong>in</strong>zog. Die designierte Regierungdes <strong>Widerstand</strong>s band schließlich alle politischen Kräfte Weimars e<strong>in</strong> mitAusnahme der Kommunisten und der Nazis. Schwer<strong>in</strong>, Yorck und Schulenburgwaren als Staatssekretäre des Staatsoberhauptes, des Kanzlers und desInnenm<strong>in</strong>isters vorgesehen.Schwer<strong>in</strong> und <strong>den</strong> Freun<strong>den</strong> aus se<strong>in</strong>em sozialen Umfeld war vor allem dieBegegnung mit <strong>den</strong> Sozialdemokraten und Gewerkschaftsführern e<strong>in</strong>e neueund bewusst wahrgenommene, persönlich bereichernde Erfahrung. In derillegalen Zusammenarbeit im Schatten des Galgens entstan<strong>den</strong> e<strong>in</strong> Vertrauenund e<strong>in</strong>e Solidarität, die sonst kaum möglich gewesen wären. Schwer<strong>in</strong>und Schulenburg wur<strong>den</strong> zum B<strong>in</strong>deglied zwischen <strong>den</strong> Militärs und diesenMännern des l<strong>in</strong>ken Spektrums. 284114


Schwer<strong>in</strong> wurde zum 1. Mai 1944 von der Division Bran<strong>den</strong>burg <strong>in</strong> e<strong>in</strong>eDienststelle des OKH versetzt, die <strong>in</strong> unmittelbarer Nähe des Stabs des Ersatzheeres,dem Büro Stauffenbergs, lag. In Schwer<strong>in</strong>s Büro warteten am 20.Juli auch Berthold Stauffenberg, Schulenburg und Yorck auf e<strong>in</strong>e Nachrichtvon Claus Stauffenberg über <strong>den</strong> Ausgang des Attentats. Als der Anruf <strong>gegen</strong>15 Uhr kam, holte Schwer<strong>in</strong> Beck aus Lichterfelde ab, die übrigen g<strong>in</strong>genh<strong>in</strong>über zum Stab des Ersatzheeres <strong>in</strong> die Bendlerstraße. In <strong>den</strong> letzten Stun<strong>den</strong>des Tages brach der Staatsstreichversuch zusammen. Stauffenberg, Olbricht,Albrecht Mertz v. Quirnheim und Werner v. Haeften wur<strong>den</strong> sofort noch imHof der Bendlerstraße exekutiert, Beck beg<strong>in</strong>g Selbstmord. Schwer<strong>in</strong> und se<strong>in</strong>eFreunde wur<strong>den</strong> <strong>in</strong> der Bendlerstraße verhaftet und zeitweise im Hausgefängnisder Gestapo <strong>in</strong> der Pr<strong>in</strong>z Albrecht Straße, zeitweise im Gefängnisblock desKZ Ravensbrück gefangen gehalten. Nachdem York und Witzleben bereitsim ersten Volksgerichtshof-Prozess von Freisler zum Tode verurteilt undsofort h<strong>in</strong>gerichtet wor<strong>den</strong> waren, Schulenburg und Berthold Stauffenbergim dritten Prozess, wurde Schwer<strong>in</strong> im vierten Prozess am 21. August zumTode verurteilt und am 8. September <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong>-Plötzensee h<strong>in</strong>gerichtet. Se<strong>in</strong>eWitwe und Söhne kamen <strong>in</strong> Güstrow und Bad Sachsa <strong>in</strong> »Sippenhaft«. DasVermögen »verfiel dem Reich«.In der Jackentasche des von der SS ermordeten Albrecht Haushofer fan<strong>den</strong>sich Ende April 1945 diese Zeilen:»Als ich <strong>in</strong> dumpfes Träumen heut versank,sah ich die ganz Schar vorüberziehn:Die Yorck und Moltke, Schulenburg, Schwer<strong>in</strong>,die Hassell, Popitz, Helfferich und Planck –nicht e<strong>in</strong>er, der des eignen Vorteils dachte,nicht e<strong>in</strong>er, der gefühlten Pflichten bar,<strong>in</strong> Glanz und Macht, <strong>in</strong> tödlicher Gefahr,nicht um des Volkes Leben sorgend wachte…Es gibt wohl Zeiten, die der Irrs<strong>in</strong>n lenkt,dann s<strong>in</strong>d’s die besten Köpfe, die man henkt.« 284Dito, S. 355.115


V. Zum Umgang mit der VergangenheitDieter Krüger, Neubran<strong>den</strong>burgOtto Ernst Remer – E<strong>in</strong> Offizier zwischen Eidund Unkenntnis. E<strong>in</strong>e Person des Rechtsextremismusnach 194520. Juli 1944 – »Etwas war geschehen, was es <strong>in</strong> der deutschen Geschichtenoch nie gegeben hatte«, schrieb der Schriftsteller Carl Zuckmayer <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em»Memento«. Der Aufstand der Offiziere und die Pläne der weitreichen<strong>den</strong>Verschwörergruppe waren fürwahr e<strong>in</strong> Modellfall der Auflehnung im 20.Jahrhundert. Kurzzeitig stand Deutschland für e<strong>in</strong>en Wimpernschlag derGeschichte unter der Doppelbelastung von Welt- und Bürgerkrieg. In der»Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher <strong>Widerstand</strong>« im Bendlerblock Berl<strong>in</strong>s wird sehr <strong>in</strong>sDetail gehend der 20. Juli 1944 behandelt.Sicher kann es nicht <strong>das</strong> Anliegen dieser Ge<strong>den</strong>kstätte se<strong>in</strong>, auf Remerbesonders e<strong>in</strong>zugehen. Was wissen wir über diesen damals 32-jährigen Majoraus der Elitedivision »Groß Deutschland«?Am 30. Januar 1945 wur<strong>den</strong> zwei Divisionskommandeure, beide Oberste, zuGeneralmajoren von Hitler persönlich ernannt. Der e<strong>in</strong>e war der Kommandeurder »Führungsgrenadierdivision« Maeder, der andere war Remer, Kommandeurder »Panzer-Führer-Begleitdivision«. Maeder wurde als Generalmajor <strong>in</strong> dieneuaufgestellte Bundeswehr übernommen. Remer verortete sich nach demKrieg im politisch rechten Spektrum der Westzonen/BRD. Zwei Lebenswegenach 1945, und doch so unterschiedlich.Remer wurde 1912 als ältester von sechs Söhnen der Familie Otto Remer<strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burg geboren. Der Vater war Justizangestellter, später Beamter.Sohn Otto Ernst besuchte <strong>das</strong> Neubran<strong>den</strong>burger »Humanistische Gymnasium«und legte 1933 <strong>das</strong> Abitur ab. Er engagierte sich im »Jungsturm«, derJugendabteilung des Stahlhelms. Schirmherr des Jungsturms war der ehemaligekaiserliche Generalfeldmarschall von Mackensen.Nach Angaben von Remer eröffnete dieser ihm <strong>den</strong> Weg <strong>in</strong> die Reichswehr.1933 trat er als Fahnenjunker <strong>in</strong> <strong>das</strong> Preußische Infanterie-<strong>Regime</strong>nt Nr. 4 <strong>in</strong>Kolberg e<strong>in</strong>, 1935 Ernennung zum Leutnant, im Zweiten Weltkrieg E<strong>in</strong>satzan allen Fronten (außer Norwegen und Afrika). Remer erlitt achtmal e<strong>in</strong>eVerwundung, zwei se<strong>in</strong>er Brüder s<strong>in</strong>d gefallen. Se<strong>in</strong>e von Hitler persönlich116


verliehene höchste Auszeichnung war <strong>das</strong> Eichenlaub zum Ritterkreuz desEisernen Kreuzes. Remer wurde durch die <strong>NS</strong>-Propaganda über <strong>den</strong> 20. Juli1944 bekannt. Ab September 1944 war er Kampfkommandant der »Wolfsschanze«,anschließend Brigade- bzw. Divisionskommandeur. Se<strong>in</strong>e Divisionwurde im Raum Spremberg im April 1945 von der Roten Armee zerschlagen.Remer gelang es, sich abzusetzen und durch amerikanische Truppen gefangengenommen zu wer<strong>den</strong>. Nach kurzer amerikanischer Kriegsgefangenenschaftbetätigte er sich <strong>in</strong> Niedersachsen und später im ganzen Bundesgebiet politischrechtsextrem. Bed<strong>in</strong>gt durch se<strong>in</strong>e politische Haltung wurde er mehrmals gerichtlichbelangt bzw. verurteilt. 1952 entzog er sich der Haft durch die Fluchtnach Ägypten und 1993 emigrierte er nach Spanien, wo er 1997 verstarb.Soweit e<strong>in</strong> kurzer Überblick.Remer war Frontoffizier, dekoriert für se<strong>in</strong>e militärischen Leistungen. Sozusagenzur »Erholung« wurde er im Mai 1944 nach Berl<strong>in</strong> als Kommandeurdes dortigen Wachbataillons »Großdeutschland« versetzt. Remer war vor se<strong>in</strong>erVersetzung Bataillonskommandeur e<strong>in</strong>es Panzergrenadierbataillons und mit derFührung e<strong>in</strong>es <strong>Regime</strong>ntes der Division »Groß Deutschland« beauftragt. Biszum Mai 1944 hatte diese Division ke<strong>in</strong>e Niederlage erlitten, hatte erfolgreich<strong>gegen</strong> die Rote Armee gekämpft. Die Division galt als »Elite« der Wehrmachtund wurde sowohl personell als auch technisch überproportional versorgt.Protektor der Division war Reichspropaganda-M<strong>in</strong>ister und Gauleiter vonBerl<strong>in</strong> Dr. Joseph Goebbels, was dann am 20. Juli e<strong>in</strong>e Rolle gespielt hat.Ich möchte hier herausstellen: Otto Ernst Remer hatte ke<strong>in</strong>e Generalstabsausbildung.Über <strong>den</strong> Horizont e<strong>in</strong>es Bataillons h<strong>in</strong>aus hatte er ke<strong>in</strong>eErkenntnisse. Anders als eben Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg alsStabschef des Ersatzheeres, wie Admiral Wilhelm Canaris, Chef der deutschenAbwehr oder Erich Fellgiebel, Chef des Nachrichtenwesens der Wehrmacht,die ja alle operative bzw. strategische Kenntnisse besaßen und sich natürlichGedanken über die s<strong>in</strong>nlose Fortsetzung des Krieges machten und auch dementsprechendhandelten. Remer aber lebte <strong>in</strong> der Welt der <strong>NS</strong>-Propaganda,soweit er sich als Soldat dafür überhaupt <strong>in</strong>teressierte.Und so wurde er am 20. Juli 1944 von <strong>den</strong> Ereignissen völlig überrascht.Später schrieb er: »Der 20. Juli begann wie e<strong>in</strong> ganz normaler Tag. Um 16.10Uhr erreichte mich der Befehl, mich sofort zu e<strong>in</strong>er Besprechung bei derKommandantur (geme<strong>in</strong>t ist die Stadtkommandantur Groß-Berl<strong>in</strong>, D. K.)zu mel<strong>den</strong>. Stadtkommandant war der Generalleutnant von Hase, der sichimmer sehr nationalsozialistisch gab.« Von Hase wurde als Mitverschwörerh<strong>in</strong>gerichtet. 285117


Oberleutnant Dr. Hagen, Propagandaoffizier und dem Wachbataillon wirtschaftlichunterstellt, schrieb: »Kurz nach 16.10 Uhr kam, vom AdjutantenLeutnant Siebert gemeldet, <strong>das</strong> Stichwort ›Walküre‹ durch. Gegen 16.45 Uhrkehrte Major Remer zurück, kreidebleich und eröffnete dem Adjutanten undmir: ›Auf <strong>den</strong> Führer ist e<strong>in</strong> Attentat verübt wor<strong>den</strong>.‹« Remer führte befehlsgemäßdie Absperrung des Regierungsviertels durch. Doch er war sich über dieSituation nicht im klaren. Als Frontsoldat war er e<strong>in</strong>deutige Befehle gewöhnt.Warum formulierte General von Hase vieles so unklar? Remer später: »Gab eseventuell e<strong>in</strong>en Machtkampf um die Hitlernachfolge?« Oberleutnant Hagen zuRemer laut Protokoll: »Ich hatte e<strong>in</strong>en furchtbaren Verdacht, hier st<strong>in</strong>kts.«Hagen hatte <strong>in</strong>zwischen Kontakt mit Goebbels aufgenommen. RemersWachbataillon war <strong>in</strong> Groß-Berl<strong>in</strong> die e<strong>in</strong>zige militärische Macht und somitvon Bedeutung. Hagen: »Herr Major, Sie sollen zu Dr. Goebbels kommen.«Als Remer <strong>das</strong> dem General Hase mitteilte, befahl dieser: »Remer, Sie bleibenhier.« Remer wusste nun, er saß zwischen zwei Stühlen.Trotz des Verbotes fuhr er zu Goebbels. Dieser ließ e<strong>in</strong>en so genannten»Führerblitz« (Sofortgespräch) zur Wolfsschanze herstellen. Es war <strong>gegen</strong>19.00 Uhr. Zu dieser Zeit konnte General Fellgiebel die Nachrichtensperrenicht mehr aufrechterhalten. Es kam zu dem bekannten Gespräch mit Hitler.Remer später: »Jetzt wußte ich, es g<strong>in</strong>g um me<strong>in</strong>en Kopf.«Er ließ <strong>den</strong> Belagerungsr<strong>in</strong>g um <strong>das</strong> Regierungsviertel aufheben und schlossse<strong>in</strong>en »Gefechtsstand« nun <strong>in</strong> der Goebbelsvilla auf. Das Bataillon wurde zusammengezogen.Zwischen 20.30 Uhr und 21.00 Uhr sprach Goebbels zu dem<strong>in</strong> der damaligen Hermann-Gör<strong>in</strong>g-Straße (heute Ebert-Straße) angetretenenBataillon. Remer befahl nun, <strong>den</strong> Bendlerblock zu belagern.Welcher psychischen Belastung die nicht <strong>in</strong> die Verschwörung e<strong>in</strong>geweihtenSoldaten unterlagen, zeigt der Bericht von Leutnant Arens, wachhabenderOffizier im Bendlerblock am Nachmittag des 20. Juli 1944: »Gegen 16.45 Uhrwurde die Wache durch General Olbricht alarmiert. Auftrag: Alle Ausgängesperren. Ich meldete mich befehlsgemäß bei General Olbricht. Dieser sagte,Hitler sei tot. Das Heer habe die Befehlsgewalt. Es müsse damit gerechnetwer<strong>den</strong>, <strong>das</strong>s SS auf LKW auffahren würde. Die SS sei sofort zu bekämpfen.Der Befehl des Generals Olbricht, die SS zu bekämpfen, ließ mich Furchtbaresahnen.«285Alle weiteren Zitate s<strong>in</strong>d <strong>den</strong> Vernehmungsprotokollen/Rechtfertigungsberichten entnommen,die der Sicherheitsdienst/Reichssicherheitshauptamt zu Protokoll nahm bzw. anfertigen ließ.118


Oberleutnant Schlee, Kompaniechef der 4. Kompanie schrieb: »Major Remerwar bei Reichsm<strong>in</strong>ister Dr. Goebbels. Dort meldete ich, <strong>das</strong>s die gesamteVerrräterclique im Gebäude des OKW (Oberkommando der Wehrmacht,D. K.) sitzt.«Das OKW hatte alle im Umkreis stationierten Truppen des Ersatzheeresalarmiert und zum Marsch auf Berl<strong>in</strong> befohlen. Remer stoppte die Truppenbewegungenmit dem Verweis auf se<strong>in</strong>e durch Hitler ausdrücklich erteilteBefehlsgewalt. Er brachte auch <strong>den</strong> Rundfunk unter se<strong>in</strong>e Kontrolle. Das»Normalprogramm« lief weiter. Zu diesem Zeitpunkt, es war <strong>gegen</strong> 22.30Uhr, waren im Bendlerblock die Würfel gefallen. E<strong>in</strong>e Gruppe hitlertreuerOffiziere war zum bewaffneten »Gegenstoß« angetreten. Remer gab nachetwa 22.00 Uhr dem Oberleutnant Schlee <strong>den</strong> Befehl, <strong>den</strong> Bendlerblock zubesetzen. Alle Offiziere, soweit sie sich nicht zu Hitler bekannten, seien unterArrest zu stellen. Das geschah dann ab etwa 23.15 Uhr.Generaloberst Fromm ließ aus der 4. Kompanie e<strong>in</strong> Exekutionskommandozusammenstellen. Offenbar fürchtete er, belastet zu wer<strong>den</strong> (Fromm wurdespäter ebenfalls h<strong>in</strong>gerichtet). Am 21. Juli 1944 um 00.30 Uhr fand danndie Erschießung von Oberst Stauffenberg und se<strong>in</strong>er Mitstreiter im Innenhofdes Bendlerblockes statt. Die letzten Worte Staufenbergs waren: Es lebe <strong>das</strong>heilige Deutschland.«Remer traf erst anschließend im OKW e<strong>in</strong> und erstattete ObersturmbannführerSkorzeny Meldung. Durch <strong>das</strong> Reichssicherheitshauptamt und<strong>das</strong> Justizm<strong>in</strong>isterium wurde auch <strong>gegen</strong> Remer ermittelt. Man fand jedochke<strong>in</strong>en Anhaltspunkt e<strong>in</strong>er Mitwisserschaft oder e<strong>in</strong>es Verhaltens <strong>gegen</strong> <strong>den</strong>geleisteten Eid auf Hitler. Remer hatte ke<strong>in</strong>erlei Kontakte zu <strong>den</strong> Männern des20. Juli, von se<strong>in</strong>em Vorgesetzten, General von Hase, abgesehen, der sich aberRemer <strong>gegen</strong>über nicht als Hitlergegner zu erkennen gab. Aus der Elitedivision»Großdeutschland« war niemand am Aufstand beteiligt.Remer wurde von der <strong>NS</strong>-Propaganda als Galionsfigur hochgejubelt. Als eram 13. August 1944 <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burg empfangen wurde, war die ganze Stadtauf <strong>den</strong> Be<strong>in</strong>en. Doch nach 1945 wollte niemand mehr dabei gewesen se<strong>in</strong>.Aber zurück zu <strong>den</strong> Ereignissen des 20. Juli. Der Aufstand der Offiziere istauch ohne Zutun Remers <strong>in</strong>nerhalb des Bendlerblockes gescheitert. Gleichwohlspielte die Entscheidung Remers, am Eid auf Hitler festzuhalten, für<strong>den</strong> Berl<strong>in</strong>er Gang der Ereignisse e<strong>in</strong>e wichtige Rolle.Remer später zu se<strong>in</strong>er Rolle: »Wenn früher oft <strong>das</strong> Gerücht verbreitet wurde,nur durch me<strong>in</strong> E<strong>in</strong>greifen sei e<strong>in</strong> an sich aussichtsreiches Unternehmen am20. Juli gescheitert und ich sei daher dafür verantwortlich … so tut man mir119


gewiß viel Ehre an. Ich persönlich b<strong>in</strong> viel beschei<strong>den</strong>er und nehme nur <strong>das</strong>Verdienst <strong>in</strong> Anspruch, e<strong>in</strong>en bereits von Anfang an mißlungenen Putsch sonachhaltig gedämpft zu haben, daß es zu ke<strong>in</strong>em Bruderkampf kam.«Remers weiterer militärischer Weg war von nun an im Grundpr<strong>in</strong>zip vorgezeichnet.Anfang August 1944 erfolgte unter Auslassung des DienstgradesOberstleutnant die Beförderung zum Oberst, die bereits am 4. Juli vomHeerespersonalamt der Division mitgeteilt wor<strong>den</strong> war.Anfang September ist der E<strong>in</strong>satz Remers als Kampfkommandant der sogenannten »Wolfsschanze«, Hitlers Hauptquartier <strong>in</strong> Ostpreußen, nachgewiesen.Im Zuge der Räumung, bed<strong>in</strong>gt durch <strong>den</strong> Vormarsch der RotenArmee, wurde aus <strong>den</strong> Sicherungstruppen des Raumes »Wolfsschanze« e<strong>in</strong>e»Führerbegleitbrigade«, Kommandeur Oberst Remer, gebildet.Die Brigade nahm an der Ar<strong>den</strong>nenoffensive teil. Nach deren Scheiternerfolgte die Auffrischung der Brigade im Raum Ma<strong>in</strong>z bei gleichzeitigerAufstockung zur Panzerdivision »Panzer-Führerbegleitdivision« und dieVerlegung an die Ostfront. Beim E<strong>in</strong>satz als Gegenangriffsgruppierung beiLauban war die Division zwar erfolgreich, schrumpfte aber auf die Stärkee<strong>in</strong>er Kampfgruppe.Im April 1945 im Rahmen der sowjetischen »Berl<strong>in</strong>er Operation« wurdeRemers Truppe im Raum Spremberg e<strong>in</strong>gekesselt und zerschlagen. GeneralRemer entledigte sich se<strong>in</strong>er Uniform und sickerte mit e<strong>in</strong>er Restgruppe <strong>in</strong>Zivil durch <strong>den</strong> sowjetischen E<strong>in</strong>schließungsr<strong>in</strong>g, so Remer bzw. Darstellungenüber die damalige Situation. Die Gruppe gelangte bis zu <strong>den</strong> Resten derDivision »Frunsberg«, die sich über <strong>das</strong> Erzgebirge nach Sü<strong>den</strong> bis <strong>in</strong> <strong>den</strong>Raum Teplitz/Brüx zurückzog.Hier g<strong>in</strong>gen die deutschen Truppenreste <strong>in</strong> amerikanische Kriegsgefangenenschaft.Remer gab über die Gefangenschaft nur an, <strong>das</strong>s er und die anderenGeneräle bzw. Generalstabsoffiziere gut behandelt wur<strong>den</strong>. Er wurde entlassenund <strong>in</strong> <strong>den</strong> Westzonen dem Entnazifizierungsverfahren unterworfen, obwohler der <strong>NS</strong>DAP bzw. <strong>den</strong> angeschlossenen Verbän<strong>den</strong> und Gliederungen nichtangehört hatte. Er wurde als »Mitläufer« <strong>in</strong> die Gruppe V, als von e<strong>in</strong>er Schuldnicht betroffen, e<strong>in</strong>gestuft. Nach offiziellen Dokumenten trat er ab 1980 (vermutlichaber schon viel früher) als Buchhändler und Verleger auf. 1951 erschien<strong>in</strong> Hamburg von ihm e<strong>in</strong>e Veröffentlichung über <strong>den</strong> 20. Juli 1944.Im Juni 1949 fand <strong>in</strong> Bad Godesberg e<strong>in</strong>e Zusammenkunft statt, <strong>in</strong> derenErgebnis die rechtsextreme »Geme<strong>in</strong>schaft unabhängiger Deutscher« entstand.Sie versuchte, unabhängige Kandidaten bei der Bundestagswahl 1949 aufstellenzu lassen. Nach dem Scheitern dieses Versuchs gehörte Remer zu <strong>den</strong>120


Gründungsmitgliedern der rechtsextremen Sozialistischen Reichspartei am2. Oktober 1949. Remer war <strong>in</strong> dieser Partei Stellvertretender Vorsitzender.Diese Partei erhielt bei <strong>den</strong> Kommunalwahlen <strong>in</strong> Niedersachsen 1951 360000 Stimmen. 1952 wurde die Partei durch <strong>das</strong> Bundesverfassungsgericht fürverfassungswidrig erklärt und verboten.Noch vor dem SRP-Verbot verurteilte <strong>das</strong> Landgericht Braunschweig Remerwegen übler Nachrede <strong>in</strong> Tate<strong>in</strong>heit mit Verunglimpfung des An<strong>den</strong>kensVerstorbener zu drei Monaten Gefängnis. Auf e<strong>in</strong>er Wahlkampfveranstaltunghatte er die <strong>Widerstand</strong>skämpfer des 20. Juli verleumdet. Dieser »Remer-Prozess« erlangte <strong>in</strong> der bundesdeutschen Justizgeschichte Bedeutung, da esdem engagierten Generalstaatsanwalt Fritz Bauer gelang, mit dem Urteil dieEhre der Hitler-Attentäter wiederherzustellen und <strong>den</strong> Unrechts-Charakterdes Dritten Reichs deutlich herauszustellen. Sieben Jahre nach Kriegsende undsechs Jahre vor der E<strong>in</strong>richtung der Ludwigsburger Zentralstelle zur staatsanwaltlichenVerfolgung von <strong>NS</strong>-Verbrechen bedeutete dieses Urteil e<strong>in</strong>enwichtigen Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit. Der Strafvollstreckungentzog sich Remer durch Flucht nach Ägypten und Syrien.In <strong>den</strong> 70er Jahren nahm Remer mehrfach an Veranstaltungen der »DeutschenVolksunion« (DVU) teil und war Hauptredner, ab 1983 engagierte ersich <strong>in</strong> der »Deutschen Freiheitsbewegung e.V.« Remer war deren Gründerund Vorsitzender und wurde 1985 vom Amtsgericht Kempten verurteilt.Erneut hatte er die <strong>Widerstand</strong>skämpfer vom 20. Juli geschmäht. Remerbemühte sich auch um <strong>in</strong>ternationale Kontakte zu rechtsgerichteten undantisemitischen Bewegungen. Es gab e<strong>in</strong>en »Remer-Unterstützungskreis«mit der Bezeichnung »Die Freunde im Ausland«. 1982 gründete Remer <strong>den</strong>Freundeskreis »Ulrich von Hutten«.In <strong>den</strong> 1980er Jahren wur<strong>den</strong> die Äußerungen Remers zunehmend aggressiver.In e<strong>in</strong>er Flugblattserie, der »Remer-Depesche«, bestritt er u.a. die Existenzvon Gaskammern <strong>in</strong> Auschwitz. Daraufh<strong>in</strong> verurteilte ihn <strong>das</strong> LandgerichtSchwe<strong>in</strong>furt wegen Volksverhetzung und Aufstachelung zum Rassenhass zue<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe von e<strong>in</strong>em Jahr und zehn Monaten. Nach dem Scheiterndes Revisionsverfahrens tauchte er unter und flüchtete nach Spanien. 1996 entschiedder »Nationale Gerichtshof« <strong>in</strong> Madrid, Remer nicht, wie von deutscherSeite gewünscht, auszuliefern, da es im spanischen Strafgesetz <strong>das</strong> Delikt derVolksverhetzung nicht gibt. Im Oktober 1997 meldeten die <strong>in</strong>ternationalenNachrichtenagenturen <strong>den</strong> natürlichen Tod Remers im Alter von 85 Jahren.121


Fragestellungen zu Otto Ernst Remer:Warum beschränkte er sich nach 1945 nicht auf se<strong>in</strong>e durch die <strong>NS</strong>-Propagandahochgespielte Rolle am 20. Juli?Warum wandte er sich <strong>gegen</strong> die offiziellen Angaben über <strong>den</strong> Holocaust?Warum glaubte er an e<strong>in</strong> Deutschland se<strong>in</strong>er Prägung?Remer schwamm <strong>in</strong> <strong>den</strong> Jahren nach dem Kriegsende auf e<strong>in</strong>er Welle derNichtanerkennung des <strong>Widerstand</strong>s durch große Teile der Bevölkerung <strong>in</strong> <strong>den</strong>Westzonen, aber auch durch die westlichen Siegermächte. Er schrieb darüber:»Die Sieger schätzten damals ke<strong>in</strong>eswegs Widerständler, die sich als Mitsiegerfühlten und gebärdeten. Sie wollten alle<strong>in</strong>e gesiegt haben.«1954 wurde durch <strong>den</strong> damaligen Bundespräsi<strong>den</strong>ten Heuss erstmalig zum10. Jahrestag des 20. Juli e<strong>in</strong>e öffentliche Anerkennung des <strong>Widerstand</strong>s <strong>gegen</strong><strong>das</strong> Hitlerregime bekundet. Doch durch <strong>den</strong> »Kalten Krieg« fan<strong>den</strong> RemersAnsichten auch weiterh<strong>in</strong> <strong>in</strong> der Alt-BRD günstigen Nährbo<strong>den</strong>. Erst Jahrespäter wurde Remer mehr und mehr von der öffentlichen Me<strong>in</strong>ung zum 20.Juli isoliert. Es war die 68er Bewegung <strong>in</strong> der BRD, die neue Fragen zumUmgang mit der Geschichte stellte.Vermutlich war <strong>das</strong> für Remer völlig unverständlich. Zunehmend wandteer sich nun dem ema Holocaust zu. Das ist eigentlich bed<strong>in</strong>gt durchse<strong>in</strong>e Erziehung unverständlich. In Neubran<strong>den</strong>burg waren auch auf dem»Humanistischen Gymnasium« jüdische Schüler. Es gab bis 1933 ke<strong>in</strong>erleiDifferenzen zwischen <strong>den</strong> jüdischen und christlichen bzw. nichtchristlichenBürgern <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burg.Remer entwickelte sich durch se<strong>in</strong>e Rolle am 20. Juli 1944 zu e<strong>in</strong>er Person,die dem <strong>NS</strong>-System nachtrauerte. War er zunächst nur Militarist, so verstrickteer sich immer mehr <strong>in</strong> Vorstellungen e<strong>in</strong>es Deutschlands se<strong>in</strong>er Prägung. Erfühlte sich bis zu se<strong>in</strong>em Tode als »preußischer Offizier«. Soldatentum alsGes<strong>in</strong>nung, Wehrhaftigkeit, Führerpr<strong>in</strong>zip, Befehlsgehorsam und absoluteEidtreue waren für ihn richtungsweisend. Politikwissenschaftler def<strong>in</strong>ierene<strong>in</strong> rechtsextremes Bewusstse<strong>in</strong>sbild durch Autoritarismus, National- und Antisemitismus,D<strong>in</strong>ge, die für Remer zutreffend s<strong>in</strong>d. So schrieb er vor se<strong>in</strong>erEmigration nach Spanien: »Ich b<strong>in</strong> zuversichtlich im Kampf um Deutschland,für Volk und Vaterland.« Remer hat die sich <strong>in</strong> Deutschland verändern<strong>den</strong><strong>in</strong>neren politischen Verhältnisse nicht mehr verstan<strong>den</strong>.Wir müssen ihn <strong>in</strong> der Beurteilung als Relikt se<strong>in</strong>er Zeit sehen, an der diemehrfachen Begegnungen mit Dr. Goebbels entschei<strong>den</strong><strong>den</strong> Anteil hatten.Dem Eid auf Hitler fühlte er sich bis zuletzt verpflichtet. In <strong>den</strong> Jahren nach122


dem Kriege blieb er bei se<strong>in</strong>en Anschauungen. Eben anders als General Maeder,der sich zu e<strong>in</strong>em demokratischen Staatswesen bekannte.Er hat nicht mehr <strong>den</strong> Bundestagsbeschluss vom 6. April 2000 erlebt, <strong>gegen</strong>die Inschrift »Dem deutschen Volke« über dem Westportal des Reichstagsgebäudese<strong>in</strong> Zeichen zu setzen und im Lichthof Nord <strong>in</strong> großen Lettern»Der Bevölkerung« zu schreiben. Der Projektant der Idee begründete, <strong>das</strong>sdie Widmung »agressiv« sei. Die Begriffe »deutsch« und »Volk« hätten im20. Jahrhundert e<strong>in</strong>e unheilsvolle Rolle gespielt. Die Bezeichnung »Volk«grenze nicht nur viele E<strong>in</strong>wohner des Landes aus, sondern sei angesichts derfortschreiten<strong>den</strong> Integration Europas fragwürdig.Wie weit die Ablehnung offenbar nicht mehr zeitgemäßer Begriffe <strong>in</strong>unserem Land geht, wird sichtbar bei l<strong>in</strong>ksgerichteten Demonstrationen.»Ich schäme mich, e<strong>in</strong> Deutscher zu se<strong>in</strong>« kann man auf der Bekleidung vonJugendlichen lesen. Allerd<strong>in</strong>gs auch »Nazis raus« und »K<strong>in</strong>derland statt Vaterland«sowie »Nie wieder Deutschland«. Die Entwicklung <strong>in</strong> Deutschlandg<strong>in</strong>g über Remer h<strong>in</strong>weg. Verzeichnis ausgewerteter Literatur:Jacobsen, Hans-Adolf: Opposition <strong>gegen</strong> Hitler und der Staatsstreich vom20. Juli 1944. Mundus Verlag, Stuttgart 1989, Bd. 1 u. 2Jesse, Eckhard, Biographisches Porträt: Otto Ernst Remer, <strong>in</strong>: Jahrbuch Extremismus& Demokratie 6 (1994), S. 207-221.Remer, Otto Ernst: Verschwörung und Verrat um Hitler. Verlag Remer u.Heipke, Bad Kiss<strong>in</strong>gen 1981. 5. Auflage 1993Tegethoff, Ralph: Generalmajor Otto Ernst Remer - Kommandeur der Führer-Begleit-Division. o. O. DS-Verlag 2003Ausgewertet wurde ferner e<strong>in</strong> Video über Remer, im Buchhandel angebotenab 1991.123


Annette Leo, Berl<strong>in</strong>Ausflug nach Göhren – Die Er<strong>in</strong>nerung an dieVerschwörer des 20. Juli 1944 <strong>in</strong> der DDR undder Umgang mit der Geschichte nach 19901. Von der Rückkehr der GeschichteIm August 1986 unternahm ich mit Mann und Sohn e<strong>in</strong>e Fahrradfahrt durchdie Uckermark und <strong>Mecklenburg</strong>. E<strong>in</strong>e Station unserer Reise war Göhren <strong>in</strong>der Nähe des Großen Sees. In diesem Dorf hatte bis 1945 <strong>das</strong> Schloss desGrafen Schwer<strong>in</strong> von Schwanenfeld gestan<strong>den</strong>. Dort war die Frau des Grafen,wenige Tage nach dem 20. Juli 1944, zusammen mit ihren drei Söhnen vonder Gestapo abgeholt und <strong>in</strong> Sippenhaft genommen wor<strong>den</strong>, nachdem ihrMann, Ulrich-Wilhelm Graf v. Schwer<strong>in</strong> v. Schwanenfeld zusammen mit <strong>den</strong>Verschwörern <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> verhaftet wor<strong>den</strong> war. Ihr jüngster Sohn, Detlef, derdamals erst wenige Wochen alt war, hatte oft von Göhren und dem Schlossgesprochen, an <strong>das</strong> er selbst ke<strong>in</strong>e Er<strong>in</strong>nerungen hatte, <strong>den</strong>n nach der Verhaftungund H<strong>in</strong>richtung se<strong>in</strong>es Vaters war <strong>das</strong> Gebäude von der SS beschlagnahmtund später von polnischen Zwangsarbeitern niedergebrannt wor<strong>den</strong>.Wolf, me<strong>in</strong>en Mann, hatte Detlef Schwer<strong>in</strong> Ende der 60er Jahre zufälligkennen gelernt, als der während se<strong>in</strong>es alljährlichen Besuchs <strong>in</strong> Berl<strong>in</strong> anlässlichder Ge<strong>den</strong>kfeier für die Opfer des 20. Juli auch nach Ostberl<strong>in</strong> h<strong>in</strong>überfuhrund dort an der Tür se<strong>in</strong>es Nachbarn kl<strong>in</strong>gelte. E<strong>in</strong>ige Jahre später erschien ichauf der Bildfläche und trat <strong>in</strong> diese freundschaftliche Beziehung e<strong>in</strong>, die soforte<strong>in</strong>e ganz andere Dynamik und Brisanz bekam. Ich studierte Geschichte wieDetlef Schwer<strong>in</strong>. Me<strong>in</strong> Vater hatte <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> Hitler geleistet wie se<strong>in</strong>Vater. Nur mit dem Unterschied, <strong>das</strong>s me<strong>in</strong> Vater se<strong>in</strong>em Todesurteil durche<strong>in</strong>en glücklichen Zufall knapp entgangen war und <strong>das</strong>s er als Kommunistsich nach der Befreiung von der Nazi-Herrschaft <strong>in</strong> Ostdeutschland für <strong>den</strong>Aufbau des Sozialismus engagierte. Detlef und ich stritten uns ziemlich oftüber Sozialismus und Demokratie, über die Nazis <strong>in</strong> der Bundesrepublik, überdie Wahrheit und die Lügen, über die Vergangenheit. Irgendwann bliebense<strong>in</strong>e jährlichen Besuche aus. Er hatte geheiratet und K<strong>in</strong>der bekommen. Wirverloren uns aus <strong>den</strong> Augen. Aber anlässlich unserer Fahrradfahrt fiel uns se<strong>in</strong>eGeschichte wieder e<strong>in</strong>.Am Nachmittag e<strong>in</strong>es sehr heißen Tages kamen wir <strong>in</strong> Göhren an. Den124


großen Schlosspark fan<strong>den</strong> wir, auch die übriggebliebenen Grundmauern desSchlosses, die riesigen alten Bäume, <strong>den</strong> entengrützenüberzogenen Teich. Wasfrüher e<strong>in</strong>mal Rasenfläche gewesen se<strong>in</strong> musste, war nun von Brennnesselnüberwuchert oder parzelliert und umzäunt. Tatsächlich, die Göhrener hattensich anlässlich der Bo<strong>den</strong>reform 1945 auch <strong>den</strong> Gutspark aufgeteilt und e<strong>in</strong>igevon ihnen bewirtschafteten dort auch noch 1986 ihren Gemüsegarten.Auf diese Weise lernten wir Dietrich Buhrow kennen, e<strong>in</strong>en jungen Mann,der gerade mit e<strong>in</strong>em großen Korb voller grüner Bohnen und e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>enK<strong>in</strong>d auf dem Arm unseren Weg kreuzte. Dietrich verstand sofort, was wirsuchten und er wusste – obwohl er erst seit kurzem im Dorf wohnte – ziemlichgut Bescheid. Er zeigte uns die kle<strong>in</strong>e Schlosskirche und <strong>den</strong> E<strong>in</strong>gangzur Familiengruft, der immer wieder aufgebrochen wurde. Durch Unterholzund riesige Brennnessel-Felder führte er uns zur Begräbnisstätte des Onkelsunseres Freundes Detlef und dessen Eltern. Dann lud uns Dietrich Buhrow<strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Wohnung im hässlichen Neubau des Dorfes direkt <strong>gegen</strong>über demSchlosspark e<strong>in</strong>, wo er mit se<strong>in</strong>er hochschwangeren Frau, e<strong>in</strong>er R<strong>in</strong>derzüchter<strong>in</strong>,und se<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Sohn lebte. Dietrich arbeitete <strong>in</strong> Göhren als Hilfsarbeiter,er hatte aus politischen Grün<strong>den</strong> im Gefängnis gesessen und durfte nichtMediz<strong>in</strong> studieren. Außerdem war er Vegetarier, was <strong>in</strong> der DDR gar nichte<strong>in</strong>fach durchzuhalten war. Deshalb musste an diesem Abend die Bohnenerntegeputzt und <strong>in</strong> Weckgläser geschnippelt wer<strong>den</strong>, während dessen ichan der Tür der Nachbar<strong>in</strong> kl<strong>in</strong>gelte, die früher als Dienstmädchen auf demSchloss gearbeitet hatte. Frau B. erzählte mir, wie sie von dem Attentat undder Verhaftung des Grafen erfahren hatte. Als ich zurück <strong>in</strong> die BuhrowscheWohnung kam, hatte sich noch e<strong>in</strong> Freund aus Rostock e<strong>in</strong>gestellt. AlleAnwesen<strong>den</strong> saßen e<strong>in</strong>trächtig beim Bohnenschnippeln und räsoniertenüber <strong>Widerstand</strong>, Sozialismus, Zen-Buddhismus, vegetarische Lebensweiseund R<strong>in</strong>derzucht. Dann brach e<strong>in</strong> Gewitter los, es regnete und stürmte, derStrom fiel aus, Kerzen wur<strong>den</strong> angezündet und wir wur<strong>den</strong> e<strong>in</strong>gela<strong>den</strong>, <strong>in</strong>der Wohnung zu übernachten.Im Ergebnis dieses Aufenthalts schrieb ich e<strong>in</strong>en Artikel für die Zeitschrift»Weltbühne«, der e<strong>in</strong>ige Wochen später im September veröffentlicht wurde.Ich glaube, es war am Jahrestag der H<strong>in</strong>richtung von Ulrich WilhelmSchwer<strong>in</strong> von Schwanenfeld. Ich beschrieb dar<strong>in</strong> unseren Besuch <strong>in</strong> Göhren,<strong>den</strong> Schlosspark, die Begräbnisstätte, <strong>den</strong> Besuch bei Frau B. und stellte amSchluss die Frage, warum es <strong>in</strong> diesem Ort eigentlich ke<strong>in</strong>e Ge<strong>den</strong>ktafel gibt,die an <strong>den</strong> mutigen Grafen er<strong>in</strong>nert, der se<strong>in</strong> Leben e<strong>in</strong>gesetzt hatte, um <strong>das</strong>Nazi-<strong>Regime</strong> zu beseitigen.125


Weil ich alle<strong>in</strong> auf die Wirkung dieses kle<strong>in</strong>en Artikels nicht vertrauenwollte, schrieb ich außerdem e<strong>in</strong>en Brief an die Zentralleitung des Komiteesder Antifaschistischen <strong>Widerstand</strong>skämpfer, <strong>in</strong> dem ich vorschlug, e<strong>in</strong>eGe<strong>den</strong>ktafel zur Er<strong>in</strong>nerung an <strong>den</strong> Grafen Schwer<strong>in</strong> von Schwanenfeld <strong>in</strong>se<strong>in</strong>em Heimatort anzubr<strong>in</strong>gen.»Erstaunt und betrübt musste ich feststellen«, so schrieb ich, »<strong>das</strong>s <strong>in</strong>diesem Dorf nichts an <strong>den</strong> Grafen er<strong>in</strong>nert und die Gräber se<strong>in</strong>er Vorfahrenverwahrlost und von Buschwerk überwuchert s<strong>in</strong>d. Ich f<strong>in</strong>de, es müsste dorte<strong>in</strong>e Ge<strong>den</strong>ktafel angebracht wer<strong>den</strong>, die <strong>den</strong> E<strong>in</strong>wohnern und Besucherndes Dorfes Auskunft darüber gibt, <strong>das</strong>s dieser letzte Gutsherr von Göhren,dessen Ländereien heute der LPG gehören, se<strong>in</strong> Leben im Kampf <strong>gegen</strong> <strong>das</strong>Hitlerregime gegeben hat. Das antifaschistische Vermächtnis wach zu halten,heißt doch auch, <strong>das</strong> breite Bündnis der Hitlergegner nicht zu vergessen undauch Vertreter bürgerlich-konservativer Anschauung zu würdigen, die sicherst relativ spät zur Aktion <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Faschismus entschlossen.Die Männer des 20. Juli haben <strong>in</strong> der Geschichtsschreibung der DDR <strong>in</strong><strong>den</strong> letzten Jahren e<strong>in</strong>e Aufwertung erfahren und <strong>in</strong> Publikationen wird GrafSchwer<strong>in</strong> als e<strong>in</strong>er der progressivsten Vertreter, als enger Vertrauter von Stauffenbergdargestellt. Nur <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Heimatort fehlt jeder H<strong>in</strong>weis. Ich f<strong>in</strong>de eswichtig, die Er<strong>in</strong>nerung daran gerade dort wach zu halten, nur so bleibt derantifaschistische Kampf im Bewusstse<strong>in</strong> des Volkes lebendig.« 286Tatsächlich gab es <strong>in</strong> der DDR zu dieser Zeit durchaus schon historischeAbhandlungen, <strong>in</strong> <strong>den</strong>en e<strong>in</strong>zelne Vertreter des <strong>Widerstand</strong>skreises um <strong>den</strong>20. Juli positiv gewürdigt wur<strong>den</strong>. Allerd<strong>in</strong>gs wur<strong>den</strong> solche Bücher nur vonwenigen <strong>in</strong>teressierten Menschen gelesen. Aber <strong>in</strong> <strong>den</strong> Dörfern der KreiseStrasburg und Woldegk, dort, wo sich die ehemaligen Besitztümer der Schwer<strong>in</strong>sbefan<strong>den</strong>, galt der Graf nach wie vor als Angehöriger der reaktionärenKlasse der Großgrundbesitzer – <strong>in</strong> dieser Gegend wur<strong>den</strong> sie nicht selten»Junker« genannt. Sie waren 1945 enteignet wor<strong>den</strong> (»auf <strong>den</strong> Müllhaufen derGeschichte geworfen wor<strong>den</strong>«, wie e<strong>in</strong> häufig verwendeter Propagan<strong>das</strong>pruchlautete), um dem sozialen Fortschritt zum Durchbruch zu verhelfen. Dass e<strong>in</strong>adliger Großgrundbesitzer gleichzeitig zu der <strong>in</strong> der DDR-Propaganda hochangesehenen Gruppe der antifaschistischen <strong>Widerstand</strong>skämpfer gehörte, <strong>das</strong>schien auf der lokalen Ebene schwer vermittelbar.286Nur gut, <strong>das</strong>s ich <strong>den</strong> Brief aufgehoben hatte. Als ich ihn nach so vielen Jahren wieder las,war ich doch erstaunt über me<strong>in</strong>en Ton und die Wortwahl. Ich hatte übrigens die Vertreter desKomitees mit »Liebe Genossen« angeredet. Zu dieser Zeit war ich ja selbst noch Mitglied derSED.126


Aber Mitte der achtziger Jahre gerieten ja viele D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> Bewegung, dievorher fest und unverrückbar gewesen waren. Ob nun me<strong>in</strong> Artikel <strong>in</strong> der»Weltbühne« oder me<strong>in</strong> Brief <strong>das</strong> ausgelöst hatte, ich bekam je<strong>den</strong>falls e<strong>in</strong>eAntwort vom Antifa-Komitee:»Liebe Genoss<strong>in</strong> Leo!Wie wir vom Vorsitzen<strong>den</strong> unseres Bezirkskomitees Neubran<strong>den</strong>burg erfuhren,hat De<strong>in</strong> Artikel <strong>in</strong> der Weltbühne im Kreis Strasburg Aktivitätenausgelöst. Gen. Göck (<strong>das</strong> ist der Neubran<strong>den</strong>burger Vorsitzende – A.L.)schreibt dazu:»1. Durch <strong>den</strong> Artikel <strong>in</strong> der ›Weltbühne‹ angeregt, ist durch <strong>den</strong> Ratdes Kreises Strasburg e<strong>in</strong>e ›Erbekonzeption‹ entwickelt, <strong>in</strong> der Kreisleitungdiskutiert und zugestimmt wor<strong>den</strong>.2. In dieser Konzeption ist vorgesehen, für zwei Parks im Kreis Strasburge<strong>in</strong>e Gestaltungskonzeption <strong>in</strong> Auftrag zu geben. Das betrifft Göhrenund Wolfshagen.3. Gibt es Überlegungen, mit der Gestaltung des Parks e<strong>in</strong>e Ge<strong>den</strong>ktafelanzubr<strong>in</strong>gen. Es steht jedoch im Moment noch nicht fest, wo <strong>das</strong> geschehensoll. Das soll mit der zu erarbeiten<strong>den</strong> Konzeption entschie<strong>den</strong>wer<strong>den</strong>.«Weiterh<strong>in</strong> ließ er uns wissen, <strong>das</strong>s <strong>das</strong> Bezirkskomitee diese Angelegenheitunter Kontrolle halten wird. […]Mit sozialistischem Gruß«Me<strong>in</strong> Artikel <strong>in</strong> der Weltbühne hatte bewirkt, <strong>das</strong>s Detlef Schwer<strong>in</strong> wiederKontakt mit mir aufnahm. Von ihm erfuhr ich, <strong>das</strong>s der für Göhren zuständigePfarrer vor e<strong>in</strong>iger Zeit bei <strong>den</strong> staatlichen Behör<strong>den</strong> <strong>den</strong> Antrag gestellthatte, an der Schlosskirche e<strong>in</strong>e Ge<strong>den</strong>ktafel anzubr<strong>in</strong>gen, die von der Familiegestiftet wor<strong>den</strong> war und an <strong>den</strong> h<strong>in</strong>gerichteten Grafen Ulrich Wilhelmer<strong>in</strong>nern sollte. Die E<strong>in</strong>weihung der Tafel war für <strong>den</strong> 20. November 1987geplant. Die zuständigen Stellen antworteten jedoch monatelang nicht auf<strong>das</strong> Schreiben, der ganze Vorgang stockte, die Tafel konnte nicht über dieGrenze gebracht wer<strong>den</strong>. Offenbar wies me<strong>in</strong>e Initiative <strong>den</strong> Funktionären<strong>den</strong> retten<strong>den</strong> Ausweg: Sie konnten jetzt »ihre« Ge<strong>den</strong>ktafel e<strong>in</strong>weihen unddanach die kirchliche Ge<strong>den</strong>kfeier genehmigen.Der Vorsitzende des Komitees der Antifaschistischen <strong>Widerstand</strong>skämpferim Bezirk Neubran<strong>den</strong>burg, Genosse Göck, SED-Mitglied und ehemaliger127


Landarbeiter, schrieb am 3. November 1987 an Detlef Schwer<strong>in</strong>:»Sehr geehrter Herr,Durch neuere Geschichtsforschungen s<strong>in</strong>d wir darauf gestoßen, <strong>das</strong>s Ihr HerrVater, Ulrich Graf Schwer<strong>in</strong> von Schwanenfeld, zur Gruppe der Patriotendes 20. Juli 1944 um Oberst Graf Schenk von Stauffenberg gehörte undfür se<strong>in</strong> mutiges E<strong>in</strong>treten <strong>gegen</strong> die Hitlerbarbarei und für e<strong>in</strong> besseresDeutschland von <strong>den</strong> Faschisten ermordet wurde.Wir haben beschlossen, ihm zu Ehren auf dem Gelände se<strong>in</strong>es ehemaligenWohnsitzes <strong>in</strong> Göhren, Kreis Strasburg, e<strong>in</strong>en schlichten Ge<strong>den</strong>kste<strong>in</strong> zuerrichten und am 19. November 1987 um 14.30 Uhr dort e<strong>in</strong> Ge<strong>den</strong>kmeet<strong>in</strong>gunter Teilnahme von Vertretern der Öffentlichkeit des Ortes unddes Kreises durchzuführen.Zu dieser Veranstaltung lade ich Sie herzlich e<strong>in</strong> und bitte Sie um Bescheid,ob wir mit Ihrer Teilnahme rechnen können […]«Detlef Schwer<strong>in</strong> konsultierte sogleich <strong>den</strong> historischen Kalender, um herauszuf<strong>in</strong><strong>den</strong>,warum gerade am 19. November. An diesem Tag waren dieTruppen der Wehrmacht vor Stal<strong>in</strong>grad e<strong>in</strong>geschlossen wor<strong>den</strong>. Schwer<strong>in</strong> warfest davon überzeugt, <strong>das</strong>s die Wahl dieses Datums aussagen sollte, <strong>das</strong>s dieMänner des 20. Juli erst <strong>in</strong> Opposition gerieten, als der Krieg bereits verlorenwar, <strong>das</strong>s sie – wie es häufig <strong>in</strong> der DDR-Propaganda der 50er und 60er Jahrezu lesen war – »die Ratten« waren, die »<strong>das</strong> s<strong>in</strong>kende Schiff verlassen« hatten.Zusammen mit der Kopie von Göcks Brief schickte er mir auch e<strong>in</strong>e Kopiese<strong>in</strong>er Antwort:»Sehr geehrter Herr Göck,Vielen Dank für Ihren Brief vom 3.11., <strong>in</strong> dem Sie mich zur Ge<strong>den</strong>kfeierfür me<strong>in</strong>en Vater <strong>in</strong> Göhren am 19.11. e<strong>in</strong>la<strong>den</strong>. Ich sage gerne zu […]Me<strong>in</strong> Vater hat – seit dem Mord von Potempa endgültig über die Nationalsozialistenbelehrt und seit der Su<strong>den</strong>tenkrise im aktiven <strong>Widerstand</strong>– mit heißem Herzen für e<strong>in</strong> Deutschland der Rechte und der Gerechtigkeitgekämpft. Dafür hat er schließlich zusammen mit Stauffenberg und vielenanderen Freun<strong>den</strong> mit dem Tod bezahlt. Ich b<strong>in</strong> bewegt und dankbar, <strong>das</strong>s<strong>das</strong> Bezirkskomitee Neubran<strong>den</strong>burg der Antifaschistischen <strong>Widerstand</strong>skämpferme<strong>in</strong>en Vater <strong>in</strong> der vorgesehenen Weise ehren will.Da ich selbst Historiker b<strong>in</strong> und z.Z. an e<strong>in</strong>em Buch über me<strong>in</strong>en Vater undse<strong>in</strong>e Freunde arbeite, b<strong>in</strong> ich gern bereit, zu Fragen, die evtl. im Vorfeld der128


Feier auftauchen, Stellung zu nehmen. Gerne wür<strong>den</strong> me<strong>in</strong>e Frau und ichzusammen kommen. Ich gehe davon aus, <strong>das</strong>s dem nichts ent<strong>gegen</strong> steht.Mit freundlichem Gruß und Dank…«An <strong>den</strong> Rand hatte er geschrieben: »Zu De<strong>in</strong>er Information: Leider ist diekirchliche Feier am 20.12. immer noch nicht durch.«Am 19. November trafen wir uns also zu e<strong>in</strong>em Mittagessen im Jagdzimmerder Bezirksleitung der SED <strong>in</strong> Neubran<strong>den</strong>burg. Dort saßen wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>emengen, überheizten, mit Jagdtrophäen vollgestopften Raum. Außer HerrnGöck war noch e<strong>in</strong> Vertreter des Kreises dabei. Bei dieser Gelegenheit ergriffDetlef Schwer<strong>in</strong> <strong>das</strong> Wort zu e<strong>in</strong>er vorbereiteten Rede, <strong>in</strong> der er noch e<strong>in</strong>malausführlich darstellte, <strong>das</strong>s se<strong>in</strong> Vater und viele andere Offiziere im »<strong>Widerstand</strong>skreis20. Juli« nicht erst nach Stal<strong>in</strong>grad, sondern schon viel früher mitihrer Konspiration <strong>gegen</strong> Hitler begonnen hatten. Der reservierte, aber höflicheHerr Göck hörte schweigend zu. Er muss jedoch von <strong>den</strong> Ausführungen se<strong>in</strong>esGastes bee<strong>in</strong>druckt gewesen se<strong>in</strong>, <strong>den</strong>n auf dem Weg von Neubran<strong>den</strong>burgbis nach Göhren arbeitete er diese H<strong>in</strong>weise <strong>in</strong> se<strong>in</strong>e Rede e<strong>in</strong>.Im Schlosspark waren die E<strong>in</strong>wohner des Dorfes, e<strong>in</strong>e Pioniergruppe, e<strong>in</strong>eFDJ-Gruppe und e<strong>in</strong> Blasorchester schon versammelt. Nach der Rede vonHerrn Göck wur<strong>den</strong> Kränze an dem aufgestellten großen F<strong>in</strong>dl<strong>in</strong>g mit derBronze-Tafel niedergelegt. Anschließend wur<strong>den</strong> wir noch zu e<strong>in</strong>em Kaffee<strong>in</strong> die Dorfkneipe, <strong>in</strong>s ehemalige Kutscherhaus, e<strong>in</strong>gela<strong>den</strong>. Der Raum warextra für diese Gelegenheit geheizt wor<strong>den</strong>, <strong>den</strong>n die Dorfkneipe war schonseit e<strong>in</strong>igen Jahren geschlossen. Die Atmosphäre war dementsprechend heißund feucht. Irgendwoher hatten sie Geschirr, Besteck, Kaffee und Kuchenorganisiert. Die Funktionäre der Partei und der Kreisverwaltung kamen <strong>in</strong>sGespräch mit dem Sohn des Grafen. Er fragte sie nach <strong>den</strong> Ernteerträgen,nach <strong>den</strong> Wohnverhältnissen der LPG-Mitarbeiter. Mich beschlich dabei e<strong>in</strong>seltsames Gefühl. Vielleicht war es dieser Eifer, die servile Art dieser Funktionäre(nicht von Herrn Göck, der sich daran nicht beteiligte), wie sie dem»Grafen« Bericht erstatteten, so als ob er immer noch der Eigentümer sei, demsie Rechenschaft schuldeten.Das war nur e<strong>in</strong>e kurze Anwandlung. Das Gefühl verstärkte sich jedoch währendder kirchlichen Ge<strong>den</strong>kfeier, die doch noch rechtzeitig am 20. Dezemberstattf<strong>in</strong><strong>den</strong> konnte, weil die Tafel kurz vorher noch genehmigt wor<strong>den</strong> war.Wir reisten also wieder an. Diesmal waren die schwarzen Stasi-Autos überallr<strong>in</strong>gs um <strong>das</strong> Gelände platziert. Vor der Kirche stan<strong>den</strong> die schönen großenWestautos der Familienmitglieder. Die Dorfbewohner drängten sich <strong>in</strong> der129


Kirche. Im Gegensatz zur staatlichen Zeremonie e<strong>in</strong>en Monat zuvor, spieltensie jetzt e<strong>in</strong>e andere Rolle. Sie waren nicht mehr die Repräsentation des neuensozialistischen Lebens, der Genossenschaft usw., sondern sie waren wieder <strong>das</strong>Volk, die Untertanen. Je<strong>den</strong>falls empfand ich es so, als alle andächtig nach vornschauten, während Detlef Schwer<strong>in</strong>, se<strong>in</strong>e Mutter, se<strong>in</strong>e Brüder und derenEhefrauen ihre angestammten Plätze vorn auf <strong>den</strong> hohen geschnitzten Stühlenrechts und l<strong>in</strong>ks e<strong>in</strong>nahmen. Am liebsten hätte ich jetzt »Halt« gerufen. Sohatte ich <strong>das</strong> doch nicht geme<strong>in</strong>t. Die Gutsherrschaft, <strong>das</strong> war doch Vergangenheit.Mir g<strong>in</strong>g es um die facettenreiche und widersprüchliche Geschichtedes <strong>Widerstand</strong>s, die nicht verschwiegen wer<strong>den</strong> sollte. Aber <strong>in</strong> dieser Kirchedämmerte mir, <strong>das</strong>s man <strong>das</strong> offenbar nicht vone<strong>in</strong>ander trennen konnte und<strong>das</strong>s da irgendetwas gerade schief lief.Heute würde ich sagen, es war die Vorschau auf <strong>das</strong>, was zwei Jahre später1989 folgen sollte. Die Sehnsucht der Menschen nach <strong>den</strong> alten Autoritäten,nachdem die friedliche Revolution die DDR-Machthaber vom Sockelgestürzt hatte. Die Familie Schwer<strong>in</strong> hat übrigens ihr Gut <strong>in</strong> Göhren und <strong>in</strong><strong>den</strong> umliegen<strong>den</strong> Orten tatsächlich wiederbekommen. Die Ergebnisse derBo<strong>den</strong>reform wur<strong>den</strong> nicht zurückgenommen. Aber für die vom <strong>NS</strong>-Staatenteigneten Widerständler gab es e<strong>in</strong>e Sonderregelung. Sie sitzen jetzt oft aufihren traditionellen Stühlen <strong>in</strong> der Kapelle.2. Die DDR und der 20. JuliIch mache hier e<strong>in</strong>en Schnitt und werde noch über <strong>den</strong> Umgang mit dem20. Juli <strong>in</strong> der DDR sprechen. Wie schon angedeutet, tat man sich schwerdamit.Die Abwehr und Ablehnung stützte sich auf folgende Argumente: diegesellschaftliche Stellung der Verschwörer als Mitglieder des preußischenAdels, der <strong>das</strong> Nazi-<strong>Regime</strong> zunächst unterstützt hatte; die konservativenbis reaktionären gesellschaftlichen Konzepte der Verschwörer und ihre späteAktion, nach dem Motto, hier sollte nur e<strong>in</strong>e völlige Niederlage Deutschlandsim Krieg verh<strong>in</strong>dert wer<strong>den</strong>.In der DDR wurde die Er<strong>in</strong>nerung an <strong>den</strong> <strong>Widerstand</strong> zum Zweck der Legitimationder SED-Herrschaft <strong>in</strong>strumentalisiert. Im Zentrum des Ge<strong>den</strong>kensstand der kommunistische <strong>Widerstand</strong> und die Erfüllung des Vermächtnissesder ermordeten Kämpfer <strong>in</strong> der DDR. Da der antifaschistische <strong>Widerstand</strong>skampfunter diesem Blickw<strong>in</strong>kel als e<strong>in</strong> Teil der »Klassenause<strong>in</strong>andersetzung«zwischen Sozialismus und Kapitalismus begriffen wurde, war es vor allem <strong>in</strong> der130


Zeit des Kalten Krieges unmöglich, <strong>das</strong> gescheiterte Attentat auf Hitler <strong>in</strong> <strong>den</strong>Kanon des Ge<strong>den</strong>kens e<strong>in</strong>zubeziehen. Diese sehr e<strong>in</strong>dimensionale Betrachtungwurde <strong>in</strong> <strong>den</strong> 1960er Jahren zunehmend offener. Hier muss der HistorikerKurt F<strong>in</strong>cker erwähnt wer<strong>den</strong>, auch Olaf Groehler, der an der Akademieder Wissenschaften die Arbeitsgruppe »Zweiter Weltkrieg« leitete. In dieserersten Annäherung an <strong>den</strong> 20. Juli wurde sorgfältig unterschie<strong>den</strong> zwischen»progressiven« und »reaktionären« Verschwörern. Zu <strong>den</strong> progressiven gehörtenatürlich Graf Stauffenberg, während Goerdeler für die reaktionäre Gruppestand. Nach wie vor g<strong>in</strong>gen die Historiker von dem Dogma der führen<strong>den</strong>Rolle der Kommunistischen Partei im <strong>Widerstand</strong>skampf aus und versuchten,ihre neuen Erkenntnisse <strong>in</strong> dieses Muster zu br<strong>in</strong>gen. Die Männer des 20. Juliwaren ihrer Me<strong>in</strong>ung nach gescheitert, weil es ihnen an Volksverbun<strong>den</strong>heitfehlte und weil sie antidemokratische Konzepte vertraten. Diese Konzepte,die es ja tatsächlich gab, wur<strong>den</strong> übrigens <strong>in</strong> der bundesrepublikanischenRezeption lange Zeit verschwiegen und s<strong>in</strong>d erst vor e<strong>in</strong>iger Zeit öffentlichdiskutiert wor<strong>den</strong>.In <strong>den</strong> 80er Jahren, im Zusammenhang mit der Politik der »Koalitionder Vernunft« des SED-<strong>Regime</strong>s, wurde <strong>das</strong> <strong>in</strong> der DDR gezeichnete Bilddes <strong>Widerstand</strong>s noch differenzierter. Auch christliche und sozialdemokratischeWiderständler bekamen jetzt ihren Platz im Er<strong>in</strong>nerungskanon. Ine<strong>in</strong>em wissenschaftlichen Kolloquium <strong>in</strong> Ostberl<strong>in</strong> am 18. Juli 1984 wurdeerstmals die bis dah<strong>in</strong> vertretene ese vom »volksfe<strong>in</strong>dlichen Charakter«der Verschwörung beiseite gelegt. Das Attentat galt nun als e<strong>in</strong>e möglicheForm des Kampfes <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Faschismus. Es wurde auch nicht mehr nur alsAusdruck der Überlebensstrategie herrschender Kreise betrachtet. Aber gleichzeitigbestan<strong>den</strong> die bisherigen Dogmen fort. Im 1983 erstmals erschienenen»Wörterbuch der Geschichte« konnte man unter dem Stichwort »20. Juli« diealten ideologischen Formeln weiterh<strong>in</strong> lesen.3. Der Umgang mit dem Ereignis nach 1990Mit dem Ende der DDR ist der ideologische Kampf um die Dom<strong>in</strong>anz zwischenkommunistischem und bürgerlich-militärischem <strong>Widerstand</strong> beendet.Aber hat nun der 20. Juli <strong>den</strong> Sieg davon getragen? Ist er die alles verb<strong>in</strong><strong>den</strong>deTat, auf die sich die demokratische Gesellschaft des vere<strong>in</strong>igten Deutschlandheute beruft? Glücklicherweise nicht.Im Verlaufe der 80er Jahre entwickelte sich auch <strong>in</strong> der Bundesrepublike<strong>in</strong> sehr differenziertes Bild des <strong>Widerstand</strong>s. Vor allem an <strong>den</strong> Ausstellungen131


der Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher <strong>Widerstand</strong> war e<strong>in</strong>e ständige Erweiterung des<strong>Widerstand</strong>sbegriffs abzulesen. Vor zehn Jahren kam es anlässlich des 50.Jahrestages des 20. Juli allerd<strong>in</strong>gs noch e<strong>in</strong>mal zu e<strong>in</strong>em großen Streit. Franzvon Stauffenberg, der Bruder des ermordeten Grafen Klaus Schenk von Stauffenberg,forderte, <strong>das</strong>s aus der Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher <strong>Widerstand</strong> die Fotosvon Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht und die jener Wehrmachtsoffiziere,die sich <strong>in</strong> der sowjetischen Kriegsgefangenschaft dem Nationalkomitee FreiesDeutschland angeschlossen hatten, entfernt wer<strong>den</strong> sollten. Der damaligeLeiter der Ge<strong>den</strong>kstätte, Peter Ste<strong>in</strong>bach, wies dieses Ans<strong>in</strong>nen zurück. Ererwiderte damals, <strong>das</strong>s man doch genau h<strong>in</strong>schauen solle: Unter <strong>den</strong> Bildernder umstrittenen Personen wür<strong>den</strong> sich ke<strong>in</strong>e Haken für Kränze bef<strong>in</strong><strong>den</strong>,was heißen sollte, <strong>in</strong> der Ausstellung würde die Rolle der betreffen<strong>den</strong> Personendokumentiert, es handele sich aber nicht um e<strong>in</strong>e pauschale Ehrungihrer Taten.Das Jahr 2004 war da<strong>gegen</strong> e<strong>in</strong> vergleichsweise ruhiges Ge<strong>den</strong>kjahr. Dergrößer wer<strong>den</strong>de Abstand ermöglicht mehr und mehr die Betrachtung derGeschichte als Geschichte. Peter Ste<strong>in</strong>bach nennt dies die »angemessene Würdigungdes <strong>Widerstand</strong>s aus dem eigenen Zeithorizont« und nicht <strong>in</strong> ersterL<strong>in</strong>ie aus <strong>den</strong> i<strong>den</strong>tifikatorischen Bedürfnissen der jeweiligen Gegenwart. 287E<strong>in</strong>e solche Distanz ermöglicht es, auch die Verstrickung e<strong>in</strong>zelner Teilnehmerdes <strong>Widerstand</strong>skreises <strong>in</strong> <strong>das</strong> <strong>NS</strong>-<strong>Regime</strong> und se<strong>in</strong>e Verbrechen <strong>in</strong> <strong>den</strong>Blick zu nehmen. Nun kehren auf diesem Wege manche Argumente <strong>in</strong> dieDebatte zurück, die damals <strong>in</strong> der DDR-Geschichtspropaganda e<strong>in</strong>e großeRolle gespielt hatten. Aber auf ganz andere Weise. Diesmal geht es nicht umStigmatisierung und Ausgrenzung, sondern es geht um e<strong>in</strong>en unvore<strong>in</strong>genommenenBlick auf die Komplexität der Geschichte, auf die vielen Facetten desHandelns der beteiligten Menschen. 287Peter Ste<strong>in</strong>bach, <strong>Widerstand</strong> <strong>gegen</strong> <strong>den</strong> Nationalsozialismus <strong>in</strong> der zeitgeschichtlichen Ause<strong>in</strong>andersetzung,Ge<strong>den</strong>kstätte Deutscher <strong>Widerstand</strong> (Hg.), Beiträge zum <strong>Widerstand</strong> 1933-1945, Berl<strong>in</strong> 1995, S. 50.132

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