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Die Literatur im ›Experiment‹. Eine Einleitung

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Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

unhintergehbar an Technik, Werkzeug und Geschicklichkeit, aber auch an ¾sthetik,<br />

Fiktion, Rhetorik und Narrativik gebunden. 2<br />

Man sollte das Exper<strong>im</strong>ent in der Wissenschaft nicht als eine fixe, unveränderliche<br />

Grçße ansehen. Das Konzept des positivistischen Exper<strong>im</strong>ents, das z. B.<br />

Émile Zola in die <strong>Literatur</strong> übersetzen wollte, kann heute sicher nicht mehr als<br />

aktuell angesehen werden. Zolas exper<strong>im</strong>entelle Poetik lehnte sich an die damals<br />

dominierende positivistische Epistemologie an, weshalb innerhalb seines Manifestes<br />

Le roman expØr<strong>im</strong>ental (1880) der Dichter als Protokollant einer Laborstudie<br />

des sozialen Milieus auftritt. Laut Zola sollte nämlich ein literarisches<br />

Verfahren mit einem physikalischen, chemischen, oder physiologischen Verfahren<br />

vergleichbar sein. Aus positivistischer Perspektive diente das Exper<strong>im</strong>ent<br />

lediglich als Beweis von bereits bestehenden Theorien oder als Prüfstein einer<br />

Hypothese. Der Exper<strong>im</strong>entator hatte daher neutral zu sein:<br />

En revenant au roman, nous voyons Øgalment que le romancier est fait d’un<br />

observateur et d’un expØr<strong>im</strong>entateur. L’observateur chez lui donne les faits tels<br />

qu’il les a observØs, pose le point de dØpart, Øtablit le terrain solide sur lequel vont<br />

marcher les personnages et se dØvelopper les phØnom›nes. Puis l’expØr<strong>im</strong>entateur<br />

paraît et institue l’expØrience, je veux dire fait mouvoir les personnages dans<br />

une histoire particuli›re, pour y montrer que la succession des faits y sera telle que<br />

l’exige le dØterminisme des phØnom›nes mis à l’Øtude. 3<br />

Schon an diesen wenigen Zeilen lässt sich der rigide Determinismus ablesen, der<br />

das positivistische Denken und die Romane Zolas prägte. 4 Auch herrschte eine<br />

gewisse Naivität gegenüber der Rolle des Exper<strong>im</strong>entators, der als ein Protokollant<br />

oder Photograph betrachtet wurde, der ohne subjektive Zusätze die<br />

Wirklichkeit wiedergeben kçnne. <strong>Die</strong>se Auffassung vom wissenschaftlichen<br />

2 Michael Gamper, ‘Zur <strong>Literatur</strong>geschichte des Exper<strong>im</strong>ents – <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong>’, in »Es ist nun<br />

einmal zum Versuch gekommen«. Exper<strong>im</strong>ent und <strong>Literatur</strong> I, 1580–1790, hrsg. von Michael<br />

Gamper, Martina Werli, Jçrg Z<strong>im</strong>mer (Gçttingen: Wallenstein Verlag, 2009), S. 13.<br />

3 Émile Zola, Le roman expØr<strong>im</strong>ental, inŒuvres compl›tes, hrsg. von Henri Mitterand (Paris:<br />

Cercle du Livre PrØcieux, 1968), Bd. 10, S. 1178: »Wenn wir auf den Roman zurückkommen,<br />

sehen wir, dass der Autor des Romans ebenfalls aus einem Beobachter und einem Exper<strong>im</strong>entator<br />

besteht. Der Beobachter in ihm gibt die Tatsachen so wieder, wie er sie beobachtet<br />

hat, setzt den Ausgangspunkt fest und bereitet den soliden Boden auf dem die Personen<br />

auftreten und die Ereignisse sich entwickeln kçnnen. Dann erscheint der Exper<strong>im</strong>entator und<br />

bringt das Exper<strong>im</strong>ent zur Durchführung indem er die Figuren in einer best<strong>im</strong>mten Geschichte<br />

so handeln lässt, dass sie zeigen, dass die Folge der Ereignisse so läuft wie es der auf die<br />

Probe gestellte Determinismus der Phänomene verlangt« (Übersetzung MS).<br />

4 Vgl. Michael Gamper, ‘Normalisierung/Denormalisierung, exper<strong>im</strong>entell. Literarische Bevçlkerungsregulierung<br />

bei Émile Zola’, in Literarische Exper<strong>im</strong>entalkulturen. Poetologien des<br />

Exper<strong>im</strong>ents <strong>im</strong> 19. Jahrhundert, hrsg. von Marcus Krause, Nicolas Pethes (Würzburg: Kçnigshausen<br />

& Neumann, 2005), S. 149–168.

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