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Die Literatur im ›Experiment‹. Eine Einleitung

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Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

Wichtige Impulse zur neuen Auffassung des Exper<strong>im</strong>ents kamen und kommen<br />

von dem am Berliner Max Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte<br />

arbeitenden Michael Rheinberger, der sowohl naturwissenschaftliche als auch<br />

geisteswissenschaftliche Kompetenzen vereint, da er, unter anderem, als habilitierter<br />

Molekularbiologie die Grammatologie Jacques Derridas ins Deutsche<br />

übersetzt hat. In seinem 1992 publizierten Band Exper<strong>im</strong>ent–Differenz–Schrift<br />

betont Rheinberger, dass die Wissenschaftstheorie in den letzten Jahren das<br />

Exper<strong>im</strong>ent zum Untersuchungsfeld modifiziert hat, wo es jenseits der scheinbaren<br />

Problemlosigkeit seiner Anerkennung als Instanz der Verifikation, der<br />

Bewährung, der Verwerfung oder der Modifikation von Theorien angesehen<br />

wird. 8 Das Exper<strong>im</strong>ent wird hier als ein reines, unter kalkulierten Bedingungen<br />

ablaufendes Verfahren zur Produktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

verstanden. Der alltägliche Forschungsprozess läuft jedoch ungeordneter und<br />

ungeplanter: In wissenschaftlichen Texten werden nämlich die Zielstrebigkeit<br />

und Gradlinigkeit des Exper<strong>im</strong>ents allenfalls nachträglich konstruiert. In Exper<strong>im</strong>ent–Differenz–Schrift<br />

versucht Rheinberger zu klären, wie das ›Neue‹ in<br />

einem Labor entstehen kann und führt dazu den Begriff des »Exper<strong>im</strong>entalsystems«<br />

ein, das einen Repräsentationsraum für den Auftritt epistemischer<br />

Dinge schafft. Dafür zitiert er den für lange Zeit vernachlässigten Zeitgenossen<br />

Karl R. Poppers, Ludwig Fleck, demzufolge ein Exper<strong>im</strong>entalsystem eine komplexe<br />

Ordnung von Theorie und Exper<strong>im</strong>ent konstruiert, welche so eingerichtet<br />

ist, dass sie ein Wissen produziert, das noch nicht verfügbar ist. Ein Exper<strong>im</strong>entalsystem<br />

wird bereitgestellt, um Antworten auf Fragen zu geben zu kçnnen,<br />

die bis jetzt noch nicht gestellt worden sind. Mit den Worten von FranÅois Jacob<br />

ausgedrückt, ist ein Exper<strong>im</strong>entalsystem »eine Maschine zur Herstellung von<br />

Zukunft«. 9 Daraus folgt, dass man niemals genau weiß, wohin ein Experi-<br />

schaftlicher Perspektive ist sicher der Aufsatz von Thomas Fechner-Smarsly ‘<strong>Die</strong> Alch<strong>im</strong>ie des<br />

Zufalls. August Strindbergs Versuche zwischen <strong>Literatur</strong>, Kunst und Naturwissenschaft’ am<br />

interessantesten. Strindberg hatte sich zeitweilig fast vçllig von der <strong>Literatur</strong> ab- und den<br />

Naturwissenschaften zugewandt. Seine naturwissenschaftlichen Schriften, in denen er Fragen<br />

der Chemie, der Zoologie, der Botanik und der Mineralogie bespricht, erscheinen 1894 <strong>im</strong><br />

Antibarbarus und 1896 in der Sylva Sylvarum. Von 1891 bis 1898 exper<strong>im</strong>entiert Strindberg in<br />

mehreren Labors in Paris, darunter auch an der Sorbonne und in seinem Hotelz<strong>im</strong>mer <strong>im</strong><br />

Hotel Orfila. Laut Fechner-Smarsly bestehe Strindbergs Exper<strong>im</strong>entiertätigkeit vornehmlich<br />

darin, den Beobachter, dem Zufall auszusetzen um das Mçgliche zu eruieren. Mehr als um die<br />

Kontrolle des Exper<strong>im</strong>ents geht es ihm um den Kontrollverlust. <strong>Die</strong>s gründet seine ¾sthetik<br />

des Zufalls. Auch der Protagonist seines Romans Am offenen Meer (1890) wird <strong>im</strong>mer wieder<br />

Situationen ausgesetzt, die er nicht kontrollieren kann. <strong>Die</strong>se Exper<strong>im</strong>ente mit Menschen<br />

setzen sich in seiner Sammlung Vivisektionen fort.<br />

8 Hans-Jçrg Rheinberger, Exper<strong>im</strong>ent–Differenz–Schrift (Marburg an der Lahn: Basiliken-<br />

Presse, 1992), S. 7.<br />

9 Ebd., S. 25. Michael Heidelberger und Friedrich Steinle unterstützen diese Auffassung des<br />

Exper<strong>im</strong>ents in dem von ihnen herausgegebenen Band Exper<strong>im</strong>ental Essays-Versuche zum

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