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Die Literatur im ›Experiment‹. Eine Einleitung

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Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong><br />

<strong>Eine</strong> Analyse des Exper<strong>im</strong>ents oder des Versuchs in der deutschen <strong>Literatur</strong><br />

erfordert eine Definition des wissenschaftlichen Exper<strong>im</strong>ents, da das Exper<strong>im</strong>ent,<br />

wie wir in Raul Calzonis <strong>Einleitung</strong> gesehen haben, eine der beiden Unbekannten<br />

in der Gleichung der exper<strong>im</strong>entellen <strong>Literatur</strong> bildet. <strong>Die</strong> Entstehung<br />

der exper<strong>im</strong>entellen <strong>Literatur</strong> ist untrennbar mit der Etablierung des Exper<strong>im</strong>ents<br />

als wissenschaftliches Erkenntnisinstrument verbunden. Das Exper<strong>im</strong>ent<br />

behauptete sich ab dem 17. Jahrhundert zunehmend als eines der wichtigsten<br />

Mittel zur Wissensproduktion, als sich die Exper<strong>im</strong>entalpraxis allmählich von<br />

alch<strong>im</strong>istischen Praktiken der Alch<strong>im</strong>isten entfernte und eine neue Form von<br />

Erkenntnisgewinn darstellte, die sich rein auf überprüfbare Tatsachen stützte.<br />

Der Exper<strong>im</strong>entbegriff oszillierte dennoch bis ins 18. Jahrhundert hinein zwischen<br />

einem auf Erfahrung basierten Ausprobieren, einem Gedankenexper<strong>im</strong>ent<br />

1 und einem wissenschaftlich streng programmiertem Forschungsprogramm.<br />

<strong>Die</strong> spätere Begriffsverschmelzung geschah aber in den verschiedensten<br />

Feldern des Wissens, <strong>im</strong> wissenschaftlichen, wie <strong>im</strong> literarischen Bereich. Von<br />

daher schreibt Michael Gamper zu Recht über das 18. Jahrhundert:<br />

In dieser Zeit bildete sich demnach, in mehreren Bereichen und Kulturen, der<br />

›Versuch‹ als epistemologische und poetologische Kategorie des modernen<br />

Wissens – eine Kategorie also, die unter gewissen Voraussetzungen Erkenntnisse<br />

hervorbringen kann, die dies aber <strong>im</strong>mer unter best<strong>im</strong>mten Bedingungen der<br />

Konstruktion und Darstellung tut. Ein Versuch muss deshalb stets unter Beteiligung<br />

der Einbildungskraft erfunden werden, er muss durch handwerkliche<br />

Kunstfertigkeit und mittels Instrumenten und Maschinen inszeniert werden, und<br />

er muss durch rhetorische narrative und mediale Praktiken erläutert, repräsentiert<br />

und distribuiert werden. Wissen unter exper<strong>im</strong>entellen Bedingungen ist deshalb<br />

1 Zum Gedankenexper<strong>im</strong>ent zwischen <strong>Literatur</strong>, Wissenschaft und Philosophie vgl. Science&Fiction.<br />

Über Gedankenexper<strong>im</strong>ente in Wissenschaft, Philosophie und <strong>Literatur</strong>, hrsg.<br />

von Thomas Macho, Annette Wunschel (Frankfurt: Fischer Taschenbuch Verlag, 2004).


30<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

unhintergehbar an Technik, Werkzeug und Geschicklichkeit, aber auch an ¾sthetik,<br />

Fiktion, Rhetorik und Narrativik gebunden. 2<br />

Man sollte das Exper<strong>im</strong>ent in der Wissenschaft nicht als eine fixe, unveränderliche<br />

Grçße ansehen. Das Konzept des positivistischen Exper<strong>im</strong>ents, das z. B.<br />

Émile Zola in die <strong>Literatur</strong> übersetzen wollte, kann heute sicher nicht mehr als<br />

aktuell angesehen werden. Zolas exper<strong>im</strong>entelle Poetik lehnte sich an die damals<br />

dominierende positivistische Epistemologie an, weshalb innerhalb seines Manifestes<br />

Le roman expØr<strong>im</strong>ental (1880) der Dichter als Protokollant einer Laborstudie<br />

des sozialen Milieus auftritt. Laut Zola sollte nämlich ein literarisches<br />

Verfahren mit einem physikalischen, chemischen, oder physiologischen Verfahren<br />

vergleichbar sein. Aus positivistischer Perspektive diente das Exper<strong>im</strong>ent<br />

lediglich als Beweis von bereits bestehenden Theorien oder als Prüfstein einer<br />

Hypothese. Der Exper<strong>im</strong>entator hatte daher neutral zu sein:<br />

En revenant au roman, nous voyons Øgalment que le romancier est fait d’un<br />

observateur et d’un expØr<strong>im</strong>entateur. L’observateur chez lui donne les faits tels<br />

qu’il les a observØs, pose le point de dØpart, Øtablit le terrain solide sur lequel vont<br />

marcher les personnages et se dØvelopper les phØnom›nes. Puis l’expØr<strong>im</strong>entateur<br />

paraît et institue l’expØrience, je veux dire fait mouvoir les personnages dans<br />

une histoire particuli›re, pour y montrer que la succession des faits y sera telle que<br />

l’exige le dØterminisme des phØnom›nes mis à l’Øtude. 3<br />

Schon an diesen wenigen Zeilen lässt sich der rigide Determinismus ablesen, der<br />

das positivistische Denken und die Romane Zolas prägte. 4 Auch herrschte eine<br />

gewisse Naivität gegenüber der Rolle des Exper<strong>im</strong>entators, der als ein Protokollant<br />

oder Photograph betrachtet wurde, der ohne subjektive Zusätze die<br />

Wirklichkeit wiedergeben kçnne. <strong>Die</strong>se Auffassung vom wissenschaftlichen<br />

2 Michael Gamper, ‘Zur <strong>Literatur</strong>geschichte des Exper<strong>im</strong>ents – <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong>’, in »Es ist nun<br />

einmal zum Versuch gekommen«. Exper<strong>im</strong>ent und <strong>Literatur</strong> I, 1580–1790, hrsg. von Michael<br />

Gamper, Martina Werli, Jçrg Z<strong>im</strong>mer (Gçttingen: Wallenstein Verlag, 2009), S. 13.<br />

3 Émile Zola, Le roman expØr<strong>im</strong>ental, inŒuvres compl›tes, hrsg. von Henri Mitterand (Paris:<br />

Cercle du Livre PrØcieux, 1968), Bd. 10, S. 1178: »Wenn wir auf den Roman zurückkommen,<br />

sehen wir, dass der Autor des Romans ebenfalls aus einem Beobachter und einem Exper<strong>im</strong>entator<br />

besteht. Der Beobachter in ihm gibt die Tatsachen so wieder, wie er sie beobachtet<br />

hat, setzt den Ausgangspunkt fest und bereitet den soliden Boden auf dem die Personen<br />

auftreten und die Ereignisse sich entwickeln kçnnen. Dann erscheint der Exper<strong>im</strong>entator und<br />

bringt das Exper<strong>im</strong>ent zur Durchführung indem er die Figuren in einer best<strong>im</strong>mten Geschichte<br />

so handeln lässt, dass sie zeigen, dass die Folge der Ereignisse so läuft wie es der auf die<br />

Probe gestellte Determinismus der Phänomene verlangt« (Übersetzung MS).<br />

4 Vgl. Michael Gamper, ‘Normalisierung/Denormalisierung, exper<strong>im</strong>entell. Literarische Bevçlkerungsregulierung<br />

bei Émile Zola’, in Literarische Exper<strong>im</strong>entalkulturen. Poetologien des<br />

Exper<strong>im</strong>ents <strong>im</strong> 19. Jahrhundert, hrsg. von Marcus Krause, Nicolas Pethes (Würzburg: Kçnigshausen<br />

& Neumann, 2005), S. 149–168.


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 31<br />

Exper<strong>im</strong>ent dauerte noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein an und hatte eine<br />

scharfe Trennung von <strong>Literatur</strong> und Wissenschaft zur Folge. Nicht nur die<br />

subjektive D<strong>im</strong>ension der <strong>Literatur</strong>, auch die Sprache selbst bildete dabei für<br />

lange Zeit eine Kluft zwischen den beiden Disziplinen. Roland Barthes bespricht<br />

in seinem 1964 erschienen Artikel Science versus <strong>Literatur</strong>e die Gemeinsamkeiten<br />

von <strong>Literatur</strong> und Wissenschaft und erkennt gerade <strong>im</strong> unterschiedlichen<br />

Status der Sprache eine Trennlinie der beiden Bereiche:<br />

For science, language is merely an instrument, which it chooses to make as<br />

transparent as neutral as possible, subjugated to scientific matters (operations,<br />

hypotheses, results), which are said to exist outside it and to precede it: […] for<br />

literature, on the contrary […] language is the being of literature, its very world: all<br />

literature is contained in the act of writing, and no longer in that of “thinking” of<br />

“painting” of “recounting” of “feeling”. 5<br />

Heute würden noch die wenigsten Wissenschaftsphilosophen mit Barthes<br />

übereinst<strong>im</strong>men. Seit dem Erscheinen von Representing and Intervening (1983)<br />

von Ian Hacking lenkte die Repräsentation innerhalb der Wissenschaftspraxis<br />

die Aufmerksamkeit von Ethnologen, Soziologen und Philosophen auf sich.<br />

Während der Positivismus sich hauptsächlich für das Verhältnis von Theorie<br />

und Tatsachenfeststellung interessierte und deshalb die Rolle des Exper<strong>im</strong>ents<br />

vernachlässigte, glaubt Hacking, dass die Gegenstände der wissenschaftlichen<br />

Entdeckung erst vom Exper<strong>im</strong>ent hergestellt werden. Der Mensch, und somit<br />

auch der Wissenschaftler, ist für Hacking nicht homo faber sondern homo depictor:<br />

Menschen erstellen Repräsentationen. 6 Der Repräsentationsraum, man<br />

kçnnte vom Theater für die wissenschaftlichen Fakten sprechen, ist für Hacking<br />

das Labor. <strong>Die</strong> Wissenschaft wird somit nicht mehr nur <strong>im</strong> Rahmen einer<br />

Ideengeschichte studiert, sondern vielmehr in einem historischen Kontext von<br />

Wissensproduktion verstanden. Dabei gewinnen die pragmatischen Aspekte der<br />

wissenschaftlichen Symbolproduktion und die Historizität ihrer Bedeutungssysteme<br />

an Grçße. Demzufolge kann die Evolution des Exper<strong>im</strong>entbegriffs <strong>im</strong><br />

20. Jahrhundert als allmähliche Annäherung an die <strong>Literatur</strong> verstanden werden,<br />

die in einer Kultur des Exper<strong>im</strong>ents endet, indem wissenschaftliche, ästhetische<br />

und literarische Fragestellungen ineinander fließen und sich gegenseitig<br />

kontaminieren. 7 Exakt um diese Bewegung geht es in der vorliegenden<br />

<strong>Einleitung</strong>.<br />

5 Roland Barthes, ‘Science versus <strong>Literatur</strong>e’, T<strong>im</strong>es Literary Supplement, 28.9. 1967, S. 897.<br />

6 Ian Hacking, Representing and Intervening. Introductory Topics in the Philosophy of Natural<br />

Science (Cambridge: Cambridge University Press, 1983), S. 132.<br />

7 Man sehe dazu den interessanten Sammelband Kultur <strong>im</strong> Exper<strong>im</strong>ent, hrsg. von Henning<br />

Schmidgen, Peter Ge<strong>im</strong>er, Sven <strong>Die</strong>rig (Berlin: Kadmos Verlag, 2004). Aus literaturwissen-


32<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

Wichtige Impulse zur neuen Auffassung des Exper<strong>im</strong>ents kamen und kommen<br />

von dem am Berliner Max Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte<br />

arbeitenden Michael Rheinberger, der sowohl naturwissenschaftliche als auch<br />

geisteswissenschaftliche Kompetenzen vereint, da er, unter anderem, als habilitierter<br />

Molekularbiologie die Grammatologie Jacques Derridas ins Deutsche<br />

übersetzt hat. In seinem 1992 publizierten Band Exper<strong>im</strong>ent–Differenz–Schrift<br />

betont Rheinberger, dass die Wissenschaftstheorie in den letzten Jahren das<br />

Exper<strong>im</strong>ent zum Untersuchungsfeld modifiziert hat, wo es jenseits der scheinbaren<br />

Problemlosigkeit seiner Anerkennung als Instanz der Verifikation, der<br />

Bewährung, der Verwerfung oder der Modifikation von Theorien angesehen<br />

wird. 8 Das Exper<strong>im</strong>ent wird hier als ein reines, unter kalkulierten Bedingungen<br />

ablaufendes Verfahren zur Produktion von wissenschaftlichen Erkenntnissen<br />

verstanden. Der alltägliche Forschungsprozess läuft jedoch ungeordneter und<br />

ungeplanter: In wissenschaftlichen Texten werden nämlich die Zielstrebigkeit<br />

und Gradlinigkeit des Exper<strong>im</strong>ents allenfalls nachträglich konstruiert. In Exper<strong>im</strong>ent–Differenz–Schrift<br />

versucht Rheinberger zu klären, wie das ›Neue‹ in<br />

einem Labor entstehen kann und führt dazu den Begriff des »Exper<strong>im</strong>entalsystems«<br />

ein, das einen Repräsentationsraum für den Auftritt epistemischer<br />

Dinge schafft. Dafür zitiert er den für lange Zeit vernachlässigten Zeitgenossen<br />

Karl R. Poppers, Ludwig Fleck, demzufolge ein Exper<strong>im</strong>entalsystem eine komplexe<br />

Ordnung von Theorie und Exper<strong>im</strong>ent konstruiert, welche so eingerichtet<br />

ist, dass sie ein Wissen produziert, das noch nicht verfügbar ist. Ein Exper<strong>im</strong>entalsystem<br />

wird bereitgestellt, um Antworten auf Fragen zu geben zu kçnnen,<br />

die bis jetzt noch nicht gestellt worden sind. Mit den Worten von FranÅois Jacob<br />

ausgedrückt, ist ein Exper<strong>im</strong>entalsystem »eine Maschine zur Herstellung von<br />

Zukunft«. 9 Daraus folgt, dass man niemals genau weiß, wohin ein Experi-<br />

schaftlicher Perspektive ist sicher der Aufsatz von Thomas Fechner-Smarsly ‘<strong>Die</strong> Alch<strong>im</strong>ie des<br />

Zufalls. August Strindbergs Versuche zwischen <strong>Literatur</strong>, Kunst und Naturwissenschaft’ am<br />

interessantesten. Strindberg hatte sich zeitweilig fast vçllig von der <strong>Literatur</strong> ab- und den<br />

Naturwissenschaften zugewandt. Seine naturwissenschaftlichen Schriften, in denen er Fragen<br />

der Chemie, der Zoologie, der Botanik und der Mineralogie bespricht, erscheinen 1894 <strong>im</strong><br />

Antibarbarus und 1896 in der Sylva Sylvarum. Von 1891 bis 1898 exper<strong>im</strong>entiert Strindberg in<br />

mehreren Labors in Paris, darunter auch an der Sorbonne und in seinem Hotelz<strong>im</strong>mer <strong>im</strong><br />

Hotel Orfila. Laut Fechner-Smarsly bestehe Strindbergs Exper<strong>im</strong>entiertätigkeit vornehmlich<br />

darin, den Beobachter, dem Zufall auszusetzen um das Mçgliche zu eruieren. Mehr als um die<br />

Kontrolle des Exper<strong>im</strong>ents geht es ihm um den Kontrollverlust. <strong>Die</strong>s gründet seine ¾sthetik<br />

des Zufalls. Auch der Protagonist seines Romans Am offenen Meer (1890) wird <strong>im</strong>mer wieder<br />

Situationen ausgesetzt, die er nicht kontrollieren kann. <strong>Die</strong>se Exper<strong>im</strong>ente mit Menschen<br />

setzen sich in seiner Sammlung Vivisektionen fort.<br />

8 Hans-Jçrg Rheinberger, Exper<strong>im</strong>ent–Differenz–Schrift (Marburg an der Lahn: Basiliken-<br />

Presse, 1992), S. 7.<br />

9 Ebd., S. 25. Michael Heidelberger und Friedrich Steinle unterstützen diese Auffassung des<br />

Exper<strong>im</strong>ents in dem von ihnen herausgegebenen Band Exper<strong>im</strong>ental Essays-Versuche zum


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 33<br />

mentalsystem führen kann, da es <strong>im</strong> Grenzbereich zwischen Wissen und<br />

Nichtwissen liegt. Wüsste man was es produzierte, wäre es per definitionem kein<br />

Forschungssystem mehr. Was daher <strong>im</strong> Forschungsprozess abläuft ist die Realisierung<br />

von Wissenschaftsobjekten mit Hilfe von Dingen, die bereits als ausreichend<br />

stabile Materialisierungen von Wissen betrachtet und gehandhabt<br />

werden kçnnen 10 : <strong>Die</strong> Geräte des Labors dienen zur Erzeugung von nicht vorwegnehmbaren<br />

Ereignissen.<br />

Dem naturwissenschaftlichen Laien, also dem Geistes- und Kulturwissenschaftler<br />

wird auffallen, dass in Rheinbergers Auffassung das Exper<strong>im</strong>ent nicht<br />

eine gewisse Wirklichkeit aufn<strong>im</strong>mt, sondern eher die Prämissen für eine<br />

mçgliche Wirklichkeit erschafft. Hier nähert sich der Exper<strong>im</strong>entbegriff der<br />

D<strong>im</strong>ension des Mçglichen und des Fiktiven. <strong>Die</strong>se Tatsache wird auch von<br />

Rheinbergers Überlegung gestützt, wenn er sich dem Problem der Darstellung<br />

<strong>im</strong> Laborbereich widmet. Dabei vertritt er die Ansicht, dass Exper<strong>im</strong>ente wissenschaftliche<br />

Tatsachen unter Anwendung von Apparaturen, Symbolsystemen<br />

und Aufzeichnungstechniken erzeugen und institutionelle Rahmungen epistemische<br />

Dinge konstruieren. Immer wieder kommt er auf Derridas Schriftreflexion<br />

zurück, wenn es um das Problem der Repräsentation in einem Forschungssystem<br />

geht, da für ihn jedes Wissenschaftsobjekt ein Teil eines »exper<strong>im</strong>entellen<br />

Schreibspiels« ist:<br />

Was geht also vor, wenn der Exper<strong>im</strong>entator ein Chromatogramm produziert, ein<br />

DNA-Sequenzgel, eine Reihe von Reagenzgläsern, denen Rundfilter zugeordnet<br />

werden, mit denen wiederum Zähleinheiten radioaktiven Zerfalls korreliert werden<br />

kçnnen? Alle diese ›epistemischen Dinge‹ sind die Objekte der exper<strong>im</strong>entellen<br />

Interpretation. Sie verkçrpern best<strong>im</strong>mte Seiten des Wissenschaftsobjekts in<br />

faßbarer, <strong>im</strong> Labor handhabbarer Form. Es ist die Anordnung dieser graphematischen<br />

Spuren oder Grapheme und die Mçglichkeit ihres Herumschiebens <strong>im</strong><br />

Repräsentationsraum, die das exper<strong>im</strong>entelle Schreibspiel zusammensetzen. 11<br />

Exper<strong>im</strong>ent (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1998). Heidelberger fordert in seinem<br />

Beitrag (S. 71 –93), dass dem Exper<strong>im</strong>ent neben einer kritischen auch eine schçpferische<br />

Seite zugestanden werde und dass es auch ohne eine vorausgesetzte Theorie sinnvolles<br />

Exper<strong>im</strong>entieren geben kçnne. Anhand der Diskussion von drei Exper<strong>im</strong>entierweisen, die<br />

produktive, repräsentative und die konstruktive, zeigt er, dass das Exper<strong>im</strong>entieren auch<br />

eine schçpferische Funktion besitzt, die theorieunabhängig ist. Auch Friedrich Steinle<br />

mçchte in seinem Aufsatz für ein »exploratives Exper<strong>im</strong>entieren« plädieren, das »theoriefern«<br />

ist und damit in einer gewissen Phase der Wissenschaftsentwicklung eine neue Begriffsbildung<br />

ermçglicht und stabilisiert (S. 272 –298).<br />

10 Ebd., S. 29–30.<br />

11 Ebd., S. 30.


34<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

Für Rheinberger ist das »Wissenschaftswirkliche« eine Welt von Spuren, eine<br />

Produktion von Inskriptionen. 12 Damit ein exper<strong>im</strong>entelles Arrangement ein<br />

Forschungssystem bleibt, muss es auf Dauer Differenzen erzeugen kçnnen; es<br />

sollte also, wie jedes semiotische System, sowohl Tatbestände beschreiben<br />

kçnnen als auch für Intervention und Kreation offen sein.<br />

In Exper<strong>im</strong>entalsysteme und epistemische Dinge liefert Rheinberger eine<br />

Fallstudie für seine Theorie der Exper<strong>im</strong>entalsysteme, indem er einen mikroskopischen<br />

Blick auf das Labor von Paul C. Zamecnik am Collis P. Huntington<br />

Memorial Hospital in Boston zwischen 1947 und 1962 wirft. 13 In einem Zeitraum<br />

von fünfzehn Jahren entwickelte diese Arbeitsgruppe ein Exper<strong>im</strong>entalsystem,<br />

das sie von der Krebsforschung zur Biosynthese von Proteinen <strong>im</strong> Reagenzglas<br />

führte. Rheinberger rekonstruiert nun den verwickelten Verlauf dieses Forschungsunternehmen<br />

mit seinen Rückschlägen und seinem nicht vorhersehbaren<br />

Ausgang. <strong>Die</strong> Entdeckungen Zamecniks entstanden, ohne dass zuvor jemand<br />

danach gesucht hatte, was sie als Exper<strong>im</strong>entalsysteme ausweist.<br />

Man ist sich erst seit kurzem des Schriftproblems in den Wissenschaften<br />

bewusst und hat somit den semiotic turn auch in die Wissenschaftstheorie<br />

eingehen lassen. <strong>Die</strong>ser Rückstand gegenüber anderen Wissensbereichen ist<br />

wahrscheinlich die Konsequenz einer herkçmmlichen Auffassung der Wissenschaften<br />

als Garant für Wahrheit. 14 Steven Shapin gilt als einer der Vorläufer<br />

dieses ›turns‹ in der Auffassung des naturwissenschaftlichen Exper<strong>im</strong>ents: Er<br />

zeigte in einem zu Recht berühmt gewordenen Essay wie Robert Boyle in seinen<br />

New exper<strong>im</strong>ents (1660) nicht nur bahnbrechendes Wissen über das Verhalten<br />

der Luft verçffentlichte, sondern sich eben auch einer neuen »literary technology«<br />

bediente, um die Leser vom Wert seiner Entdeckungen zu überzeugen. 15<br />

Laut Shapin dienen die literarischen Praktiken in Boyles Werk der Generierung<br />

eines »virtual witnessing« be<strong>im</strong> Leser, um Boyle selbst als einen glaubwürdigen<br />

Zeugen seiner Exper<strong>im</strong>ente durchzusetzen und damit die wissenschaftlichen<br />

Tatsachen zu validieren. <strong>Eine</strong> dieser von Shapin beobachteten Techniken bildet<br />

beispielsweise die Weitschweifigkeit von Boyles’ Stil, mit dem die S<strong>im</strong>ultaneität<br />

und Komplexität des Exper<strong>im</strong>ents wiedergegeben wird.<br />

Auch Karin Knorr-Cetina zufolge ist das Labor allem als ein Verschriftli-<br />

12 Ebd., S. 31.<br />

13 Hans-Jçrg Rheinberger, Exper<strong>im</strong>entalsysteme und epistemische Dinge. <strong>Eine</strong> Geschichte der<br />

Proteinsynthese <strong>im</strong> Reagenzglas (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006).<br />

14 Michael Hagner, Hans Jçrg Rheinberger, ‘Exper<strong>im</strong>ental Systems, Objects of Investigation<br />

and Spaces of Representation’, in Exper<strong>im</strong>ental Essays-Versuche zum Exper<strong>im</strong>ent, hrsg. von<br />

Michael Heidelberger, Friedrich Steinle (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1998),<br />

S. 355–374.<br />

15 Steven Shapin, ‘Pump and circumstance. Robert Boyle’s literary technology’, Social Studies<br />

of Science, 14 (1984), S. 481–520.


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 35<br />

chungsprozess zu verstehen. 16 Aus ihrer anthropologischen Perspektive ist es<br />

bemerkenswert, dass Naturwissenschaftler einen Großteil ihrer Zeit auf das<br />

Schreiben und Korrigieren ihrer Schriften verwenden. Knorr-Cetinas Studie<br />

zeigt, dass die Vorstellung, eine wissenschaftliche Verçffentlichung repräsentiere<br />

in irgendeiner Form das Laborgeschehen, hinfällig ist. Sprache kann auch<br />

in den naturwissenschaftlichen Disziplinen nicht als neutrales Ausdrucksmittel<br />

technischer Resultate angesehen werden. Wissenschaftliche Aufsätze weisen,<br />

Knorr-Cetina zufolge, »literarische Strategien« 17 auf. Man kann zum Beispiel<br />

beobachten, dass Wissenschaftler durch den Gebrauch des Passivs und des<br />

Autorenplurals ihre Sprache ›neutralisieren‹. Um die eigenen Forschungen<br />

aufzuwerten, werden die durch diese Forschungen errungenen Ergebnisse als<br />

relevant inszeniert und gleichzeitig durch Differenzierungsstrategien auf die<br />

Arbeit anderer Autoren bezogen und von diesen abgegrenzt.<br />

Seit dem Aufkommen der Dekonstruktion wurde die Rhetorizität der wissenschaftlichen<br />

Prosa unter dem Etikett der sogenannten Writing Science-Debatte<br />

beobachtet. 18 So hat Charles Bazerman ausführlich jene rhetorical habits<br />

beschrieben, die <strong>im</strong> Genre des naturwissenschaftlichen Essays Anwendung<br />

finden. 19 Ein Kennzeichen der wissenschaftlichen Prosa ist dabei, nicht persuasiv<br />

scheinen zu wollen, indem sie die Spuren dieser Rhetorik aus ihren Texten<br />

tilgt. Frederic L. Holmes zeigte indessen, dass die wissenschaftlichen Essays<br />

unvollkommene Aufzeichnungen des Laborgeschehens sind, und dass sie viel<br />

mehr ideologischen Kriterien und wissenschaftlichen Stereotypen gehorchen<br />

als einer Praxis des Labors. 20<br />

Auch laut Joseph Vogls Poetologien des Wissens muss das Auftauchen neuer<br />

Wissensobjekte und Erkenntnisbereiche als eine Form der Inszenierung begriffen<br />

werden. 21 <strong>Die</strong> Konstitution des Faktums führt nicht vom Gegenstand zum<br />

Begriff, sie verläuft vielmehr in umgekehrter Richtung; Beobachtung und Exper<strong>im</strong>ent<br />

sind nur unter dem Zwang vorausgehender Bahnungen mçglich. <strong>Die</strong><br />

»Poetologie des Wissens« interessiert sich deshalb für die Bedingungen unter<br />

denen sich Aussagen formieren und für die Repräsentationsweisen, die jede<br />

Wissensordnung privilegiert und ihre performative Kraft sichert. <strong>Literatur</strong> und<br />

16 Karin Knorr-Cetina, <strong>Die</strong> Fabrikation von Erkenntnis. Zur Anthropologie der Naturwissenschaft<br />

(Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1991).<br />

17 Ebd., S. 176.<br />

18 Vgl. Inscribing Science. Scientific Texts and the materiality of Comunication, hrsg. von T<strong>im</strong>othy<br />

Lenoir (Stanford: Stanford University Press, 1998). Vgl. vor allem den Aufsatz des<br />

Herausgebers, S. 1–20.<br />

19 Charles Bazerman, Shaping written knowledge. The genre and activity of the exper<strong>im</strong>ental<br />

article in science (Madison: The University of Wisconsin Press, 1988).<br />

20 Frederic L. Holmes, ‘Scientific writing and scientific discovery’, ISIS, 78 (1987), S. 220 –221.<br />

21 ‘<strong>Einleitung</strong>’, in Poetologien des Wissens um 1800, hrsg. von Joseph Vogl (München: Wilhelm<br />

Fink Verlag, 1999), S. 13.


36<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

Naturwissenschaft stehen laut Vogl in keiner vorhersagbaren und von vorne<br />

herein entschiedenen Relation zueinander, aber <strong>Literatur</strong> erweist sich als eine<br />

spezifische Wissensformation, in der das Uneingestandene, das Unsagbare und<br />

das Ausgeschlossene der wissenschaftlichen Diskurse ans Licht gebracht wird.<br />

An diesem Punkt befinden sich <strong>Literatur</strong> und wissenschaftliches Exper<strong>im</strong>ent<br />

eng beisammen.<br />

In seinem Aufsatz <strong>Literatur</strong>- und Wissenschaftsgeschichte 22 fasst Nicolas Pethes<br />

die Diskussion über das Verhältnis zwischen <strong>Literatur</strong> und Naturwissenschaft<br />

<strong>im</strong> Zuge der sogenannten Two Culture-Debatte zusammen. Für ihn verläuft<br />

diese Beziehung in zwei Richtungen und wirft folgende Fragen auf: Wie<br />

wird der Transfer von der Wissenschaft zur <strong>Literatur</strong> konzeptualisiert? Lassen<br />

sich umgekehrt <strong>im</strong> Diskurs der Wissenschaften ›literarische‹ Spuren feststellen?<br />

Auf die zweite Frage findet sich in seinem Aufsatz folgende Antwort, die die<br />

bereits beschriebene Annäherung des Exper<strong>im</strong>entsbegriffs an die <strong>Literatur</strong> bekräftigt:<br />

Wenn erst die Zugehçrigkeit zu einem institutionellen Rahmen aus einer Wissensaussage<br />

eine wissenschaftliche These macht, dann werden zwei scheinbar<br />

marginale Elemente aufgewertet: Zum einen die Techniken, Medien und Materialitäten<br />

der Aufzeichnungen wissenschaftlicher Untersuchungen, also in einem<br />

weitem, Derrida entlehnten Sinn, die Øcriture der Wissenschaft. Insofern Wissen<br />

Apparaturen entnommen wird, die die Selbstaufzeichnungen natürlicher Prozesse<br />

(Spuren) registrieren, die wiederum in Texte übersetzt werden, gehorcht der gesamte<br />

Wissenschaftsapparat der <strong>im</strong>manenten Differenz schriftlicher Repräsentation.<br />

Labore sind Orte an denen vermeintlich natürliche Objekte als epistemische<br />

Dinge konstruiert werden, und diese Transformation gehorcht den Regeln der<br />

gültigen gesellschaftlichen Ordnung und reproduziert sie ebenso, wie sie umgekehrt<br />

die alltagssprachliche Semantik beinflußt. Gerade die scheinbar objektiven<br />

Exper<strong>im</strong>entalwissenschaften erweisen <strong>im</strong> Lichte dieser Ansätze ihre fiktionale<br />

Basis, ihre symbolische Überformung sowie die gesellschaftliche Implementierung<br />

ihrer Ergebnisse. 23<br />

<strong>Die</strong>se Auffassung eines naturwissenschaftlichen Exper<strong>im</strong>ents ist die Folge eines<br />

epistemischen Umbruchs, den Hans Blumenberg in Wirklichkeitsbegriff und<br />

Mçglichkeit des Romans diskutiert. Das antike Problem des Verhältnisses von<br />

Kunst und Wirklichkeit <strong>im</strong>pliziert, dass der Dichtung ein Bezug zu einer vorgegebenen<br />

Wirklichkeit zugesprochen wird und dass Dichtung auf irgendeine<br />

Weise Wirklichkeit erzeugt. Blumenberg listet nun die verschiedenen Wirklichkeitsbegriffe<br />

auf, die sich nacheinander in der Geschichte abgelçst haben:<br />

22 Nicolas Pethes, ‘<strong>Literatur</strong> und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht’, IASL, 28<br />

(2003), S. 181–231.<br />

23 Ebd., S. 207.


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 37<br />

Am Anfang steht »die Realität der momentanen Evidenz« von Platon, in der sich<br />

die Ideen unmittelbar zeigen und dem M<strong>im</strong>esisbegriff zugrunde liegen – hier ist<br />

<strong>Literatur</strong> Abbild des Abbildes. <strong>Die</strong> zweite Position belegt »die garantierte Realität<br />

des Mittelalters«, in der Gott für die Zuverlässigkeit der menschlichen<br />

Erkenntnis bürgt. In der letzten Phase, die bis heute andauert, erscheint Wirklichkeit<br />

als die Realisierung eines in sich st<strong>im</strong>menden Kontextes, der sich von<br />

den anderen durch seinen Zeitbezug unterscheidet: Hier tritt Wirklichkeit als<br />

eine sich konstituierende Verlässlichkeit auf, als eine niemals endgültig und<br />

absolut zugestandene Kontingenz. Sie erscheint in ihrer modernen Bedeutung<br />

als ein der idealen Gesamtheit der Subjekte zugeordneter Grenzbegriff und<br />

Bestätigungswert, der die in der Intersubjektivität sich vollziehende Erfahrung<br />

und Weltbildung stützt.<br />

Mit der Renaissance wird die Frage um die Vergleichbarkeit des menschlichen<br />

Werkes mit dem gçttlichen Schçpfungswerk wieder aufgegriffen. Während<br />

der antike Wirklichkeitsbegriff ontisch war und eine abbildende Funktion der<br />

Kunst <strong>im</strong>plizierte, versteht der mittelalterliche Mensch die Welt als bloßes Zeichen<br />

für Dinge, die sich nicht in der sichtbaren Sphäre abspielen. <strong>Die</strong> nichtabbildende<br />

Leistung des Menschen hatte ihren Garant in der dritten Instanz des<br />

Gçttlichen. Mit dem Ende des Mittelalters kommt es nun zu einem Übergang von<br />

der zweiten zur dritten Wirklichkeitsauffassung: <strong>Die</strong> Beziehung zwischen Erkenntnisakt<br />

und Objekt ist nicht mehr ontisch oder kausal zu verstehen, da diese<br />

nun nur mehr eine semiotische Beziehung zueinander unterhalten. Um eine<br />

Distanz zwischen gçttlicher und menschlicher Schçpfung zu hervorzurufen,<br />

wurde der Bezug zwischen Subjekt und Objekt nicht mehr materiell sondern<br />

funktionell interpretiert: Das Bild wird aus dem Verhältnis von Ur- und Abbild<br />

gelçst und der Mensch beginnt sein eigenes symbolisches Instrumentarium zu<br />

bedienen. <strong>Die</strong> Kunst ahmt somit nicht mehr die Dinge nach, sondern realisiert<br />

eine Welt und bringt sie hervor:<br />

Nicht mehr zwischen dem darstellenden Kunstwerk und der Natur kann also jetzt<br />

ein Wahrheitsbezug absoluten Ranges gesehen werden, sondern zwischen dem<br />

verstehenden, mit Kunst umgehenden Subjekt und dem künstlerischen Gebilde,<br />

das es als ein von ihm wenigstens der Mçglichkeit nach hervorgebrachten Stück<br />

Wirklichkeit ansieht. Nicht mehr <strong>im</strong> Verhältnis zur Natur als einer ihm entfremdeten<br />

Schçpfung, sondern in seinen Kulturwerten konkurriert der Mensch mit der<br />

Unmittelbarkeit in der Gott mit seinen Werken als Urheber und Betrachter umzugehen<br />

vermag […] und das heißt: Nicht mehr Wirklichkeiten aus der einzigen<br />

Wirklichkeit nachahmend herauszuheben, sondern nur noch den Wirklichkeitswert<br />

der einen vorgegebenen Wirklichkeit als solchen nachzubilden. 24<br />

24 Hans Blumenberg, ‘Wirklichkeitsbegriff und Mçglichkeit des Romans’, in Nachahmung und<br />

Illusion, hrsg. von Hans R. Jauß (München: Fink, 1969), S. 21.


38<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

Das führt jedoch auch zu Konsequenzen für die Wissenschaften, die ja ihrerseits<br />

die Wirklichkeit der Natur analysieren und abbilden wollen. Sowohl Wirklichkeit<br />

als auch Kunstwerke erscheinen in dieser neuen Perspektive als eine Form<br />

von Text, die einer eigenen Gesetzmäßigkeit folgt:<br />

<strong>Die</strong> Konsequenzen dieser neuen Formulierung der geistigen Leistung des Menschen<br />

sind weitreichend. Wirklichkeit kann nicht mehr eine den gegebenen Dingen<br />

gleichsam anhaftende Qualität sein, sondern der Inbegriff des einst<strong>im</strong>migen<br />

Sichdurchhaltens einer Syntax von Elementen. Wirklichkeit stellt sich <strong>im</strong>mer schon<br />

und <strong>im</strong>mer nur als eine Art von Text dar, der dadurch als solcher konstitutiert wird,<br />

daß er best<strong>im</strong>mten Regeln der inneren Konsistenz gehorcht. 25<br />

<strong>Die</strong>se Aussagen scheinen mit denen von Rheinberger zu korrelieren. In einem<br />

solchen Bild erscheinen sowohl <strong>Literatur</strong> als auch Wissenschaft als Aufzeichungssysteme,<br />

die eine determinierte mçgliche Wirklichkeit erst hervorbringen.<br />

Blumenberg beschreibt weiterhin die »exper<strong>im</strong>entelle« Darstellung des<br />

Ineinandergreifens von illusionärer Welt und der vermeintlich realen Welt in<br />

Jean Pauls Der Komet (1820). <strong>Die</strong>ser Roman konstituiert Wirklichkeit, indem er<br />

die Unabschließbarkeit der Erfahrung nachahmt; in ihm muss Wirklichkeit<br />

durch Intersubjektivität garantiert werden, indem er eine perspektivische Form<br />

ann<strong>im</strong>mt. Der moderne Roman scheint vom Standpunkt des vermittelnden<br />

Subjekts aus abhängig zu sein, sein Dilemma ist es als endlicher Text einen<br />

unendlichen Kontext, d. h. Wirklichkeit, evozieren zu müssen. 26 Er sollte, laut<br />

Blumenberg, die Dignität des Natürlichen beinhalten und uns Einblicke in die<br />

Wirklichkeit gewähren. Davon zeugen die Vieldeutigkeit des modernen Romans<br />

und seine Offenheit dessen bestes Beispiel wohl Musils Der Mann ohne Eigen-<br />

25 Ebd.<br />

26 Ebd., S. 22. Blumenberg zeigt, dass auch »Wirklichkeitsbegriff der erfahrenen Widerständigkeit<br />

des Gegebenen« sich auch auf die ¾sthetik der Moderne auswirkt: »Es vollendete sich<br />

jenseits des Humoristischen etwa in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften. In<br />

diesem ungeheuren Romanfragment, bei dem man selbst bis zu dem uns vorliegenden<br />

Abschluss noch keine Konvergenz auf eine Vereinigung der getrennten Handlungsstränge<br />

oder ihre Bezogenheit aufeinander bzw. auf einen identischen Pol erkennen kann, ist der<br />

epische Perspektivismus gleichsam explodiert, an der eigenen Konsequenz der exakten<br />

Deskription gescheitert. 1932 notiert sich Musil zu dem Mann ohne Eigenschaften: »<strong>Die</strong>ses<br />

Buch hat eine Leidenschaft, die <strong>im</strong> Gebiete der schçnen <strong>Literatur</strong> heute einigermaßen deplaciert<br />

ist, die nach Richtigkeit und Genauigkeit. <strong>Die</strong> Geschichte dieses Romans kommt<br />

darauf hinaus, daß die Geschichte die in ihm erzählt werden soll, nicht erzählt wird«. <strong>Die</strong><br />

Steigerung der Genauigkeit des Erzählens führt dazu, daß die Unmçglichkeit des Erzählens<br />

selbst ihre Darstellung findet. Aber diese Unmçglichkeit wird ihrerseits als Index eines<br />

unüberwindlichen Widerstandes der <strong>im</strong>aginären Wirklichkeit gegen ihre Deskription<br />

empfunden, und insofern führt das dem Wirklichkeitsbegriff der <strong>im</strong>manenten Konsistenz<br />

zugehçrende ästhetische Prinzip an einem unbest<strong>im</strong>mten Punkt des Umschlages in einen<br />

anderen Wirklichkeitsbegriff hinein«. Ebd., S. 24.


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 39<br />

schaften (1930) ist, der die Welt als ein Laboratorium behandelt, als eine »große<br />

Versuchsstätte, wo die besten Arten, Mensch zu sein, durchgeprobt und neu<br />

entdeckt werden« sollten. 27 <strong>Die</strong> Hauptfigur Ulrich ist mit »Mçglichkeitssinn«<br />

versehen und dem »Geist der Utopie« geweiht, was bezeichnenderweise als »ein<br />

Exper<strong>im</strong>ent« definiert wird, »worin die mçgliche Veränderung eines Elements<br />

und die Wirkungen beobachtet werden, die sie in jener zusammengesetzten<br />

Erscheinung hervorrufen würde, die wir Leben nennen«. 28<br />

Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konstituieren sich folglich nicht<br />

nur die modernen Wissenschaften, sondern auch die Prämissen der modernen<br />

<strong>Literatur</strong>. Durch die Ausdifferenzierung der Wissenssysteme wird <strong>Literatur</strong> insofern<br />

zu einem exper<strong>im</strong>entellen Verfahren, als es sich nicht mehr um die<br />

Nachahmung von Bestehendem, sondern um die Erfindung von Mçglichem<br />

handelt. 29 <strong>Literatur</strong> und Wissenschaften stehen also in einem offenen Verhältnis<br />

zur Wirklichkeit. Über letztere werden von <strong>Literatur</strong> und Wissenschaften eine<br />

Auswahl von Hypothesen projiziert, aufgeschrieben und protokolliert. Auch<br />

Hans-Jçrg Rheinberger wird es nicht müde die Analogien zwischen seinem<br />

Konzept des Exper<strong>im</strong>entalsystems mit dem des künstlerischen Schaffens zu<br />

betonen. 30 Von dieser Nähe zeugen auch die in den Beiträgen dieses Sammelbandes<br />

diskutierten Exper<strong>im</strong>entbegriffe.<br />

Der Beitrag von Walter Busch erçrtert das Verhältnis der exper<strong>im</strong>entellen<br />

Physiologie Claude Bernards zum naturalistischen Roman Émile Zolas und<br />

beschreibt die Adaption exper<strong>im</strong>enteller Beobachtung innerhalb der literarischen<br />

Praxis durch Zola, dessen Ziel es war, wie er programmatisch in Le roman<br />

expØr<strong>im</strong>ental (1880) behauptet, <strong>Literatur</strong> wissenschaftliche Dignität zu verleihen.<br />

Zu Beginn der Darstellung werden hierfür die Prinzipien von Bernards<br />

Lehre erläutert, um danach ihre Wirkung nicht nur auf den Naturalismus,<br />

sondern auch auf die gesamte Kultur (Émile Durkhe<strong>im</strong>, Henri Bergson, Georges<br />

Canguilhem) von Anfangs des 20. Jahrhunderts vorzuzeigen.<br />

Ina Heuser vergleicht Charakteristika der philosophischen Begriffsbest<strong>im</strong>mung<br />

des Exper<strong>im</strong>ents mit der poetischen Verfahrensweise Richard Beer-Hofmanns<br />

in Der Tod Georgs (1900), wo die Erlebniswelt eines ästhetischen Bewusstseins<br />

dargestellt wird. Paul, die Hauptfigur des Romans, steht der Welt<br />

beziehungslos gegenüber und um sie nicht als sinnlos und leer zu erfahren,<br />

27 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften,inGesammelte Werke I-V, hrsg. von Adolf FrisØ<br />

(Reinbek: Rowohlt, 1978), S. 40.<br />

28 Ebd., 246.<br />

29 Vgl. Michael Gamper, ‘Dichtung als ›Versuch‹, <strong>Literatur</strong> zwischen Exper<strong>im</strong>ent und Essay’,<br />

Zeitschrift für Germanistik, XVII, 3 (2007), S. 593–611.<br />

30 Rheinberger, Exper<strong>im</strong>entalsysteme und epistemische Dinge, S. 89, 98, 226, 280. Dazu zitiert er<br />

Mahlon Hoagland, nach dem ein Exper<strong>im</strong>ent eine »Reise ins Unbekannte« und ein »Generator<br />

von Überraschungen« sei. Ebd., S. 26, 33.


40<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

eignet er sie sich an. <strong>Die</strong>ser Vorgang vermittelt ihm den Anschein, dass jegliches<br />

¾ußere nur durch ihn existiert, sein Bewusstsein die einzig sinnstiftende Instanz<br />

der Welt ist. Laut Heusers Analyse kçnne die Verarbeitungsweise der wahrgenommenen<br />

Eindrücke von Paul mit der eines exper<strong>im</strong>entellen Vorgehens verglichen<br />

werden.<br />

Isolde Schiffermüller beschreibt Franz Kafkas Rezeption der Elberfelder<br />

Protokolle des Privatforschers Karl Krall, eines Pioniers der Tierpsychologie, der<br />

in seinem Pferdestall in Elberfeld ein Laboratorium zur Erforschung der Klugheit<br />

der Tiere eingerichtet hatte. Spuren dieser Exper<strong>im</strong>ente lassen sich <strong>im</strong><br />

»Elberfeldheft« finden, ein Notizheft Kafkas, das vermutlich <strong>im</strong> Januar 1915<br />

entstand und in anderen Tiergeschichten des Prager Schriftstellers. Schiffermüller<br />

versteht Kafkas Schreibversuch als das Projekt einer Grenzüberschreitung<br />

zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, wo anstelle des Appells an die<br />

Menschenwürde nur »das heilsame Eingedenken der Tierähnlichkeit« (Adorno)<br />

Bestand hat.<br />

Bernhard Metz sieht in seiner ausführlichen Analyse von Ernst Weiß’ Werk<br />

die Beziehung zum Exper<strong>im</strong>entellen in mehrerlei Hinsicht gegeben: Zum einen<br />

thematisiert dieser Autor naturwissenschaftliche Vorgehensweisen auf der inhaltlichen<br />

Ebene seiner Werke, da deren Protagonisten oftmals ¾rzte, Wissenschaftler<br />

und Forscher sind und entsprechend medizinische oder naturwissenschaftliche<br />

Arbeiten verrichten. Weiterhin offenbart sich der exper<strong>im</strong>entelle<br />

Charakter innerhalb sozialer und erotischer Beziehungen der Figuren, die in<br />

Weiß’ Romanen oft mit leichten Variationen wiederkehren, um einen je anderen<br />

Ausgang der Fabel herbeizuführen; in den 15 Romanen von Ernst Weiß sind<br />

Konstellationen von einer Frau zwischen mehreren Männern oder von einem<br />

Mann zwischen mehreren Frauen ziemlich häufig. <strong>Die</strong> Beziehungen erweisen<br />

sich als »Vivisektion am Menschen« und als »Exper<strong>im</strong>ent an lebenden Seelen«.<br />

Schließlich kann Weiß’ Schreibverfahren selbst als exper<strong>im</strong>entell bezeichnet<br />

werden, da er unermüdlich, auch an bereits publizierten Texten, ¾nderungen<br />

und Verbesserungen vornahm.<br />

In seinem Aufsatz geht Gabriele Guerra von der Annahme aus, dass ein neuer<br />

Denk- bzw. Schriftstil zu einer neuen Wirklichkeitswahrnehmung führen kann.<br />

Das Schreiben erscheint ihm als ein »Lebensversuch«, um Schrift und Leben neu<br />

zu verbinden und eine nicht abgenutzte Perzeption herbeizuführen; dieser<br />

Prozess wird durch exemplarische Analysen von Texten Ernst Blochs und Ernst<br />

Jüngers aufgezeigt. Während Jünger nun eine »sachlich-objektive Tendenz mit<br />

einer einfühlsamen, romantisch-ironischen Wahrnehmung« in seinem Abenteuerliche[n]<br />

Herz (1929) koppelt, vereint das Subjekt in Blochs Spuren (1930)<br />

Elemente des Expressionismus mit denen der Neuen Sachlichkeit, denn es ist<br />

sowohl ein aktives operierendes als auch ein datensammelndes Subjekt.<br />

Das Exper<strong>im</strong>entelle innerhalb von Alfred Dçblins Werk Berlin Alexander-


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 41<br />

platz (1929) ergibt sich für Lucia Perrone Capano in mehrerlei Hinsicht: Zum<br />

einen betrachtet der Autor <strong>Literatur</strong> selbst, als Produkt menschlicher Tätigkeit,<br />

nicht als etwas Abgeschlossenes, sondern durchaus als etwas Organisches, Natürliches,<br />

das einem ständigen Modifikationsprozess unterworfen ist. Dçblin<br />

setzt sich als Schriftstellers und Arztes über den strengen Gegensatz zwischen<br />

Natur- und Geisteswissenschaften hinweg und lässt <strong>im</strong> literarischen Text <strong>im</strong><br />

Voraus gebildete Diskurse gegen- und ineinander agieren, das Bekannte mit dem<br />

Unbekannten in Berührung kommen, um es dann in den Kreislauf des Lebensprozesses<br />

einzufügen. Zum anderen gleicht die darstellende Verfahrensweise<br />

von literarischer Subjektivität in Berlin Alexanderplatz einem naturwissenschaftlichen<br />

Vorgehen, da es die Subjektivität ausscheidet und die »Funktion<br />

des Menschen auf einen Operator« reduziert. Das Geschehen wird innerhalb des<br />

Textes montiert und tritt als Raum verschiedener Exper<strong>im</strong>entiermçglichkeiten<br />

menschlichen Lebens auf.<br />

Marco Castellari geht in seinem Aufsatz von Bertold Brechts Vortrag Über<br />

exper<strong>im</strong>entelles Theater aus, der zum ersten Mal am 4. Mai 1939 auf der Studentenbühne<br />

Stockholm gehalten wurde und wichtige Überlegungen der berühmteren<br />

Schrift Kleines Organon für das Theater vorwegn<strong>im</strong>mt. Brecht stellt<br />

hier die Theaterästhetiken quasi als Versuche naturwissenschaftlicher Art vor,<br />

die best<strong>im</strong>mte Ergebnisse gezeitigt haben und auch den Ausgangspunkt für<br />

weitere Versuche bilden. Er bespricht auch gescheiterte ästhetische Exper<strong>im</strong>ente<br />

wie die »Verwissenschaftlichung der Kunst« durch den Naturalismus oder das<br />

Theater Erwin Piscators als »radikalste[n] Versuch, dem Theater einen belehrenden<br />

Charakter zu verleihen«. Laut Brecht solle der Zuschauer eine wissenschaftliche,<br />

d.h. eine kritische Einstellung zu gesellschaftspolitischen Erscheinungen<br />

bekommen, die derjenigen eines naturwissenschaftlich geschulten<br />

Menschen der Moderne sehr ähnlich ist. Castellari zeigt auf überzeugende<br />

Weise, wie Lehrstücke, die einen wichtigen Teil der vor dem Exil verçffentlichten<br />

Hefte ausmachen, als Exper<strong>im</strong>ente aufgefasst wurden, als »Erprobung einer<br />

neuen Form ästhetischer Praxis – einer kollektiven Kunstübung«. Brechts Interesse<br />

für die Wissenschaft enthüllt sich unter anderem auch in der Wahl berühmter<br />

Wissenschaftler als Hauptfiguren seiner Stücke: Giordano Bruno in der<br />

Kalendergeschichte Der Mantel des Ketzers (ursprünglich Der Mantel des Nolaners,<br />

1938/39), Francis Bacon in der Erzählung Das Exper<strong>im</strong>ent (zuerst Der<br />

Stalljunge, 1938/39) und Albert Einstein in Brechts letztem Stückprojekt, dem<br />

Fragment gebliebenen Leben des Einstein.<br />

Elena Agazzi deutet in ihrem Beitrag die Dichtung des reifen Gottfried Benn<br />

als eine Replik auf die Orientierungslosigkeit des zeitgençssischen Menschen.<br />

Auch in den von 1935 bis 1946 verfassten Statische Gedichte wird diese Krise<br />

spürbar in der Wahrnehmung, der sich abschwächenden traditionellen Bezugssysteme<br />

von Raum und Zeit der mechanischen Physik sowie <strong>im</strong> Unver-


42<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

mçgen des Subjekts in seinem Innern die Regeln einer externen Realität zu<br />

verspüren. <strong>Die</strong> unaufhçrliche Arbeit der Naturwissenschaftler als Wissensanhäufung,<br />

die nicht zu einer Vorstellung vom Leben und zu einer ganzheitlichen<br />

Vision der Welt gelangt, bietet für Benn keine Lçsung auf das ethische Vakuum<br />

der Moderne. Benn konstruiert seine neue Moral innerhalb der Lyrik, als ein<br />

»Laboratorium für Worte«, wo versucht wird »Intellekt und Leben« neu zu<br />

verbinden. In seinem Vortrag Probleme der Lyrik (1951) bespricht er den<br />

»Versuch der Kunst« innerhalb des allgemeinen Verfalls der Inhalte sich selber<br />

als Inhalt zu erleben und gegen den allgemeinen Nihilismus der Werte eine neue<br />

Transzendenz der schçpferischen Lust zu setzen.<br />

Hermann Brochs Kunstverständnis steht <strong>im</strong> Mittelpunkt der Analyse von<br />

Maria Grazia Nicolosi, welches sich an den exakten Wissenschaften orientiert,<br />

um die Funktion von Kunst nicht dem Kulturwandel und Sinnverlust preiszugeben.<br />

Vielmehr sollte das Imaginäre und Träumerische in einen wissenschaftlichen<br />

Diskurs integriert werden, um ein mçglichst authentisches Bild der<br />

»zum Chaos entarteten Realität« liefern zu kçnnen. Auf diese Weise wird die<br />

Kunst ein Erkenntnisinstrument, das die Komplexität und S<strong>im</strong>ultaneität der<br />

Welt ausleuchtet und so zu ihrer neuen Deutung und Wertesetzung beiträgt.<br />

Silvia Bonacchi weist nach, dass <strong>im</strong> Prozess der Selbstbest<strong>im</strong>mung und der<br />

Neupositionierung von <strong>Literatur</strong> und Wissenschaft am Anfang des 20. Jahrhunderts<br />

das Schaffen des çsterreichischen Schriftstellers Robert Musil eine<br />

zentrale Rolle spielt. In seinem Werk haben wir es mit »Erzählexper<strong>im</strong>enten« zu<br />

tun, die auf drei Ebenen wirken: Musil gilt als Schriftsteller der literarischen<br />

Avantgarde, der Exper<strong>im</strong>ente <strong>im</strong> Sinne von formalen Erzählexper<strong>im</strong>enten auf<br />

der Suche nach neuen Ausdrucksmçglichkeiten durchgeführt hat. Darüber<br />

hinaus finden viele wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ente – vor allem optische, exper<strong>im</strong>entalpsychologische,<br />

physikalische Versuche – in Musils Werk eine literarische<br />

Umsetzung. Außerdem nutzt Musils »Essayismus« die Dichtung als<br />

»Labor«, in dem Exper<strong>im</strong>ente über mçgliche Arten der Erkenntnis durchgeführt<br />

werden kçnnen. Bonacchi erforscht den exper<strong>im</strong>entellen Charakter der Dichtung<br />

Musils in seinem Novellendyptichon Vereinigungen (1911), deren theoretische<br />

Grundlage die »Bemerkungen über Apperceptor« sind. In diesem theoretischen<br />

Fragment in dem die Wechselwirkung zwischen dem perzipierenden<br />

Individuum und der äußeren, objektiven Welt behandelt wird, stützt sich Musil<br />

auf die Erkenntnistheorie Ernst Machs, auf Konstantin Traugott Oesterreichs<br />

Theorie der Psychasthenie, auf Carl Stumpfs Best<strong>im</strong>mung der phänomenologischen<br />

Betrachtung und auf die Theorien der Apperzeption von Wilhelm<br />

Wundt.<br />

Elmar Locher bespricht in seinem Aufsatz einige ungeklärte Aspekte der<br />

Zusammenarbeit zwischen H.C. Artmann, Konrad Bayer, Gerhard Rühm,<br />

Friedrich Achleitner und Oswald Wiener und überlegt sich, ob die Werke dieser


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 43<br />

Autoren überhaupt als Gruppenarbeit verstanden werden kçnnen und ob es die<br />

Wiener Gruppe, wie sie in den <strong>Literatur</strong>geschichten Eingang gefunden hat,<br />

überhaupt gab. Das Exper<strong>im</strong>entelle innerhalb der Arbeiten der Wiener Gruppe<br />

besteht <strong>im</strong> Aufstellen eines Programms, wonach es theoretisch jeder Person,<br />

gleich ob Dichter oder nicht, mçglich sein müsste, literarische Kunst hervorzubringen.<br />

In der »Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Aktes« vom April<br />

1953 wird behauptet, dass man Dichter sein kann, ohne auch jemals ein Wort<br />

geschrieben oder gesprochen zu haben. 1957 kommt es zur Formulierung des<br />

»flagellomechanischen Manifestes«, später zu der des »methodische Inventionismus«,<br />

wonach Wçrter gleich mathematischen Symbolen behandelt werden<br />

und je nach Permutation und Kombinatorik einen spezifischen Sinn ergeben.<br />

<strong>Die</strong>se Manifeste enthalten bereits das Konzept einer Dichtungsmaschine und<br />

einer exper<strong>im</strong>entellen Poetik und weisen daher, laut Locher, Parallelen zu Italo<br />

Calvinos Aufsatz Kybernetik und Gespenster (1967) auf.<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro liest Oswald Wieners exper<strong>im</strong>entelle Poetik als Reaktion auf<br />

den Behaviorismus, der das Bewusstsein des Menschen als Erkenntnisobjekt<br />

verabschiedet. Wieners <strong>Literatur</strong>, wie man es auch an seinem wichtigsten<br />

Roman, die verbesserung von mitteleuropa. roman (1967), erkennen kann, setzt<br />

sich einerseits von jener psychologischen Schule ab, andererseits aber auch von<br />

der als traditionell empfundenen <strong>Literatur</strong>, die Wiener »Sekundärliteratur«<br />

tauft. Mit seiner <strong>Literatur</strong>, die eine »Wissenschaft der individuellen Erfahrung«<br />

sein soll, widersetzt sich Wiener diesem Angriff auf das Bewusstsein.<br />

Annette Gilbert n<strong>im</strong>mt das »literatur-grenzgebiet« des Exper<strong>im</strong>entalpoeten<br />

Carlfriedrich Claus unter die Lupe dessen Schreiben als eine hçchst produktive<br />

und exper<strong>im</strong>entelle Tätigkeit interpretiert wird, wo »sich das Denken vollzieht«.<br />

Daher richtet sich das besondere Erkenntnisinteresse von Claus auf die Ergründung<br />

und Aufzeichnung individueller Wahrnehmungs-, Gefühls- und<br />

Denkvorgänge. In etlichen seiner Werke stellt sich Claus zudem bewusst der<br />

Herausforderung der Selbstbeobachtung, wobei Objekt und Subjekt der Beobachtung<br />

zusammenfallen. Das Schreib- oder Sprechexper<strong>im</strong>ent von Claus dient<br />

der Erschließung eines »Mçglichkeitsraumes« zur Erforschung des Kçrpers als<br />

»Klangkçrper« und als »Triebsubjekt«, bei dem Claus die Sexualität in kreative<br />

Energie umwandeln will. Obwohl die Exper<strong>im</strong>ente be<strong>im</strong> einzelnen Ich ansetzen,<br />

zielen sie letztlich aber auf die Veränderung der gesamten Gesellschaft. Auch der<br />

Rezipient seiner Arbeit soll daran teilnehmen, da er sie nicht nur ästhetisch<br />

genießen, sondern sich aktiv mit ihr auseinandersetzen soll: So wurden bspw.<br />

für den Exper<strong>im</strong>entalraum Aurora (1993/1995) die Sprachblätter der Aurora-<br />

Mappe auf große transparente Plexiglasplatten aufgezogen und frei <strong>im</strong> Raum vor<br />

einer Spiegelwand aufgehängt, so dass der Rezipient sich selbst in die Sprachblättern<br />

hineinprojizieren und seine eigenen Blattüberlagerungen, Konstellationen<br />

und Durchblicke zusammenstellen kann.


44<br />

Mass<strong>im</strong>o Salgaro<br />

Der Beitrag von Raul Calzoni erçrtert die Bedeutung und die Anwendung des<br />

Begriffs Exper<strong>im</strong>ent in der Lyrik und in den theoretischen Texten Helmut Heißenbüttels.<br />

Diskutiert werden einerseits die Entwicklung der Exper<strong>im</strong>entalmethode<br />

Heißenbüttels aus Jean Gebsers Theorie der »aperspektivischen Welt«<br />

und aus der sogenannten »konkreten Poesie«. Andererseits widmet sich Calzoni<br />

der Neigung Heißenbüttels zur Kunst-, Sprach- und Gesellschaftskritik. <strong>Die</strong>se<br />

exper<strong>im</strong>entelle Haltung wirkt sich auch in den 13 Hypothesen über <strong>Literatur</strong> und<br />

Wissenschaft als vergleichbare Tätigkeit (1966) aus. Heißenbüttel entwirft eine<br />

antigrammatikalische kombinatorische Poetik, dergemäß in literarischen Texten<br />

Zitate, Zeitungsauschnitte und Erinnerungsfetzen vergemischt werden, was<br />

in Textbücher (1960–1967), das Projekt Nr. 1. D’Alemberts Ende (1970) und Das<br />

Durchhauen des Kohlhaupts: dreizehn Lehrgedichte: Projekt Nr. 2 (1974) realisiert<br />

wird.<br />

Maria Luisa Roli verfolgt am Anfang ihres Beitrags das Interesse Hans Magnus<br />

Enzensbergers für die Wissenschaft, das schon in die Zeit der Balladensammlung<br />

Mausoleum zurückreicht (1971). Im Band Elixiere der Wissenschaft<br />

(2002), in dem essayistische und poetische Texte versammelt sind, will Enzensberger<br />

hingegen die Aporien des Fortschritts und der wissenschaftlichen<br />

Eroberungen darzustellen: Indem er die Biographien von Wissenschaftlern wie<br />

George Berkeley oder Kurt Gçdel in den Balladen nacherzählt, reflektiert er über<br />

ihre Schicksale und über die oft unvorhersehbaren Folgen ihrer Erfindungen.<br />

S<strong>im</strong>one Costagli beurteilt die Form von Alexander Kluges Texten als exper<strong>im</strong>entell,<br />

da sie versucht, über kanonisierte Seh- und Lesegewohnheiten hinauszugehen<br />

und neue Darstellungsmçglichkeiten ausfindig zu machen. So<br />

sprengt Kluge den literarischen Text, um außerliterarische Systeme wie Dokumente,<br />

Fachsprachen und Photos in ihn zu integrieren. In Kluges Schlachtbeschreibung<br />

(1968) wird zum Beispiel die Schlacht um Stalingrad durch die<br />

Presse, historiographische Darstellungen, Auszüge aus Tagebüchern und Interviews<br />

mit den Überlebenden erzählt und somit die Trennlinie zwischen<br />

Dokument und Fiktion verwischt.<br />

Maria Zinfert legt in ihrer Analyse die Bedeutung des Sehens und damit<br />

einhergehend der Schwarzweißphotographie für W.G. Sebalds Schreiben dar:<br />

<strong>Die</strong>se visuellen Tätigkeiten scheinen einen Imaginations- und Schreibprozess in<br />

Gang zu setzen und den Autor »aus der realen in eine irreale Welt« zu locken, in<br />

der neben den Toten auch »das von der Kunst <strong>im</strong>aginierte, über das Profane<br />

erhabene Niemandsland zwischen Leben und Tod« existiert. <strong>Die</strong>se an sich<br />

flüchtigen Bilder, die der Erinnerung wie die der Photographie, erfordern eine<br />

sorgfältige Handhabung durch den Erzähler, da, wie Zinfert einleuchtend beschreibt,<br />

jede Unbedachtheit ihr Verschwinden zur Folge hat. Anhand verschiedener<br />

Textbeispiele aus Austerlitz (2001) und Schwindel. Gefühle (1990)<br />

leuchtet Zinfert dieses »Niemandsland« Sebalds aus.


<strong>Die</strong> <strong>Literatur</strong> <strong>im</strong> ›Exper<strong>im</strong>ent‹. <strong>Eine</strong> <strong>Einleitung</strong> 45<br />

Anna Cappellotto stellt fest, dass das wissenschaftliche Exper<strong>im</strong>ent sowohl<br />

die Grundlage der Rezeptionstheorie von Durs Grünbein ist – wie <strong>im</strong> Aufsatz<br />

Katze und Mond (1992) ersichtlich – als auch die Metapher des menschlichen<br />

Lebens unter der DDR-Regierung. Im sozialen Exper<strong>im</strong>ent, das jenseits der<br />

Berliner Mauer stattfand, wurde das Leben der Menschen auf seine bedingten<br />

Reflexe reduziert. Grünbein beschreibt somit sein persçnliches Portrait des<br />

Künstlers als junger Grenzhund, in dem das literarische Exper<strong>im</strong>ent dort beginnt,<br />

wo das naturwissenschaftliche und das soziale Exper<strong>im</strong>ent scheitern, wo<br />

der Künstler sich von einem Hund in einen Wolf verwandelt.

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