Die Literatur im ›Experiment‹. Eine Einleitung

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Massimo Salgaro
Für Rheinberger ist das »Wissenschaftswirkliche« eine Welt von Spuren, eine
Produktion von Inskriptionen. 12 Damit ein experimentelles Arrangement ein
Forschungssystem bleibt, muss es auf Dauer Differenzen erzeugen kçnnen; es
sollte also, wie jedes semiotische System, sowohl Tatbestände beschreiben
kçnnen als auch für Intervention und Kreation offen sein.
In Experimentalsysteme und epistemische Dinge liefert Rheinberger eine
Fallstudie für seine Theorie der Experimentalsysteme, indem er einen mikroskopischen
Blick auf das Labor von Paul C. Zamecnik am Collis P. Huntington
Memorial Hospital in Boston zwischen 1947 und 1962 wirft. 13 In einem Zeitraum
von fünfzehn Jahren entwickelte diese Arbeitsgruppe ein Experimentalsystem,
das sie von der Krebsforschung zur Biosynthese von Proteinen im Reagenzglas
führte. Rheinberger rekonstruiert nun den verwickelten Verlauf dieses Forschungsunternehmen
mit seinen Rückschlägen und seinem nicht vorhersehbaren
Ausgang. Die Entdeckungen Zamecniks entstanden, ohne dass zuvor jemand
danach gesucht hatte, was sie als Experimentalsysteme ausweist.
Man ist sich erst seit kurzem des Schriftproblems in den Wissenschaften
bewusst und hat somit den semiotic turn auch in die Wissenschaftstheorie
eingehen lassen. Dieser Rückstand gegenüber anderen Wissensbereichen ist
wahrscheinlich die Konsequenz einer herkçmmlichen Auffassung der Wissenschaften
als Garant für Wahrheit. 14 Steven Shapin gilt als einer der Vorläufer
dieses ›turns‹ in der Auffassung des naturwissenschaftlichen Experiments: Er
zeigte in einem zu Recht berühmt gewordenen Essay wie Robert Boyle in seinen
New experiments (1660) nicht nur bahnbrechendes Wissen über das Verhalten
der Luft verçffentlichte, sondern sich eben auch einer neuen »literary technology«
bediente, um die Leser vom Wert seiner Entdeckungen zu überzeugen. 15
Laut Shapin dienen die literarischen Praktiken in Boyles Werk der Generierung
eines »virtual witnessing« beim Leser, um Boyle selbst als einen glaubwürdigen
Zeugen seiner Experimente durchzusetzen und damit die wissenschaftlichen
Tatsachen zu validieren. Eine dieser von Shapin beobachteten Techniken bildet
beispielsweise die Weitschweifigkeit von Boyles’ Stil, mit dem die Simultaneität
und Komplexität des Experiments wiedergegeben wird.
Auch Karin Knorr-Cetina zufolge ist das Labor allem als ein Verschriftli-
12 Ebd., S. 31.
13 Hans-Jçrg Rheinberger, Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der
Proteinsynthese im Reagenzglas (Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2006).
14 Michael Hagner, Hans Jçrg Rheinberger, ‘Experimental Systems, Objects of Investigation
and Spaces of Representation’, in Experimental Essays-Versuche zum Experiment, hrsg. von
Michael Heidelberger, Friedrich Steinle (Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, 1998),
S. 355–374.
15 Steven Shapin, ‘Pump and circumstance. Robert Boyle’s literary technology’, Social Studies
of Science, 14 (1984), S. 481–520.